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2022-08-25 20:29:11 +02:00

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<TITLE>Karl Marx - Die Geistesgestoertheit des Koenigs von Preussen</TITLE>
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<FONT SIZE=2><P>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 594-597.</P>
</FONT><H2>Karl Marx</H2>
<H1>Die Geistesgest&ouml;rtheit des K&ouml;nigs von Preu&szlig;en</H1>
<FONT SIZE=2><P>Aus dem Englischen.</FONT>&nbsp;</P>
<P><HR></P>
<FONT SIZE=2><P>["New-York Daily Tribune" Nr. 5462 vom 23. Oktober 1858] </P>
</FONT><B><P><A NAME="S594">&lt;594&gt;</A></B> Berlin, 2. Oktober 1858</P>
<P>In einem seiner M&auml;rchen erz&auml;hlt der deutsche Dichter Hauff, wie eine ganze klatsch- und skandals&uuml;chtige kleine Stadt eines sch&ouml;nen Morgens aus ihrer &uuml;blichen Selbstzufriedenheit aufgescheucht wurde durch die Entdeckung, da&szlig; der erste Geck, der wahre Salonl&ouml;we des Ortes, nur ein verkleideter Affe war. Die Preu&szlig;en oder einige von ihnen scheinen augenblicklich unter der noch weniger angenehmen Vorstellung zu leiden, da&szlig; sie in all den verflossenen zwanzig Jahren von einem Verr&uuml;ckten regiert worden sind. Zumindest scheint in der &Ouml;ffentlichkeit der Verdacht zu bestehen, man habe die treuen preu&szlig;ischen "Untertanen" mit einer derartigen dynastischen Mystifikation irregef&uuml;hrt. Es stimmt sicherlich nicht, wie es John Bull und seine t&uuml;chtigen Zeitungsherausgeber hinstellen wollen, da&szlig; diese Bef&uuml;rchtungen durch das Verhalten des K&ouml;nigs w&auml;hrend des russischen Krieges entstanden seien. Im Gegenteil, sein Fernbleiben von dieser blutigen Schande wird als die vern&uuml;nftigste politische Handlung betrachtet, deren sich Friedrich Wilhelm IV. r&uuml;hmen kann.</P>
<P>Wenn ein Mensch, gleichg&uuml;ltig in welchen Lebensverh&auml;ltnissen, und m&ouml;gen sie noch so bescheiden sein, sich pl&ouml;tzlich als das Gegenteil von dem erweist, wof&uuml;r man ihn gehalten hat, so kramen gew&ouml;hnlich seine zornigen und get&auml;uschten Nachbarn bestimmt in seinem Vorleben, durchw&uuml;hlen fr&uuml;here Geschichten, erinnern sich an all das, was jemals bei dem Kerl nicht in Ordnung gewesen war, flicken verd&auml;chtige Momente und kuriose Dinge seiner Vergangenheit zusammen und haben schlie&szlig;lich die morbide Genugtuung, da&szlig; sie es schon l&auml;ngst h&auml;tten besser wissen m&uuml;ssen. So erinnert man sich jetzt - und ich kann die Tatsache aus eigener Kenntnis bezeugen -, da&szlig; Dr. Jacobi, der leitende Arzt der Rheinischen Irrenanstalt zu Siegburg, im Mai 1848 ganz pl&ouml;tzlich von Herrn Camphausen, dem damaligen Kabinettschef, nach Berlin zitiert wurde, um dem K&ouml;nig, der, wie es damals hie&szlig;, an einer Gehirnentz&uuml;ndung litt, Hilfe zu erweisen. Das Nervensystem Seiner <A NAME="S595"><B>&lt;595&gt;</A></B> Majest&auml;t sei, wie die Myrmidonen des neugebackenen Kabinetts im vertrautesten Kreise fl&uuml;sterten, durch die M&auml;rztage arg ersch&uuml;ttert worden; ins besondere durch die Szene, wo das Volk ihn gezwungen hatte, den Leibern der infolge eines vorher verabredeten Mi&szlig;griffs ermordeten B&uuml;rger von Angesicht zu Angesicht gegen&uuml;berzutreten, sein Haupt zu entbl&ouml;&szlig;en und jene blutigen und noch warmen Leichen um Verzeihung zu bitten. Zweifelsohne hat sich Friedrich Wilhelm danach wieder erholt, doch steht keinesfalls fest, ob er nicht wie Georg III. an periodischen R&uuml;ckf&auml;llen litt. Gelegentliche &Uuml;berspanntheiten in seinem Verhalten wurden um so eher &uuml;bersehen, als er daf&uuml;r bekannt war, ziemlich stark den Libationen zu fr&ouml;nen, die einst die Priesterinnen eines bestimmten Gottes zu Theben zur Raserei getrieben hatten. Als er jedoch im Oktober 1855 Rheinpreu&szlig;en besuchte, um den Grundstein f&uuml;r die neue Rheinbr&uuml;cke bei K&ouml;ln zu legen, wurden seltsame Ger&uuml;chte &uuml;ber ihn ausgesprengt. Mit eingefallenem Gesicht, schlotternden Beinen, hervorquellendem Bauch und einem Ausdruck furchtsamer Unruhe in den Augen sah er wie sein eigenes Gespenst aus. W&auml;hrend seiner Rede stammelte er, stolperte &uuml;ber seine eigenen Worte, verlor hin und wieder den Faden seiner Gedanken und sah vollkommen hilflos aus, w&auml;hrend die K&ouml;nigin, dicht an seiner Seite, all seine Bewegungen &auml;ngstlich beobachtete. Entgegen seinen fr&uuml;heren Gewohnheiten empfing er niemanden, sprach mit niemandem und ging nur in Begleitung der K&ouml;nigin aus, die von ihm gar nicht mehr zu trennen war. Nach seiner R&uuml;ckkehr nach Berlin sickerten von Zeit zu Zeit seltsame ondits &lt;Ger&uuml;chte&gt; &uuml;ber t&auml;tliche Beleidigungen durch, die er in pl&ouml;tzlichen J&auml;hzornausbr&uuml;chen seinen eigenen Ministern, sogar Manteuffel, zugef&uuml;gt hatte. Um die &ouml;ffentliche Aufmerksamkeit zu beschwichtigen, hie&szlig; es, der K&ouml;nig leide an Wassersucht. Sp&auml;ter h&auml;uften sich die Berichte &uuml;ber Ungl&uuml;cksf&auml;lle in seinen eigenen Garten von Sanssouci, wonach er sich einmal das Auge an einem Baum verletzt, ein andermal das Bein an einem Stein aufgeschlagen habe, und schon Anfang 1856 wurde hier und da angedeutet, da&szlig; er unter zeitweiligen Anf&auml;llen von Geistesgest&ouml;rtheit leide. Es wurde vornehmlich erz&auml;hlt, er bilde sich ein, er sei Unteroffizier und m&uuml;sse noch die Pr&uuml;fung im &Uuml;bungsmarsche &lt;&Uuml;bungsmarsche: in der "N.-Y. D. T." deutsch&gt; bestehen, wie es im preu&szlig;ischen Feldwebeljargon hei&szlig;t. Daher pflegte er f&uuml;r sich allein Amokl&auml;ufe in seinen Parks in Sanssouci und Charlottenburg zu veranstalten.</P>
<P>Diese und andere Erinnerungen aus einem Zeitraum von zehn Jahren werden jetzt sorgf&auml;ltig miteinander verkn&uuml;pft. Warum, fragt man sich, sollte das preu&szlig;ische Volk in dieser ganzen Zeit nicht mit einem Wahnsinnigen als <A NAME="S596"><B>&lt;596&gt;</A></B> K&ouml;nig zum Narren gehalten worden sein, da man jetzt eingesteht, da&szlig; man Friedrich Wilhelm IV. trotz seiner Geistesgest&ouml;rtheit zumindest in den letzten achtzehn Monaten auf dem Thron belie&szlig;, und weil infolge der Streitigkeiten innerhalb der k&ouml;niglichen Familie alles, was die K&ouml;nigin und die Minister im Namen des K&ouml;nigs vorgegaukelt hatten, &ouml;ffentlich aufgedeckt wurde. In F&auml;llen von Geistesgest&ouml;rtheit, die auf Gehirnerweichung beruhen, haben die Patienten gew&ouml;hnlich bis zum Augenblick des Todes noch lichte Momente. So verh&auml;lt es sich mit dem K&ouml;nig von Preu&szlig;en, und dieser eigenartige Charakter seiner Geistesgest&ouml;rtheit gew&auml;hrte passende Gelegenheiten, um Betr&uuml;gereien zu begehen.</P>
<P>Die K&ouml;nigin, die ihren Gatten st&auml;ndig beobachtete, nahm jeden seiner lichten Momente wahr, um ihn dem Volk zu zeigen oder ihn bei &ouml;ffentlichen Anl&auml;ssen auftreten zu lassen und ihn f&uuml;r die Rolle zu pr&auml;parieren, welche er spielen sollte. Manchmal jedoch wurde ihre Rechnung unbarmherzig durchkreuzt. In Gegenwart der K&ouml;nigin von Portugal, die, wie man sich erinnern wird, ihre Hochzeit in Berlin feierte, sollte der K&ouml;nig, per procura &lt;in Stellvertretung (des Br&auml;utigams)&gt;, &ouml;ffentlich den kirchlichen Zeremonien beiwohnen. Alles war bereit; Minister, Adjutanten, H&ouml;flinge, ausl&auml;ndische Gesandte und die Braut selbst warteten auf ihn, als er pl&ouml;tzlich, trotz verzweifelter Bem&uuml;hungen der K&ouml;nigin, von der Halluzination gepackt wurde, er selbst sei der Br&auml;utigam. Einige seltsame Bemerkungen, die er &uuml;ber sein einmaliges Schicksal fallen lie&szlig;, noch bei Lebzeiten seiner ersten Gemahlin abermals verm&auml;hlt zu werden, und &uuml;ber die Unschicklichkeit seines (des Br&auml;utigams) Erscheinens in milit&auml;rischer Uniform, lie&szlig;en denen, die ihn zur Schau stellten, keine andere Wahl, als das angek&uuml;ndigte Schauspiel wieder abzusagen.</P>
<P>Die Dreistigkeit, mit der die K&ouml;nigin handelte, wird aus folgendem Zwischenfall ersichtlich. In Potsdam besteht noch ein alter Brauch, wonach die Fischer dem K&ouml;nig einmal im Jahr eine alte Feudalabgabe an Fisch zahlen. Bei dieser Gelegenheit wagte es die K&ouml;nigin, um den Leuten aus dem Volke zu beweisen, da&szlig; die damals &uuml;berall zirkulierenden Ger&uuml;chte &uuml;ber den Geisteszustand des K&ouml;nigs nicht auf Wahrheit beruhten, die angesehensten Fischer zu einem Fischessen einzuladen, bei dem der K&ouml;nig selbst den Vorsitz f&uuml;hrte. Tats&auml;chlich verlief das Essen ziemlich gut, der K&ouml;nig murmelte einige auswendig gelernte Worte, l&auml;chelte und verhielt sich im gro&szlig;en ganzen anst&auml;ndig. Die K&ouml;nigin, besorgt, da&szlig; das so gut eingef&auml;delte Schauspiel gest&ouml;rt werden k&ouml;nne, beeilte sich, den G&auml;sten das Signal zum Aufbruch zu geben, als pl&ouml;tzlich der K&ouml;nig aufstand und mit donnernder Stimme forderte, <A NAME="S597"><B>&lt;597&gt;</A></B> in die Bratpfanne gelegt zu werden. Das arabische M&auml;rchen von dem Mann, der in einen Fisch verwandelt wurde, ward f&uuml;r ihn zur Wirklichkeit. Gerade durch solche Unbesonnenheiten, die die K&ouml;nigin bei ihrem Spiel notwendigerweise wagen mu&szlig;te, brach die Kom&ouml;die zusammen.</P>
<P>Es er&uuml;brigt sich f&uuml;r mich zu sagen, da&szlig; kein Revolution&auml;r eine bessere Methode zur Herabsetzung der K&ouml;nigsw&uuml;rde h&auml;tte erfinden k&ouml;nnen. Die K&ouml;nigin selbst, eine bayrische Prinzessin und Schwester der ber&uuml;chtigten Sophie von &Ouml;sterreich (der Mutter Franz Josephs), hatte man in der breiten &Ouml;ffentlichkeit niemals als Haupt der Berliner Kamarilla verd&auml;chtigt. Vor 1848 trug sie den Beinamen "die milde Landesmutter" &lt;"die milde Landesmutter": in der "N.-Y. D. T." englisch und deutsch&gt;, und man nahm an, da&szlig; sie keinerlei &ouml;ffentlichen Einflu&szlig; aus&uuml;be und da&szlig; sie durch ihre einf&auml;ltige Denkweise der Politik v&ouml;llig fremd gegen&uuml;berst&uuml;nde. Es gab einiges Murren &uuml;ber ihren vermeintlichen geheimen Katholizismus, einige Schm&auml;hungen wegen ihrer Schirmherrschaft &uuml;ber den mystischen Schwanenorden, den der K&ouml;nig f&uuml;r sie gestiftet hatte; das war aber auch alles, woran man bei ihr &ouml;ffentlich Ansto&szlig; nahm. Nach dem Sieg des Volkes in Berlin appellierte der K&ouml;nig an dessen Nachsicht im Namen der "milden Landesmutter", und dieser Appell blieb bei seiner Zuh&ouml;rerschaft nicht ohne Wirkung. Seit der Konterrevolution jedoch hat die Einsch&auml;tzung der Schwester der Sophie von &Ouml;sterreich durch die &Ouml;ffentlichkeit eine allm&auml;hliche &Auml;nderung erfahren. Die Person, in deren Namen man sich der Gro&szlig;mut des siegreichen Volkes versichert hatte, stellte sich gerade gegen&uuml;ber den M&uuml;ttern und Schwestern taub, deren S&ouml;hne und Br&uuml;der in die H&auml;nde der siegreichen Konterrevolution geraten waren. W&auml;hrend die "milde Landesmutter" den monarchischen Scherz zu dulden schien, einige arme Landwehrleute &lt; Landwehrleute: in der "N.-Y. D. T." deutsch&gt; in Saarlouis am Geburtstag des K&ouml;nigs im Jahre 1850 hinrichten zu lassen, also zu einer Zeit, als das von diesen M&auml;nnern ver&uuml;bte Verbrechen, n&auml;mlich die Verteidigung der Rechte des Volkes, schon vergessen geglaubt war, verwendete sie ihren ganzen Vorrat an sentimentaler Religiosit&auml;t f&uuml;r die &ouml;ffentliche Ehrung der Gr&auml;ber der beim Angriff auf das unbewaffnete Volk von Berlin gefallenen Soldaten und f&uuml;r &auml;hnliche Handlungen, bei denen sie ihre reaktion&auml;re Einstellung offen zur Schau stellte. Ihre heftigen Streitereien mit der Prinzessin von Preu&szlig;en wurden allm&auml;hlich ebenfalls Gegenstand &ouml;ffentlichen Geredes, aber es schien auch ganz nat&uuml;rlich, da&szlig; sie, die Kinderlose, einen Groll gegen die hochm&uuml;tige Gattin des legitimen Nachfolgers des K&ouml;nigs hegte. Auf dieses Thema werde ich noch zur&uuml;ckkommen.</P>
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