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2022-08-25 20:29:11 +02:00

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<TITLE>Friedrich Engels - Afghanistan</TITLE>
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<P ALIGN="CENTER"><A HREF="me14_000.htm"><FONT SIZE=2>Inhaltsverzeichnis Aufs&auml;tze f&uuml;r "The New American Cyclop&aelig;dia"</FONT></A></P>
<FONT SIZE=2><P>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 14, 4. Auflage 1972, unver&auml;nderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 73-82.</P>
<P>1. Korrektur.<BR>
Erstellt am 22.08.1998.</P>
</FONT><H2>Friedrich Engels</H2>
<H1>Afghanistan</H1>
<FONT SIZE=2><P>Geschrieben um den 10. August 1857.<BR>
Aus dem Englischen. </P>
</FONT><P><HR></P>
<FONT SIZE=2><P><A NAME="S73">["The New American Cyclop&aelig;dia", Band I]</P>
</FONT><B><P>&lt;73&gt;</A></B> <I>Afghanistan - </I>ein weitr&auml;umiges Land in Asien, nordwestlich von Indien. Es liegt zwischen Persien und Indien und, der anderen Richtung nach, zwischen dem Hindukusch und dem Indischen Ozean. Fr&uuml;her umfa&szlig;te es die persischen Provinzen Khorassan und Kohistan, dazu Herat, Belutschistan, Kaschmir und Sind sowie einen betr&auml;chtlichen Teil des Pandschab. In seinen gegenw&auml;rtigen Grenzen leben wahrscheinlich nicht mehr als 4.000.000 Einwohner. Die Oberfl&auml;chengestaltung Afghanistans ist sehr unregelm&auml;&szlig;ig; hohe Tafell&auml;nder, weit ausgedehnte Gebirgsz&uuml;ge, tiefe T&auml;ler und Schluchten. Wie alle gebirgigen Tropenl&auml;nder bietet es eine gro&szlig;e klimatische Vielfalt. Im Hindukusch sind die hohen Gipfel das ganze Jahr hindurch schneebedeckt, w&auml;hrend in den T&auml;lern das Thermometer bis auf 130° &lt;Fahrenheit (= 54,4° Celsius)&gt; ansteigt. Die Hitze ist in den &ouml;stlichen Teilen gr&ouml;&szlig;er als in den westlichen, aber im allgemeinen ist das Klima k&uuml;hler als in Indien, und obwohl die Temperaturunterschiede zwischen Sommer und Winter und zwischen Tag und Nacht sehr gro&szlig; sind, hat das Land im allgemeinen ein gesundes Klima. Die h&auml;ufigsten Krankheiten sind Fieber, Katarrhe und Augenentz&uuml;ndungen. Zuweilen treten die Pocken verheerend auf. Der Boden ist von einer &uuml;ppigen Fruchtbarkeit. Dattelpalmen gedeihen in den Oasen der sandigen Ein&ouml;den, Zuckerrohr und Baumwolle in den warmen T&auml;lern, und europ&auml;ische Obst- und Gem&uuml;searten wachsen im &Uuml;berflu&szlig; an den Bergterrassen bis zu einer H&ouml;he von 6.000 bis 7.000 Fu&szlig;. Die Berge sind mit stattlichen W&auml;ldern bedeckt, in denen B&auml;ren, W&ouml;lfe und F&uuml;chse zu Haus sind, w&auml;hrend sich L&ouml;we, Leopard und Tiger in Gebieten finden, die ihrer Lebensweise entsprechen. Auch fehlen nicht die Tiere, die f&uuml;r den Menschen nutzbar sind. Es gibt eine hervorragende Schafzucht aus der persischen oder fettschw&auml;nzigen Rasse. Die Pferde sind von gutem Wuchs und <A NAME="S74"><B>&lt;74&gt;</A></B> guter Abstammung. Kamel und Esel werden als Lasttiere verwendet, und Ziegen, Hunde und Katzen gibt es in gro&szlig;er Zahl. Au&szlig;er dem Hindukusch, einer Fortsetzung des Himalaja, zieht sich im S&uuml;dwesten eine Gebirgskette hin, das sogenannte Salimangebirge; und zwischen Afghanistan und Balch verl&auml;uft unter dem Namen Paropamis ein Gebirgszug, &uuml;ber den jedoch in Europa wenig bekannt ist. Es gibt wenig Fl&uuml;sse, die bedeutendsten sind der Hilmend und der Kabul. Sie entspringen im Hindukusch, von wo der Kabul nach Osten flie&szlig;t und bei Attock in den Indus m&uuml;ndet; der Hilmend flie&szlig;t in westlicher Richtung durch das Gebiet von Sedschestan und m&uuml;ndet in den Zareh-See. Der Hilmend hat wie der Nil die Eigent&uuml;mlichkeit, jedes Jahr &uuml;ber seine Ufer zu treten und befruchtet so den Boden, der au&szlig;erhalb des Bereichs der &Uuml;berschwemmungen aus Sandw&uuml;ste besteht. Die wichtigsten St&auml;dte Afghanistans sind seine Hauptstadt Kabul, Ghasni, Peschawar und Kandahar. Kabul ist eine sch&ouml;ne Stadt, auf 34° 10' n&ouml;rdlicher Breite und 60° 43' &ouml;stlicher L&auml;nge am Flu&szlig; gleichen Namens gelegen. Die H&auml;user sind aus Holz, reinlich und ger&auml;umig, und da die Stadt von sch&ouml;nen G&auml;rten umringt ist, bietet sie einen sehr gef&auml;lligen Anblick. Sie ist von D&ouml;rfern umgeben und liegt inmitten einer weiten, von niedrigen Bergen umschlossenen Ebene. Ihr bedeutendstes Baudenkmal ist das Grab des Kaisers Baber. Peschawar ist eine gro&szlig;e Stadt mit einer auf 100.000 gesch&auml;tzten Einwohnerzahl. Ghasni, eine Stadt mit bedeutender Vergangenheit, einstmals die Hauptstadt des bedeutenden Sultans Machmud, hat seinen alten Glanz eingeb&uuml;&szlig;t und ist jetzt ein armseliger Ort. In seiner N&auml;he befindet sich die Grabst&auml;tte Machmuds. Kandahar wurde erst 1754 gegr&uuml;ndet. Es liegt an der Stelle einer &auml;lteren Stadt. Einige Jahre war es die Hauptstadt, 1774 jedoch wurde der Sitz der Regierung nach Kabul verlegt. Es soll 100.000 Einwohner haben. Nahe der Stadt ist das Grabmal Schah Achmeds, des Gr&uuml;nders der Stadt, eine so geheiligte Zufluchtsst&auml;tte, da&szlig; nicht einmal der K&ouml;nig einen Verbrecher herausholen lassen darf, der in seinen Mauern Schutz gefunden hat.</P>
<P>Die geographische Lage Afghanistans und der eigent&uuml;mliche Charakter des Volkes verleihen dem Lande im Zusammenhang mit den Geschicken Zentralasiens eine politische Bedeutung, die kaum &uuml;bersch&auml;tzt werden kann. Die Regierungsform ist eine Monarchie, aber die Macht des K&ouml;nigs &uuml;ber seine stolzen und ungest&uuml;men Untertanen ist autokratisch und sehr unsicher. Das K&ouml;nigreich ist in Provinzen eingeteilt, die jeweils von einem Repr&auml;sentanten des Herrschers verwaltet werden, der die Abgaben an den Staat einsammelt und sie in die Hauptstadt schickt.</P>
<P>Die Afghanen sind ein tapferes, z&auml;hes und freiheitsliebendes Volk; sie <A NAME="S75"><B>&lt;75&gt;</A></B> besch&auml;ftigen sich ausschlie&szlig;lich mit Viehzucht und Ackerbau und meiden Handel und Gewerbe, die sie voller Verachtung den Hindus und anderen Stadtbewohnern &uuml;berlassen. Der Krieg ist f&uuml;r sie ein erregendes Erlebnis und eine Abwechslung von der monotonen Erwerbsarbeit. Die Afghanen sind in Clans aufgeteilt, &uuml;ber welche die verschiedenen H&auml;uptlinge eine Art feudaler Oberhoheit aus&uuml;ben. Nur ihr unbezwinglicher Ha&szlig; auf jede Herrschaft und ihre Vorliebe f&uuml;r pers&ouml;nliche Unabh&auml;ngigkeit verhindern, da&szlig; sie eine m&auml;chtige Nation werden; aber gerade diese Ziellosigkeit und Unbest&auml;ndigkeit im Handeln machen sie zu gef&auml;hrlichen Nachbarn, die leicht vom Wind der Laune aufgew&uuml;hlt oder durch politische Intriganten, die geschickt ihre Leidenschaften entfachen, in Erregung versetzt werden k&ouml;nnen. Die beiden Hauptst&auml;mme sind die Durrani und die Ghildschi, die in st&auml;ndiger Fehde miteinander liegen. Der Stamm der Durrani ist der m&auml;chtigere, und kraft seiner &Uuml;berlegenheit machte sich sein Emir oder Khan zum K&ouml;nig von Afghanistan. Seine Eink&uuml;nfte belaufen sich auf etwa 10.000.000 Dollar. Unumschr&auml;nkte Autorit&auml;t genie&szlig;t er nur in seinem Stamm. Die milit&auml;rischen Kontingente werden haupts&auml;chlich von den Durrani gestellt, der Rest der Armee rekrutiert sich entweder aus den anderen Clans oder aus milit&auml;rischen Abenteurern, die nur in der Hoffnung auf Sold oder Pl&uuml;nderei in Dienst treten. Die Rechtspflege erfolgt in den St&auml;dten durch Kadis, aber die Afghanen nehmen selten zum Gesetz ihre Zuflucht. Ihre Khans haben das Recht auf Bestrafung, sogar bis zur Entscheidung &uuml;ber Leben und Tod. Die Blutrache ist Pflicht der Sippe; trotzdem sollen die Afghanen, wenn sie nicht gereizt werden, ein freisinniges und edelm&uuml;tiges Volk sein, und die Rechte der Gastfreundschaft sind so geheiligt, da&szlig; ein Todfeind, der als Gast Brot und Salz i&szlig;t, selbst wenn er es durch List bekommen hat, vor der Rache gesch&uuml;tzt ist und sogar den Schutz seines Gastgebers gegen alle anderen Gefahren fordern kann. Der Religion nach sind sie Mohammedaner von der Sunna-Sekte; aber sie sind ihr nicht blind ergeben, und Verbindungen zwischen Schiiten und Sunniten sind keinesfalls ungew&ouml;hnlich.</P>
<P>Afghanistan war abwechselnd der Herrschaft der Moguln und der Perser unterworfen. Vor der Ankunft der Briten an den K&uuml;sten Indiens gingen die feindlichen Invasionen, welche die Ebenen Hindustans &uuml;berfluteten, immer von Afghanistan aus. Sultan Machmud der Gro&szlig;e, Dschingis-Khan, Tamerlan und Nadir Schah nahmen s&auml;mtlich diesen Weg. Im Jahre 1747, nach dem Tod Nadirs, beschlo&szlig; Schah Achmed, der die Kriegskunst unter diesem milit&auml;rischen Abenteurer erlernt hatte, das persische Joch abzusch&uuml;tteln. Unter ihm erreichte Afghanistan in der Neuzeit <A NAME="S76"><B>&lt;76&gt;</A></B> seinen H&ouml;hepunkt an Gr&ouml;&szlig;e und Wohlstand. Er geh&ouml;rte zum Stamme der Saddosi, und seine erste Tat war, sich der Beute zu bem&auml;chtigen, die sein verstorbener Gebieter in Indien zusammengeraubt hatte. Es gelang ihm 1748, den Gouverneur des Moguls aus Kabul und Peschawar zu verjagen, und, nachdem er den Indus &uuml;berquert hatte, &uuml;berrannte er schnell das Pandschab. Sein K&ouml;nigreich erstreckte sich von Khorassan bis Delhi, und er f&uuml;hrte sogar Krieg mit den Marathen-Staaten. Diese gro&szlig;en milit&auml;rischen Unternehmungen hielten ihn indessen nicht davon ab, auch der friedlichen K&uuml;nste zu pflegen, und er war wohlbekannt als Dichter und Historiker. Er starb 1773 und &uuml;berlie&szlig; die Krone seinem Sohn Timur, der jedoch der schweren Aufgabe nicht gewachsen war. Er gab die Stadt Kandahar auf, die von seinem Vater gegr&uuml;ndet und in wenigen Jahren zu einem reichen und dichtbev&ouml;lkerten Zentrum geworden war, und verlegte den Sitz der Regierung wieder nach Kabul. W&auml;hrend seiner Herrschaft lebten die von der starken Hand Schah Achmeds unterdr&uuml;ckten Stammesfehden wieder auf. Timur starb 1793, ihm folgte Seman. Dieser Herrscher wollte die mohammedanische Macht in Indien festigen, und dieser Plan, der die britischen Besitzungen h&auml;tte ernsthaft gef&auml;hrden k&ouml;nnen, wurde f&uuml;r so bedeutsam erachtet, da&szlig; Sir John Malcolm an die Grenze geschickt wurde, um die Afghanen in Schach zu halten, falls sie irgendeine Bewegung unternehmen sollten; gleichzeitig jedoch begann man Verhandlungen mit Persien, um mit dessen Hilfe die Afghanen zwischen zwei Feuer nehmen zu k&ouml;nnen. Diese Vorkehrungen waren jedoch unn&ouml;tig; Seman-Schah war mehr als ausreichend durch die Verschw&ouml;rungen und Unruhen im eigenen Lande besch&auml;ftigt, und seine gro&szlig;en Pl&auml;ne wurden im Keim erstickt. Der Bruder des K&ouml;nigs, Machmud, fiel mit der Absicht, ein unabh&auml;ngiges F&uuml;rstentum zu errichten, in Herat ein; als dieser Versuch scheiterte, floh er nach Persien. Seman-Schah hatte bei der Erlangung des Throns Unterst&uuml;tzung durch den Stamm der Bairakschi gefunden, an deren Spitze Sarafras-Khan stand. Die Ernennung eines unbeliebten Wesirs durch Seman rief den Ha&szlig; seiner ehemaligen Anh&auml;nger hervor, die ein Verschw&ouml;rung organisierten, welche entdeckt wurde, und Sarafras wurde hingerichtet. Die Verschw&ouml;rer riefen nun Machmud aus Persien zur&uuml;ck, und Seman wurde gefangengenommen und geblendet. Gegen Machmud, den die Durrani unterst&uuml;tzten, stellten die Ghildschi Schah Schudschah auf, der einige Zeit den Thron behauptete, aber schlie&szlig;lich vor allem durch Verrat seiner eigenen Anh&auml;nger besiegt und gezwungen wurde, bei den Sikhs Zuflucht zu suchen.</P>
<P>Im Jahre 1809 hatte Napoleon General Gardane nach Persien entsandt, <A NAME="S77"><B>&lt;77&gt;</A></B> um den Schah &lt;Feth Ali-Schah&gt; dazu zu bewegen, in Indien einzufallen, w&auml;hrend die britische Regierung in Indien ihren Vertreter &lt;Elphinstone&gt; an den Hof Schah Schudschahs sandte, um diesen gegen Persien aufzustacheln. In dieser Periode kam Randschit Singh zu Macht und Ruhm. Er war ein H&auml;uptling der Sikhs, und kraft seiner gro&szlig;en F&auml;higkeiten machte er sein Land unabh&auml;ngig von den Afghanen und errichtete ein K&ouml;nigreich im Pandschab, wodurch er sich den Titel eines Maharadschah (oberster Radschah) und den Respekt der englisch-indischen Regierung erwarb. Dem Usurpator Machmud war es jedoch nicht lange verg&ouml;nnt, seinen Triumph zu genie&szlig;en. Fath-Khan, sein Wesir, der jeweils zwischen Machmud und Schah Schudschah geschwankt hatte, wie es ihm gerade sein Ehrgeiz oder das augenblickliche Interesse eingaben, wurde von Kamran, dem Sohn des K&ouml;nigs, ergriffen, geblendet und sp&auml;ter grausam get&ouml;tet. Die m&auml;chtige Sippe des get&ouml;teten Wesirs schwor, seinen Tod zu r&auml;chen. Die Marionette Schah Schudschah wurde wiederum vorgeschoben und Machmud vertrieben. Da indessen Schah Schudschah &Auml;rgernis erregte, wurde er bald darauf abgesetzt und an seiner Stelle einer seiner Br&uuml;der gekr&ouml;nt. Machmud floh nach Herat, das in seinem Besitz blieb, und nach seinem Tode im Jahre 1829 folgte ihm sein Sohn Kamran als Herrscher &uuml;ber dieses Gebiet. Der Stamm der Bairakschi, der nun die oberste Macht erlangt hatte, teilte das Land unter sich auf, doch wie dort so &uuml;blich entzweite er sich und war sich nur einig gegen einen gemeinsamen Feind. Einer der Br&uuml;der, Muhammad-Khan, war im Besitz der Stadt Peschawar, wof&uuml;r er an Randschit Singh Tribut zahlte; einem anderen geh&ouml;rte Ghasni, einem dritten Kandahar, w&auml;hrend Dost Muhammad, der m&auml;chtigste der Familie, in Kabul seine Macht aus&uuml;bte.</P>
<P>Zu diesem F&uuml;rsten wurde 1835 Hauptmann Alexander Burnes als Gesandter geschickt, als Ru&szlig;land und England in Persien und Zentralasien gegeneinander intrigierten. Er schlug ein B&uuml;ndnis vor, das Dost Muhammad nur zu bereitwillig akzeptierte; aber die englisch-indische Regierung forderte alles von ihm, w&auml;hrend sie ihm absolut nichts als Gegenleistung bot. Inzwischen, n&auml;mlich 1838, belagerten die Perser mit russischer Hilfe und Beratung Herat, den Schl&uuml;ssel zu Afghanistan und Indien; ein persischer und ein russischer Agent trafen in Kabul ein, und Dost Muhammad wurde schlie&szlig;lich durch die st&auml;ndige Ablehnung jeder positiven Verpflichtung seitens der Briten gezwungen, Angebote der anderen Seite entgegenzunehmen. Burnes reiste ab, und Lord Auckland, der damalige General- <A NAME="S78"><B>&lt;78&gt;</A></B> gouverneur von Indien, entschied sich unter dem Einflu&szlig; seines Sekret&auml;s W. Macnaghten, Dost Muhammad f&uuml;r das zu strafen, was er ihm selbst aufgezwungen hatte. Er beschlo&szlig;, ihn zu entthronen und Schah Schudschah einzusetzen, der zu jener Zeit Pension&auml;r der indischen Regierung war. Es wurde ein Vertrag mit Schah Schudschah und den Sikhs abgeschlossen; der Schah begann eine Armee zu sammeln, die von den Briten bezahlt und von ihren Offizieren gef&uuml;hrt wurde, und am Satledsch wurde eine englisch-indische Streitmacht zusammengezogen. Macnaghten sollte, von Burnes unterst&uuml;tzt, die Expedition in der Eigenschaft eines Gesandten in Afghanistan begleiten. Inzwischen hatten die Perser die Belagerung von Herat aufgehoben, und damit entfiel der einzige ernsthafte Vorwand zum Einschreiten in Afghanistan; trotzdem marschierte die Armee im Dezember 1838 in Sind ein und zwang dieses Land zur Unterwerfung und Zahlung eine Tributs zugunsten der Sikhs und Schah Schudschahs. Am 20. Februar 1839 setzte die britische Armee &uuml;ber den Indus. Sie bestand aus etwa 12.000 Mann und einem Lagergefolge von &uuml;ber 40.000, neben den neuen Aufgeboten des Schahs. Im M&auml;rz wurde der Bolan-Pa&szlig; &uuml;berschritten; Mangel an Proviant und Fourage begann sich bemerkbar zu machen, die Kamele blieben zu Hunderten am Wege liegen, und ein gro&szlig;er Teil der Bagage ging verloren. Am 7. April n&auml;herte sich die Armee dem Khojuk-Pa&szlig;, &uuml;berschritt ihn, ohne Widerstand zu finden, und marschierte am 25. April in Kandahar ein, das die afghanischen F&uuml;rsten, Br&uuml;der von Dost Muhammad, aufgegeben hatten. Nach einer Ruhepause von zwei Monaten r&uuml;ckte Sir John Keane, der Befehlshaber, mit dem Gros der Armee nach Norden vor und lie&szlig; eine Brigade unter Nott in Kandahar zur&uuml;ck. Ghasni, das unbezwingbare Bollwerk Afghanistans, wurde am 22. Juli eingenommen, nachdem ein &Uuml;berl&auml;ufer die Nachricht gebracht hatte, da&szlig; das Tor nach Kabul als einziges nicht zugemauert war; daraufhin wurde es gesprengt und dann die Festung gest&uuml;rmt. Nach dieser Katastrophe l&ouml;ste sich die Armee, die Dost Muhammad zusammengebracht hatte, sofort auf, und am 6. August &ouml;ffnet auch Kabul seine Tore. Schah Schudschah wurde mit allen Zeremonien auf den Thron gesetzt, aber die Z&uuml;gel der Regierung blieben in H&auml;nden Macnaghtens, der auch alle Ausgaben Schah Schudschahs aus der indischen Staatskasse bezahlte.</P>
<P>Die Eroberung Afghanistans schien abgeschlossen zu sein, und ein betr&auml;chtlicher Teil der Truppen wurde zur&uuml;ckgeschickt. Aber die Afghanen gaben sich keineswegs damit zufrieden, von den Feringhi Kafirs (den europ&auml;ischen Ungl&auml;ubigen) beherrscht zu werden, und w&auml;hrend der Jahre 1840 und 1841 folgte in den einzelnen Teilen des Landes ein Aufstand dem <A NAME="S79"><B>&lt;79&gt;</A></B> andern. Die englisch-indischen Truppen waren gezwungen, st&auml;ndig in Bewegung zu bleiben. Doch Macnaghten erkl&auml;rte, das sei der normale Zustand der afghanischen Gesellschaft, und schrieb nach Hause, alles sei in Ordnung und die Macht Schah Schudschahs festige sich. Vergeblich waren die Warnungen der englischen Offiziere und anderer politischer Agenten. Dost Muhammad hatte sich im Oktober 1840 den Briten ergeben und wurde nach Indien geschickt; alle Aufst&auml;nde w&auml;hrend des Sommers 1841 wurden erfolgreich unterdr&uuml;ckt, und gegen Oktober beabsichtigte Macnaghten, der zum Gouverneur von Bombay ernannt worden war, mit einer anderen Truppeneinheit nach Indien abzuziehen. Da aber brach der Sturm los. Die Besetzung Afghanistans kostete dem indischen Schatzamt j&auml;hrlich 1.250.000 Pfund Sterling: 16.000 Soldaten - die englisch-indischen und die Truppen Schah Schudschahs - in Afghanistan mu&szlig;ten bezahlt werden; weitere 3.000 lagen in Sind und am Bolanpa&szlig;; Schah Schudschahs k&ouml;niglicher Prunk, die Geh&auml;lter seiner Beamten und alle Ausgaben seines Hofes und seiner Regierung wurden vom indischen Schatzamt bezahlt; und schlie&szlig;lich wurden die afghanischen H&auml;uptlinge aus derselben Quelle subsidiert oder vielmehr bestochen, um zu verhindern, da&szlig; sie Unheil stifteten. Macnaghten wurde mitgeteilt, da&szlig; es unm&ouml;glich w&auml;re, weiterhin diese hohen Geldausgaben beizubehalten. Er versuchte, Einschr&auml;nkungen vorzunehmen, aber der einzig m&ouml;gliche Weg, sie zu erzwingen, bestand darin, die Zuwendungen f&uuml;r die H&auml;uptlinge zu beschneiden. An demselben Tage, an dem er das versuchte, stifteten die H&auml;uptlinge eine Verschw&ouml;rung zur Ausrottung der Briten an, und so war es Macnaghten selbst, der zur Einigung jener aufst&auml;ndischen Kr&auml;fte beitrug, die bislang einzeln und isoliert und ohne &Uuml;bereinstimmung gegen die Eindringlinge gek&auml;mpft hatten; &uuml;brigens steht ebenfalls fest, da&szlig; der Ha&szlig; auf die britische Herrschaft unter den Afghanen zu dieser Zeit seinen H&ouml;hepunkt erreicht hatte.</P>
<P>Die Engl&auml;nder in Kabul wurden von General Elphinstone befehligt, einem gichtleidenden, unentschlossenen, v&ouml;llig hilflosen alten Manne, dessen Befehle einander st&auml;ndig widersprachen. Die Truppen nahmen eine Art befestigtes Lager ein, das eine so gro&szlig;e Ausdehnung hatte, da&szlig; seine Garnison kaum ausreichte, die W&auml;lle zu besetzen, geschweige denn, noch Abteilungen zum Kampf im offenen Feld zu detachieren. Die Befestigungen waren so mangelhaft, da&szlig; Graben und Schutzwehr zu Pferde &uuml;berwunden werden konnten. Doch dessen nicht genug, wurde das Lager noch von den kaum eine Gewehrschu&szlig;weite entfernten H&ouml;hen beherrscht; um jedoch die Unsinnigkeit der Ma&szlig;nahmen zu kr&ouml;nen, lagen der gesamte Proviant und alle Medikamente in zwei voneinander getrennten Forts in einiger Ent- <A NAME="S80"><B>&lt;80&gt;</A></B> fernung vom Lager, die noch dazu durch ummauerte Garten und ein weiteres kleines Fort, das die Engl&auml;nder nicht besetzt hielten, von ihnen getrennt waren. Die Zitadelle von Kabul, Bala Hissar, h&auml;tte feste und ausgezeichnete Winterquartiere f&uuml;r die ganze Armee geboten, doch um Schah Schudschah gef&auml;llig zu sein, wurde sie nicht besetzt. Am 2. November 1841 brach der Aufstand los. Alexander Burnes' Haus in der Stadt wurde angegriffen und er selbst get&ouml;tet. Der britische General &lt;Elphinstone&gt; unternahm nichts, und da der Aufstand auf keine Gegenwehr stie&szlig;, gewann er an St&auml;rke. V&ouml;llig hilflos, allen m&ouml;glichen einander widersprechenden Ratschl&auml;gen ausgeliefert, brachte Elphinstone sehr bald alles in eine solche Verwirrung, wie sie Napoleon mit den drei Worten ordre, contre-ordre, d&eacute;sordre &lt;Befehl, Gegenbefehl, Verwirrung&gt; bezeichnete. Selbst jetzt wurde Bala Hissar nicht besetzt. Gegen Tausende Aufst&auml;ndischer wurden ein paar Kompanien geschickt und nat&uuml;rlich geschlagen. Das ermutigte die Afghanen noch mehr. Am 3. November wurden die Forts nahe dem Lager besetzt. Am 9. November nahmen die Afghanen das Versorgungsfort (das nur eine Besatzung von 80 Mann hatte), und die Briten waren somit auf Hungerrationen gesetzt. Am 5. sprach Elphinstone bereits davon, freien Abzug aus dem Lande zu erkaufen. Faktisch hatten seine Unentschlossenheit und Unf&auml;higkeit Mitte November die Truppen soweit demoralisiert, da&szlig; weder die Europ&auml;er noch die Sepoys imstande waren, den Afghanen in offener Feldschlacht zu begegnen. Dann begannen die Verhandlungen, in deren Verlauf Macnaghten bei einer Unterredung mit afghanischen H&auml;uptlingen ermordet wurde. Schnee begann die Erde zu bedecken, der Proviant war knapp. Schlie&szlig;lich wurde am 1. Januar eine Kapitulation unterzeichnet. Alles Geld, 190.000 Pfd.St., mu&szlig;te den Afghanen ausgeh&auml;ndigt und au&szlig;erdem noch Wechsel &uuml;ber weitere 140.000 Pfd.St. akzeptiert werden. Mit Ausnahme von 6 Sechspf&uuml;ndern und 3 Gebirgsgesch&uuml;tzen mu&szlig;te die gesamte Artillerie und die Munition zur&uuml;ckgelassen werden. Ganz Afghanistan mu&szlig;te ger&auml;umt werden. Die H&auml;uptlinge ihrerseits versprachen sicheres Geleit, Proviant und Zugvieh.</P>
<P>Am 5. Januar marschierten die Briten ab, 4.500 Soldaten und ein Lagergefolge von 12.000 Menschen. Ein Tagesmarsch gen&uuml;gte, um die letzten Reste der Ordnung zu zerst&ouml;ren und Soldaten und Lagergefolge zu einem einzigen hoffnungslosen Durcheinander zusammenzuw&uuml;rfeln, wodurch jeder Widerstand unm&ouml;glich gemacht wurde. Schnee und K&auml;lte und der Mangel an Proviant hatten eine Wirkung wie bei Napoleons R&uuml;ckzug aus <A NAME="S81"><B>&lt;81&gt;</A></B> Moskau. Doch w&auml;hrend die Kosaken in respektvoller Entfernung geblieben waren, wurden die Briten von wutentbrannten afghanischen Scharfsch&uuml;tzen gepeinigt, die, mit weitreichenden Luntenschlo&szlig;gewehren bewaffnet, alle H&ouml;hen besetzt hatten. Die H&auml;uptlinge, die die Kapitulation unterzeichnet hatten, waren weder f&auml;hig noch willens, die Bergst&auml;mme zur&uuml;ckzuhalten. Der Khurd-Kabul-Pa&szlig; wurde fast der gesamten Armee zum Grab, und der geringe Rest, weniger als 200 Europ&auml;er, fiel am Eingang zum Dschagdalok-Pa&szlig;. Nur ein einziger Mann, Dr. Brydon, erreichte Dschelalabad und konnte &uuml;ber das Vorgefallene berichten. Allerdings hatten die Afghanen viele Offiziere ergriffen und in Gefangenschaft gehalten. Dschelalabad wurde von Sales Brigade verteidigt. Man forderte von ihm die Kapitulation, aber er lehnte es ab, die Stadt zu r&auml;umen. Ebenso handelte Nott in Kandahar. Ghasni war gefallen; dort gab es nicht einen einzigen Mann, der irgend etwas von der Artillerie verstand, und die Sepoys der Garnison waren dem Klima erlegen.</P>
<P>Inzwischen hatten die britischen Beh&ouml;rden an der Grenze sofort nach Eintreffen der ersten Nachrichten &uuml;ber die Katastrophe bei Kabul Truppen in Peschawar konzentriert, die zum Entsatz der Regimenter in Afghanistan bestimmt waren. Doch es fehlte an Transportmitteln, und die Sepoys wurden in gro&szlig;er Zahl krank. Im Februar &uuml;bernahm General Pollock das Kommando, und gegen Ende M&auml;rz 1842 erhielt er neue Verst&auml;rkungen. Er &uuml;berschritt dann den Khaiber-Pa&szlig; und r&uuml;ckte zum Entsatz Sales nach Dschelalabad vor; hier hatte Sale wenige Tage zuvor die afghanische Belagerungsarmee v&ouml;llig geschlagen. Lord Ellenborough, der neue Generalgouverneur von Indien, befahl den britischen Truppen, sich zur&uuml;ckzuziehen, aber sowohl Nott als auch Pollock fanden eine willkommene Ausrede in dem Mangel an Transportmitteln. Anfang Juli wurde Lord Ellenborough schlie&szlig;lich durch die &ouml;ffentliche Meinung in Indien gezwungen, etwas f&uuml;r die Wiederherstellung der nationalen Ehre und des Ansehens der britischen Armee zu tun; dementsprechend genehmigte er ein Vorgehen auf Kabul sowohl von Kandahar als auch von Dschelalabad aus. Etwa Mitte August waren Pollock und Nott hinsichtlich ihrer Bewegungen zu einer &Uuml;bereinstimmung gelangt, und am 20. August r&uuml;ckte Pollock auf Kabul vor, erreichte Gandamak und schlug am 23. eine Abteilung der Afghanen, &uuml;berschritt am 8. September den Dschagdalok-Pa&szlig;, schlug die vereinigten Kr&auml;fte des Gegners am 13. bei Tesin und bezog am 15. Lager unter den W&auml;llen von Kabul. Inzwischen hatte Nott am 7. August Kandahar ger&auml;umt und war mit seiner ganzen Macht auf Ghasni marschiert. Nach einigen kleineren Treffen schlug er am 30. August eine gro&szlig;e Abteilung der <A NAME="S82"><B>&lt;82&gt;</A></B> Afghanen, besetzte am 6. September Ghasni, das vom Gegner aufgegeben worden war, zerst&ouml;rte die Befestigungsanlagen und die Stadt, schlug die Afghanen noch einmal in ihrer starken Stellung bei Alidan und gelangte am 17. September in die N&auml;he von Kabul, wo Pollock sogleich Verbindung mit ihm aufnahm. Schah Schudschah war lange vorher von einem der H&auml;uptlinge ermordet worden, und seither gab es keine regul&auml;re Regierung in Afghanistan; dem Namen nach war Fath Dschung, sein Sohn, K&ouml;nig. Pollock schickte eine Kavallerie-Abteilung, um den Gefangenen von Kabul zu Hilfe zu kommen; diesen war es jedoch gelungen, ihre Wache zu bestechen, und sie begegneten der Abteilung unterwegs. Als Zeichen der Rache wurde der Basar von Kabul zerst&ouml;rt, wobei die Soldaten einen Teil der Stadt pl&uuml;nderten und viele Einwohner niedermachten. Am 12. Oktober verlie&szlig;en die Briten Kabul und marschierten &uuml;ber Dschelalabad und Peschawar nach Indien. Fath Dschung, der sich in einer verzweifelten Lage befand, folgte ihnen. Dost Muhammad wurde nun aus der Gefangenschaft entlassen und kehrte in sein K&ouml;nigreich zur&uuml;ck. So endete der Versuch der Briten, in Afghanistan eine ihrer Kreaturen auf den Thron zu setzen.</P>
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