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2022-08-25 20:29:11 +02:00

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<TITLE>Karl Marx - Stellenkauf - Aus Australien</TITLE>
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<FONT SIZE=2><P>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 104-107<BR>
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961</P>
</FONT><H2>Karl Marx</H2>
<H1>Stellenkauf - <BR>
Aus Australien</H1>
<P><HR></P>
<FONT SIZE=2><P>["Neue Oder-Zeitung" Nr. 111 vom 7. M&auml;rz 1855]</P>
</FONT><B><P><A NAME="S104">&lt;104&gt;</A></B> <I>London</I>, 3. M&auml;rz. In der vorgestrigen Sitzung des Hauses der Gemeinen wurde bekanntlich Lord Goderichs Antrag, Unteroffiziere bis zum Range von Hauptleuten avancieren zu lassen, verworfen. Palmerston wandte das alte Dilemma an: Eine partielle Reform ist unm&ouml;glich, weil ein Glied des alten Systems das andere bedingt. Einzelne praktische Reform also unm&ouml;glich, weil sie nicht theoretisch. Die Gesamtreform des Systems unm&ouml;glich, weil sie nicht Reform, sondern Revolution. Theoretische Reform also unm&ouml;glich, weil sie nicht praktisch. Dieses Haus der Gemeinen - ein Haus, das das Prinzip beherzigt: principiis obsta &lt;widerstehe der Versuchung&gt; - lie&szlig; sich nat&uuml;rlich gern &uuml;berzeugen oder bedurfte vielmehr nicht der &Uuml;berzeugung, da sein Urteil vor dem Proze&szlig; gef&auml;llt war.</P>
<P>Palmerston f&uuml;hrte bei dieser Gelegenheit an, da&szlig; das System des Verkaufs der Offizierspatente alt sei, und hierin hatte er recht. Wir haben fr&uuml;her schon angedeutet, da&szlig; es mit der "glorreichen" Revolution von 1688 begann, mit der Einf&uuml;hrung von Staatsschulden, Banknoten und holl&auml;ndischem K&ouml;nigtume. Schon in der Meutereiakte von 1694 wird die Notwendigkeit erw&auml;hnt,</P>
<FONT SIZE=2><P>"dem gro&szlig;en Unheil des Kaufes und Verkaufes der milit&auml;rischen Stellen in der k&ouml;niglichen Armee" zuvorzukommen, und wird angeordnet, da&szlig; "jeder bestallte Offizier" (nur die Unteroffiziere sind <I>nicht </I>bestallt) "schw&ouml;ren sollte, da&szlig; er seine Bestallung nicht gekauft habe".</P>
</FONT><P>Diese Restriktion wurde indes nicht durchgesetzt; 1702 entschied vielmehr Sir N[athan] Wright, der Lord Keeper &lt;Lordsiegelbewahrer&gt;, in umgekehrtem Sinne. Am <A NAME="S105"><B>&lt;105&gt;</A></B> 1. Mai 1711 erkannte eine Verordnung der K&ouml;nigin Anna ausdr&uuml;cklich das System an, indem sie verf&uuml;gte,</P>
<FONT SIZE=2><P>"da&szlig; keine Bestallungen verkauft werden sollten ohne k&ouml;nigliche Best&auml;tigung und da&szlig; kein Offizier auskaufen d&uuml;rfe, der nicht 20 Jahre gedient oder im Dienste unf&auml;hig geworden sei etc."</P>
</FONT><P>Es war nur noch ein Schritt von dieser offiziellen Anerkennung des Handeis in milit&auml;rischen Patenten zur offiziellen Regulierung des Marktpreises der Bestallungen. 1719/1720 wurden demgem&auml;&szlig; zum erstenmal solche Marktpreise fixiert. Die Preise der Offizierspatente wurden erneut 1766, 1772, 1773, 1783 und schlie&szlig;lich 1821, wo die jetzigen Preise festgesetzt wurden. Schon 1766 ver&ouml;ffentlichte der Kriegsminister Barrington einen Brief, worin es hei&szlig;t:</P>
<FONT SIZE=2><P>"Die Folge dieses Handels in Offizierspatenten ist h&auml;ufig. da&szlig; M&auml;nner, die mit der w&auml;rmsten Neigung f&uuml;r den Dienst in die Armee getreten sind, die sich selbst bei jeder Gelegenheit ausgezeichnet haben, ihr ganzes Leben durch in dem untersten Rang gehalten werden, weil sie arm sind. Diese verdienstvollen Offiziere erdulden oft die grausame Dem&uuml;tigung, durch junge Buben von reichen Familien kommandiert zu werden, die viel sp&auml;ter in den Dienst eintreten, und deren Verm&ouml;gen sie bef&auml;higt, sich au&szlig;erhalb des Regiments zu am&uuml;sieren, w&auml;hrend die anderen, best&auml;ndig im Dienstquartier, die Pflichten dieser Gentlemen erf&uuml;llen und ihre eignen gelernt haben."</P>
</FONT><P>Es ist wahr, da&szlig; das gemeine Recht von England es f&uuml;r illegal erkl&auml;rt, f&uuml;r irgendein &ouml;ffentliches Amt ein Geschenk oder "M&auml;klersporteln" zu geben, ganz wie die Statuten der Staatskirche Simonie mit ihrem Bann belegen. Die historische Entwickelung besteht aber darin, da&szlig; weder das Gesetz die Praxis bestimmt, noch die Praxis das widersprechende Gesetz beseitigt.</P>
<P>Die letzten Nachrichten von Australien f&uuml;gen ein neues Element der allgemeinen Unbehaglichkeit, Unruhe und Unsicherheit hinzu. Wir m&uuml;ssen unterscheiden zwischen der Emeute zu Ballarat (unweit Melbourne) und der allgemeinen revolution&auml;ren Bewegung in der Provinz Victoria. Die erstere wird in diesem Moment unterdr&uuml;ckt sein; die letztere ist nur durch vollst&auml;ndige Zugest&auml;ndnisse zu unterdr&uuml;cken. Die erstere ist selbst nur ein Symptom, ein gelegentlicher Ausbruch der letzteren. Was die Emeute bei Ballarat angeht, so sind die Tatsachen einfach diese: Ein gewisser Bentley, Eigent&uuml;mer des Eureka-Hotels bei den Goldfeldern von Ballarat, war in allerlei Konflikte mit den Goldgr&auml;bern geraten. Ein Mord, der in seinem Hause vorfiel, vermehrte den Ha&szlig; gegen ihn. Bei der Untersuchung des Leichenbeschauers ward Bentley als unschuldig entlassen. Indes ver&ouml;ffentlichten zehn von den zw&ouml;lf Geschworenen, die w&auml;hrend der Leichenschau funk- <A NAME="S106"><B>&lt;106&gt;</A></B> tionierten, einen Protest gegen die Parteilichkeit des Coroner (Leichenbeschauer), der die dem Gefangenen nachteiligen Zeugenaussagen zu unterdr&uuml;cken gesucht. Auf das Verlangen der Volksmasse fand eine zweite Untersuchung statt. Trotz sehr verd&auml;chtigender Zeugenaussage wurde Bentley wieder entlassen. Indes ward bekannt, da&szlig; einer der Richter pekuni&auml;r an dem Hotel beteiligt sei. Viele fr&uuml;here und sp&auml;tere Klagen beweisen den zweideutigen Charakter der Regierungsbeamten des Distrikts von Ballarat. Am Tage der zweiten Entlassung des Bentley machten die Goldgr&auml;ber eine furchtbare Demonstration, &uuml;bergaben sein Hotel den Flammen und zogen sich dann zur&uuml;ck. Drei der R&auml;delsf&uuml;hrer wurden verhaftet auf Befehl von Sir Charles Hotham, dem Generalgouverneur der Provinz Victoria. Am 27. November verlangte eine Deputation der Goldgr&auml;ber ihre Freilassung. Hotham schlug das Gesuch ab. Die Goldgr&auml;ber hielten ein Monstre-Meeting. Der Gouverneur entsandte Polizei und Milit&auml;rmacht von Melbourne. Es kam zum Konflikt, mehrere Tote blieben, und die Goldgr&auml;ber, nach den letzten Nachrichten, die bis zum 1. Dezember gehen, hatten die Unabh&auml;ngigkeitsfahne aufgepflanzt.</P>
<P>Diese Erz&auml;hlung, im wesentlichen einem Regierungsorgan entnommen, spricht schon keineswegs zugunsten der englischen Richter und Regierungsbeamten. Sie zeigt das herrschende Mi&szlig;trauen. Die eigentlichen gro&szlig;en Streitfragen, um die sich die revolution&auml;re Bewegung in der Provinz Victoria dreht, sind zwei. Die Goldgr&auml;ber verlangen Abschaffung der Patente zum Goldgraben - d.h. einer direkt auf die Arbeit gelegten Steuer; sie verlangen zweitens Abschaffung der Eigentumsqualifikation f&uuml;r Mitglieder der Repr&auml;sentantenkammer, um so selbst Kontrolle &uuml;ber Steuern und Gesetzgebung zu erhalten. Man sieht: im wesentlichen &auml;hnliche Motive wie die, die zur Unabh&auml;ngigkeitserkl&auml;rung der Vereinigten Staaten f&uuml;hrten, nur, da&szlig; in Australien der Gegensatz von den Arbeitern gegen die mit der Kolonialb&uuml;rokratie verbundenen Monopolisten ausgeht. Im <I>Melbourne </I>"Argus" lesen wir von gro&szlig;en Reformmeetings und andererseits gro&szlig;en milit&auml;rischen Vorbereitungen auf seiten der Regierung. Es hei&szlig;t dort unter anderem:</P>
<FONT SIZE=2><P>"Auf einem Meeting von 4.000 Personen wurde beschlossen, da&szlig; die Patentabgabe eine Auflage und ungerechte Steuer auf freie Arbeit sei, das Meeting sich daher verpflichte, sie sofort abzuschaffen durch Verbrennen aller Patente. Sollte irgendeiner verhaftet werden, weil nicht im Besitze eines Patents, so werde ihn das vereinigte Volk verteidigen und besch&uuml;tzen."</P>
</FONT><P>Zu Ballarat erschienen am 30. November die Kommiss&auml;re Rede und Johnson mit Kavallerie und Polizei und verlangten mit gez&uuml;ckten Schwertern <A NAME="S107"><B>&lt;107&gt;</A></B> und fixierten Bajonetten die Vorzeigung der Patente von den Goldgr&auml;bern. Diese hielten ein Massenmeeting, meist bewaffnet, und beschlossen, der Eintreibung der geh&auml;ssigen Steuer aufs &auml;u&szlig;erste zu widerstehen. Sie verweigerten, ihre Patente vorzuzeigen; sie erkl&auml;rten, sie h&auml;tten sie verbrannt; die Aufruhrakte wurde verlesen, und der Aufruhr war nun vollst&auml;ndig.</P>
<P>Es gen&uuml;gt, hier anzuf&uuml;hren - um das gemeinsame Treiben der in den Lokallegislaturen hausenden Monopolisten und der mit ihnen verbundenen Kolonialb&uuml;rokratie zu schildern -, da&szlig; 1854 die Regierungsausgabe in Victoria 3.564.258 Pfd.St. betrug, ein Defizit einschlie&szlig;end von 1.085.896, also von mehr als ein Drittel der Gesamteinnahme. Und im Angesicht der jetzigen Krise, des allgemeinen Bankerutts verlangt Sir Charles Hotham f&uuml;r das Jahr 1855 eine Summe von 4.801.292 Pfd.St. Victoria z&auml;hlt kaum 300.000 Einwohner, und von der obigen Summe sind 1.860.830 Pfd.St., d.h. 6 Pfd.St. per Kopf, f&uuml;r &ouml;ffentliche Arbeiten bestimmt, n&auml;mlich f&uuml;r Wege, Docks, Kais, Kasernen, Regierungsgeb&auml;ude, Zoll&auml;mter, botanische G&auml;rten, Regierungsstallungen etc. Nach diesem Ma&szlig;stab - 6 Pfd.St. per Kopf - m&uuml;&szlig;te die Bev&ouml;lkerung von Gro&szlig;britannien 168.000.000 Pfd.St. allein f&uuml;r &ouml;ffentliche Arbeiten j&auml;hrlich zahlen, d.h. dreimal mehr, als ihre Gesamtsteuer betr&auml;gt. Man begreift, da&szlig; die arbeitende Bev&ouml;lkerung sich gegen diese &Uuml;bersteuerung emp&ouml;rt. Man begreift zugleich, wie gute Gesch&auml;fte B&uuml;rokratie und Monopolisten vereinigt bei so ausgedehnten - auf fremde Kosten bestrittenen - Staatsarbeiten machen m&uuml;ssen.</P>
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