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2022-08-25 20:29:11 +02:00

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<TITLE>Friedrich Engels - Kritik des napoleonischen "Moniteur"-Artikels</TITLE>
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</I><FONT SIZE=2><P>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 184-188<BR>
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961</P>
</FONT><H2>Friedrich Engels</H2>
<H1>Kritik des napoleonischen "Moniteur"-Artikels</H1>
<P><HR></P>
<FONT SIZE=2><P>["Neue Oder-Zeitung" Nr. 177 vom 17. April 1855]</P>
</FONT><B><P><A NAME="S184">&lt;184&gt;</A></B> <I>London</I>, 14. April. Das Publikum, selbst in Frankreich, scheint hinter die Mysterien der Belagerung von Sewastopol gekommen zu sein. Louis Bonaparte daher, in seiner Eigenschaft als Redakteur en chef &lt;Chefredakteur&gt; des "Moniteur", hat wieder einen langen Leitartikel &uuml;ber diesen Gegenstand losgelassen. Verschiedene Zwecke sollen damit erreicht werden: im allgemeinen das Publikum zu tr&ouml;sten &uuml;ber den Nichterfolg des Unternehmens; im besondern die Verantwortlichkeit f&uuml;r den Fehlschlag von den Schultern des Nachfolgers Napoleons abzuw&auml;lzen; im einzelnen auf das Br&uuml;sseler Pamphlet zu antworten. In jenem halb vertraulichen, halb w&uuml;rdevollen Stil, charakteristisch f&uuml;r den Mann, der gleichzeitig f&uuml;r die franz&ouml;sischen Bauern und die europ&auml;ischen Kabinette schreibt, wird eine Art Geschichte des Feldzugs gegeben mit angeblichen Gr&uuml;nden f&uuml;r jeden Schritt. Das Dokument ist im h&ouml;chsten Grade unpolitisch, weil es &uuml;ber alle Ma&szlig;en schwach und unzureichend ist. Indes mu&szlig; der "pressure from without" &lt;"Druck von au&szlig;en"&gt; bedenklich stark sein, wenn Bonaparte in dieser Weise vorzutreten und sich selbst zu verteidigen hat.</P>
<P>Nach einer schleppenden Einleitung wird ein Teil der Instruktionen, die S[ain]t-Arnaud beim Beginn des Feldzuges erhielt, mitgeteilt und auseinandergesetzt, warum die alliierten Truppen zuerst nach <I>Gallipoli </I>gebracht wurden. Die Russen, hei&szlig;t es, konnten die Donau bei Rustschuk &uuml;berschreiten und, die Linien von Varna und Schumla umgehend, den Balkan passieren und auf Konstantinopel marschieren. Von allen Gr&uuml;nden, die f&uuml;r die Landung bei Gallipoli sprechen sollten, ist dies der schlechteste. Erstens ist Rustschuk eine <I>Festung </I>und nicht eine offene Stadt, wie der erlauchte Herausgeber des "Moniteur" sich einzubilden scheint. Es erinnert dies an den <A NAME="S185"><B>&lt;185&gt;</A></B> historischen Schnitzer, den der "Moniteur" neulich in seinem Nekrolog des Kaisers Nikolaus beging, worin u.a. der Vertrag mit Adrianopel mit dem Vertrag von K&uuml;tsch&uuml;k-Kainardschi verwechselt wird. Was die Gefahr eines solchen russischen Flankenmarsches betrifft, so mag daran erinnert werden, da&szlig; eine t&uuml;rkische Armee von 60.000 Mann, fest etabliert zwischen 4 starken Festungen, nicht ungestraft zur&uuml;ckgelassen werden konnte, ohne ein starkes Korps zu ihrer Besch&auml;ftigung zu detachieren; da&szlig; dieser Flankenmarsch die Russen in den Bergschluchten des Balkans dem Schicksal Duponts bei Baylen und Vandammes bei Kulm aussetzte und da&szlig; sie im besten Fall nur 25.000 Mann nach Adrianopel bringen konnten. Wer eine solche Armee als gef&auml;hrlich f&uuml;r Konstantinopel betrachtet, kann sich eines Besseren belehren aus den Werken des Majors Moltke &uuml;ber den Russisch-T&uuml;rkischen Krieg von 1828/1829. H&ouml;ren wir weiter. Falls Konstantinopel nicht gef&auml;hrdet war, sollten die Alliierten einige Divisionen nach Varna vorschieben, um jeden Versuch auf eine Belagerung von Silistria zur&uuml;ckzuweisen. Dies geschehen, boten sich zwei weitere Operationen dar: in der N&auml;he von Odessa landen oder sich der Krim bem&auml;chtigen. Beide waren von den alliierten Generalen auf dem Fleck in Erw&auml;gung zu ziehn. Die Instruktionen enden mit einigen gesunden milit&auml;rischen Ratschl&auml;gen in der Form von Maximen und Apophthegmen:</P>
<FONT SIZE=2><P>"Haltet euch stets von dem unterrichtet, was der Feind tut. Haltet eure Truppen zusammen, teilt sie nicht; aber wenn ihr sie teilen m&uuml;&szlig;t, richtet es so ein, da&szlig; ihr sie auf einem gegebenen Punkt in 24 Stunden wieder vereinigen k&ouml;nnt etc."</P>
</FONT><P>Alles dies in der Tat sehr wertvolle Regeln des Betragens, aber so f&uuml;rchterlich abgedroschen, so unbeschreiblich gemeinpl&auml;tzlich, da&szlig; man sofort schlie&szlig;en mu&szlig;, St-Arnaud habe in den Augen seines Meisters f&uuml;r einen vollkommenen Ignoranten gegolten, um solch guten Rates zu bed&uuml;rfen. Und pl&ouml;tzlich brechen die Instruktionen unerwartet damit ab:</P>
<FONT SIZE=2><P>"Sie besitzen mein volles Vertrauen, Marschall! Gehen Sie, denn ich bin sicher, da&szlig; unter Ihrer erfahrenen Leitung der franz&ouml;sische Adler neuen Ruhm erbeuten wird."</P>
</FONT><P>Was den Hauptpunkt betrifft, die Krimexpedition, so gesteht Bonaparte, da&szlig; sie sein Favoritplan war und da&szlig; er sp&auml;ter mit Bezug auf sie einen zweiten Pack Instruktionen an St-Arnaud sandte. Aber er leugnet, den Plan in seinem Detail ausgearbeitet und ins Hauptquartier gesandt zu haben. Ihm zufolge blieb den Generalen offen, die Landung bei Odessa vorzuziehen. Zum Beweis wird eine Stelle aus diesen neuen Instruktionen mitgeteilt. Bonaparte schl&auml;gt <A NAME="S186"><B>&lt;186&gt;</A></B> darin eine Landung bei Feodosia (Kaffa) vor in Anbetracht des sichern und ger&auml;umigen Ankerplatzes, den es biete f&uuml;r die Flotten, die stets die Operationsbasis der Armee bilden m&uuml;&szlig;ten. Was eine Operationsbasis ist, hatte er schon in der ersten Instruktion dem ber&uuml;hmten Marschall auf das weitl&auml;ufigste und elementarste verst&auml;ndlich zu machen gesucht. Von diesem Punkte - Kaffa - sollte die Armee auf Simferopol marschieren, die Russen auf Sewastopol werfen, vor dessen W&auml;llen wahrscheinlich eine Schlacht stattfinden w&uuml;rde, und schlie&szlig;lich Sewastopol belagern. "Ungl&uuml;cklicherweise" wurde dieser Plan nicht befolgt von den alliierten Generalen! Dieser "ungl&uuml;ckliche" Umstand ist um so gl&uuml;cklicher, als er Bonaparte erlaubt, die ganze Verantwortlichkeit f&uuml;r die verdrie&szlig;liche Aff&auml;re abzusch&uuml;tteln und auf die Schultern der Generale abzuw&auml;lzen. Der Plan, mit 60.000 Mann bei Kaffa zu landen und von da auf Sewastopol zu marschieren, ist in der Tat originell. Als allgemeine Regel angenommen, da&szlig; die Offensivkraft einer Armee in feindlichem Lande wenigstens in demselben Verh&auml;ltnisse abnimmt, worin die Entfernung von ihrer Operationsbasis zunimmt, wieviel Mann w&uuml;rden die Alliierten nach Sewastopol gebracht haben nach einem Marsche von mehr als 120 Meilen? Wieviel Mann h&auml;tten in Kaffa zur&uuml;ckgelassen werden m&uuml;ssen? Wie viele, um Zwischenpunkte zu behaupten und zu befestigen? Wie viele, um Transporte zu besch&uuml;tzen und das Land zu s&auml;ubern? Nicht 20.000 Mann h&auml;tten unter den W&auml;llen einer Festung konzentriert werden k&ouml;nnen, die dreimal diese Zahl zu ihrer blo&szlig;en Blockade erheischt. Wenn Bonaparte je selbst in den Krieg zieht und ihn nach diesen Prinzipien f&uuml;hrt, so wird jedenfalls dieselbe Familie den erstaunlichsten Antagonismus in der Kriegsgeschichte repr&auml;sentieren.<A NAME="Z1"><A HREF="me11_184.htm#M1">&lt;1&gt;</A></A> Was das sichere Ankern bei Kaffa betrifft, so wei&szlig; jeder Matrose im Schwarzen Meer und zeigt jede Schiffskarte, da&szlig; Kaffa eine offene Reede mit Schutz blo&szlig; gegen Nord- und Westwinde ist, w&auml;hrend die gef&auml;hrlichsten St&uuml;rme im Schwarzen Meere von S&uuml;dost- und S&uuml;dwestwinden drohen. So z.B. der Sturm vom 14. November. H&auml;tten die Flotten damals bei Kaffa vor Anker gelegen, so w&auml;ren sie unstreitig auf die Windseite geworfen worden.</P>
<P>Nun kommt der schwierigste Teil des Werkes. Louis Bonaparte selbst, wie er glaubt, hat die Verantwortlichkeit, die das Br&uuml;sseler Pamphlet auf ihn wirft, gl&uuml;cklich abgew&auml;lzt. Aber er geht nicht, Raglan und Canrobert zu opfern. Demgem&auml;&szlig;, um die T&uuml;chtigkeit besagter Generale zu beweisen, wird <A NAME="S187"><B>&lt;187&gt;</A></B> eine Skizze der Belagerungskunst entworfen. Diese Skizze jedoch dient nur dazu, zu zeigen, wie Sewastopol <I>nicht </I>genommen werden mu&szlig;, denn sie wickelt sich ab mit der Versicherung, da&szlig; alle diese Regeln unanwendbar auf Sewastopol waren.</P>
<FONT SIZE=2><P>"Zum Beispiel", hei&szlig;t es, "in einer gew&ouml;hnlichen Belagerung, wo eine Front angegriffen wird, w&uuml;rde die L&auml;nge der letzten Parallele ungef&auml;hr 300 m&egrave;tres &lt;Meter&gt; betragen und die Gesamtl&auml;nge der Laufgr&auml;ben nicht &uuml;ber 4.000 m&egrave;tres. Hier hingegen betr&auml;gt die Ausdehnung der Parallele 3.000 m&egrave;tres und die gesamte Linearl&auml;nge der Laufgr&auml;ben 41.000 m&egrave;tres."</P>
</FONT><P>Richtig, aber das gerade ist die Frage: Warum ist diese enorme Ausdehnung der Attacke beliebt worden, w&auml;hrend alle Umst&auml;nde die gr&ouml;&szlig;tm&ouml;gliche Konzentration des Feuers auf einem oder zwei bestimmten Punkten geboten? Die Antwort ist:</P>
<FONT SIZE=2><P>"Sewastopol ist nicht wie eine andere Festung. Es hat einen nur seichten Graben, keine gemauerten Eskarpes, und diese Verteidigungswerke sind ersetzt durch <I>Abattis </I>&lt;<I>Verhaue</I>&gt; und <I>Palisaden</I>. So konnte unser Feuer nur schwache Wirkung auf die Erdbrustwehren machen."</P>
</FONT><P>Da dies nicht f&uuml;r Marschall St-Arnaud geschrieben sein kann, der vielleicht daran geglaubt h&auml;tte, mu&szlig; es ausschlie&szlig;lich zum Behuf und Besten der franz&ouml;sischen Bauernschaft geschrieben sein, denn jeder Unteroffizier in der franz&ouml;sischen Armee wird &uuml;ber solchen Galimathias lachen. Palisaden, wenn nicht auf dem Grunde eines Grabens oder wenigstens au&szlig;erhalb des Gesichtskreises des Feindes, sind sehr bald niederkart&auml;tscht. Abattis k&ouml;nnen in Brand gesteckt werden. Sie m&uuml;ssen sich am Fu&szlig;e der Glacis befinden, ungef&auml;hr 60-80 Yards von den Brustwehren, weil sie sonst dem Feuer der Kanonen im Wege stehen. Wo das Holz f&uuml;r diese Abattis - lange, auf den Grund gelegte B&auml;ume, mit den zugespitzten Zweigen nach dem Feinde gekehrt, das Ganze fest zusammen verbunden -, woher dies Holz in diesem holzlosen Lande kommen sollte, verschweigt der "Moniteur".<A NAME="Z2"><A HREF="me11_184.htm#M2">&lt;2&gt;</A></A> Da&szlig; Palisaden ein Fortschritt gegen gemauerte Eskarpen sind, ist sicher neu; denn diese h&ouml;lzernen Wehren k&ouml;nnen sehr leicht in Brand gesteckt werden und erlauben so einen Sturm, sobald die Kanonen des Feindes zum Stillschweigen gebracht sind.</P>
<B><P><A NAME="S188">&lt;188&gt;</A></B> Schlie&szlig;lich erfahren wir, soll das oben beleuchtete Expos&eacute; beweisen, da&szlig; die alliierten Generale getan haben, was m&ouml;glich war, ja, mehr als unter den gegebenen Umst&auml;nden von ihnen zu erwarten war, ja, sich sogar mit Ruhm bedeckt haben. Schlimm f&uuml;r den Ruhm, der <I>bewiesen </I>werden mu&szlig; und so bewiesen wird! Wenn die Herren Generale Sewastopol nicht einschlie&szlig;en konnten, wenn sie die russische Observationsarmee nicht vertreiben konnten, wenn sie noch nicht in Sewastopol sind - nun, so liegt das nur daran, da&szlig; sie nicht stark genug waren! In der Tat, sie sind es nicht. Aber wenn sie es nicht waren, wer ist verantwortlich f&uuml;r diesen <I>gr&ouml;&szlig;ten aller Fehler</I>? Niemand als Bonaparte. Das ist der notwendige Schlu&szlig;, wozu der Leitartikel des "Moniteur" f&uuml;hrte. Welchen Eindruck er in Paris hervorgebracht, zeigt folgender Auszug aus dem Briefe des sonst so servilen Pariser Korrespondenten der "Times":</P>
<FONT SIZE=2><P>"Manche Personen betrachten diesen Artikel blo&szlig; als Vorwort zur g&auml;nzlichen R&auml;umung der Krim. In einem Legitimistenzirkel sagt man: Man lie&szlig; uns Krieg &agrave; la Napoleon erwarten; aber es scheint, wir sollen nun einen Frieden &agrave; la Louis-Philippe haben. Auf der andern Seite herrschen Eindr&uuml;cke &auml;hnlicher Art in den Gem&uuml;tern der arbeitenden Klasse des Faubourg &lt;Vorortes&gt; Saint Antoine. Sie legen den Artikel als ein offenes Eingest&auml;ndnis ohnm&auml;chtiger Schw&auml;che aus."</P>
</FONT><P><HR></P>
<P>Textvarianten</P>
<P><A NAME="M1">&lt;1&gt; In der "New-York Daily Tribune" Nr. 4377 vom 30. April 1855 wird dieser Satz folgenderma&szlig;en gebracht: "Wenn Bonaparte je selbst in den Krieg zieht und ihn nach diesen Prinzipien f&uuml;hrt, so kann er ebensogut sofort im Hotel Mivarts, London, sich Quartier bestellen, denn er wird niemals Paris wiedersehen." <A HREF="me11_184.htm#Z1">&lt;=</A></P>
<P><A NAME="M2">&lt;2&gt;</A> In der "New-York Daily Tribune" folgt hier der Satz: "Das Fehlen gemauerter Eskarpen hat nichts mit der langwierigen Belagerung zu tun, denn selbst nach der Darstellung des 'Moniteur' kommen sie erst dann ins Spiel, nachdem die Bresche legenden Batterien auf der Spitze des Glacis etabliert sind - eine Position, von der die Alliierten noch weit entfernt sind." <A HREF="me11_184.htm#Z2">&lt;=</A></P>
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