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<title>Karl Kautsky: Finis Poloniae? - www.mlwerke.de</title>
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<meta name="description" content="Karl Kautsky antwortet auf Rosa Luxemburgs Artikel über 'Politische Strömungen in der polnischen Sozialdemokratie" und verteidigt die Forderung nach Wiederherstellung Polens'>
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<meta name="keywords" content="Karl Kautsky, Polen, polnische Frage, Rosa Luxemburg">
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<meta name="CREATED" content="20140711;;18504210">
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<h1>Finis Poloniæ?</h1>
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<p class="AutorInfo">Von Karl Kautsky.</p>
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<h2><a name="Teil1"></a>I. Die Polen, die Revolution, der Panslavismus.</h2>
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<p class="FirstPub">Die Neue Zeit, 14. Jahrgang (1896), 2. Band, Nr. , S. 484-491</p>
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<p class="RedNote">Die Seitenzahlen beziehen sich auf diese Ausgabe von "Die Neue Zeit".
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Ein Klick auf die spitzen Klammern vor und hinter den Seitenzahlen bewirkt einen Sprung zu der vorigen bzw. folgenden Seite.</p>
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<p class="RedNote">Die von Kautsky praktizierte Schreibung wurde unverändert beibehalten;
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Nach dem Versuch, mit amtlicher Hilfe, die deutsche Sprache nach erfundenen Regeln umzumodeln, besteht kein Grund mehr, sich an irgendwelche Vorgaben zu halten.
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Auch wurden durch Sperrung hervorgehobene Textstellen
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weiterhin durch Sperrung hervorgehoben anstatt stattdessen Kursivschrift einzusetzen. </p>
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<p class="RedNote">Lenin bezieht sich in seinem 1903 geschriebenen und veröffentlichten Artikel über <a href="../../le/le06/le06_452.htm">Die nationale Frage in unserem Programm</a> positiv auf diese Ausführungen von Karl Kautsky.</p>
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<div id="Textteil">
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<p><a class="Seitenzahl" name="S484">484</a><a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S485">></a>An der Wiege der "Internationale" stand die polnische Frage. 1863 brach in
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Russisch–Polen die letzte Insurrektion aus. Die Arbeiter Westeuropas wurden dadurch aufs Tiefste erregt, und
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ihr Eintreten für die Unabhängigkeit Polens war die erste Aktion, in der die Proletarier aller Länder
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seit der Revolution von 1848 sich zu gemeinsamem Wirken zusammenfanden. In London wurden 1863 und 1864 große
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Meetings zu Gunsten der Polen abgehalten, auf denen Redner der verschiedensten Nationen sprachen. Zu manchen
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derselben sandten die Pariser Arbeiter eigene Delegirte. So entwickelte sich ein internationales Zusammen­wirken,
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das schließlich auf dem großen Polenmeeting in St. Martins Hall am 28. September 1864 zu der
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Gründung einer internationalen Organisation führte.<a class="FNzeichen" name="FNanker01" href=
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"nz14_484.htm#FNtext01">1</a></p>
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<p>Diese enge Verbindung des Kampfes um ein unabhängiges Polen mit der Entstehung der internationalen
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Arbeiterassoziation ist kein Zufall. Seit der großen französischen Revolution war die Frage der
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Selbständigkeit Polens für die revolutionären Parteien aller Länder Europas von
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größter Bedeutung; sie war unter den internationalen politischen Aufgaben der europäischen Revolution
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die wichtigste.</p>
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<p>Das wird leicht begreiflich angesichts der Bedeutung, die Rußland für die europäische Revolution
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erlangt hatte. War Frankreich das Land der Revolution <span class="Fremdworte">par excellence,</span> das Land, das die
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Freiheit den übrigen Völkern zu bringen <a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S484"><</a><a class="Seitenzahl" name="S485">485</a><a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S486">></a>hatte, so war Rußland der Hort
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der Reaktion in ganz Europa. Die Revolution konnte in Europa nicht dauernd siegen, so lange das Zarenthum ungebrochen
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dastand. Die Feinde des Zaren waren die natürlichen Verbündeten der euro­päischen Revolution. War
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die Herrschaft des Zarenthums eine internationale Gefahr für die Demokratie und die Zivilisation Europas, so war
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die Unterstützung seiner Gegner die internationale Pflicht der gesammten europäischen Demokratie.</p>
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<p>Zwei Punkte waren es, die Rußland für die europäische Demokratie gefährlich machten: der
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völlige Mangel einer revolutionären Klasse in seinem Innern und sein Ausdehnungsbestreben in der Richtung
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nach Westen und Süden.<a class="FNzeichen" name="FNanker02" href="nz14_484.htm#FNtext02">2</a>
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Die erstere Eigenthümlichkeit brachte Rußland in die angenehme Position,
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der einzige europäische Staat zu sein, der während einer europäischen Revolution im Innern völlig
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ruhig blieb, so daß er alle seine Kräfte nach außen entfalten und die Wage zu Ungunsten der
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Revolution wenden konnte. Sein Ausdehnungs­bedürfniß aber drohte einen immer größeren Theil
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Europas in ständige Unter­jochung unter seine eiserne, jegliche Freiheit erwürgende Faust zu bringen
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und das Gebiet der politischen Freiheit immer mehr einzuengen.</p>
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<p>Neben dem politischen Drange jeder absoluten Monarchie, sich auszudehnen, ihr Macht- und Ausbeutungsbereich zu
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vermehren, wirkte in Rußland auch der kommerzielle Drang, sich Konstantinopels zu bemächtigen, der
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Beherrscherin des östlichen Mittelmeerbeckens und einiger der wichtigsten Handelswege nach dem Orient. Die
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Herrschaft über Konstantinopel setzte aber die Zertrümmerung Öster­reichs und der Türkei und
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die Annektirung eines großen Theiles ihrer Gebiete voraus.</p>
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<p>Bei diesem Drange nach Eroberungen in Österreich und der Türkei fand das Zarenthum einen mächtigen
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Verbündeten im Panslavismus<a class="FNzeichen" name="FNanker03" href="nz14_484.htm#FNtext03">3</a>.
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In der Zeit, die hier vornehmlich in Frage kommt, den vierziger, fünfziger
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und sechziger Jahren unseres Jahrhunderts, waren die Slaven Österreichs und gar die der Türkei kaum noch
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beleckt von der modernen Kultur, politisch unselbständig, entweder ganz regungslos oder entschieden
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reaktionär. Man durfte also erwarten, sie leicht in das Gefüge des russischen Reiches einfügen zu
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können, ohne diesem ein gefähr­liches Element der Bewegung zuzuführen. Sie zu gewinnen, wurde eine
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Haupt­aufgabe der auswärtigen Politik des Zarenthums. Es überschwemmte die slavi­schen Gebiete
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Österreichs und der Türkei mit seinen Agenten und adaptirte im Panslavismus das westeuropäische
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Nationalitätenprinzip seinen Bedürfnissen, um dadurch die intelligenteren Theile der nichtrussischen Slaven
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zu ködern. Politisch ganz naiv, glaubten diese um so eher den Verheißungen der russischen Agenten, je
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härter der ökonomische und politische Druck des Habsburgischen und osmanischen Absolutismus auf ihnen
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lastete.</p>
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<p>Der Panslavismus, der das ganze Slaventhum Europas Rußland botmäßig machte und dessen Gebiet
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enorm zu vermehren drohte, wurde ein gefährlicher Feind der westeuropäischen Demokratie, trotz der
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demokratischen Allüren und Illusionen, die er mitunter annahm. Dies gab ihr ein Interesse an der Erhaltung des
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türkischen Reiches; dies drängte sie aber auch, für die Wiederherstellung Polens als eines
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<a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S485"><</a><a class="Seitenzahl" name="S486">486</a><a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S487">></a>
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Bollwerks gegen die russischen Expansionsgelüste einzutreten, denn die Polen
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erwiesen sich als die einzige slawische Nation, die dem Panslavismus unzugänglich blieb, die ihm vielmehr
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entschieden feindlich gegenüberstand.</p>
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<p>Die Gefährlichkeit des Panslavismus war jedoch nicht der einzige Grund, der die Wiederherstellung Polens zu
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einer dringenden gemeinsamen Angelegenheit aller freiheitlich gesinnten Elemente Europas machte.</p>
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<p>Einen zweiten haben wir bereits oben angedeutet. Wir wollen ihn nun etwas eingehender betrachten.</p>
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<p>Innerhalb des russischen Riesenreichs lag alles willenlos, bewegungslos dem Zaren zu Füßen; es gab dort
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nur ein Element des Widerstandes und der Bewegung: die Polen. Aber wenn man genauer zusah, galt dies nicht einmal von
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den gesammten Polen. Das Element der Unruhe in Polen war der Adel, namentlich der niedere Adel, nebst einigen
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Schichten des städtischen Kleinbürger­thums und der Intelligenz, die sich großentheils aus dem
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kleinen Adel rekrutirte und völlig unter dem Einfluß seines Ideengangs stand. Diese nichtadeligen
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Schichten waren für den Charakter der polnischen revolutionären Bewegungen so wenig maßgebend,
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daß wir hier von ihnen absehen können.</p>
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<p>In keinem Theile Europas hat der niedere Adel in der neueren Zeit eine solche Rolle gespielt, wie in Polen, dank
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der Hemmung der ökonomischen Ent­wicklung, die Polen ebenso wie Deutschland und Italien durch das Vordringen
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der Türken, die Verlegung der Handelswege nach dem Orient und die Entdeckung Amerikas erfuhr. Hier wie dort
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waren die Folgen die gleichen: innere Zer­rissenheit, Verwandlung des Landes in einen ständigen
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Kriegsschauplatz, Abhängig­keit vom Ausland. Aber nirgends wirkten diese Umstände so verheerend wie in
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Polen. Von den genannten Ländern war es das rückständigste, als die große ökonomische
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Revolution eintrat, die das Regime des Kapitalismus einleitete; die Ostsee wurde durch die Veränderung der alten
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Handelswege weit schwerer getroffen, als das Mittelmeer; die Nordsee gewann sogar dadurch. Und der fremde
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Ein­fluß, der Deutschland seit dem dreißigjährigen Kriege beherrschte, war der Frank­reichs,
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eines damals kulturell höher entwickelten Landes, das Deutschland manche fruchtbare Anregung brachte; Polens
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Nachbar dagegen, dem es unterlag, war Rußland, eine orientalische Despotie, die dem Westen nur seine
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Herrschaftsmittel, Armee und Bureaukratie entlehnte, um ihrer Barbarei eine unerhörte Kraft zu verleihen, ohne
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an ihren Grundlagen etwas zu ändern. Die Vorherrschaft dieses Staates konnte nicht anders wirken, als
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degradirend.</p>
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<p>Während daher Deutschland am Ende des siebzehnten Jahrhunderts, wenn auch nur langsam und mühevoll,
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anfängt, der ökonomischen und politischen Entwicklung Westeuropas nachzuhinken, geht Polen seit dem
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siebzehnten Jahrhundert rapid abwärts. Deutschland gelangt im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert nicht zur
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Bildung eines geschlossenen Nationalstaats, aber es gelingt in dieser Zeit wenigstens den Häuptern des hohen
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Adels, mehr oder weniger ausgedehnte souveräne Fürstenthümer zu errichten, die absolutistisch regiert
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werden, in denen der Bürger und Bauer bis zu einem gewissen Grade geschützt, der niedere Adel der
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Staatsgewalt botmäßig gemacht wird. In Polen wird die Reichsgewalt ein Schatten, ohne daß es dem
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hohen Adel gelänge, Kleinstaaten im Reiche zu schaffen; das städtische Bürgerthum verfällt
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gänzlich und der niedere Adel weiß seine politischen Befugnisse zu wahren.</p>
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<p>Aber mit dem gesammten Lande, und schneller noch als dieses, verkommt auch er ökonomisch, und sein Ruin
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flößt ihm stete und unstillbare Unzufriedenheit ein. Jedoch ungleich anderen verkommenden Klassen ist er
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wehrhaft und mit dem
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<a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S486"><</a><a class="Seitenzahl" name="S487">487</a><a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S488">></a>
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Waffenhandwerk wohl vertraut. So wird seine Unzufriedenheit unter
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einer schwachen Staatsgewalt zu einer Quelle ununterbrochener Unruhen und Bürgerkriege, die das Land vollends
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entkräften und schließlich zur Beute der Nachbarn machen.</p>
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<p>Aber derselbe Faktor, der Polens Schwäche gegenüber Rußland bewirkt hatte, wurde zu einem Element
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der Schwäche Rußlands, sobald dieses sich des größten Theiles Polens bemächtigt. Polen
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blieb ein Land der Unruhen und der Bürgerkriege, und war die russische Staatsgewalt stark genug, in normalen
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Zeiten Ausbrüche des Mißvergnügens niederzuhalten, so waren die Explosionen um so heftiger, wenn
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irgend eine Gelegenheit den lange unterdrückten Groll zur That entflammte.</p>
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<p>Diese ständige Kriegsbereitschaft des polnischen Kleinadels gegenüber der Zarenherrschaft hätte
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allein schon genügt, ihn zum natürlichen Bundesgenossen der westeuropäischen Demokratie zu machen. Das
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Bündniß dieser beiden Elemente wurde aber durch einen anderen Umstand noch sehr verstärkt. Je mehr
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der pol­nische Adel ökonomisch verkam, so daß ihm als einziges Mittel des Erwerbs sein Schwert blieb,
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desto mehr drängte es ihn fort aus der Heimath, seitdem dort seinem Thatendrang so enge Schranken gesetzt waren.
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Dazu kam, daß jede niedergeschlagene Erhebung zahlreiche Schaaren von Emigranten, gerade die
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wage­lustigsten und wehrhaftesten der Polen, ins Ausland trieb. So sehen wir denn, daß, ähnlich wie im
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fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert der verkommende deutsche Ritter in aller Herren Länder als
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Landsknecht zu finden ist, seit der Theilung Polens in den verschiedensten Ländern bei jeder bewaffneten
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Unter­nehmung, in der für Freiwillige Raum ist, also vor allem bei jeder revolutio­nären Erhebung,
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Polen betheiligt sind.</p>
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<p>Das war von großer Bedeutung, so lange die revolutionären Entscheidungen im Kampfe der Waffen,
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namentlich im Straßenkampf, entschieden wurden. Die moderne Kriegführung ist ein Gewerbe, das gelernt sein
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will, und das rein theoretisch nicht gelernt werden kann. Die Schichten, aus denen die Kämpfer in den
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revolutionären Erhebungen unseres Jahrhunderts sich rekrutirten, Kleinbürger, Bauern und namentlich
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Proletarier, waren mit der Kriegführung nicht vertraut, wenigstens nicht dort, wo die allgemeine Wehrpflicht
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nicht herrschte, sie waren überall der Truppenführung völlig unkundig. Auf der anderen Seite ist der
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Adel diejenige Klasse, die ihrer ganzen Erziehung und sozialen Stellung nach mit dem Kriegswesen und den Aufgaben der
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Truppenführung am leichtesten sich vertraut macht und von vornherein am meisten vertraut ist. Aber gerade diese
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Klasse stand in allen revolutionären Kämpfen auf Seite der Gegner der Revolution. Nur der polnische niedere
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Adel machte eine Ausnahme von dieser Regel, dank seiner besonderen Stellung — einmal, 1848, auch der
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ungarische. Die Polen waren daher das Offizierskorps jeder europäischen Revolution, sie haben ihr die besten
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Generale geliefert. Nicht nur in den Erhebungen gegen den zarischen Despo­tismus, nein, auf allen Schlachtfeldern
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der Revolution in Europa haben die Polen ihr Bündniß mit der Demokratie besiegelt.</p>
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<p>Sicher war viel Glücksritterthum dabei im Spiele; zum großen Theil aber auch eine ehrliche
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demokratische Überzeugung.</p>
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<p>Gleich dem Kleinbürger nimmt auch der kleine Adelige eine Zwitterstellung ein. Wie dieser nicht ganz
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Proletarier ist und nicht ganz Kapitalist und je nach den Verhältnissen bald mehr als der eine, bald mehr als
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der andere sich fühlt, so bildet der niedere Adel dort, wo er finanziell ruinirt ist, ein Zwischenglied zwischen
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den Privilegirten und dem Volk und neigt bald auf diese, bald auf jene Seite. Sein Rang in der Gesellschaft macht ihn
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zum Verfechter der Privilegien,
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<a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S487"><</a><a class="Seitenzahl" name="S488">488</a><a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S489">></a>
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zum Aristokraten und Konservativen; aber seine
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unbefriedigende ökonomische Lage wirkt mitunter in entgegengesetzter Richtung. Wo die Staatsgewalt ihn
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ökonomisch stützt und ihm ein Parasitendasein ermöglicht, wird er freilich zum Preisfechter des
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staatlichen Absolutismus. Aber wo die Staatsgewalt ihn sich selbst über­läßt oder gar ihm
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hinderlich in den Weg tritt, da schlägt er sich auf die Seite des Volkes, wird ein Revolutionär und ein
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Vorkämpfer der Demokratie.</p>
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<p>Die soziale Stellung des niederen Adeligen ist gleich der des Kleinbürgers voll von Widersprüchen. Aber
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viel selbständiger und selbstbewußter als dieser, entwickelt er die Widersprüche seiner Stellung in
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viel höherem Maße, liefert er die klassischsten Figuren für den Romantiker wie für den
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Satiriker. Derselben Zeit und derselben Schicht, der Ulrich von Hutten und Florian Geyer entstammen, entsprossen die
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Vorbilder Falstaffs und Don Quixotes; und die polnischen Frei­heitshelden von Kosciusko bis Dombrowski sind auf
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demselben Stamme gewachsen, wie Krapülinski und Waschlapski.</p>
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<p>Diesem widerspruchsvollen Charakter des niederen Adels entsprach auch der Charakter seiner Erhebungen in Polen.
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Man hat viel darüber gestritten, ob sie — namentlich die letzte von 1863/64 — aristokratische oder
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demokratische Ten­denzen verfolgt hätten. Thatsächlich verfolgten sie beide; je nach der Sachlage
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traten bald die einen, bald die anderen mehr in den Vordergrund.</p>
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<p>In Westeuropa konnte aber der polnische Revolutionär nur die demokratische Seite seines Wesens entwickeln. In
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dem Milieu, auf das er dort angewiesen war, fand die aristokratische Seite keinen Boden.</p>
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<p>Wenn man alle diese Umstände in Erwägung zieht, dann begreift man es, daß das Bündniß
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der revolutionären Parteien Europas mit den Resten des pol­nischen Feudalismus um so inniger wurde, je
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heißer der Kampf der Revolution gegen die Reste des Feudalismus in Westeuropa entbrannte, und daß das
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Ein­treten für die Unabhängigkeit Polens eine der vornehmsten internationalen Pflichten der
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Revolutionsparteien Europas wurde, die das Proletariat von der bürgerlichen Demokratie übernahm. Die
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Väter des kommunistischen Manifests und der Inter­nationale gehorchten nur einer historischen
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Nothwendigkeit, wenn auch sie die Unabhängigkeit Polens auf ihre Fahne schrieben.</p>
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<p>Seitdem die Internationale sich in diesem Sinne ausgesprochen, ist ein Menschenalter verflossen; die alte
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Internationale ist dahingegangen und eine neue ist erstanden. Wie an jene, ergeht nun an diese die Aufforderung, ein
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Votum zu Gunsten der Unabhängigkeit Polens abzugeben.</p>
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<p>Da tritt etwas Unerwartetes ein: ein Widerspruch aus den Reihen der polnischen Sozialdemokratie wird dagegen laut;
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Polen protestiren dagegen, daß das internationale Proletariat die Forderung der Befreiung Polens erhebt.</p>
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<p>Unsere Leser kennen die Argumentationen dieser protestirenden Polen, als deren Wortführerin Frl. Luxemburg in
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vorliegender Zeitschrift zweimal zum Worte gekommen ist<a class="FNzeichen" name="FNanker04" href="nz14_484.htm#FNtext04">4</a>.
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Sie weist mit großer Entschiedenheit darauf hin,
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daß die inter­nationale Stellung Polens, wie auch feine inneren Verhältnisse heute ganz anders liegen,
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als noch zur Zeit der ersten Internationale, und daß die Sozialdemokratie ihre Haltung in der polnischen Frage
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nicht nach ihren Traditionen, sondern nach den Thatsachen der Gegenwart einzurichten habe.</p>
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<p>Werfen wir einen Blick auf diese Thatsachen, so müssen wir allerdings gestehen, daß die Situation
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Polens eine gänzlich veränderte ist.</p>
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<p>Schon dadurch mußte die Bedeutung der Polen für die europäischen demo­kratischen und
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revolutionären Bewegungen abnehmen, daß deren Entscheidungen nicht mehr mit bewaffneter Hand ausgefochten
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werden. Seit der Gründung der
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<a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S488"><</a><a class="Seitenzahl" name="S489">489</a><a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S490">></a>ersten Internationale haben das allgemeine Wahlrecht,
|
|
Koalitionsfreiheit, Preß– und Versammlungsfreiheit überall in Westeuropa ihren Einzug gehalten und
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die Formen des politischen Kampfes gänzlich verändert. Die Mieroslawski, Bem, Dombrowski fänden heute
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kein Feld für ihre Feldherrnthätigkeit in den Reihen der Demokratie und Sozialdemokratie.</p>
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<p>Diese Klasse der polnischen Revolutionäre ist aber gleichzeitig auch gänzlich verschwunden. Die
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Niederschlagung der Insurrektion von 1863/64 hat ihr den Todesstoß gegeben. Ein Theil des niederen polnischen
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Adels ist in der Emigration, ein anderer in Sibirien gestorben und verdorben. Der in Russisch–Polen selbst
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verbleibende Theil des Adels wurde durch den Aufstand und dessen Folgen finan­ziell ruinirt. Die Kraft des Adels
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in Russisch–Polen ist gebrochen und seine Reste suchen ihren Frieden mit dem Zarenthum zu machen. Sie
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küssen die Hand, die sie gezüchtigt, und suchen ihr einige Almosen abzubetteln. In
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Preußisch–Polen nimmt der polnische Junker an den Liebesgaben theil, die das deutsche Junker­thum
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für sich ergattert, er wird Höfling und Staatspensionär und entwickelt die antidemokratische Seite
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seines Wesens. Noch mehr ist dies der Fall in Galizien. So wie der Zwiespalt zwischen den beiden Kulturnationen
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Deutschland und Frank­reich das barbarische Rußland zum Beherrscher Europas macht, so macht der Zwiespalt
|
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zwischen .den beiden am meisten entwickelten Nationen Österreichs, den Deutschen und den Tschechen, den
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barbarischen polnischen Adel zum Beherrscher Österreichs, dessen Staatsgewalt ihm fast unumschränkt zur
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|
Verfügung steht. Da sind die demokratischen Allüren des niederen Adels längst zum Teufel gegangen. Die
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galizischen Schlachzizen würden in ein Hohngelächter ausbrechen, wenn man von ihnen verlangte, sie sollten,
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|
wie 1848, für die Rechte des Volkes eintreten. Die Rolle, welche die Polen heute in Österreich spielen, ist
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|
das gerade Gegentheil ihrer Rolle im Jahre 1848.</p>
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<p>Während so Polen aufgehört hat, das Revolutionsland <span class="Fremdworte">par excellence</span> zu sein, hat
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auch die Idee einer Wiederherstellung Polens als Bollwerk des freien Europas gegenüber dem russischen
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Absolutismus viel von ihrer Bedeutung verloren.</p>
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<p>Im Krimkrieg trat es deutlich zu Tage, daß eine moderne Armee und eine moderne Bureaukratie nur zu einer
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sehr beschränkten Leistungsfähigkeit gebracht werden können und von einem bestimmten Punkte an
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versagen, wenn ihnen die ökonomischen und politischen Grundlagen eines modernen Staates fehlen. Die Niederlage
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seiner Armeen und seiner Verwaltung zwang den russischen Absolutis­mus, seinem Lande die Bahn der
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ökonomischen, ja bis zu einem gewissen Grade sogar der politischen Entwicklung zu eröffnen. Damit
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führte er aber auch selbst in den Staat neue Elemente der Bewegung ein, die das alte System des orientalischen
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Despotismus früher oder später über den Haufen werfen müssen. Rußland zeitigt
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revolutionäre Bewegungen, die zeitweise schon eine höchst bedeutende Kraft erlangt haben und die
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gegenwärtig in neuem Aufschwung begriffen sind. Eine Revolution in Westeuropa würde heute in Rußland
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solche revolutionäre Kräfte entfesseln, daß der Zarismus vollauf zu Hause beschäftigt wäre
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und zur Unterdrückung aus­wärtiger Revolutionen nicht das Geringste beitragen könnte. Petersburg
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ist heute ein viel wichtigeres revolutionäres Zentrum als Warschau, die russische revolutionäre Bewegung
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hat bereits eine größere internationale Bedeutung als die polnische.</p>
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<p>Aber auch als Bollwerk gegen den Panslavismus kommt Polen wenig mehr in Betracht. Nicht nur, daß, wie schon
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erwähnt, die Widerstandskraft seines Adels gebrochen ist, der Panslavismus selbst nimmt an Kraft und
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|
Gefähr­lichkeit rasch ab.</p>
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|
|
<p><a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S489"><</a><a class="Seitenzahl" name="S490">490</a><a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S491">></a>
|
|
Wir haben eben der Elemente gedacht, die in Rußland in Bewegung gerathen sind.
|
|
Aber noch mehr sind die außerrussischen Slaven in Österreich und den Balkanländern während der
|
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letzten Jahrzehnte in Bewegung gerathen, nicht zum Wenigsten in Folge der panslavistischen Agitationen selbst, in
|
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erster Linie aber in Folge der Umwälzung der ökonomischen und politischen Verhält­nisse, die seit
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|
den sechziger Jahren in den genannten Ländern eingetreten ist.</p>
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<p>Es war stets ein gefährliches Wagniß für Rußland, sich Länder mit regem politischen
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Leben, erfüllt oder wenigstens berührt von modernen Anschauungen, einzuverleiben. Jetzt, angesichts der
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stets anwachsenden Bewegung im eigenen Lande, die ihm über den Kopf zu wachsen droht, muß ihm jede
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erhebliche Er­weiterung seines europäischen Gebiets als ein höchst bedenkliches Unternehmen
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erscheinen.</p>
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<p>Andererseits muß in den außerrussischen Slaven die Sehnsucht nach der russischen Knute um so
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platonischer werden, je größer ihre eigenen Freiheiten, je reger ihr politisches Leben. In Österreich
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ist der Panslavismus kaum noch irgendwo eine Macht. Die Zeiten sind vorbei, wo tschechische, ruthenische und
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kroatische Deputationen nach Moskau pilgerten, wie 1867, und von dem russischen Zaren fast wie Unterthanen
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begrüßt wurden.</p>
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<p>Auch in den Balkanländern geht es mit der slavischen Solidarität bergab. Wohl sind diese Länder
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noch das Lieblingsgebiet für russische Intriguen, auch panslavistische Traditionen machen sich noch geltend,
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Rußland sucht seine einmal dort gewonnene Stellung zu behaupten, aber praktisch ist doch seit einigen Jahren
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die hervorstechendste Eigenthümlichkeit der russischen Balkanpolitik das Bedürfniß nach Ruhe, nicht
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mehr, wie ehedem, nach Unruhe.</p>
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<p>Jede Einschränkung des sultanischen Despotismus kommt eben nicht mehr dem zarischen Despotismus zu Gute,
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sondern den Elementen der Bewegung und der Selbständigkeit an den russischen Grenzen. Das Gelingen einer
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Insurrektion in Mazedonien oder Kreta kann nur die Macht Bulgariens oder Griechenlands stärken, deren
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Widerstandskraft vermehren und das Gebiet der Ansätze zu einem modernen politischen Leben im Bereich des
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Slaventhums und der orthodoxen Kirche vergrößern; die Gewährung der Autonomie an das türkische
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Armenien würde den Armeniern in Rußland ein gefährliches Beispiel geben. Wo dagegen der Sultan
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unumschränkt herrscht, kann sich kein Element entwickeln, das im Stande wäre, die unumschränkte
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Herrschaft des Zaren zu gefährden.</p>
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<p>Gleichzeitig verliert auch Konstantinopel zusehends an Werth für Rußland. Je mehr die slavischen
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Gebiete Österreichs und der Türkei ihre Anziehungskraft für den russischen Despotismus verlieren,
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desto stärker wird sein Trieb, sich nach Osten und Südosten auszudehnen, in Zentralasien und China. Dort
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findet es Gebiete, deren soziale Verhältnisse völlig mit seiner politischen Struktur harmoniren, die sie
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nicht untergraben, sondern stützen. Die Beherrschung Chinas wird aber' auch ökonomisch für
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Rußland von weit größerer Bedeutung, als die Beherrschung der Türkei. Neben Afrika bildet das
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ungeheure Reich der Mitte das einzige große Gebiet, das noch dem Weltmarkt zu erschließen ist. Aber das
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älteste der bestehenden Kulturreiche mit seinen Hunderten von Millionen Ein­wohnern bildet einen ganz
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anderen Markt, als das Innere Afrikas mit einigen Millionen bedürfnißloser Barbaren. Während die
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westlichen Nationen Europas, durch ihre geographische Lage verführt, sich in Afrika verbeißen und ihre
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besten Kräfte dort vergeuden, umklammert Rußland seinen Nachbar in Ostasien immer mehr und macht ihn
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politisch und ökonomisch von sich abhängig. Noch bedarf es heute der freien Passage durch den Bosporus und
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den Suezkanal, um seine
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<a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S490"><</a><a class="Seitenzahl" name="S491">491</a><a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#Teil2">></a>
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ostasiatischen Interessen zu wahren. Aber die transkaspische
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Eisenbahn hat ihm bereits eine Route nach Indien eröffnet, die es unabhängig von Konstantinopel macht, und
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die sibirische Eisenbahn wird das Gleiche für den Weg nach China bewirken. Konstantinopel wird dann
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aufhören, Zarigrad, die Zarenstadt zu sein, die Stadt, ohne deren Besitz das Zarenreich unvollständig
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ist.</p>
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<p>Alles das führt dahin, daß der Boden für den Panslavismus innerhalb wie außerhalb
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Rußlands schwindet. Rußland hört auf, der Hort der unterdrückten slavischen Brüder zu
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fein, und diese fangen an, ihr Vertrauen auf die Hilfe des Väterchens an der Newa zu verlieren.</p>
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<p>Gegenüber der Türkei sind heute schon die Rollen völlig vertauscht. Ruß­land ist ein Herz
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und eine Seele mit den türkischen Machthabern, ungerührt durch armenische und kretensische Greuel,
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indeß die Engländer, nicht blos Liberale, sondern auch Tories, als die Anwälte der unterdrückten
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Nationen der Türkei auf­treten und nur durch die Furcht vor einem Weltkrieg davor zurückgehalten
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werden, diesen Nationen zur Unabhängigkeit zu verhelfen.</p>
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<p>Von dieser veränderten Situation bleibt aber auch Polen nicht unberührt.</p>
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<p>Der Niedergang des Panslavismus ebenso wie das Erstehen einer starken revo­lutionären Bewegung in
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Rußland bewirken, daß das Eintreten für die Wieder­herstellung Polens ebenso wie das für
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die Integrität der Türkei aufhören, eine dringende Notwendigkeit für die westeuropäische
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Demokratie zu bilden. Die eine wie die andere dieser Forderungen verliert die große internationale Bedeutung,
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die sie, wie für die Demokratie im Allgemeinen, so auch für das revolutionäre Proletariat Europas
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besessen, und es wäre ganz verkehrt, wollte man die alte Schablone wiederbeleben und der neuen Internationale
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znmuthen, in der pol­nischen Frage genau die Haltung einzunehmen, die die erste Internationale
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ein­genommen.</p>
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<p>Hätte Frl. Luxemburg nicht mehr beweisen wollen als das, wir würden ihr vollkommen zustimmen.</p>
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<p>Aber sie geht noch einen Schritt weiter. Sie leugnet nicht blos die inter­nationale Bedeutung der polnischen
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Frage. Sie protestirt auch dagegen, daß die polnische Sozialdemokratie selbst die Unabhängigkeit Polens zu
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einer ihrer Forderungen macht.</p>
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<p>Wir wollen in einem folgenden Artikel untersuchen, ob wir ihr auch in diesem Punkte zustimmen können.</p>
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<h2><a name="Teil2" id="Teil2"></a>II. Die Unabhängigkeit Polens.</h2>
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<p class="FirstPub">Die Neue Zeit, Nr. 43. XIV. Jahrgang, II. Band. 1895-96. Seiten 513-525</p>
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<p><a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S491"><</a><a class="Seitenzahl" name="S513">513</a><a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S514">></a>Frl. Luxemburg führt drei Gründe an, die nach ihrer Ansicht dagegen
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sprechen, daß die polnische Sozialdemokratie die Forderung der Unabhängigkeit Polens zu der ihrigen
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macht:</p>
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<p>1) Ist diese Forderung in der heutigen Gesellschaft unerreichbar, gehört also ebenso wenig in unser
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praktisches Programm, als etwa der famose Militär­strike, für den Nieuwenhuis eintrat.</p>
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<p>2) Bedeutet diese Forderung nichts Anderes, als ein Bestreben, sich der ökonomischen Entwicklung zu
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widersetzen, die auf die organische Einverleibung der entscheidenden Theile Polens in Rußland hinwirkt.</p>
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<p>3) Bringt das Eintreten für diese Forderung die polnische Sozialdemokratie ins Schlepptau des
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kleinbürgerlichen Nationalismus und entfremdet sie in jedem der drei Theile Polens den praktischen Aufgaben, die
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sie zu lösen hat, die in jedem der drei Staaten, unter die Polen eingetheilt ist, andere sind, und die den
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engsten Anschluß der polnischen Proletarier an ihre Genossen in Deutschland, bezw. Österreich und
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Rußland, erforderlich machen.</p>
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<p>Am kürzesten können wir den ersten dieser drei Punkte abthun, der auf einer seltsamen Verkennung des
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Wesens eines sozialistischen Programms beruht.</p>
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<p>Unsere praktischen Forderungen, mögen sie nun ausdrücklich in einem Pro­gramm formulirte oder
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stillschweigend acceptirte "Postulate" sein, werden nicht darnach bemessen, ob sie unter den bestehenden
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Machtverhältnissen <span class="gesperrt">erreichbar</span> sind, sondern darnach, ob sie mit der bestehenden
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Gesellschaftsordnung <span class="gesperrt">vereinbar</span> sind und ob ihre Durchführung geeignet ist, den
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Klassenkampf des Proletariats zu erleichtern und zu fördern und diesem den Weg zur politischen Herrschaft zu
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ebnen.</p>
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<p>Auf die augenblicklichen Machtverhältnisse nehmen wir dabei keine Rücksicht. Ein sozialdemokratisches
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Programm wird nicht für den Augenblick gemacht, es soll möglichst für alle Eventualitäten in der
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heutigen Gesellschaft ausreichen. Und es soll nicht blos der Aktion, sondern auch der Propaganda dienen, es soll in
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der Form konkreter Forderungen anschaulicher, als es abstrakte Ausführungen vermögen, die Richtung angeben,
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in der wir zu marschiren gedenken. Je weiter wir uns <a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S513"><</a><a class="Seitenzahl" name="S514">514</a><a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S515">></a>dabei unsere praktischen Ziele
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stecken können, ohne uns in utopistische Spekulationen zu verlieren, um so besser. Um so klarer wird für
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die Massen — auch für jene, die nicht im Stande sind, unsere theoretischen Grundlegungen zu erfassen
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— die Richtung, die wir verfolgen.</p>
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<p>Das Programm soll zeigen, was wir von der heutigen Gesellschaft oder vom heutigen Staat <span class=
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"gesperrt">verlangen</span>, nicht das, was wir von ihnen <span class="gesperrt">erwarten</span>.</p>
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<p>Nehmen wir z. B. das Programm der deutschen Sozialdemokratie. Es fordert die Wahl der Behörden durch das
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Volk. Diese Forderung ist, wenn man den Maßstab des Frl. Luxemburg anlegen will, ebenso utopistisch, wie die
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der Herstellung eines polnischen Nationalstaats. Niemand wird sich der Täuschung hingeben, daß die Wahl
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der Staatsbeamten durchs Volk im Deutschen Reiche unter den bestehenden politischen Verhältnissen erreichbar
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sei. Mit demselben Rechte, mit dem mau annehmen könnte, der polnische Nationalstaat sei erst durchführbar,
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wenn das Proletariat die politische Macht erobert hat, könnte man dies von der genannten Forderung behaupten.
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Wäre dies ein Grund, sie nicht in unser praktisches Programm aufzunehmen?</p>
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<p>Oder nehmen wir eine damit verwandte Forderung, die allerdings im Pro­gramm der deutschen Sozialdemokratie
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nicht formulirt ist, die aber als "Postulat", als Ideal in der Brust eines jeden Sozialdemokraten lebt, die Republik.
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Die deutsche Republik ist um kein Haar näher und erreichbarer, als ein freies Polen. Deshalb wird Frl. Luxemburg
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es den deutschen Sozialdemokraten doch nicht ver­übeln, daß sie Republikaner sind. Was aber für
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die Deutschen recht, ist für die Polen billig. Wenn diese nun Republikaner sind, welcher Art kann ihr Ideal
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sein? Kann man erwarten, daß sie Bürger einer deutschen Republik sein wollen oder einer
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österreichischen (?!) oder einer russischen? Wenn sie die Republik wollen, können sie nur eine wollen, die
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polnische. Will Frl. Luxemburg den polnischen Sozialdemokraten verbieten, das Postulat eines unabhängigen Polens
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aufzustellen, weil dies heute unerreichbar, dann muß sie ihnen auch verbieten, Republikaner zu sein.</p>
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<p>Gänzlich verunglückt ist der Vergleich der Resolution zu Gunsten der Un­abhängigkeit Polens,
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die dem internationalen Kongreß vorgelegt werden wird, mit der holländischen Resolution zu Gunsten des
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Generalstrikes. Diese forderte eine <span class="gesperrt">bestimmte That</span> zu einem <span class="gesperrt">bestimmten
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Zeitpunkt</span>. Bei der Aufstellung einer derartigen Forderung muß man allerdings die augenblicklichen
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Machtverhält­nisse in Betracht ziehen. Wer die Verpflichtung übernimmt, eine bestimmte That bei einer
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bestimmten Gelegenheit zu vollführen, ohne auch nur im Entferntesten die Macht zu besitzen, feine Verpflichtung
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einzulösen, ist ein Narr oder ein lächer­licher Prahlhans, und ein gewissenloser obendrein, wenn er
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durch die Übernahme dieser Aufgabe schwere Gefahren heraufbeschwört.</p>
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<p>Auch mit den schärfsten Augen wird man in der polnischen Resolution nichts der Art entdecken können. Ja,
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wenn sie jedem Proletarier die Verpflich­tung auferlegte, am 1. Mai 1897 nach Warschau zu ziehen, um dort die
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pol­nische Republik zu proklamiren, dann stände sie auf derselben Höhe, wie die Nieuwenhuis'sche
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Resolution. In Wirklichkeit ist sie aber eine einfache Sympathie­erklärung, die nur eine moralische Wirkung
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üben soll. Selbst wenn die Unab­hängigkeit Polens vor dem Anbruch der politischen Herrschaft des
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Proletariats auf jeden Fall ausgeschlossen wäre, würde der Londoner internationale Kongreß sich durch
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Annahme der polnischen Resolution ebenso wenig eines lächerlichen Utopismus schuldig machen, als die erste
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Internationale durch ihre polnischen Resolutionen gethan.</p>
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<p><a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S514"><</a><a class="Seitenzahl" name="S515">515</a><a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S516">></a>Ist aber die Erreichung der Unabhängigkeit Polens wirklich so aussichtslos, wie
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sie dem Frl. Luxemburg erscheint? Sie behauptet, die ökonomische Entwick­lung Russisch–Polens —
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wir sehen hier ab von Preußisch– und Österreichisch–Polen, die nicht ausschlaggebend sind und
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deren Einbeziehung in die Untersuchung unseren Artikel über Gebühr vergrößern würde —
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kette dieses immer enger an Rußland, und von den in der heutigen Gesellschaft maßgebenden Klassen Polens
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habe keine mehr ein Interesse an der Selbständigkeit ihres Vaterlandes. Sie weiß ihre Behauptungen durch
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eine Reihe höchst instruktiver Thatsachen zu belegen, und hier ist sicher ein ziemlich starker Punkt ihrer
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Position zu suchen.</p>
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<p>Der frühere Träger des nationalen Gedankens, der niedere Adel, ist, wie wir im vorhergehenden Artikel
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gesehen, zum großen Theil vernichtet und sein Überrest unfähig und unwillig, den Kampf gegen das
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russische Joch weiter zu führen. Gerade in der Zeit, in der der Adel zu Grunde ging, begann aber eine neue
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herrschende und ausbeutende Klasse in Polen aufzusteigen, eine indu­strielle Bourgeoisie. Diese war jedoch ganz
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anders, wie die Bourgeoisie anderer Länder, keineswegs national gesinnt. Die neuen Kapitalisten waren zumeist
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ent­weder Deutsche oder Juden, die eine Art eigenartiges Deutschthum repräsen­tirten. Und die Wurzel
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ihres ökonomischen Gedeihens war die Verbindung Polens mit Rußland.</p>
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<p>Als nach dem Krimkrieg die russische Regierung sich genöthigt sah, der industriellen Entwicklung freie Bahn
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zu schaffen, und als nach dem Aufstande von 1863/64 dieselbe Regierung die Zolllinie zwischen Polen und Rußland
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aufhob, um jenes um so enger an dieses zu fesseln, da begann eine Zeit des großartigsten wirthschaftlichen
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Aufschwungs für die polnische Industrie. Wir brauchen hier diese Erscheinung nicht weiter zu schildern, noch
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auch ihre Ursachen auseinanderzusetzen. Der Leser findet in dem letzten Artikel des Frl. Luxemburg, sowie in dem
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Artikel eines sachkundigen polnischen Genossen im zwölften Jahr­gang, Band 2 der "Neuen Zeit" ("Die
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industrielle Politik Rußlands in dessen polnischen Provinzen", S. 787<a class="FNzeichen" name=
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"FNanker05" href="nz14_484.htm#FNtext05">5</a>) ausreichende Informationen
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darüber.</p>
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<p>Kein Zweifel, daß diese Entwicklung sehr dazu beigetragen hat, die Kraft des nationalen Gedankens in
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Russisch–Polen, also dem entscheidenden Theile Polens, zu lähmen, und wir geben gerne zu, daß Jeder,
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der geneigt ist, die Kraft des nationalen Gedankens in der heutigen polnischen Gesellschaft zu
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über­schätzen, gut thun wird, den Thatsachen, auf die Frl. Luxemburg hinweist, Be­achtung zu
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schenken. Aber von da bis zu der Überzeugung, die Unabhängigkeit Polens sei damit bis zum Siege des
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Proletariats endgiltig begraben, ist noch ein weiter Schritt.– Und den scheint Frl. Luxemburg etwas voreilig
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gemacht zu haben.</p>
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<p>Vor allem müssen wir ihr entgegenhalten, daß jene Tendenz, die ihr als eine ständige erscheint,
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nur eine vorübergehende Phase ist, auf die man bald ebenso wenig wird bauen können, wie auf die Traditionen
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des alten adeligen Polens.</p>
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<p>Die schönen Zeiten des mühelosen Profits haben auch für Russisch–Polen ein Ende erreicht. Die
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Ausdehnungskraft der kapitalistischen Großindustrie ist eine zu gewaltige, als daß irgendwo eine Aera des
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kräftigsten wirthschaftlichen Aufschwungs lange dauern könnte. Während in Polen die Industrie sich
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rapid entwickelte, erwuchs ihr ein mächtiger Konkurrent in Rußland selbst, und zwischen den beiden Rivalen
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entspinnt sich ein wüthender Kampf um den russischen und den asiatischen Markt. Nun beginnen aber die
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Kapitalisten in Polen mit der Kehrseite der Medaille Bekanntschaft zu machen; die Vereinigung Polens mit
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Ruß­land, die ihnen eine Zeitlang so günstig gewesen, zeitigt nun weniger angenehme <a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S515"><</a><a class="Seitenzahl" name="S516">516</a><a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S517">></a>Konsequenzen für sie. Sie lernen es jetzt empfinden, daß der Pole in Rußland nur
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ein Mensch zweiter Klasse ist, daß Polen von der Willkür Rußlands ab­hängt. Die russische
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Regierung greift in den Konkurrenzkampf zwischen Russen und Polen ein zu Ungunsten der Letzteren. Noch hat man nicht
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eine Zollgrenze zwischen Polen und Rußland aufgerichtet; aber bereits wird die polnische Kon­kurrenz
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geschädigt durch höhere Steuern, eine Tarifpolitik der Eisenbahnen, die den Transport russischer Waaren
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erleichtert und polnischer Waaren erschwert, sowie durch Chikanen aller Art. Man vergleiche darüber die
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lehrreichen That­sachen in dem oben erwähnten Artikel "Die industrielle Politik Rußlands etc." und dem
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ihn ergänzenden Artikel von demselben Verfasser "Ein Beitrag zur Geschichte der Agrarpolitik Rußlands in
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dessen polnischen Provinzen" in Nr. 40 des jetzigen Jahrgangs der "Neuen Zeit".<a class="FNzeichen" name=
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"FNanker06" href="nz14_484.htm#FNtext06">6</a></p>
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<p>Der erstere dieser beiden Artikel schließt mit den Worten: "Polen wird gegenwärtig in wirthschaftlicher
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Beziehung als ein auswärtiger Staat behandelt, gegen den ein ökonomischer Krieg geführt wird. Selbst
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aber besitzt es keine Macht, sich gegen die Angriffe der russischen Regierung zu wehren."</p>
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<p>Dieser Krieg Rußlands gegen die Polen wird aber offenbar immer energischer geführt werden, je mehr die
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Industrie in beiden Ländern sich entwickelt und je mehr Einfluß die russische Kapitalistenklasse auf ihre
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Regierung erlangt. In demselben Maße muß aber auch der Gegensatz der polnischen Bourgeoisie zum
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russischen Regiment wachsen, muß sie der nationalen Idee zugänglicher werden und anfangen, Interesse
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für ein selbständiges Polen zu erlangen. Daß in Preußisch–Polen und Galizien noch keine
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nennenswerthe Großindustrie existirt, daß dort nicht Konkurrenten, sondern Konsumenten wohnen, daß
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diese Gebiete der Industrie eines vereinigten selbständigen Polens einen Markt sichern würden, der sie
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entschädigen könnte für den Verlust des Marktes, der ihr in Rußland schritt­weise
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abgeschnitten wird, dürfte den nationalen Aspirationen in den Augen der polnischen Bourgeoisie auch nicht
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schaden. Damit bricht aber auch der Grund­pfeiler der Argumentationen des Frl. Luxemburg zusammen, der
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"untrügliche Schluß, daß die Wiedervereinigung Polens nicht im Interesse seiner ökonomischen
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Entwicklung liegen kann, die sich eben in der polnischen Bourgeoisie verkörpert", und daß die
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Unabhängigkeit Polens der Bourgeoisie von dem Proletariat auf­gezwungen werden müßte.</p>
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<p>Allerdings, die Bourgeoisie ist heute nirgends mehr revolutionär gesinnt; sie hat nie im Vorkampfe der
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Revolution gestanden und empfindet jetzt noch weniger das Bedürfniß dazu als je, auch in Rußland und
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Polen. Die polnische Bourgeoisie wird nie eine Insurrektion beginnen, wie ehedem der niedere Adel; sie wird nie
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für die Unabhängigkeit Polens ihre Haut zu Markte tragen. Aber das ist auch gar nicht nothwendig. Die
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Freiheit Polens findet noch andere Kämpfer, die entschiedener für sie eintreten.</p>
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<p>Frl. Luxemburg spricht ziemlich geringschätzig vom Kleinbürgerthum. Nun ist dieses für die Heute
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herrschende Produktionsweise fast ohne jede Bedeutung, und der Theoretiker, der diese erforschen will, darf von ihm
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absehen. Er braucht blos von Kapitalisten und Proletariern zu handeln. Aber der praktische Politiker würde einen
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großen Fehler begehen, wollte er ebenso wie der Theoretiker des kapitalistischen Produktionsprozesses das
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Kleinbürgerthum als <span class="Fremdworte">quantité négligable</span> behandeln.</p>
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<p>Die Kleinbürger bilden bei Beginn der kapitalistischen Produktionsweise die große Masse der
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städtischen Bevölkerung. <span class="gesperrt">Relativ</span>, das heißt, im Verhältniß zum
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Proletariat, nimmt ihre Zahl im Fortgang der modernen Produktionsweise <a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S516"><</a><a class="Seitenzahl" name="S517">517</a><a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S518">></a>rasch ab, aber
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ihre Zahl kann dabei absolut zunehmen, mitunter sogar relativ, im Verhältniß zur Gesamtbevölkerung,
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wenn die städtische Bevölkerung rasch genug wächst. Der Zuzug vom Lande vermehrt nicht blos die Zahl
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der prole­tarischen, sondern auch die der kleinbürgerlichen Existenzen in der Stadt. Und die Konkurrenz der
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kapitalistischen großen Unternehmungen ruinirt die kleinen, beseitigt sie aber nicht ebenso schnell. Sie
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äußert ihre Wirkung vielmehr darin, den Charakter der kleinen Unternehmungen zu ändern. Sie beseitigt
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z. B. nicht überall den Handwerker. Öfter verwandelt sie ihn in einen Flicker, einen Händler mit
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Fabrikwaaren oder einen Sweater<a class="FNzeichen" name="FNanker07" href="nz14_484.htm#FNtext07">7</a>.
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Endlich giebt das Proletariat selbst einen stets wachsenden Nährboden
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für ein zahlreiches parasitisches Klein­bürgerthum ab — für Kleinhändler, Gastwirthe
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und dergleichen.</p>
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<p>Nicht in der Abnahme der Zahl der Kleinbürger äußert sich am auf­fallendsten der Ruin des
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Kleinbürgerthums, den die kapitalistische Produktions­weise mit sich bringt, sondern in der Abnahme ihres
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<span class="gesperrt">Wohlstandes</span>, der Ab­nahme der Sicherheit ihrer Existenz, in der Zunahme ihrer
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Abhängigkeit und in der völligen Aussichtslosigkeit aller Bemühungen, aus eigener Kraft wieder auf
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einen grünen Zweig zu kommen. Die individuelle Selbsthilfe, die der Kleinbürger ehedem als das <span class=
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"Fremdworte">non plus ultra</span> der Lebensweisheit pries, verliert nun jede Be­deutung in seinen Augen; wer sie ihm
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anpreist, wird ihm als "öder Manchester­mann" verhaßt. Der wachsende Druck des Elends und der
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Unsicherheit drängt ihn immer mehr, von der Staatsgewalt zu fordern, was er selbst nicht leisten kann: die
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Schaffung auskömmlicher Existenzbedingungen. Und da keine Gewalt das in der heutigen Gesellschaft
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ermöglichen kann, wird er naturnothwendig oppositionell gegen die jeweilige Regierung, wird er rebellisch.</p>
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<p>Dieselbe Produktionsweise jedoch, die die Kleinbürger ins Elend stürzt, auf­stachelt und erbittert,
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beseitigt auch die Abgeschlossenheit der einzelnen Städte von einander, bewirkt, daß nicht blos in den
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politischen Zentren, sondern selbst in den kleinen Landstädtchen neben dem stets regen Interesse für
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kommunale An­gelegenheiten auch das Interesse für Staatsangelegenheiten erwacht. Und so kommt es, daß
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trotz des ökonomischen Rückganges des Kleinbürgerthums die Kraft und Ausdehnung der
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kleinbürgerlichen Opposition im Lande stets zunimmt — allerdings nicht im Verhältniß zur Kraft
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und Ausdehnung der proletarischen Opposition, aber im Verhältniß zur Kraft der Staatsgewalt.</p>
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<p>Diese kleinbürgerliche Opposition tritt vermöge ihres ökonomisch reaktionären Charakters
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häufig in ganz grotesken Gestalten aus; sie bildet den Nährboden für die modernen Formen des
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Klerikalismus und Antisemitismus. Wo aber inner­halb eines Landes zwei Nationen einander gegenüberstehen, da
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nimmt diese Oppo­sition naturnothwendig, namentlich bei der schwächeren Nation, einen nationalen Charakter
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an. Jeder Gegensatz der Klassen oder der Konkurrenten verschärft und verbittert sich, wenn er mit einem
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nationalen Unterschied zusammentrifft, und wirkt dahin, den nationalen Unterschied in einen nationalen Gegensatz zu
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ver­wandeln. Und wo der erstere zur Minderberechtigung und Mehrausbeutung der einen Nationalität führt,
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da wird der letztere vollends lebendig, beim Kleinbürger mehr noch als beim Bourgeois, weil jener mehr darunter
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leidet, weniger sich wehren kann, und weil er naturgemäß dahin kommt, auch die Schädigungen, die ihm
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die ökonomische Entwicklung unter allen Umständen auferlegen würde, aufs Konto der feindlichen Nation
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zu schreiben. Sicher wird, wenn die kapitalistische Produktions­weise lange genug dauert, das
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Kleinbürgerthum zusammenschmelzen und damit auch seine Opposition an Kraft und Ausdehnung abnehmen. Aber
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vorläufig ist sie im Wachsen, namentlich in einem Lande, wie Russisch–Polen, das so unver­
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<a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S517"><</a><a class="Seitenzahl" name="S518">518</a><a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S519">></a>mittelt von der bäuerlichen Naturalwirtschaft zur kapitalistischen Produktion
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über­gesprungen ist und das seine Industrie so rasch entwickelt. Hier findet diese kein zahlreiches und
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kraftvolles Kleinbürgerthum vor, das sie zu expropriiren hätte. Hier schafft die kapitalistische
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Produktionsweise, indem sie eine ausgedehnte städtische Bevölkerung hervorruft und auch auf dem flachen
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Lande die Natural­wirtschaft durch Waarenproduktion und Waarenhandel immer mehr verdrängt, zugleich mit
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ihrem Boden auch den für ein Kleinbürgerthum, das mit ihr bis zu einem gewissen Punkte der Entwicklung
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wächst, und man hat gegründete Ursache, anzunehmen, daß das absolute Regiment des Zarismus nicht so
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lange lebt, bis dieser Punkt erreicht ist, und daß bis dahin die Opposition des Klein­bürgerthums
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stets kraftvoller sich äußern wird.</p>
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<p>Fast noch geringschätziger als vom Kleinbürgerthum spricht Frl. Luxemburg von der "Intelligenz". Aber
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auch diese ist eine nicht zu unterschätzende Macht. Sie übt in der kapitalistischen Gesellschaft
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höchst wichtige, geradezu unentbehrliche Funktionen aus. Diese Gesellschaft bedarf nicht nur der Ingenieure,
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Staats– und Privatbeamten, Schullehrer und Professoren, sowie der Ärzte, sondern auch der Journalisten und
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der Advokaten, um ihr Getriebe im Gang zu erhalten. Mit der kapitalistischen Produktionsweise wächst die
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Ausdehnung dieser Berufe und ihre Bedeutung für das wirtschaftliche Leben. Aber auch in der Politik spielen sie
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eine hervorragende Rolle. Sie besitzen das Monopol des Wissens in der heutigen Gesellschaft und sind einer klareren
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Erkenntniß der gesellschaftlichen Zusammenhänge fähig. Ihre Interessen sind zu verschieden, als
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daß sie eine geschlossene Klasse bilden könnten; im Allgemeinen stehen sie der Bourgeoisie am
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nächsten, aber sie nehmen nicht als Klasse an deren Klassenkämpfen theil. Die Mitglieder der Intelligenz
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können sich also leichter als die der Bourgeoisie über die Klassenbornirtheit erheben, und zu Vertretern
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der Gesammtinteressen der Nation oder großer Volksschichten innerhalb derselben werden, die ihre besondere
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Theilnahme erregen. Die bürgerliche Intelligenz ist daher in modernen Staaten die vornehmste Verfechterin einer
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nationalen Bewegung, sie liefert aber auch allenthalben die geistigen Wegweiser der unteren Klassen in ihren
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Klassenkämpfen, namentlich in deren Anfängen, so lange diese rein instinktiver Natur, und giebt ihnen durch
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größere Klarheit auch größere Entschiedenheit und Kraft. Dadurch allein schon politisch
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wichtig, wird sie es noch mehr dort, wo sie in Masse für eine bestimmte Idee eintritt, denn sie bildet das
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geistige Band der Gesellschaft, sie beeinflußt mehr als jede Gesellschaftsschicht die öffentliche Meinung,
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ermutigt oder entmutigt die herrschenden Klassen.</p>
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<p>Frl. Luxemburg hat aber selbst schon darauf hingewiesen, wie gerade die Intelligenz in Polen am schwersten unter
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der russischen Herrschaft zu leiden hat, wie sie gewaltsam den nationalen Bestrebungen in die Arme getrieben wird,
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für die sie von vornherein mehr als jede Klasse disponirt ist. Trifft das zusammen mit einer weitgehenden
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nationalen Empörung im Kleinbürgerthum und beginnender Unzufriedenheit mit dem russischen Regime in der
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Bourgeoisie, so muß dies der nationalen Bewegung eine Kraft verleihen, von der wir nichts weniger als
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ge­ringschätzig denken.</p>
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<p>Bleibt die <span class="gesperrt">Bauernschaft</span>. Diese bildete allerdings bisher den wundesten Punkt der
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nationalen Bewegung in Polen, fast mehr noch als die Bourgeoisie. Der Adel war der nächste Feind des Bauern, und
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so lange der Adel den Träger der nationalen Idee bildete, mußte der Bauer, so weit er überhaupt sich
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darum bekümmerte, ihr entschiedener Gegner sein. Darauf beruhte das Bündniß zwischen der polnischen
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Bauernschaft und dem Zaren, dessen Kosten der Adel zu tragen hatte.</p>
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<p><a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S518"><</a><a class="Seitenzahl" name="S519">519</a><a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S520">></a>Aber darf man erwarten, die Bauernfreundschaft des Zaren und die Zaren­liebe des
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Bauern werde ewig währen? Diese Erscheinungen müssen mit der besonderen historischen Situation
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verschwinden, die sie geboren, und heute schon lassen sich deutliche Ansätze dazu erkennen. Der Zar hat keine
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Ursache mehr, dem polnischen Bauern besonderes Wohlwollen zu Theil werden zu lassen, seit­dem der Adel theils
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ruinirt, theils zu Kreuz gekrochen ist. Die finanzielle Si­tuation Rußlands würde ihm auch ein
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derartiges Wohlwollen sehr erschweren. Wie dem russischen, wird auch dem polnischen Bauer ausgepreßt, was sich
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aus ihm erpressen läßt.</p>
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<p>Nun kommt die Agrarkrisis, die Getreidepreise sinken, das russische Getreide überschwemmt nicht nur die
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deutschen, sondern auch die polnischen Märkte. Der deutsche Grundbesitzer wird gegen diese Invasion durch
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Zölle geschützt; der Grund­besitzer in Russisch–Polen bleibt nicht nur ungeschützt, er wird
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noch benachtheiligt gegenüber seinem russischen Konkurrenten durch eine schlau ausgeheckte Tarifpolitik der
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Eisenbahnen des russischen Reichs und andere Maßnahmen der Staatsgewalt. Gleich dem Bourgeois wird so auch dem
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Bauern in Russisch–Polen <span class="Fremdworte">ad oculos<a class="FNzeichen" name="FNanker08" href=
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"nz14_484.htm#FNtext08">8</a></span> demonstrirt, was es heißt, nicht Herr im eigenen
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Hause, sondern der Sklave eines fremden Eroberers zu sein. Und je mehr die Agrarkrisis sich verschärft, desto
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mehr muß der Gegensatz des polnischen Bauern zum russischen Regime zu­nehmen. Sollte da der Bauer in Polen
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fortfahren, ein ernsthaftes Hinderniß für die nationale Bewegung zu bilden? Muß er nicht in dem
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Maße, in dem die ökonomische Entwicklung fortschreitet, ein immer lebhafteres Interesse an der
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Unabhängigkeit Polens erhalten?</p>
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<p>Angesichts aller dieser Thatsachen sind wir weit entfernt davon, mit Frl. Luxemburg anzunehmen, die nationale
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Bewegung in Polen sei ein Ding der Vergangenheit, ohne festen Boden in der Gegenwart und in völligem Widerspruch
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zu den Tendenzen der ökonomischen Entwicklung. Gewiß, die Ausführungen des Frl. Luxemburg sind nicht
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reine Phantasie, sie beruhen auf soliden Thatsachen. Aber Frl. Luxemburg sieht nur die eine Seite dieser Thatsachen
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und übertreibt dieselbe, und sie hält Thatsachen für dauernd, die vorübergehend sind. Die
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Zustände, auf die sie sich beruft, haben wirklich bestanden, waren aber nie so kraß, wie sie sie
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schildert, und sie sind im Verschwinden begriffen. Das Klein­bürgerthum und die Intelligenz sind nicht so
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machtlos, wie sie meint, und ihre Kraft verspricht eher zu- statt abzunehmen; und Bourgeoisie und Bauernschaft
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gerathen allmälig in eine Situation, die ihnen die Vereinigung Polens mit Rußland schließlich
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unerträglich erscheinen lassen muß. Hat man Unrecht, wenn man auf diese Thatsachen gestützt, annimmt,
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auf dem Grabe der alten, feudalen Bewegung für die Wiederherstellung Polens beginne nach einer kurzen Pause eine
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neue nationalpolnische Bewegung zu erstehen, eine der modernen Entwicklung entsprossene, lebenskräftige und
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zukunftsreiche?</p>
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<p>Ebensowenig wie die innere Entwicklung Polens, verweist die seiner Um­gebung den polnischen Nationalstaat in
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das Gebiet des Zukunftsstaates. Wir wollen ganz absehen von einem Weltkrieg, der oft ganz unerwartete Wendungen mit
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sich bringt, und nur einen Faktor in Erwägung ziehen, dessen Wirksamkeit sich leichter übersehen
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läßt. Unter allen europäischen Staaten ist Rußland der­jenige, dessen politische Struktur
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mit seinem gesellschaftlichen Organismus und dessen Bedürfnissen am meisten in Widerspruch gerathen ist und der
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am meisten der Organe ermangelt, die einen derartigen Widerspruch schrittweise und ohne Gewaltthätigkeit
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aufheben könnten. Kein europäischer Staat steht daher so nahe vor einer politischen Revolution wie
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Rußland. Eine solche kann sich aber nicht
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<a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S519"><</a><a class="Seitenzahl" name="S520">520</a><a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S521">></a>
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vollziehen, ohne daß auch die polnische Frage auftaucht und ihre Lösung heischt — also nicht erst im proletarischen,
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sondern schon im heutigen, im "Klassenstaat".</p>
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<p>Es wäre müßig, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was beim Eintreten derartiger
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revolutionärer Ereignisse erfolgen wird, ob schon die Einigung Polens oder nur ein vorbereitender Schritt in
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dieser Richtung; ob Kongreßpolen dann schon ein selbständiger Staat wird oder ob sein
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Verhältniß zu Rußland sich ähnlich gestaltet, wie das Norwegens zu Schweden, das Ungarns zu
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Öster­reich oder das Kroatiens zu Ungarn. Das wird von den Umständen abhängen, von der Kraft,
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welche die nationalpolnische Bewegung bis dahin erlangt hat, von den Kräften, welche die Revolution zu Gunsten
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und zu Ungunsten der Selbst­ständigkeit Polens in Rußland entfesseln wird — lauter Faktoren, die
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völlig unberechenbar sind. Aber darum handelt es sich hier auch gar nicht, sondern um den Nachweis, daß
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bereits im Rahmen der heutigen Gesellschaft, in abseh­barer Zeit, die polnische Unabhängigkeit zu einer
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Frage sehr praktischer Politik werden kann, und daß das polnische Proletariat daher alle Ursache hat, zu ihr
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Stellung zu nehmen und sich nicht mit dem Hinweis auf den großen Kladdera­datsch, der Alles von selbst in
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Ordnung bringen werde, um sie herumzudrücken.</p>
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<p>Wenn aber das polnische Proletariat zur Frage der Unabhängigkeit Polens Stellung nimmt, dann kann gar kein
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Zweifel darüber sein, welcher Art seine Stellungnahme zu sein hat. Frl. Luxemburg selbst zweifelt nicht im
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geringsten daran, daß der Sieg des Proletariats die polnische Nation befreien wird, daß ein
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unselbständiges Polen unvereinbar ist mit den Grundlagen einer sozialistischen Gesellschaft. Sobald also das
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Proletariat sich mit der polnischen Frage befaßt, kann es gar nicht anders, als sich zu Gunsten der
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Unabhängigkeit Polens aus­zusprechen, damit aber auch die Unterstützung jedes Schrittes
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gutzuheißen, der in dieser Richtung heute schon gethan werden kann, soweit er überhaupt vereinbar ist mit
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den Klasseninteressen des internationalen kämpfenden Proletariats.</p>
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<p>Dieser Vorbehalt muß allerdings gemacht werden. Die nationale Unab­hängigkeit hängt nicht so
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innig mit den Klasseninteressen des kämpfenden Prole­tariats zusammen, daß sie bedingungslos, unter
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allen Umständen anzustreben wäre. Marx und Engels traten für die Einigung und Befreiung Italiens mit
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größter Entschiedenheit ein, das hinderte sie aber nicht, 1859 sich gegen das mit Napoleon verbündete
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Italien zu erklären.</p>
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<p>Hier kommen wir zu dem letzten Hauptargument des Frl. Luxemburg gegen den "Sozialpatriotismus": Das Eintreten
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für die Unabhängigkeit Polens droht die polnische Sozialdemokratie in das Schlepptau des
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kleinbürgerlichen Nationa­lismus zu bringen und ihr Interesse wie ihre Kraft für die praktischen
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Kämpfe zu schmälern, die sie in jedem der drei Theile Polens mit Proletariern anderer Nationalitäten
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zusammen zu kämpfen hat.</p>
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<p>Was letzteren Punkt anbelangt, so wollen wir durchaus nicht leugnen, daß in einem mehrsprachigen Staate das
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Hineintragen des nationalen Elements in Fragen der Organisation und Propaganda durchaus nicht förderlich
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für den Klassenkampf ist. Das getrennt Marschiren und vereint Schlagen kann allerdings unter Umständen
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ausgezeichnete Resultate ergeben, aber es ist immer mit einer Vergeudung von Kräften verbunden, schließt
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jene Schlagfertigkeit aus, die eine zentralisirte Organisation ermöglicht, und giebt Raum zu Reibungen, die sehr
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verdrießlich werden können, nie förderlich sind.</p>
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<p>Uns scheint denn auch z. B. die heutige Organisation der Sozialdemo­kratie in Österreich nichts weniger
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als eine ideale zu sein. Wir würden dem nationalen Föderalismus eine zentralisirte Organisation entschieden
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vorziehen.</p>
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<p><a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S520"><</a><a class="Seitenzahl" name="S521">521</a><a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S522">></a>Aber es fragt sich, ob eine solche möglich ist und ob es nicht gerade die
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prak­tischen Aufgaben sind, die eine größere Berücksichtigung des nationalen Moments erheischen.
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Je mehr die Sozialdemokratie in den Massen festen Fuß faßt, je mehr sie auf die Massen und durch die
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Massen wirkt, desto mehr werden sich in ihr die nationalen Verschiedenheiten bemerkbar machen — ob mit oder
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ohne "sozialpatriotisches" Programm.</p>
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<p>Wir haben schon einmal darauf hingewiesen, daß der Materialismus des Frl. Luxemburg an großer
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Einseitigkeit leidet; sie überschätzt einige Momente, andere ignorirt sie ganz ungerechtfertigter Weise.
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Dazu gehört auch die <span class="gesperrt">Sprache</span>. Das gesellschaftliche Produziren, das ganze
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gesellschaftliche Leben ist unmöglich ohne die Sprache. Die Gesellschaft und die Sprache bedingen einander aufs
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Innigste. Ein enges gesellschaftliches Zusammenleben erzeugt mit Naturnothwendigkeit auch eine gewisse
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Sprachgemeinschaft; auf der anderen Seite ist das Fehlen der Sprachgemeinschaft eines der größten
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Hindernisse eines gesellschaftlichen Zusammenhangs. Auf Polen angewendet besagt das, daß das Fehlschlagen der
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Germanisirung wie der Russifizirung des eigentlichen Polen deutlich beweist, wie lose und ganz äußerlich
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jene angeblich "organische" Verbindung Polens mit seinen Nachbarn ist, auf die Frl. Luxemburg sich beruft. Anderseits
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besagt es aber auch, daß trotz der Zoll­grenzen, trotz der Verschiedenheit der praktischen Aufgaben der
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Sozialdemokratie in Deutschland, Österreich und Rußland, die Sprachgemeinschaft ein festeres Band bildet
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als die Kampfgenossenschaft in den praktischen Kämpfen. Dieser übermächtige Einfluß der
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Sprachgemeinschaft und nicht der Einfluß sozialpatriotischer Forderungen ist es, der die polnischen
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Sozialdemokraten aller drei Reiche in allen internationalen Fragen als geschlossene Einheit vorgehen läßt,
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so daß sie auf den internationalen Kongressen als besondere Nation auftreten, ihre Maifestblätter
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gemeinsam herstellen u. s. w. Die Sprachgemeinschaft ist es aber auch, die be­wirkt, daß in der
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praktischen Agitation innerhalb des Landes selbst der Einfluß der polnischen Genossen der Nachbarstaaten
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vielfach mehr zur Geltung kommt, als der der nichtpolnischen Genossen des eigenen Staates. Es ist ganz
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selbst­verständlich, daß den Sozialdemokraten Posens die sozialistischen Zeitungen und
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Broschüren, die in Galizien erscheinen, näher liegen und auf sie größere Wirkung ausüben,
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als die Zeitungen und Schriften der deutschen Sozialdemokratie, die der Masse der polnischen Arbeiter gar nicht oder
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nur in Übersetzungen zugänglich sind. Und ebenso ist es natürlich, daß dem Schriftsteller in
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Krakau oder Lem­berg das Urtheil des Publikums in Posen oder Warschau wichtiger ist, als das des Publikums in
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Wien oder in Graz.</p>
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<p>Wir sind weit entfernt, die Unbequemlichkeiten, ja sogar Gefahren zu unterschätzen, die aus diesem Zustande
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für die sozialistische Bewegung in den in Rede stehenden drei Ländern, namentlich in Österreich und
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Rußland, erwachsen können; aber wir verstehen nicht, wie man daraus ein Argument gegen die
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Un­abhängigkeit Polens schmieden kann. Denn nicht aus der Agitation für diese Unabhängigkeit
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entspringen die Mißstände des nationalen Föderalismus, sondern gerade aus dem <span class=
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"gesperrt">Fehlen</span> dieser Unabhängigkeit. Sie bezeugen deutlich genug, daß das polnische Proletariat nicht
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seine volle Kraft im praktischen Kampfe entfalten noch auch seine Organisation zur Vollendung bringen kann, so lange
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die Thei­lung Polens besteht; daß das polnische Proletariat erst in einem geeinigten, selbständigen
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Polen den Boden findet, dessen es bedarf, um im Staate den seiner Entwicklungsstufe entsprechenden Einfluß zu
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üben; daß also die Forderung der Unabhängigkeit Polens nicht eine bedeutungslose Spielerei, sondern
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eine höchst praktische Forderung von großem Werthe ist.</p>
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<p><a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S521"><</a><a class="Seitenzahl" name="S522">522</a><a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S523">></a>Bedroht aber die Erhebung dieser Forderung nicht die polnische Sozial­demokratie
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mit der Gefahr des Versinkens in kleinbürgerlichen Nationalismus? Sicher, diese Gefahr ist vorhanden, aber so
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viel Vertrauen müssen wir schon zu unserer Partei haben, daß sie im Stande ist, den Gefahren zu begegnen,
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die der Eintritt in das Leben mit sich bringt. Die Tugend, die nur unter strengstem Verschluß bewahrt werden
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kann, die ist keinen Schuß Pulver werth. Die Gefahr, die hier auftaucht, ist aber kaum größer als
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die Gefahr, die aus der Verfechtung irgend einer Forderung droht, die wir mit der bürgerlichen Demokratie gemein
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haben.</p>
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<p>Wenn die Sozialdemokratie ihre Schuldigkeit thut, ist ein schädlicher Ein­fluß des "Postulats"
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eines unabhängigen Polens nicht zu fürchten. Schon des­wegen nicht, weil die Agitation der
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Sozialdemokratie für die nationale Unab­hängigkeit eine ganz andere sein muß, als die der
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bürgerlichen Demokratie. Sie ist frei von jedem Chauvinismus, und die polnische Sozialdemokratie hat bewiesen,
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daß sie der internationalen Solidarität des Proletariats sich ebenso tief bewußt ist, wie die
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Sozialdemokratie irgend eines Landes. Die nationalföderalistische Organisation unserer Partei in Österreich
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mag manche Schwerfälligkeit, manche Reibung mit sich bringen, die bei einer geschlosseneren Organisation
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hätten vermieden werden können, aber das Verhältniß des galizischen klassenbewußten
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Proletariats zu den anderen Theilen des österreichischen Proletariats ist das herzlichste und es ist gar nicht
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daran zu denken, daß das Eintreten für die Unabhängigkeit Polens die geringste Trübung dieses
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Verhältnisses herbeiführen könnte.</p>
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<p>Die Sozialdemokratie steht aber auch allen Forderungen, die sie mit der bürgerlichen Demokratie gemein hat,
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kritisch gegenüber, und mögen sie noch so berechtigt und nothwendig sein. Sie muß neben der Bedeutung
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auch die Unzu­länglichkeit dieser Forderungen betonen. Dies gilt, wie von der politischen Frei­heit, so
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auch von der nationalen Unabhängigkeit.</p>
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<p>Der einzelne Agitator kann natürlich die Bedeutung der einzelnen praktischen Forderungen, die wir stellen, in
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einer Weise übertreiben, die dem Wesen unserer Partei nicht entspricht, vielleicht sogar in entschiedenem
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Gegensatz dazu steht. Er kann Illusionen hegen und verbreiten über die Wirkungen des allgemeinen
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Wahl­rechts, des Achtstundentags, also auch der nationalen Unabhängigkeit, Illusionen, die mehr
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bürgerlichen Reformern als proletarischen Revolutionären entsprechen. Aber das <span class=
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"gesperrt">muß</span> doch nicht geschehen, und daß es geschehen <span class="gesperrt">kann</span>, ist sicher kein
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Grund, die betreffende Forderung nicht aufzustellen!</p>
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<p>Frl. Luxemburg wird selbst diesem Argument, losgelöst von den anderen, keine besondere Beweiskraft
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zusprechen. Wir hätten es kaum nothwendig gefunden, es überhaupt zu berühren, wenn wir nicht
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annähmen, daß gerade in diesem Punkt der wichtigste, allerdings nicht theoretische, sondern <span class=
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"gesperrt">psychologische</span> Grund für die Gegnerschaft gegen die Idee der Unabhängigkeit Polens bei der
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antinationalen Fraktion der polnischen Sozialdemokraten zu suchen ist. Soweit wir aus ver­einzelten
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Äußerungen urtheilen können, scheint es uns allerdings, als ob mancher polnische Parteigenosse aus
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Furcht, nicht national genug zu erscheinen, und aus dem Bedürfniß, sich in der Konkurrenz mit dem
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kleinbürgerlichen Nationalismus nicht überflügeln zu lassen, der nationalen Phrase und der nationalen
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Illusion zu große Konzessionen machte. Das mag ein Extrem in entgegengesetzter Rich­tung hervorrufen. Aber
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wenn diese gegensätzliche Richtung sich nicht darauf be­schränkt, Kritik innerhalb der Partei zu
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üben, wenn sie die Reinheit der Partei­prinzipien für gefährdet erklärt und die Partei
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spaltet, um dem Proletariat zuzu­muthen, daß es nicht nur auf die nationale Unabhängigkeit verzichte,
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das heißt auf den Boden, auf dem es erst zu voller Entfaltung seiner Kraft kommen
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<a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S522"><</a><a class="Seitenzahl" name="S523">523</a><a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S524">></a>kann, sondern daß es sogar jeden Versuch bekämpfe, der einen Schritt zur natio­nalen
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|
Unabhängigkeit bedeuten könnte, dann bleibt diese Richtung allerdings von der Gefahr des
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kleinbürgerlichen Nationalismus entschieden verschont, aber sie geräth in die entgegengesetzte, viel
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größere Gefahr, die Geschäfte der Unterdrücker Polens zu besorgen. Die antinationalen
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Sozialdemokraten Polens, die sich lieber der Gefahr aussetzen, dem Zaren zu nützen, als der Gefahr, der
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kleinbürgerlichen Demokratie Vorschub zu leisten, erinnern uns an manche englische Sozialisten, die, ebenfalls
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mit Berufung auf Materialismus und Marxismus, für die Tones stimmten, damit die Reinheit ihrer Prinzipien ja
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nicht in Gefahr komme, durch bürgerlichen Radikalismus verdorben zu werden. Die Erfahrungen dieser
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eng­lischen Sozialisten sollten die polnische Sozialdemokratie gerade nicht ermuthigen, ein ähnliches
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Experiment auf dem viel schlüpfrigeren Boden des russischen Abso­lutismus zu versuchen.</p>
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<p>Von welcher Seite wir also auch die Frage der Selbständigkeit Polens betrachten mögen, wir finden
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nirgends einen Grund für die polnischen Sozialisten, einzustimmen in den Ruf: <span class="Fremdworte">finis
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poloniæ!</span> und auf die Unabhängigkeit ihres
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Vater­landes in ihrer praktischen Thätigkeit Verzicht zu leisten.</p>
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<p>Ebenso wenig aber erwarten wir, daß ein internationaler Proletarierkongreß ihnen eine derartige
|
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Resignation zumuthen wird. Die einzige Frage, die in dieser Beziehung auftauchen könnte, wäre die, ob ein
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internationaler Sozialistenkongreß überhaupt ein Urtheil über die nationalen Bestrebungen der Polen
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abzugeben hat. Praktisch ist diese Frage momentan die wichtigste, angesichts des in wenigen Tagen in London
|
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zusammentretenden internationalen Kongresses<a class="FNzeichen" name="FNanker09" href="nz14_484.htm#FNtext09">9</a>, dem ja bekanntlich zwei polnische Resolutionen vorliegen werden. <a class=
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|
"FNzeichen" name="FNanker10" href="nz14_484.htm#FNtext10">10</a></p>
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<p>Frl. Luxemburg weist darauf hin, daß die polnische Frage die internationale Bedeutung für das
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kämpfende Proletariat verloren habe, die sie noch vor einem Menschenalter besessen, und daß es doch nicht
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angehe, den internationalen Kongreß zum Schiedsrichter in nationalen Streitfragen zu machen, was ein sehr
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gefähr­liches Beginnen wäre.</p>
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<p>Beides ist richtig. Trotzdem können wir dem Schlusse nicht zustimmen, den sie daraus zieht. Würde es
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sich blos um die Polen in Preußen und Öster­reich handeln, dann wäre es allerdings höchst
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überflüssig, daß der Kongreß sich ihrer annähme; Nationen, die in Versammlungen, in der
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Presse, in gesetzgebenden Körpern zu Worte kommen können, bedürfen der Fürsorge des
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internationalen Proletariats nicht, um so mehr, da sich's gezeigt, daß die Proletarier der ver­schiedenen
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Nationen überall die verschiedenen nationalen Streitfragen unter sich ohne internationale Intervention zu
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erledigen wissen: die elsässische Frage bildet keinen Differenzpunkt zwischen den deutschen und den
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französischen Sozialisten, die Frage der <span class="Fremdworte">Italia irredenta</span> keinen Streitpunkt zwischen
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den Sozialisten Öster­reichs und denen Italiens. Aber die russischen Polen leben als Unterthanen des Zaren
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in einem Ausnahmsfalle. Jede öffentliche Thätigkeit ist ihnen unmöglich gemacht. Weder können die
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Proletarier in Russisch–Polen sich mit ihren Genossen im eigentlichen Rußland öffentlich
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verständigen, noch können sie vor der Öffent­lichkeit ihr besonderes Programm entwickeln. Dagegen
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bietet ein internationaler Kongreß eine vortreffliche und ganz einzige Gelegenheit, der Welt kund zu thun,
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daß das polnische Proletariat festhält an der Forderung der Unabhängigkeit Polens, und daß es
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diese Forderung verficht im Einverständniß mit dem Pro­letariat der ganzen Welt, inbegriffen das
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russische Proletariat.</p>
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<p>Außerdem kommt aber noch ein anderes Moment hier in Betracht. In keinem Lande ist der Kampf der
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revolutionären Elemente gegen das bestehende
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<a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S523"><</a><a class="Seitenzahl" name="S524">524</a><a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S525">></a>
|
|
Regime von größerer
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internationaler Bedeutung, als in Rußland. Denn noch ist das Zarenthum der Hort der Reaktion, der
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gefährlichste Feind jeglicher west­europäischen Zivilisation, und seine Bekämpfung eine der
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Aufgaben des gesammten Proletariats aller Länder. In <span class="gesperrt">dieser</span> Beziehung hat sich nicht das
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Mindeste geändert. Allerdings, der Kampf um die Unabhängigkeit Polens steht heute nicht mehr im Vordergrund
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unter den revolutionären Tendenzen, die im Zarenreiche wirken; aber er hat darum doch nicht aufgehört, ein
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Faktor zu sein, der die Sympathien des internationalen Proletariats vollauf verdient. Und dieses hat die Pflicht,
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seinen Sympathien entschiedenen und herzlichen Ausdruck zu geben, wenn die polnischen Sozialisten der Ansicht sind,
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eine derartige Kundgebung werde sie moralisch stärken und dem Zarenthum Abbruch thun.</p>
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<p>Hier kommen wir zu dem dritten Moment, das es wünschenswert macht, daß der Kongreß sich für
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die Unabhängigkeit Polens ausspreche. In keinem Lande ist die Arbeiterbewegung so abhängig von der
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internationalen Bewegung, wie in Rußland. Sind auch alle Mittel der Propaganda und der Verständigung dort
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unterbunden, eines kann man nicht beseitigen, die Nachrichten aus dem Aus­land. Über ihre eigene
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Klassenbewegung erfahren die russischen Arbeiter fast noch weniger, als das Ausland. Aber von den Bewegungen im
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übrigen Europa erhalten sie Kunde, von den großen Strikes, den Wahlstegen, den Erweiterungen des
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Wahlrechts u s. w. Und das giebt ihnen den Muth und den Wunsch, Ähn­liches auch selbst zu
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versuchen.</p>
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<p>Angesichts dieser intellektuellen Abhängigkeit vom Ausland ist es für die Proletarier Rußlands
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viel wichtiger, als für die eines jeden anderen Landes, sich in Übereinstimmung mit ihren
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ausländischen Genossen zu wissen, und daher muß jede Kundgebung in diesem Sinne höchst ermuthigend
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auf sie wirken.</p>
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<p>Alles das sind Momente, die es unseres Erachtens wohl rechtfertigen, daß der internationale Kongreß
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sich mit der polnischen Frage beschäftigt, trotzdem er die Entscheidung westeuropäischer nationaler Fragen
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von sich weist.</p>
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<p>Damit wollen wir allerdings nicht sagen, daß wir uns für die Resolution zu Gunsten der
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Unabhängigkeit Polens, die dem Kongreß vorgelegt werden soll, sehr begeistern könnten. Sie ist in der
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"Neuen Zeit" zweimal abgedruckt worden, zuerst im Artikel Häckers<a class="FNzeichen" name="FNanker11"
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href="nz14_484.htm#FNtext11">11</a>, dann in dem letzten des Frl. Luxemburg (S. 461)<a class="FNzeichen" name="FNanker12" href="nz14_484.htm#FNtext12">12</a>,
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wir können also davon absehen, sie noch einmal zu veröffentlichen.</p>
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<p>Sie giebt zwei Gründe an, warum die Unabhängigkeit Polens im Interesse der internationalen
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Arbeiterbewegung liegt: erstens den Umstand, daß die Unter­jochung einer Nation stets für das
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Proletariat der unterdrückten wie der unter­drückenden Nation verderblich ist; zweitens die
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Gefährlichkeit des russischen Zaren­thums für die internationale Arbeiterbewegung. Der erste Punkt ist
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etwas zu unbestimmt ausgedrückt; es ist darin keine Rede von der Wichtigkeit der natio­nalen Einigung und
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Unabhängigkeit für den Klassenkampf des Proletariats, davon, daß in einer zerstückelten Nation
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das Proletariat für seinen Klassenkampf nicht sein volles Interesse und seine volle Kraft entfalten kann,
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daß die Unabhängig­keit der Nation ebenso eine Vorbedingung für die kraftvollste Führung des
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Klassen­kampfes bildet, wie die politische Freiheit. Abgesehen davon aber macht das erste Argument der polnischen
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Resolution die Unabhängigkeit Polens zwar zu einer nothwendigen Forderung für die polnische Arbeiterschaft,
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es kann aber nicht bestimmend sein für das internationale Proletariat. Ginge der Kongreß auf diese
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Motivirung ein, dann hätten die Ruthenen, Rumänen, Slovaken, Irreden­tisten in Tirol und Triest,
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Tschechen, Iren etc. auch das Recht, sich vom Kongreß die Nothwendigkeit ihrer nationalen Forderungen
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bestätigen zu lassen.</p>
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<p>Wo käme
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<a class="Seitensprung" href="nz14_484.htm#S524"><</a><a class="Seitenzahl" name="S525">525</a>
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man da hin! Nein, dies Motiv kann <span class="gesperrt">nebenbei</span> den
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Kongreß der Unabhängig­keit Polens günstig stimmen, es kann nicht das entscheidende Motiv sein,
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welches diese zu einer internationalen Notwendigkeit erhebt. Diese wird einzig und allein durch die
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eigentümliche Rolle gegeben, die das Zarenthum spielt. Aber die polnische Resolution übertreibt in diesem
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Punkte entschieden, wenn sie das Zarenthum "seine inneren Kräfte und seine äußere Bedeutung aus der
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Unterjochung und Theilung Polens" ziehen läßt. Die Zeiten sind vorbei, wo das galt. Weder zieht das
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Zarenthum heute den Haupttheil seiner Kraft aus der Theilung Polens, noch ist dessen Unabhängigkeit heute der
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Feind, der es im Innern am ärgsten bedroht.</p>
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<p>Anfangs der sechziger Jahre konnte man noch eine Resolution gegen das Zarenthum fassen, in der blos von der
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Unabhängigkeit Polens die Rede war. Heute erschiene es uns als eine Unbilligkeit gegen die russische
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revolutionäre Be­wegung, wenn ein internationaler Kongreß, sobald er auf die Bekämpfung des
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Zarenthums zu sprechen kommt, blos von Polen spräche, und nicht die Befreiung Rußlands ebenso sehr
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für eine internationale Notwendigkeit erklärte, wie die Unabhängigkeit Polens.</p>
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<p>Wir glauben, beide Momente ließen sich sehr gut nebeneinander betonen, und das würde der historischen
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Situation besser entsprechen, als die Resolution in ihrer jetzigen Fassung, die etwas antiquirt ist.</p>
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<p>Aber das Entscheidende bei einer Resolution ist nicht ihre Motivirung sondern der Grundsatz, den sie ausspricht.
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Und dem Grundsatz der polnischen Resolution stimmen wir rückhaltlos zu.</p>
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<div id="Fussnoten">
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<p><a class="FNzeichen" name="FNtext01" href="nz14_484.htm#FNanker01" id=
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"1">1</a>Siehe die „<a href="../../me/me16/me16_005.htm">Inauguraladresse der Internationalen
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Arbeiter–Assoziation, gegründet am 28. September 1864 in öffentlicher Versammlung in St. Martin's
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Hall, Long Acre, in London</a>“ in diesem Archiv</p>
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<p><a class="FNzeichen" name="FNtext02" href="nz14_484.htm#FNanker02">2</a>
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[Anm. Kautsky:] Vergl. darüber den klassischen Artikel von <a href="../../me/me22/me22_011.htm">
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Fr. Engels über "Die auswärtige Politik des russischen Zarenthums"</a>,
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"Neue Zeit", 8. Jahrg., S. 145ff
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<small>(geschrieben Dezember 1889 bis Februar 1890 – Ergänzung mlwerke.de)</small>
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</p>
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<p><a class="FNzeichen" name="FNtext03" href="nz14_484.htm#FNanker03">3</a>
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[Anm. Kautsky:] In der Türkei kam ihm neben der nationalen auch die religiöse
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Phrase zu Gute. Es trat dort nicht blos als der Befreier der slavischen Brüder, sondern auch als der
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Schützer der Christen vor den Mohamedanern auf. Auf die Griechen, Rumänen, Armenier konnte man eben mit
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dem slavischen Beruf Rußlands nicht wirken. Dieser wurde ergänzt durch seine religiöse Inbrunst.
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</p>
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<p><a class="FNzeichen" name="FNtext04" href="nz14_484.htm#FNanker04">4</a>
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Rosa Luxemburg: <a href="../../lu/lu01/lu01a014.htm">
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Neue Strömungen in der polnischen sozialistischen Bewegung in Deutschland und Österreich</a>.
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In Die Neue Zeit, 14. Jahrgang 1895/96, 2. Band,
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S. 176-181 und 206-216.
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Rosa Luxemburg: <a href="../../lu/lu01/lu01a037.htm">Der Sozialpatriotismus in Polen</a>.
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In Die Neue Zeit, 14. Jahrgang 1895/96, 2. Band, S. 459-470.
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Abgedruckt in „Rosa Luxemburg – Gesammelte Werke“, Dietz Verlag Berlin 1982, Band 1-1, S. 14-36 bzw. 37-51
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</p>
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<p><a class="FNzeichen" name="FNtext05" href="nz14_484.htm#FNanker05">5</a>
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In diesem Archiv: <a href="../../NeueZeit/nz12/nz12_787.htm">
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S.G.: "Die industrielle Politik Rußlands in dessen polnischen Provinzen"</a>
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Ein weiterer Artikel desselben Autors erschien nach dieser Kontroverse im selben Jahrgang von "Die Neue Zeit" zum Thema <a href="../../NeueZeit/nz14/nz14_556.htm">"Die finanzielle Politik Rußlands in ihren polnischen Provinzen"</a>. Die Neue Zeit, 14. Jahrgang 1896, 2. Halbband, S. 556-561, den wir der Vollständigkeit halber ebenfalls in diesem Archiv zugänglich machen.
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</p>
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<p><a class="FNzeichen" name="FNtext06" href="nz14_484.htm#FNanker06">6</a>
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In diesem Archiv: <a href="../../NeueZeit/nz14/nz14_431.htm">
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S.G.: "Ein Beitrag zur Geschichte der Agrarpolitik Rußlands in dessen polnischen Provinzen"</a></p>
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<p><a class="FNzeichen" name="FNtext07" href="nz14_484.htm#FNanker07">7</a>
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Sweater: Ausbeuter, Inhaber eines „Sweatshops“, der eine geringe Zahl von
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Arbeitern unter schlechtesten Arbeitsbedingungen erbarmungslos ausbeutet.</p>
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<p><a class="FNzeichen" name="FNtext08" href="nz14_484.htm#FNanker08">8</a>
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<span class="Fremdworte">ad oculos</span>: augenfällig</p>
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<p><a class="FNzeichen" name="FNtext09" href="nz14_484.htm#FNanker09">9</a>
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Der "Internationale sozialistische Arbeiter- und Gewerkschaftskongreß" tagte vom 27. Juli bis 1. August 1896 in London. Er wird als der dritte Kongreß der Sozialistischen oder 2. Internationale gezählt.</p>
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<p><a class="FNzeichen" name="FNtext10" href="nz14_484.htm#FNanker10">10</a>
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Die Resolutionsentwürfe sind in den Artikel von S. Häcker und Rosa Luxemburg wiedergegeben. Sie die beiden folgenden Fußnoten:</p>
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<p><a class="FNzeichen" name="FNtext11" href="nz14_484.htm#FNanker11">11</a>
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In diesem Archiv: <a href="../../NeueZeit/nz14/nz14_324.htm">S. Häcker (Krakau): „Der Sozialismus in Polen“</a>,
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in Die Neue Zeit, 14. Jahrgang 1895/96, 2. Band, S. 324ff</p>
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<p><a class="FNzeichen" name="FNtext12" href="nz14_484.htm#FNanker12" >12</a>
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Siehe in unserem Archiv „<a href="../../lu/lu01/lu01a037.htm#Kap1">Rosa Luxemburg: Der Sozialpatriotismus in Polen</a>“,:</p>
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</div> <!-- Fussnoten -->
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<TABLE width="100%" border="0" align="center" cellspacing=0 cellpadding=0>
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<TD ALIGN="center" width="49%" height=20 valign=middle><A HREF="../../index.shtml.html"><SMALL>MLWerke</SMALL></A></TD>
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<TD ALIGN="center">|</TD>
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<TD ALIGN="center" width="49%" height=20 valign=middle><A HREF="../default.htm"><SMALL>Karl Kautsky</SMALL></A></TD>
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</TR>
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</TABLE></div>
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