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2022-08-25 20:29:11 +02:00

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<META NAME="Author" CONTENT="Friedrich Engels">
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<META NAME="Date" CONTENT="1998-01-18">
<TITLE>Friedrich Engels - Revolution und Konterrevolution in Deutschland - XII</TITLE>
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<P><SMALL>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 8, "Revolution und Konterrevolution in Deutschland", S. 67-74 <BR>
Dietz Verlag, Berlin/DDR, 1960 </SMALL></P>
<P ALIGN="CENTER"><A HREF="me08_061.htm"><FONT SIZE=2>XI - [Der Wiener Oktoberaufstand]</FONT></A><FONT SIZE=2> | </FONT><A HREF="me08_003.htm"><FONT SIZE=2>Inhalt</FONT></A><FONT SIZE=2> | </FONT><A HREF="me08_075.htm"><FONT SIZE=2>XIII - [Die preu&szlig;ische konstituierende Versammlung - Die Frankfurter Nationalversammlung]</FONT></A></P>
<FONT SIZE=5><STRONG><P ALIGN="CENTER">XII<BR>
[Die Erst&uuml;rmung Wiens -<BR>Der Verrat an Wien]</P>
</FONT><P><A NAME="S67">&lt;67&gt;</A> </STRONG>Als die konzentrierte Armee unter Windischgr&auml;tz schlie&szlig;lich zum Angriff auf Wien &uuml;berging, waren die Kr&auml;fte, die zur Verteidigung Wiens verf&uuml;gbar waren, g&auml;nzlich unzureichend f&uuml;r diesen Zweck. Von der Nationalgarde konnte nur ein Teil auf die Schanzen gebracht werden. Allerdings hatte man zuletzt in aller Eile eine proletarische Garde gebildet; aber da der Versuch, auf diese Weise den zahlreichsten, mutigsten, tatkr&auml;ftigsten Teil der Bev&ouml;lkerung heranzuziehen, viel zu sp&auml;t kam, war sie mit dem Gebrauch der Waffen und mit den allerersten Anf&auml;ngen der Disziplin zu wenig vertraut, um erfolgreich Widerstand zu leisten. So war die Akademische Legion, 3.000 bis 4.000 Mann stark, gut einexerziert und bis zu einem gewissen Grade diszipliniert, tapfer und voll Enthusiasmus, vom milit&auml;rischen Standpunkt aus die einzige Streitmacht, die mit Aussicht auf Erfolg eingesetzt werden konnte. Doch was war sie, zusammen mit den paar verl&auml;&szlig;lichen Nationalgarden und mit der wirren Masse bewaffneter Proletarier, gegen&uuml;ber der an Zahl weit &uuml;berlegenen regul&auml;ren Armee unter Windischgr&auml;tz, gar nicht zu reden von den r&auml;uberischen Horden Jellachichs, die durch die ganze Art ihrer Gepflogenheiten f&uuml;r einen Kampf von Haus zu Haus, von Gasse zu Gasse wie geschaffen waren? Und was hatten die Aufst&auml;ndischen, abgesehen von ein paar alten, abgenutzten, schlecht bespannten und schlecht bedienten Gesch&uuml;tzen, der zahlreichen, vorz&uuml;glich ausger&uuml;steten Artillerie entgegenzusetzen, von der Windischgr&auml;tz so r&uuml;cksichtslos Gebrauch machte?</P>
<P>Je n&auml;her die Gefahr heranzog, um so gr&ouml;&szlig;er wurde die Verwirrung in Wien. Der Reichstag konnte sich bis zum letzten Augenblick nicht dazu aufraffen, die ungarische Armee Perczels zu Hilfe zu rufen, die wenige Meilen unterhalb der Hauptstadt lagerte. Der Sicherheitsausschu&szlig; fa&szlig;te einander widersprechende Beschl&uuml;sse, denn er lie&szlig; sich gleich den bewaffneten Massen des Volkes von dem Auf und Nieder der wogenden Flut von Ger&uuml;chten und Gegenger&uuml;chten treiben. Nur in einem Punkte waren sich alle einig: da&szlig; das <A NAME="S68"><STRONG>&lt;68&gt;</A></STRONG> Eigentum respektiert werden m&uuml;sse, und das in einem f&uuml;r solche Zeiten geradezu l&auml;cherlichen Ma&szlig;e. Zur endg&uuml;ltigen Ausarbeitung eines Verteidigungsplanes geschah sehr wenig. Bem, der einzige Mann am Ort, der - wenn &uuml;berhaupt jemand - Wien h&auml;tte retten k&ouml;nnen, war ein damals in Wien fast unbekannter Fremdling, von Geburt Slawe; er gab die Sache auf, erdr&uuml;ckt von dem allgemeinen Mi&szlig;trauen. H&auml;tte er ausgeharrt, so w&auml;re er vielleicht als Verr&auml;ter gelyncht worden. Messenhauser, der die aufst&auml;ndischen Streitkr&auml;fte befehligte, mehr ein Romanschreiber als ein sei es auch nur subalterner Offizier, war der Aufgabe in keiner Weise gewachsen; und doch hatte die Volkspartei nach acht Monaten revolution&auml;rer K&auml;mpfe keinen Milit&auml;r von gr&ouml;&szlig;eren F&auml;higkeiten hervorgebracht oder f&uuml;r sich gewonnen als ihn. Unter solchen Bedingungen begann der Kampf. Wenn man ber&uuml;cksichtigt, da&szlig; ihre Verteidigungsmittel v&ouml;llig unzureichend waren, da&szlig; milit&auml;rische Kenntnisse und milit&auml;rische Organisation bei den Mannschaften vollst&auml;ndig fehlten, so leisteten die Wiener heldenm&uuml;tig Widerstand. An vielen Stellen wurde der Befehl, den Bem noch als Kommandant erteilt hatte, buchst&auml;blich ausgef&uuml;hrt, "den Posten bis auf den letzten Mann zu verteidigen". Aber die &Uuml;bermacht war zu gro&szlig;. In den langen, breiten Stra&szlig;en, die die Hauptverkehrsadern der Vorst&auml;dte bilden, wurde eine Barrikade nach der anderen von der kaiserlichen Artillerie hinweggefegt, und am Abend des zweiten Kampftages fiel die H&auml;userreihe am Glacis der Altstadt in die H&auml;nde der Kroaten. Ein schwacher, ungeordneter Angriff der ungarischen Armee hatte eine vollst&auml;ndige Niederlage erlitten, und w&auml;hrend eines Waffenstillstandes, als einige Abteilungen in der Altstadt kapitulierten, andere unschl&uuml;ssig waren und Verwirrung verbreiteten, w&auml;hrend die Reste der Akademischen Legion neue Verschanzungen aushoben, drangen die Kaiserlichen ein und nahmen in dem allgemeinen Durcheinander die Altstadt.</P>
<P>Die unmittelbaren Folgen dieses Sieges, die Grausamkeiten und standrechtlichen Erschie&szlig;ungen, die unerh&ouml;rten Greuel und Schandtaten der auf Wien losgelassenen slawischen Horden sind so bekannt, da&szlig; sie hier nicht in ihren Einzelheiten geschildert werden brauchen. Die weiteren Folgen, die v&ouml;llig neue Wendung, die die deutschen Angelegenheiten durch die Niederlage der Revolution in Wien erfuhren, werden wir sp&auml;ter zu behandeln haben. Hier haben wir nur noch zwei Punkte zu betrachten, die mit der Erst&uuml;rmung Wiens im Zusammenhang stehen. Die Bev&ouml;lkerung dieser Hauptstadt hatte zwei Bundesgenossen: die Ungarn und das deutsche Volk. Wo waren sie in der Stunde der Pr&uuml;fung?</P>
<P>Wir haben gesehen, da&szlig; sich die Wiener mit der ganzen Hochherzigkeit eines eben befreiten Volkes f&uuml;r eine Sache erhoben hatten, die, wenn auch in <A NAME="S69"><STRONG>&lt;69&gt;</A></STRONG> letzter Instanz ihre eigene, doch zun&auml;chst und vor allem die Sache der Ungarn war. Ehe sie duldeten, da&szlig; die &ouml;sterreichischen Truppen gegen Ungarn marschierten, wollten sie sich ihrem ersten und furchtbarsten Ansturm lieber selbst aussetzen. Und w&auml;hrend sie so edelm&uuml;tig ihre Verb&uuml;ndeten unterst&uuml;tzten, trieben die Ungarn Jellachich, gegen den sie erfolgreich gek&auml;mpft, in Richtung Wien und verst&auml;rkten durch ihren Sieg die Kr&auml;fte, die diese Stadt angreifen sollten. Unter diesen Umst&auml;nden war es zweifellos Ungarns Pflicht, ohne Z&ouml;gern und mit allen verf&uuml;gbaren Kr&auml;ften nicht dem Wiener Reichstag, nicht dem Sicherheitsausschu&szlig; oder sonst einer K&ouml;rperschaft in Wien, sondern der <EM>Wiener Revolution</EM> zu Hilfe zu kommen. Und selbst wenn Ungarn vergessen haben sollte, da&szlig; Wien die erste Schlacht Ungarns geschlagen, so durfte es der eigenen Sicherheit wegen nicht vergessen, da&szlig; Wien der einzige Vorposten der ungarischen Unabh&auml;ngigkeit war und da&szlig; nach dem Fall von Wien nichts den Vormarsch der kaiserlichen Truppen gegen Ungarn aufhalten konnte. Nun ist uns aber sehr wohl bekannt, was die Ungarn alles zur Rechtfertigung ihrer Unt&auml;tigkeit w&auml;hrend der Einschlie&szlig;ung und Erst&uuml;rmung Wiens vorbringen k&ouml;nnen und vorgebracht haben: die Unzul&auml;nglichkeit ihrer eigenen Streitkr&auml;fte, die Weigerung des Reichstags und aller &uuml;brigen offiziellen K&ouml;rperschaften in Wien, sie herbeizurufen, die Notwendigkeit, auf dem Boden der Verfassung zu bleiben und Komplikationen mit der deutschen Zentralgewalt zu vermeiden. Was aber die Unzul&auml;nglichkeit der ungarischen Armee betrifft, so steht fest, da&szlig; in den ersten Tagen nach Ausbruch der Revolution in Wien und nach dem Eintreffen Jellachichs keinerlei regul&auml;re Truppen n&ouml;tig gewesen w&auml;ren, da die &ouml;sterreichische regul&auml;re Armee noch lange nicht zusammengezogen war, und da&szlig; eine k&uuml;hne, r&uuml;cksichtslose Ausnutzung des Anfangserfolges &uuml;ber Jellachich, sei es auch nur mit dem Landsturm &lt;In der "N.-Y.D.T." deutsch&gt;, der bei Stuhlwei&szlig;enburg gefochten, gen&uuml;gt h&auml;tte, um die Verbindung mit den Wienern herzustellen und jede Konzentrierung einer &ouml;sterreichischen Armee auf ein halbes Jahr hinauszuschieben. Im Krieg, und besonders im revolution&auml;ren Krieg, ist Schnelligkeit des Handelns, bis ein entscheidender Erfolg errungen, die oberste Regel, und wir tragen keine Bedenken zu sagen, da&szlig; Perczel aus <EM>rein milit&auml;rischen Gr&uuml;nden</EM> nicht h&auml;tte haltmachen d&uuml;rfen, ehe die Verbindung mit den Wienern hergestellt war. Wohl war einige Gefahr damit verbunden, aber wer hat je eine Schlacht gewonnen, ohne etwas zu wagen? Und hatte das Volk von Wien denn nichts gewagt, als es sich selbst - einer Bev&ouml;lkerung von 400.000 Menschen - die Streitkr&auml;fte auf den Hals zog, die zur Niederwerfung von <A NAME="S70"><STRONG>&lt;70&gt;</A></STRONG> 12 Millionen Ungarn ausmarschieren sollten? Der milit&auml;rische Fehler, der darin bestand, zu warten bis sich die &Ouml;sterreicher vereinigt hatten, und das schw&auml;chliche Scheinman&ouml;ver bei Schwechat zu unternehmen, das verdienterma&szlig;en mit einer unr&uuml;hmlichen Niederlage endete - dieser milit&auml;rische Fehler brachte sicher gr&ouml;&szlig;ere Gefahren mit sich als ein entschlossener Vormarsch auf Wien gegen die z&uuml;gellosen Horden Jellachichs.</P>
<P>Aber, wendet man ein, ein solcher Vorsto&szlig; der Ungarn, ohne Wissen und Willen irgendeiner offiziellen K&ouml;rperschaft, w&auml;re eine Verletzung deutschen Gebiets gewesen, h&auml;tte Verwicklungen mit der Zentralgewalt in Frankfurt heraufbeschworen und vor allem eine Abkehr von der gesetzlichen und konstitutionellen Politik bedeutet, in der die St&auml;rke der ungarischen Sache begr&uuml;ndet l&auml;ge. Aber die offiziellen K&ouml;rperschaften in Wien waren doch Nullen! War es der Reichstag, waren es die demokratischen Aussch&uuml;sse, die sich f&uuml;r Ungarn erhoben hatten, oder war es das Volk von Wien, und nur das Volk allein, das zum Gewehr gegriffen, um den ersten Anprall im Kampfe um Ungarns Unabh&auml;ngigkeit aufzufangen? Es galt nicht, diese oder jene offizielle K&ouml;rperschaft in Wien aufrechtzuerhalten - alle diese K&ouml;rperschaften konnten und mu&szlig;ten mit dem Fortschritt der revolution&auml;ren Entwicklung sehr bald beseitigt werden -, sondern es handelte sich einzig und allein um den Aufschwung der revolution&auml;ren Bewegung, den ununterbrochenen Fortschritt der Volksaktion selbst, und das allein konnte Ungarn vor dem Einmarsch des Feindes retten. Welche Formen diese revolution&auml;re Bewegung sp&auml;ter annehmen mochte, das war Sache der Wiener und nicht der Ungarn, solange Wien und ganz Deutsch&ouml;sterreich im Kampf gegen den gemeinsamen Feind weiterhin ihre Verb&uuml;ndeten waren. Aber es fragt sich, ob man in diesem hartn&auml;ckigen Verlangen der ungarischen Regierung nach einer sozusagen gesetzlichen Erm&auml;chtigung nicht das erste deutliche Anzeichen jenes Bestrebens zu erblicken hat, sich in ihrem Verhalten hinter einer recht zweifelhaften Gesetzlichkeit zu verschanzen, die, wenn sie Ungarn auch nicht gerettet hat, so doch immerhin in einem sp&auml;teren Zeitpunkt bei einem englischen Bourgeoisiepublikum eine ausgezeichnete Wirkung erzielte.</P>
<P>Was den Vorwand m&ouml;glicher Konflikte mit der deutschen Zentralgewalt in Frankfurt anbelangt, so ist er v&ouml;llig gegenstandslos. Die Frankfurter Machthaber waren durch den Sieg der Konterrevolution in Wien <EM>de facto</EM> schon gest&uuml;rzt, sie w&auml;ren ebenso gest&uuml;rzt worden, wenn die Revolution dort die Unterst&uuml;tzung gefunden h&auml;tte, die sie brauchte, um ihre Feinde zu besiegen. Und schlie&szlig;lich mag das gewichtige Argument, da&szlig; Ungarn den gesetzlichen und konstitutionellen Boden nicht verlasen durfte, vielleicht auf englische Freih&auml;ndler Eindruck machen, aber vor dem Richterstuhl der <A NAME="S71"><STRONG>&lt;71&gt;</A></STRONG> Geschichte wird es nimmer bestehen. Angenommen, das Volk von Wien h&auml;tte sich am 13. M&auml;rz und 6. Oktober &auml;ngstlich in den Grenzen "gesetzlicher und konstitutioneller" Mittel gehalten, was w&auml;re dann aus der "gesetzlichen und konstitutionellen" Bewegung und all den glorreichen K&auml;mpfen geworden, die Ungarn zum erstenmal die Aufmerksamkeit der zivilisierten Welt verschafften? Gerade der gesetzliche und konstitutionelle Boden, auf dem sich die Ungarn 1848 und 1849 angeblich bewegten, wurde f&uuml;r sie durch die &auml;u&szlig;erst ungesetzliche und verfassungswidrige Wiener Volkserhebung vom 13. M&auml;rz erk&auml;mpft. Wir beabsichtigen hier nicht, die Geschichte der ungarischen Revolution zu er&ouml;rtern, aber angebracht erscheint uns die Bemerkung, da&szlig; es nicht den geringsten Nutzen bringt, sich ausdr&uuml;cklich nur gesetzlicher Mittel zu bedienen gegen&uuml;ber einem Feinde, der solche Bedenken nur verachtet, und da&szlig; &uuml;berdies ohne diesen ewigen Vorwand der Gesetzlichkeit, den G&ouml;rgey sich zu eigen machte und gegen die Regierung ausspielte, weder die Ergebenheit der G&ouml;rgeyschen Armee f&uuml;r ihren Feldherren noch die schm&auml;hliche Katastrophe von Vil&aacute;gos m&ouml;glich gewesen w&auml;ren. Und als die Ungarn schlie&szlig;lich, um die Ehre zu retten, gegen Ende Oktober 1848 &uuml;ber die Leitha setzten - war das nicht ebenso ungesetzlich, wie es ein sofortiger entschlossener Angriff gewesen w&auml;re?</P>
<P>Man wei&szlig;, da&szlig; wir gegen Ungarn keine unfreundlichen Gef&uuml;hle hegen. Wir haben zu Ungarn w&auml;hrend des Kampfes gestanden; wir d&uuml;rfen wohl sagen, da&szlig; unsere Zeitung, die "Neue Rheinische Zeitung", mehr als irgendeine andere getan hat, Ungarns Sache in Deutschland popul&auml;r zu machen, indem sie das Wesen des Kampfes zwischen den Magyaren und den Slawen erkl&auml;rte und den ungarischen Krieg in einer Reihe von Artikeln verfolgte, denen die Anerkennung zuteil wurde, in fast jedem sp&auml;teren Buch &uuml;ber den Gegenstand plagiiert zu werden, die Arbeiten von geb&uuml;rtigen Ungarn und "Augenzeugen" nicht ausgenommen. Auch jetzt noch betrachten wir Ungarn als notwendigen und nat&uuml;rlichen Bundesgenossen Deutschlands bei jeder k&uuml;nftigen Ersch&uuml;tterung auf dem Kontinent. Wir sind jedoch streng genug gegen unsere eigenen Landsleute gewesen, um ein Recht zu haben, auch &uuml;ber unsere Nachbarn ein offenes Wort zu sprechen; &uuml;berdies, wenn wir hier die Tatsachen mit der Unparteilichkeit der Geschichtsschreibung registrieren, m&uuml;ssen wir erkl&auml;ren, da&szlig; in diesem besonderen Fall die hochherzige K&uuml;hnheit des Volkes von Wien nicht nur weit edler, sondern auch viel weitblickender war als die &auml;ngstliche Vorsicht der ungarischen Regierung. Und als Deutschem sei es mir ferner erlaubt zu sagen, da&szlig; wir alle die glanzvollen Siege und ruhmreichen Schlachten des ungarischen Feldzuges nicht eintauschen m&ouml;chten f&uuml;r die spontane, isolierte Erhebung und den <A NAME="S72"><STRONG>&lt;72&gt;</A></STRONG> heldenhaften Widerstand des Volks von Wien, unserer Landsleute, wodurch Ungarn Zeit gewann, die Armee aufzustellen, die so gro&szlig;e Dinge vollbringen konnte.</P>
<P>Der zweite Bundesgenosse Wiens war das deutsche Volk. Aber dieses war &uuml;berall in den gleichen Kampf verwickelt wie die Wiener. Frankfurt, Baden, K&ouml;ln waren soeben besiegt und entwaffnet worden. In Berlin und Breslau &lt;Wroclaw&gt; stand das Volk der Armee in offener Feindschaft gegen&uuml;ber und erwartete t&auml;glich den Ausbruch des Kampfes. So stand es allerorts in den lokalen Zentren der Bewegung. &Uuml;berall waren Fragen in der Schwebe, die nur mit Waffengewalt entschieden werden konnten, und jetzt wurden zum erstenmal die unheilvollen Folgen des Fortbestehens der alten Zerrissenheit und Dezentralisation Deutschlands aufs schwerste f&uuml;hlbar. Die verschiedenen Fragen waren in jedem Staat, in jeder Provinz, in jeder Stadt im Grunde genommen dieselben; aber sie tauchten &uuml;berall unter verschiedenen Formen und Vorw&auml;nden auf und hatten &uuml;berall verschiedene Reifegrade erreicht. So kam es, da&szlig; man zwar allerorts f&uuml;hlte, von welch entscheidender Wichtigkeit die Wiener Ereignisse waren, da&szlig; aber gleichwohl nirgends ein wuchtiger Schlag gef&uuml;hrt werden konnte, von dem sich erwarten lie&szlig;, da&szlig; er den Wienern Hilfe bringen oder ein Ablenkungsman&ouml;ver zu ihren Gunsten sein werde; und so blieb ihnen keine andere Hilfe als das Parlament und die Zentralgewalt in Frankfurt. Von allen Seiten wurden sie angefleht; aber was taten sie?</P>
<P>Das Frankfurter Parlament und der Bastard, den es als Folge seines blutsch&auml;nderischen Verkehrs mit dem alten Bundestag in die Welt gesetzt, die sogenannte Zentralgewalt, machten sich die Wiener Vorg&auml;nge zunutze, um ihre eigene v&ouml;llige Nichtigkeit an den Tag zu legen. Diese ver&auml;chtliche Versammlung hatte, wie wir gesehen, l&auml;ngst ihre Jungfernschaft preisgegeben und begann bei all ihrer Jugend bereits grauhaarig zu werden und sich alle Schliche geschw&auml;tziger, pseudodiplomatischer Prostitution anzueignen. Von den Tr&auml;umen, von den Illusionen &uuml;ber deutsche Wiedergeburt, Macht und Einheit, die sie anfangs erf&uuml;llten, war nichts geblieben als eine Anzahl bombastischer teutscher Phrasen, die bei jeder Gelegenheit aufgetischt wurden, und der feste Glaube eines jeden Abgeordneten an seine eigene Wichtigkeit und an die Leichtgl&auml;ubigkeit des Publikums. Die urspr&uuml;ngliche Naivit&auml;t war verflogen; die Vertreter des deutschen Volkes waren praktische M&auml;nner geworden, das hei&szlig;t, sie hatten herausgefunden, da&szlig; ihre Stellung als Schiedsrichter &uuml;ber das Schicksal Deutschlands um so <A NAME="S73"><STRONG>&lt;73&gt;</A> </STRONG>sicherer sei, je weniger sie taten und je mehr sie schwatzten. Nicht etwa, da&szlig; sie ihre Verhandlungen f&uuml;r &uuml;berfl&uuml;ssig hielten; ganz im Gegenteil. Aber sie waren dahinter gekommen, da&szlig; alle wirklich gro&szlig;en Fragen f&uuml;r sie verbotenes Gebiet waren, dem sie sich am besten fernhielten, und gleich einem Konzilium byzantinischer Doktoren des ostr&ouml;mischen Kaiserreichs diskutierten sie daher mit einer Wichtigtuerei und Ausdauer, w&uuml;rdig des Schicksals, das sie schlie&szlig;lich ereilte, theoretische Dogmen, die in allen Teilen der zivilisierten Welt l&auml;ngst erledigt sind, oder nur mit der Lupe wahrnehmbare praktische Fragen, die nie zu einem praktischen Ergebnis f&uuml;hrten. Da die Nationalversammlung somit eine Art Lancasterschule zur gegenseitigen Belehrung ihrer Mitglieder war und darum f&uuml;r sie sehr wichtig, war sie &uuml;berzeugt, sie leiste sogar mehr, als das deutsche Volk von ihr zu erwarten das Recht habe, und sie betrachtete jeden als Landesverr&auml;ter, der die Unversch&auml;mtheit besa&szlig;, ihr zuzumuten, sie solle zu einem Ergebnis gelangen.</P>
<P>Als der Aufstand in Wien ausbrach, gab es dar&uuml;ber einen Haufen Interpellationen, Debatten, Motionen und Amendements, die nat&uuml;rlich zu nichts f&uuml;hrten. Die Zentralgewalt sollte einschreiten. Sie sandte zwei Kommissare nach Wien, Welcker, den ehemaligen Liberalen, und Mosle. Die Fahrten Don Quijotes und Sancho Pansas sind Stoff zu einer Odyssee, verglichen mit den Heldentaten und wunderbaren Abenteuern dieser zwei irrfahrenden Ritter der deutschen Einheit. Zu feige, nach Wien zu gehen, lie&szlig;en sie sich von Windischgr&auml;tz anschnauzen, von dem idiotischen Kaiser anglotzen und von dem Minister Stadion aufs unversch&auml;mteste foppen. Ihre Depeschen und Berichte sind vielleicht der einzige Teil der Frankfurter Protokolle, der in der deutschen Literatur einen st&auml;ndigen Platz finden wird; sie sind ein wahres Musterexemplar der satirischen Romanze und ein ewiges Denkmal der Schande f&uuml;r die Frankfurter Nationalversammlung und ihre Regierung.</P>
<P>Auch die Linke der Nationalversammlung hatte zwei Kommissare nach Wien geschickt, um dort ihre Autorit&auml;t zur Geltung zu bringen, die Herren Fr&ouml;bel und Robert Blum. Als die Lage bedrohlich wurde, gelangte Blum zu der richtigen Erkenntnis, da&szlig; hier die Entscheidungsschlacht der deutschen Revolution zum Austrag kommen werde, und entschlo&szlig; sich ohne Z&ouml;gern, sein Leben f&uuml;r die Sache einzusetzen. Fr&ouml;bel dagegen war der Meinung, es sei seine Pflicht, sich f&uuml;r die wichtigen Aufgaben seines Frankfurter Postens zu erhalten. Blum galt als einer der besten Redner der Frankfurter Versammlung; sicher war er der popul&auml;rste. Den Anforderungen einer erfahrenen parlamentarischen Versammlung h&auml;tte seine Beredsamkeit nicht standgehalten; er liebte zu sehr den seichten Pathos eines deutschen Dissidenten- <A NAME="S74"><STRONG>&lt;74&gt;</A></STRONG> predigers, und seinen Argumenten fehlte es an philosophischer Sch&auml;rfe wie an Kenntnis der praktischen Wirklichkeit. Politisch geh&ouml;rte er zur "gem&auml;&szlig;igten Demokratie", einer ziemlich unbestimmten Richtung, die sich aber gerade wegen dieses Mangels an Bestimmtheit ihrer Prinzipen gro&szlig;er Beliebtheit erfreute. Bei alledem war Blum jedoch seinem ganzen Wesen nach durch und durch ein Plebejer, wenn auch mit einem gewissen Schliff, und in entscheidenden Augenblicken gewannen sein plebejischer Instinkt und seine plebejische Energie die Oberhand &uuml;ber die Unbestimmtheit und daher Unentschiedenheit seiner politischen Meinung und Einsicht. In solchen Augenblicken erhob er sich weit &uuml;ber das gew&ouml;hnliche Ma&szlig; seiner F&auml;higkeiten.</P>
<P>So sah er in Wien auf den ersten Blick, da&szlig; hier und nicht in den Debatten in Frankfurt mit ihrem vergeblichen Streben nach Eleganz die Entscheidung &uuml;ber das Schicksal seines Landes fallen m&uuml;sse. Sofort fa&szlig;te er seinen Entschlu&szlig;, gab jeden Gedanken an R&uuml;ckzug auf, &uuml;bernahm ein Kommando in der revolution&auml;ren Armee und legte au&szlig;erordentliche Kaltbl&uuml;tigkeit und Festigkeit an den Tag. Im war es zu danken, da&szlig; die Einnahme der Stadt geraume Zeit verz&ouml;gert wurde, er war es, der eine ihrer Seiten gegen den Angreifer sicherte, indem er die Taborbr&uuml;cke &uuml;ber die Donau in Brand steckte. Allgemein bekannt ist, wie er nach der Erst&uuml;rmung verhaftet, vor ein Kriegsgericht gestellt und erschossen wurde. Er starb wie ein Held. Die Frankfurter Nationalversammlung aber, obwohl starr vor Entsetzen, machte doch nach au&szlig;en gute Mine zu dem blutigen Schimpf. Eine Resolution wurde gefa&szlig;t, die durch den sanften Ton und die diplomatische Zur&uuml;ckhaltung ihrer Sprache eher eine Verunglimpfung des Grabes des gemordeten M&auml;rtyrers war als ein Verdammungsurteil &uuml;ber &Ouml;sterreich. Aber man durfte ja nicht erwarten, diese ver&auml;chtliche Versammlung werde &uuml;ber die Ermordung eines ihrer Mitglieder emp&ouml;rt sein, zumal es sich um einen F&uuml;hrer der Linken handelte.</P>
<P>London, M&auml;rz 1852 </P></BODY>
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