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<title>Engels an W. Borgius in Breslau, 25. Januar 1894</title>
<meta http-equiv="author" content="Friedrich Engels">
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<a class="Seitenzahl" id="S205">205</a><a class="SeiteVor" href="me39_205.htm#S206">&gt;</a>
<p class="AutorInfo">Friedrich Engels</p>
<h1>Brief an W. Borgius in Breslau, 25. Januar 1894</h1>
<p class="FirstPub">25. Januar 1894. Text und Seitenangaben beruhen auf "MEW 39", d.h. "Karl Marx Friedrich Engels Werke", Band 39, Hrsg. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Dietz Verlag, Berlin, 1968</p>
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<div id="Textteil">
<p class="BriefOrtDatum">London, 25. Januar 1894 <br/>122, Regent's Park Road, N.W.</p>
<p class="BriefAnrede">Sehr geehrter Herr,</p>
<p>Hier die Antwort auf Ihre Fragen!</p>
<p><strong>1.</strong> Unter den ökonomischen Verhältnissen, die wir als bestimmende Basis der Geschichte der Gesellschaft ansehen, verstehen wir die Art und Weise, worin die Menschen einer bestimmten Gesellschaft ihren Lebens&shy;unterhalt produzieren und die Produkte untereinander austauschen (soweit Teilung der Arbeit besteht). Also die <em>gesamte Technik</em> der Produktion und des Transports ist da einbegriffen. Diese Technik bestimmt nach unserer Auffassung auch die Art und Weise des Austausches, weiterhin der Ver&shy;teilung der Produkte und damit, nach der Auflösung der Gentilgesellschaft, auch die Einteilung der Klassen, damit die Herrschafts- und Knechtschafts&shy;verhältnisse, damit Staat, Politik, Recht etc. Ferner sind einbegriffen unter den ökonomischen Verhältnissen die <em>geographische Grundlage</em>, worauf diese sich abspielen, und die tatsächlich überlieferten Reste früherer ökono&shy;mischer Entwicklungsstufen, die sich forterhalten haben, oft nur durch Tradition oder <abbr title="Trägheitskraft">vis inertiae</abbr>, natürlich auch das diese Gesellschaftsform nach außen hin umgebende Milieu.</p>
<p>Wenn die Technik, wie Sie sagen, ja größtenteils vom Stande der Wissen&shy;schaft abhängig ist, so noch weit mehr diese vom Stand und <em>den Bedürf&shy;nissen</em> der Technik. Hat die Gesellschaft ein technisches Bedürfnis, so hilft das der Wissenschaft mehr voran als zehn Universitäten. Die ganze Hydro&shy;statik (Torricelli etc.) wurde hervorgerufen durch das Bedürfnis der Rege&shy;lung der Gebirgsströme in Italien im 16. und 17. Jahrhundert. Von der Elektrizität wissen wir erst etwas Rationelles, seit ihre technische Anwend&shy;barkeit entdeckt. In Deutschland hat man sich aber leider daran gewöhnt, die Geschichte der Wissenschaften so zu schreiben, als wären sie vom Himmel gefallen.</p>
<p><a class="SeiteZurueck" href="me39_205.htm#S205">&lt;</a><a class="Seitenzahl" name="S206">206</a><a class="SeiteVor" href="me39_205.htm#S207">&gt;</a><strong>2.</strong> Wir sehen die ökonomischen Bedingungen als das in letzter Instanz die geschichtliche Entwicklung Bedingende an. Aber die Rasse ist selbst ein ökonomischer Faktor. Nun sind hier aber zwei Punkte nicht zu übersehen:</p>
<p><strong>a)</strong> Die politische, rechtliche, philosophische, religiöse, literarische, künstlerische etc. Entwicklung beruht auf der ökonomischen. Aber sie alle reagieren auch aufeinander und auf die ökonomische Basis. Es ist nicht, daß die ökonomische Lage Ursache, <em>allein aktiv</em> ist und alles andere nur passive Wirkung. Sondern es ist Wechselwirkung auf Grundlage der in letzter Instanz stets sich durchsetzenden ökonomischen Notwendigkeit. Der Staat z.B. wirkt ein durch Schutzzölle, Freihandel, gute oder schlechte Fiskalität, und sogar die aus der ökonomischen Elendslage Deutschlands von 1648 bis 1830 entspringende tödliche Ermattung und Impotenz des deutschen Spießbürgers, die sich äußerte zuerst im Pietismus, dann in Sentimentalität und kriechender Fürsten- und Adelsknechtschaft, war nicht ohne ökonomische Wirkung. Sie war eins der größten Hindernisse des Wiederaufschwungs und wurde erst erschüttert dadurch, daß die Revolutions- und Napoleonischen Kriege das chronische Elend akut machten. Es ist also nicht, wie man sich hier und da bequemerweise vorstellen will, eine automatische Wirkung der ökonomischen Lage, sondern die Menschen machen ihre Geschichte selbst, aber in einem gegebenen, sie bedingenden Milieu, auf Grundlage vorgefundener tatsächlicher Verhältnisse, unter denen die ökonomischen, sosehr sie auch von den übrigen politischen und ideologischen beeinflußt werden mögen, doch <em>in letzter Instanz</em> die ent&shy;scheidenden sind und den durchgehenden, allein zum Verständnis führen­ den roten Faden bilden.</p>
<p><strong>b)</strong> Die Menschen machen ihre Geschichte selbst, aber bis jetzt nicht mit Gesamtwillen nach einem Gesamtplan, selbst nicht in einer bestimmt ab&shy;gegrenzten gegebenen Gesellschaft. Ihre Bestrebungen durchkreuzen sich, und in allen solchen Gesellschaften herrscht ebendeswegen die <em>Notwendigkeit</em>, deren Ergänzung und Erscheinungsform die <em>Zufälligkeit</em> ist. Die Not&shy;wendigkeit, die hier durch alle Zufälligkeit sich durchsetzt, ist wieder schließlich die ökonomische. Hier kommen dann die sogenannten großen Männer zur Behandlung. Daß ein solcher und grade dieser zu dieser be&shy;stimmten Zeit in diesem gegebenen Lande aufsteht, ist natürlich reiner Zufall. Aber streichen wir ihn weg, so ist Nachfrage da für Ersatz und dieser Ersatz findet sich, <abbr title="recht oder schlecht">tant bien que mal</abbr>, aber er findet sich auf die Dauer. Daß Napoleon grade dieser Korse, der Militärdiktator war, den die durch eignen Krieg erschöpfte französische Republik nötig machte, das war Zufall; daß <a class="SeiteZurueck" href="me39_205.htm#S206">&lt;</a><a class="Seitenzahl" name="S207">207</a>aber in Ermangelung eines Napoleon ein andrer die Stelle ausgefüllt hätte, das ist bewiesen dadurch, daß der Mann sich jedesmal gefunden, sobald er nötig war: <abbr title="Gaius Julius Caesar, (ca 100-44 v.u.Z.), römischer Feldherr und Staatsmann">Cäsar</abbr>, <abbr title="Gajus Julius Cäsar Octavianus (634 v.Chr. - 14 n.Chr.), römischer Kaiser von 27 v.Chr bis 14 n.Chr.">Augustus</abbr>, <abbr title="Oliver Cromwell (1599-1658), bürgerlicher Revolutionär und Diktator über England, Wales, Schottland und Irland">Cromwell</abbr> etc. Wenn Marx die materialistische Geschichtsauffassung entdeckte, so beweisen <abbr title="Jacques Nicolas Augustin Thierry (1795-1856) französischer Historiker">Thierry</abbr>, <abbr title="François August Marie Mignet (1796-1884) französischer Historiker">Mignet</abbr>, <abbr title="François Pierre Guilleaume Guizot (1787-1874), Historiker und während der Monarchie von 1840-1848 Staatsmann ">Guizot</abbr>, die sämtlichen englischen Geschichtsschreiber bis 1850, daß darauf angestrebt wurde, und die Entdeckung derselben Auffassung durch <abbr title="Lewis Henry Morgan (1818-1881) US-amerikanischer Ethnologe, beschrieb die urgesellschaftlichen Gesellschaften der nordamerikanischen Indianer">Morgan</abbr> beweist, daß die Zeit für sie reif war und sie eben entdeckt werden <em>mußte</em>.</p>
<p>So mit allem ändern Zufälligen und scheinbar Zufälligen in der Ge&shy;schichte. Je weiter das Gebiet, das wir grade untersuchen, sich vom Ökono&shy;mischen entfernt und sich dem reinen abstrakt Ideologischen nähert, desto mehr werden wir finden, daß es in seiner Entwicklung Zufälligkeiten auf weist, desto mehr im Zickzack verläuft seine Kurve. Zeichnen Sie aber die Durch&shy;schnittsachse der Kurve, so werden Sie finden, daß, je länger die betrachtete Periode und je größer das so behandelte Gebiet ist, daß diese Achse der Achse der ökonomischen Entwicklung um so mehr annähernd parallel läuft.</p>
<p>Das größte Hindernis zum richtigen Verständnis ist in Deutschland die unverantwortliche Vernachlässigung in der Literatur der ökonomischen Geschichte. Es ist so schwer, nicht nur sich die auf der Schule eingepaukten Geschichtsvorstellungen abzugewöhnen, sondern noch mehr, das Material zusammenzutrommeln, das dazu nötig ist. Wer z.B. hat nur den alten G. v. Gülich gelesen, der in seiner trocknen Materialsammlung doch soviel Stoff enthält zur Aufklärung unzähliger politischer Tatsachen!</p>
<p>Übrigens sollte Ihnen doch, glaube ich, das schöne Exempel, das Marx im <a href="../me08/me08_111.htm" target="_blank" titel="hier in diesem Archiv">„18. Brumaire"</a> gegeben hat, schon über Ihre Fragen ziemliche Auskunft ge&shy;ben, grade weil es ein praktisches Beispiel ist. Auch glaube ich im <a href="../me20/me20_001.htm" target="_blank" titel="hier komplett in diesem Archiv">„Anti-Düh&shy;ring"</a> <a href="../me20/me20_032.htm#Kap_IX" target="_blank" titel="angegebene Kapitel hier in unserem Archiv">I, Kap. 9-11</a> und <a href="../me20/me20_136.htm#Kap_II" target="_blank" titel="angegebene Kapitel hier in diesem Archiv">II, 2-4</a> sowie <a href="../me20/me20_239.htm#Kap_I" target="_blank" titel="angegebenes Kapitel hier in diesem Archiv">III, 1</a> oder <a href="../me20/me20_016.htm" target="_blank" titel="Die Einleitung hier in diesem Archiv">Einleitung</a> und dann im <a href="../me21/me21_291.htm" target="_blank" titel="Abschnitt IV von Friedrich Engels: 'Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie' hier in diesem Archiv">letz&shy;ten Abschnitt des „Feuerbach"</a> die meistenPunkte bereits berührt zu haben.</p>
<p>Ich bitte, in obigem die Worte nicht auf die Goldwaage zu legen, son&shy;dern den Zusammenhang im Auge zu behalten; ich bedaure, nicht die Zeit zu haben, Ihnen so exakt ausgearbeitet zu schreiben, wie ich es für die Öffentlichkeit müßte.</p>
<p>Herrn ...<a class="FNzeichen" href="me39_205.htm#FNtext1" id="FNanker1">1</a> bitte ich meine Empfehlung zu machen und ihm in meinem Namen zu danken für die Zusendung der ..., die mich sehr erheitert hat.</p>
<p class="BriefGrussformel">Hochachtend ergebenst</p>
<p class="BriefSignatur">F. Engels</p>
<p class="TextQuelle">Nach: „Der sozialistische Akademiker", Nr.20, Berlin 1895.</p>
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<div class="Fussnote" id="Fussnote1">
<p><a class="FNzeichen" name="FNtext1" href="me39_205.htm#FNanker1">1</a>&nbsp;
Name des Zusenders und das Zugesendete in der gedruckten Vorlage unkenntlich gemacht
</p>
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