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<TITLE>Kurt Eisner - Sittenbilder des Kapitalismus</TITLE>
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<META name="BOOKTITLE" content="Zwischen Kapitalismus und Kommunismus">
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<META name="TYPE" content="Reden und Aufsätze">
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<META name="ISBN" content="3-518-11982-6">
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<META name="PUBLISHER" content="edition Suhrkamp">
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<P><SMALL>Kurt Eisner: Zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Reden und Aufsätze. Edition Suhrkamp.<BR>
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1. Korrektur<BR>
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Erstellt am 20.11.1999</SMALL></P><H2>Kurt Eisner</H2>
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<H1>Sittenbilder des Kapitalismus</H1>
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<P><SMALL>in: Vorwärts, 7.1., 8.4., 3.6., 24.6. 1900; 20.3.1904</SMALL></P>
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<P>Man kann unserer Zeit und unserem Deutschland jeden Vorwurf anheften, nur den
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einen nicht, daß man sich übermäßiger
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Gefühlsweichheit hingebe. Im Gegenteil: Die Anklage, wir seien ein Volk
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von Dichtern und Denkern, wird als die schwerste Beleidigung empfunden. Energie
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ist alles, und die Gewalt der stärkeren Muskeln - seien sie von Fleisch,
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Stahl oder Gold - regiert, den humanitätsduseligen Schlappiers zum Trotz.
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Wir achten nicht das Selbstbestimmungsrecht fremder Völker, sondern wir
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kultivieren sie mit Schnaps, Blei, Strick und Bibel. Wir vernichten
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unzähliges Leben, zertreten es in Not und Siechtum. Wir legen den freien
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Geist an die würgenden Ketten wirtschaftlicher Abhängigkeit. Wir
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beten zum Kleinkalibrigen und Panzerschiff und erstreben nur ein Ziel: so stark
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zu sein, um völlig rücksichtslos sein zu dürfen. Das tun wir
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alles und schämen uns nicht. Lachend schreiten wir über die Leiber
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und Seelen derer, die man im veralteten Deutsch der Heiligen Schrift
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Nächste nennt, während sie für die realpolitische Betrachtung
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Konkurrenten, Feinde sind.
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<P>Die Verletzung der Person, die Beeinträchtigung, Schädigung und
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Zerstörung fremden Daseins erscheint inmitten unseres Kulturlebens in
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mannigfachen Arten. Dabei ist das Maß der Schädlichkeit durchaus
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nicht das Maß der Beurteilung. Der im Krieg organisierte Massentotschlag
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erscheint wie ein furchtbares, unentrinnbares, in seiner erbarmungslosen
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Gewalttätigkeit zugleich heroisches Schicksal; und wenn die Kraft und
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Blüte eines Volks sinnlos geopfert wird - was gilts, die
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Geschichtsfabulisten weisen uns die historische Notwendigkeit des glorreichen
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Ereignisses nach (...).
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<P>Aus unzähligen Rinnsalen läßt der giftmischende Kapitalismus
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unablässig Tod und Siechtum in die Leiber der besitzlosen Arbeitssklaven
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strömen. Wir begnügen uns, bedauernd die Berufskrankheiten zu
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beschreiben, die frühes Sterben bewirken, und, an die grausige Erscheinung
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wie an ein Unvermeidliches gewohnt, werden wir uns kaum völlig
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bewußt, daß diese Massenvergiftung, die der Mehrheit der Menschen
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den größeren Teil des von der Natur gewährten Lebens
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widernatürlich raubt, das fluchtwürdigste Verbrechen ist.
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<I>(1900)</I></P>
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<P>Die Lust am Grausigen fand in diesen Tagen reiche Sättigung und der
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Lokalreporter üppigen Zeilenlohn: Ein Knabe, der seinen Lehrherrn
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nächtlich zu ermorden sucht, um sein Geld zu rauben; ein Wegelagerer, der
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in der nächsten Umgebung von Berlin Radfahrer überfällt,
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erschlägt und ausplündert; eine in der täglichen Geldmisere
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krankhaft gereizte Frau, die sich mit ihren vier Kindern aus dem Fenster vier
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Stock abwärts auf den Hof stürzt; und endlich der
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Kriminalprozeß, in dem ein moderner Zauberer und Geisterbeschwörer,
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ein Doktor Faustus des weltstädtischen Hinterhauses, sich wegen der
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gewinnsüchtigen Vergiftung einer armen gläubigen Närrin zu
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verantworten hat. Nimmt man hinzu die endlosen Betrachtungen über Ritual-
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und Sühnemord, die auf der Höhe unserer Zeit gesponnen werden, so
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spannt sich vor uns ein unheimlich düsteres Kulturbild, das mit Blut
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gepinselt und mit den Schwefelflammen beleuchtet ist, die von dem Spelunkenherd
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herüberlohen, in denen die drei Hexen des Hungers, der Geldgier und des
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Aberglaubens das Geschick dieser Tage bestimmen. Die dünne Humusschicht
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der modernen Kultur scheint wie lockerer Flugsand in Nichts verweht, und
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unendlich breitet sich das öde Brachfeld, nach Blut riechend, über
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ihm hallend ein Wimmern der Verzweiflung und ein Gelächter des Wahnsinns,
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am Rande ein Irrenhaus, eine Idiotenanstalt, ein Selbstmörderkirchhof, ein
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Hungerturm und in der Mitte ein Schafott, über dem ein aus den Wolken
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hängendes Riesenbeil gleißt - sonst nichts auf der ganzen Welt. Alle
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Kulturarbeit der Menschheit zerronnen, die Mühen der Jahrtausende
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zertreten, die Vernunft nur ein schillernder Traum und die menschliche
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Güte ein leerer Einfall sonder Kraft und Wirkung. Narren, die pfeifen, und
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Narren, die tanzen, bis aus dem Hinterhalt Hunger und Mord würgend
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stürzen - dann hat auch diese Herrlichkeit die verdiente Ruhe. Die
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Boxerplakate, die europäische Journalisten-Phantasie über die
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weißen Teufel zusammenfabuliert hat, wirken wie edle Kulturblüten
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angesichts der schmutzigen Gewächse, die aus der abendländischen
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Barbarei wuchern. Die hektographierten Berichte der Lokalreporter schreiben die
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wahre Geschichte unsrer Zeit, und wenn sich die Gemeinheit und der Jammer, der
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sich in diesen Dingen enthüllt, aufbläht, frisiert und einen stolzen
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Purpurmantel um die edle Blöße wirft, dann steht vor uns die
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große, die hohe Politik der Staatsmänner, die die Geschichte der
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Völker nach dem Vorbild der lokalen Verbrechen, Selbstmorde, Gaunereien
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und Verrücktheiten zu leiten bemüht sind.
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<P>All jene Sensationsfälle der letzten Woche, die das Herz der
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Zeitungskapitalisten erheitern, den Stumpfsinn der parteilosen Philister
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wollüstig kitzeln und das Gemüt des Kulturmenschen mit tiefer Sorge
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erfüllen, alle diese epileptischen Krampferscheinungen einer morschen
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Gesellschaft bewegen sich um ein Motiv:<BR>
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das Geld. Man mordet, um zu rauben, man zerschmettert sich und den Kindern das
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Leben, um der Qual zu entgehen, welche der tägliche Kampf um das Brot
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zeugt, man verbündet sich mit den wildesten Dämonen menschlichen
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Aberwitzes, um aus der Dummheit und Not Gewinn zu ziehen.
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<P>Am niederdrückendsten aber wirkt gerade diese Verbindung materiellen und
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geistigen Elends (...). Die dumpfe Unbefriedigung, in der unzählige
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Menschen unsrer Zivilisation materiell und geistig leben, erklärt die
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Möglichkeit solcher Erscheinungen, in denen die Gespenster eines im
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Wahnsinn und Verbrechen konzentrierten Mittelalters umzugehen scheinen. Kein
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heller Schein der modernen Vernunftfreiheit hat jemals diese Gehirne
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erleuchtet, in denen die Dressur in unverstandener religiöser Dogmatik die
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Empfänglichkeit für jene rohe und plumpe Mystik vorbereitet hat, zu
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der sich die Siechen flüchten, wenn sie der zerrenden wirtschaftlichen
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Not, dem seelischen Ungenügen, der geschlechtlichen Entbehrung, dem
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körperlichen Leiden eine Hilfe suchen. Sie wenden sich an den
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geheimnisvollen Spuk, an das Mögliche des Unmöglichen, an das absurde
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Wunder. Und nicht nur die arme Näherin sieht in dem Kaffeesatz eines
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Betrügers den Quell allen Glücks und aller Weisheit, auch die
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Besitzenden haben sich längst wieder der dümmsten und albernsten
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Magie ergeben.
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<I>(1900)</I>
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<P>Man durchwandere abends die Straßen einer Großstadt, man schaue in
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die hellerleuchteten Prachtcafes und Bierpaläste, man besuche die
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Destillen und steige in die Kellerlokale hinab, man durchwandere die
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Tingel-Tangel: alles Stätten des Lebensgenusses in seiner
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konzentriertesten und brutalsten Form, des Amüsements. Zwar gibt es ja
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auch Theater, in denen wirkliche Kunst dem geläuterten Geschmack einen
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erlesenen Genuß bereitet, allein auf jeden wahren Kunsttempel, auf dessen
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Altären freilich nicht immer die echte Kunst geopfert wird, kommt ein
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halbes Dutzend solcher Musentempel, die dem Kult des Grotesken, Trivialen,
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Obszönen, Frechen und Albernen geweiht sind. Und dieser Kult zählt
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viel mehr begeisterte Verehrer, als der der wahren Kunst. (...)
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<P>Der Kapitalismus kennt nur das Surrogat des Lebensgenusses, das Amüsement.
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Die Form der kapitalistischen Arbeitsteilung, die den einen ein sybaritisches
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Lotterleben ermöglicht, während sie die anderen zur Tretmühle
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einer die intellektuelle und physische Kraft absorbierenden Arbeitsfron
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verdammt, läßt nicht dem edlen Lebensgenuß, sondern nur dem
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barbarischen Amüsement Raum.
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<I>
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(1900)
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</I>
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<P>Satiriker und Kulturpolitiker haben schlimme Zeiten. Der Satiriker ist nicht
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mehr gewachsen der Fülle satirischer Tatsachen, die jeder Tag
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anspült. Da hilft kein künstliches Worteschärfen, kein
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phantastisch-greller Einfall mehr, auch der brennendste Teufelswitz
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verdünnt und schwächt nur den schreienden Hohn des Geschehens selbst.
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Nicht einmal übertreiben lassen sich mehr die Geschehnisse, durch
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karikierende Beziehungen werden ihre Formen nicht grotesker. Der Scharfsinn des
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Spötters ist entbehrlich geworden. Sogar die bloße gestempelte
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Bildunterschrift »Kommentar überflüssig« ist ein verbogenes
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Ausrufungszeichen, das den Ausruf der Tatsachen knebelt.
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<P>Muß der Satiriker den Witz im Stall behalten, so hat auch der
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Kulturkritiker nicht mehr die Möglichkeit, durch das Pathos der Anklage,
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durch die Dialektik der Empörung die natürliche Wucht der Ereignisse
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zu steigern und dem Bewußtsein der Menschen aufpeitschend
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einzuprägen. Die Superlative des Wortes reichen nicht mehr heran an die
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Superlative der Dinge. Die »Besprechung« der Angelegenheiten
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tötet nur ihre innere Wirkung. Die Nachricht allein wird zum Nachrichter,
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jede kritische Zutat erstickt die Grausamkeit des immanenten Urteils. Zudem
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vermag keine Geißel mehr die abgestumpften Nerven zu reizen. Wir haben
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uns an alles gewöhnt, an das Tollste und Ruchloseste. Die Dinge erreichen
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schnell die Grenze, wo sie für die Empfindung nicht mehr überboten
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werden können. Vorgänge, die vordem ein Jahrzehnt hindurch die
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Menschen erregten, haben heute nur noch den Wert von Neuigkeiten, die man unter
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tausend anderen flüchtig in der Zeitung liest und vergißt. Vergebens
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ist das Bemühen der Sehnsüchtigen der Kultur, die Gewissen zu
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schüren, die Schlafenden wachzuschreien. Und wirft man die
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Fackelbrände aufreizender Wahrheit unter sie, so wickeln sie
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die Fackeln in ihre gutgepolsterten Schlafröcke und zeigen, wie leicht und
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ungefährlich ihre Flammen erstickt
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werden können; kaum ein Wollhärchen wird bei der Prozedur
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versehrt.
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<I>(1904)</I>
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<P><SMALL>Pfad: »../ke/«<BR>
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Verknüpfte Dateien: »<A href="http://www.mlwerke.de/css/format.css">../css/format.css</A>«</SMALL></P>
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<TR>
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<TD align="center" width="49%" height="20" valign="middle"><A href="../index.htm"><SMALL>MLWerke</SMALL></A>
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</TD>
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</TD>
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<TD align="center" width="49%" height="20" valign="middle"><A href="default.htm"><SMALL>Kurt Eisner</SMALL></A>
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