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2022-08-25 20:29:11 +02:00

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<TITLE>Karl Marx - Der Aufstand in Indien</TITLE>
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<FONT SIZE=2><P>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 298-301.</P>
</FONT><H2>Karl Marx</H2>
<H1>[Der Aufstand in Indien]</H1>
<FONT SIZE=2><P>Geschrieben am 29. September 1857.<BR>
Aus dem Englischen.</P>
</FONT><P><HR></P>
<FONT SIZE=2><P>["New-York Daily Tribune" Nr. 5142 vom 13. Oktober 1857, Leitartikel]</P>
</FONT><B><P><A NAME="S298">&lt;298&gt;</A></B> Die Nachrichten, die gestern mit der "Atlantic" aus Indien eingetroffen sind, enthalten zwei bedeutsame Punkte, n&auml;mlich das Scheitern von General Havelocks Vormarsch zum Entsatz Lakhnaus und das Ausharren der Engl&auml;nder bei Delhi. Die letzte Tatsache findet nur in britischen Annalen eine Parallele, und zwar in der Walcheren-Expidition. Das Scheitern dieser Expedition war schon gegen Mitte August 1809 zur Gewi&szlig;heit geworden, doch verz&ouml;gerte man die Wiedereinschiffung bis November. Als Napoleon von der Landung einer englischen Armee an jenem Ort erfuhr, empfahl er, sie nicht anzugreifen, und die Franzosen sollten ihre Vernichtung den Krankheiten &uuml;berlassen, die ihr mit Gewi&szlig;heit mehr Schaden als die Kanonen zuf&uuml;gen w&uuml;rden, ohne da&szlig; dies Frankreich einen Centime kosten werde. Der jetzige Gro&szlig;mogul befindet sich in einer noch g&uuml;nstigeren Lage als Napoleon und kann die Krankheiten durch seine Ausf&auml;lle und seine Ausf&auml;lle durch die Krankheiten unterst&uuml;tzen.</P>
<P>Eine britische Regierungsdepesche aus Cagliari vom 27. September berichtet uns, da&szlig;</P>
<FONT SIZE=2><P>"zwar die letzten Angaben aus Delhi vom 12. August sind, als diese Stadt noch im Besitz der Rebellen war, da&szlig; man aber gewi&szlig; in K&uuml;rze einen Angriff unternehmen w&uuml;rde, da General Nicholson mit betr&auml;chtlichen Verst&auml;rkungen einen Tagesmarsch entfernt w&auml;re".</P>
</FONT><P>Wenn Delhi nicht genommen ist, bis Wilson und Nicholson mit ihren jetzigen Streitkr&auml;ften angreifen, werden seine Mauern stehen, bis sie von selbst zusammenfallen. Die "betr&auml;chtlichen" Streitkr&auml;fte Nicholsons belaufen sich auf etwa 4.000 Sikhs - eine Verst&auml;rkung, die zu den Anforderungen f&uuml;r einen Angriff auf Delhi in einem absurden Mi&szlig;verh&auml;ltnis steht, aber gerade <A NAME="S299"><B>&lt;299&gt;</A></B> gro&szlig; genug ist, um einen neuen selbstm&ouml;rderischen Vorwand daf&uuml;r zu liefern, das Lager vor der Stadt nicht abzubrechen.</P>
<P>Nachdem General Hewitt den Fehler, und vom milit&auml;rischen Standpunkt aus kann man sogar sagen das Verbrechen, begangen hatte, zuzulassen, da&szlig; sich die Aufst&auml;ndischen aus Mirat nach Delhi durchschlagen, und nachdem man die beiden ersten Wochen vergeudet hatte, wobei man einen irregul&auml;ren Handstreich auf diese Stadt zulie&szlig;, erscheint der Plan der Belagerung von Delhi als ein Fehler, der kaum noch zu verstehen ist. Eine Autorit&auml;t, die wir mit Verlaub noch &uuml;ber die milit&auml;rischen Orakel der Londoner "Times" stellen, und zwar Napoleon, legt zwei Regeln der Kriegskunst fest, die fast wie Gemeinpl&auml;tze wirken: 1. "Man sollte nur das unternehmen, was durchgef&uuml;hrt werden kann, und nur das, was die gr&ouml;&szlig;te Aussicht auf Erfolg bietet", und 2., "die Hauptkr&auml;fte sollten nur dort eingesetzt werden, wo das Hauptziel des Krieges, die Vernichtung des Feindes, liegt". Bei der Planung der Belagerung von Delhi sind diese elementaren Regeln verletzt worden. Die Beh&ouml;rden in England mu&szlig;ten Kenntnis davon haben, da&szlig; die Indienregierung selbst die Befestigungen Delhis vor kurzem so weit instand gesetzt hatte, da&szlig; die Stadt nur durch eine regelrechte Belagerung eingenommen werden k&ouml;nnte, was eine Belagerungstruppe von mindestens 15.000 bis 20.000 Mann erfordert, und weit mehr, falls die Verteidigung in gew&ouml;hnlichem Stil durchgef&uuml;hrt werden sollte. Wenn nun 15.000 bis 20.000 Mann f&uuml;r dieses Unternehmen erforderlich sind, w&auml;re es geradezu Torheit, es mit 6.000 oder 7.000 durchzuf&uuml;hren. Weiterhin wu&szlig;ten die Engl&auml;nder, da&szlig; eine langandauernde Belagerung, mit der man wegen ihrer zahlenm&auml;&szlig;igen Schw&auml;che rechnen mu&szlig;, ihre Truppen in jener Gegend, in jenem Klima und zu jener Jahreszeit den Angriffen eines unverwundbaren und unsichtbaren Feindes aussetzen und somit den Keim des Untergangs in ihre Reihen s&auml;en w&uuml;rde. Eine Belagerung Delhis hatte also keinerlei Erfolgsaussichten.</P>
<P>Das Ziel des Krieges war zweifellos die Aufrechterhaltung der englischen Herrschaft in Indien. Delhi war ein Punkt, der zur Erlangung dieses Ziels &uuml;berhaupt keine strategische Bedeutung hatte. Die historische &Uuml;berlieferung verlieh ihm zwar in den Augen der Eingeborenen eine abergl&auml;ubische Bedeutung, die &uuml;brigens mit seinem wirklichen Einflu&szlig; in Widerspruch steht, und dies war Grund genug f&uuml;r die meuternden Sepoys, es als ihren allgemeinen Treffpunkt zu w&auml;hlen. Doch wenn die Engl&auml;nder, anstatt ihre milit&auml;rischen Pl&auml;ne nach den Vorurteilen der Eingeborenen zu fassen, Delhi liegengelassen und es isoliert h&auml;tten, w&uuml;rden sie es seines eingebildeten Einflusses beraubt haben, w&auml;hrend sie dadurch, da&szlig; sie ihre Zelte davor aufschlagen, sich die K&ouml;pfe daran einrennen und ihre Hauptkr&auml;fte und die <A NAME="S300"><B>&lt;300&gt;</A></B> Aufmerksamkeit der Welt darauf konzentrieren, sich sogar die M&ouml;glichkeiten zu einem R&uuml;ckzug abschneiden, oder eher noch, sie g&auml;ben dadurch einem R&uuml;ckzug alle Auswirkungen einer einzigartigen Niederlage. Sie haben damit ganz einfach den Meuterern in die H&auml;nde gearbeitet, die Delhi zum Ziel des Feldzuges machen wollten. Aber das ist noch nicht alles. Es geh&ouml;rte nicht viel Begabung dazu, die Engl&auml;nder davon zu &uuml;berzeugen, da&szlig; es f&uuml;r sie von erstrangiger Bedeutung war, eine aktive Feldarmee zu schaffen, deren Operationen die Funken der Unzufriedenheit zu ersticken, die Verbindungslinien zwischen ihren eigenen Milit&auml;rst&uuml;tzpunkten offenzuhalten, den Feind auf einige wenige St&uuml;tzpunkte zur&uuml;ckzuwerfen und Delhi zu isolieren vermochten. Anstatt nach diesem einfachen und selbstverst&auml;ndlichen Plan vorzugehen, legen sie die einzige ihnen zur Verf&uuml;gung stehende aktive Armee lahm, indem sie sie vor Delhi konzentrieren, und &uuml;berlassen das freie Feld den Meuterern, w&auml;hrend ihre eigenen Garnisonen zerstreut liegende Orte halten, die keine Verbindung miteinander haben, weit voneinander entfernt liegen und von &uuml;berlegenen feindlichen Kr&auml;ften eingeschlossen sind, die sich Zeit lassen k&ouml;nnen.</P>
<P>Dadurch, da&szlig; sich ihre st&auml;rkste bewegliche Truppe vor Delhi festgesetzt hat, haben die Engl&auml;nder nicht etwa die Aufst&auml;ndischen gefesselt, sondern ihre eigenen Garnisonen bewegungsunf&auml;hig gemacht. Doch, abgesehen von diesem grundlegenden Fehler vor Delhi, gibt es kaum etwas in den Annalen des Kriegswesens, was der Dummheit gliche, mit der die Operationen dieser Garnisonen gelenkt wurden, die unabh&auml;ngig voneinander und r&uuml;cksichtslos gegeneinander operierten, denen jegliche h&ouml;here F&uuml;hrung fehlte und die nicht wie die Glieder einer Armee handelten, sondern wie Truppenk&ouml;rper, die zu verschiedenen, ja, sogar feindlichen Nationen geh&ouml;ren. Man nehme zum Beispiel den Fall Khanpur und Lakhnau. Da gab es zwei benachbarte Orte und zwei getrennte Truppenk&ouml;rper. Beide K&ouml;rper waren sehr klein und den Umst&auml;nden in keiner Weise gewachsen, standen unter getrenntem Kommando, obwohl sie nur vierzig Meilen auseinanderlagen, und handelten so wenig einheitlich, als ob sie auf entgegengesetzten Polen gestanden h&auml;tten. Nach den Erfordernissen der einfachsten Gesetze der Strategie h&auml;tte man Sir Hugh Wheeler, den Milit&auml;rkommandanten von Khanpur, erm&auml;chtigen sollen, Sir H. Lawrence, den Hauptbevollm&auml;chtigten von Audh, mit seinen Truppen nach Khanpur zur&uuml;ckzurufen, um so diese Stellung zu verst&auml;rken, w&auml;hrend Lakhnau zeitweilig ger&auml;umt worden w&auml;re. Diese Operation h&auml;tte <I>beide </I>Garnisonen gerettet, und durch ihre darauf folgende Vereinigung mit Havelocks Truppen w&auml;re eine kleine Armee geschaffen worden, die Audh h&auml;tte unter Kontrolle halten und Agra entsetzen k&ouml;nnen. Stattdessen hat das <A NAME="S301"><B>&lt;301&gt;</A></B> voneinander unabh&auml;ngige Handeln der beiden Pl&auml;tze bereits folgende Ergebnisse: Die Garnison von Khanpur ist abgeschlachtet, die Garnison von Lakhnau steht mitsamt ihrer Festung vor dem Fall, und selbst die erstaunlichen Anstrengungen Havelocks, der mit seinen Truppen 126 Meilen in acht Tagen marschiert ist, der dabei soviel Gefechte bestanden hat, wie sein Marsch Tage z&auml;hlt, und der all das in einem indischen Klima im Hochsommer bewerkstelligt hat - selbst seine heldenm&uuml;tigen Anstrengungen sind vereitelt. Da er seine &uuml;beranstrengten Truppen in vergeblichen Versuchen zur Rettung Lakhnaus noch mehr ersch&ouml;pft hat und in der Gewi&szlig;heit lebt, zu neuen nutzlosen Opfern durch wiederholte Expeditionen von Khanpur aus gezwungen zu werden, die in einem sich st&auml;ndig verkleinernden Umkreis auszuf&uuml;hren sind, wird er sich aller Wahrscheinlichkeit nach schlie&szlig;lich nach Allahabad zur&uuml;ckziehen m&uuml;ssen, wobei er kaum noch irgendwelche Truppen hinter sich haben wird. Die Operationen seiner Truppen zeigen besser als alles andere, was selbst die kleine englische Armee vor Delhi h&auml;tte tun k&ouml;nnen, w&auml;re sie zur Aktion im Felde konzentriert worden, statt in dem verseuchten Lager lebendig gefangen zu sein. Konzentration ist das Geheimnis der Strategie. Dezentralisation ist der Plan, den die Engl&auml;nder in Indien anwandten. Was sie zu tun hatten, war, ihre Garnisonen auf eine m&ouml;glichst kleine Zahl zu reduzieren, sie sofort von Frauen und Kindern zu befreien, alle strategisch unbedeutenden St&uuml;tzpunkte zu evakuieren und so eine m&ouml;glichst gro&szlig;e Armee im Felde zu sammeln. Indessen sind selbst die paar Verst&auml;rkungen, die man von Kalkutta den Ganges hinauf geschickt hat, von den zahlreichen isolierten Garnisonen so vollst&auml;ndig aufgesogen worden, da&szlig; nicht eine Abteilung Allahabad erreicht hat.</P>
<P>Hinsichtlich Lakhnaus sind nun die d&uuml;stersten Ahnungen auf Grund der allerletzten Post best&auml;tigt worden. Havelock ist wieder gezwungen worden, auf Khanpur zur&uuml;ckzugehen; es besteht keine Aussicht auf Entsatz durch die verb&uuml;ndete nepalesische Streitkraft, und wir m&uuml;ssen uns jetzt darauf gefa&szlig;t machen, da&szlig; diese Stadt infolge Aushungerung genommen wird und da&szlig; ihre tapferen Verteidiger mitsamt ihren Frauen und Kindern niedergemetzelt werden.</P>
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