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<TITLE>Friedrich Engels - Anti-Dühring - Erster Abschnitt</TITLE>
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<HR size="1">
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<P><SMALL>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/ Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 20. Berlin/DDR.
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1962. »Herrn Eugen Dührung's Umwälzung der Wissenschaft«,
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S. <!-- #BeginEditable "Seitenzahl" -->32-135<!-- #EndEditable -->.<BR>
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1. Korrektur<BR>
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Erstellt am 30.08.1999</SMALL></P>
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<H2>Friedrich Engels - Herrn Eugen Dühring's Umwälzung der Wissenschaft</H2>
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<H1><!-- #BeginEditable "%DCberschrift" -->Einleitung<!-- #EndEditable --></H1>
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<hr size="1">
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<!-- #BeginEditable "Text" -->
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<H3 align="center"><A NAME="Kap_III">III. Einteilung. Apriorismus</A></H3>
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<P><SMALL><B>|32|</B> Philosophie ist, nach Herrn Dühring, die Entwicklung
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der höchsten Form des Bewußtseins von Welt und Leben und umfaßt
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in einem weitern Sinne die <I>Prinzipien </I>alles Wissens und Wollens. Wo irgendeine
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Reihe von Erkenntnissen oder Antrieben oder eine Gruppe von Existenzformen für
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das menschliche Bewußtsein in Frage kommt, müssen die <I>Prinzipien</I>
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dieser Gestalten ein Gegenstand der Philosophie sein. Diese Prinzipien sind die
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einfachen oder bis jetzt als einfach vorausgesetzten Bestandteile, aus denen sich
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das mannigfaltige Wissen und Wollen zusammensetzen läßt. Ähnlich
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wie die chemische Konstitution der Körper kann auch die allgemeine Verfassung
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der Dinge auf Grundformen und Grundelemente zurückgeführt werden. Diese
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letzten Bestandteile oder Prinzipien gelten, sobald sie einmal gewonnen sind,
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nicht bloß für das unmittelbar Bekannte und Zugängliche, sondern
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auch für die uns unbekannte und unzugängliche Welt. Die philosophischen
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Prinzipien bilden mithin die letzte Ergänzung, deren die Wissenschaften bedürfen,
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um zu einem einheitlichen System der Erklärung von Natur und Menschenleben
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zu werden. Außer den Grundformen aller Existenz hat die Philosophie nur
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zwei eigentliche Gegenstände der Untersuchung, nämlich die Natur und
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die Menschenwelt. Hiernach ergeben sich für die Anordnung unsres Stoffs <I>völlig
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ungezwungen</I> drei Gruppen, nämlich die allgemeine Weltschematik, die Lehre
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von den Naturprinzipien und schließlich diejenige vom Menschen. In dieser
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Abfolge ist zugleich <I>eine innere logische Ordnung</I> enthalten; denn die formalen
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Grundsätze, welche für alles Sein gelten, gehn voran, und die gegenständlichen
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Gebiete, auf die sie <I>anzuwenden</I> sind, folgen in der Abstufung ihrer Unterordnung
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nach.</SMALL></P>
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<P>So weit Herr Dühring, und fast ausschließlich wörtlich. Also
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um <I>Prinzipien</I> handelt es sich bei ihm, um aus dem <I>Denken</I>, nicht
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aus der äußern Welt, abgeleitete formale Grundsätze, die auf die
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Natur und das Reich des Menschen anzuwenden sind, nach denen also Natur und Mensch
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sich zu richten haben. Aber woher nimmt das Denken diese Grundsätze? Aus
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sich selbst? Nein, denn Herr Dühring sagt selbst: das rein ideelle <A NAME="S33"></A><B>|33|</B>
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Gebiet beschränkt sich auf logische Schemata und mathematische Gebilde (welches
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letztere noch dazu falsch ist, wie wir sehn werden). Die logischen Schemata können
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sich nur auf <I>Denkformen</I> beziehn; hier aber handelt es sich nur um die Formen
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des <I>Seins</I>, der Außenwelt, und diese Formen kann das Denken niemals
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aus sich selbst, sondern eben nur aus der Außenwelt schöpfen und ableiten.
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Damit aber kehrt sich das ganze Verhältnis um: die Prinzipien sind nicht
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der Ausgangspunkt der Untersuchung, sondern ihr Endergebnis; sie werden nicht
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auf Natur und Menschengeschichte angewandt, sondern aus ihnen abstrahiert; nicht
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die Natur und das Reich des Menschen richten sich nach den Prinzipien, sondern
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die Prinzipien sind nur insoweit richtig, als sie mit Natur und Geschichte stimmen.
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Das ist die einzige materialistische Auffassung der Sache, und die entgegenstehende
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des Herrn Dühring ist idealistisch, stellt die Sache vollständig auf
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den Kopf und konstruiert die wirkliche Welt aus dem Gedanken, aus irgendwo vor
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der Welt von Ewigkeit bestehenden Schematen, Schemen oder Kategorien, ganz wie
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- <I>ein Hegel</I>.</P>
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<P>In der Tat. Legen wir die »Enzyklopädie« Hegels mit all ihren Fieberphantasien
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neben die endgültigen Wahrheiten letzter Instanz des Herrn Dühring.
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Bei Herrn Dühring haben wir erstens die allgemeine Weltschematik, die bei
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Hegel die <I>Logik</I> heißt. Dann haben wir bei beiden die Anwendung dieser
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Schemata, beziehungsweise logischen Kategorien auf die Natur: Naturphilosophie,
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und endlich deren Anwendung auf das Reich des Menschen, was Hegel die Philosophie
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des Geistes nennt. Die »innerlich logische Ordnung« der Dühringschen Abfolge
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führt uns also »völlig ungezwungen« auf Hegels »Enzyklopädie« zurück,
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aus der sie mit einer Treue entnommen ist, die den Ewigen Juden der Hegelschen
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Schule, den Professor Michelet in Berlin, zu Tränen rühren wird.</P>
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<P>Das kommt davon, wenn man »das Bewußtsein«, »das Denken« ganz naturalistisch
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als etwas Gegebnes, von vornherein dem Sein, der Natur Entgegengesetztes, so hinnimmt.
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Dann muß man es auch höchst merkwürdig finden, daß Bewußtsein
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und Natur, Denken und Sein, Denkgesetze und Naturgesetze so sehr zusammenstimmen.
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Fragt man aber weiter, was denn Denken und Bewußtsein sind und woher sie
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stammen, so findet man, daß es Produkte des menschlichen Hirns und daß
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der Mensch selbst ein Naturprodukt, das sich in und mit seiner Umgebung entwickelt
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hat; wobei es sich dann von selbst versteht, daß die Erzeugnisse des menschlichen
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Hirns, die in letzter Instanz ja auch Naturprodukte sind, dem übrigen Naturzusammenhang
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nicht widersprechen, sondern entsprechen.</P>
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<P>Aber Herr Dühring darf sich diese einfache Behandlung der Sache nicht
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<A NAME="S34"></A><B>|34|</B> erlauben. Er denkt nicht nur im Namen der Menschheit
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- was doch schon eine ganz hübsche Sache wäre -, sondern im Namen der
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bewußten und denkenden Wesen aller Weltkörper:</P>
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<P><SMALL>In der Tat, es wäre »eine Herabwürdigung der Grundgestalten
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des Bewußtseins und Wissens, wenn man ihre souveräne Geltung und ihren
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unbedingten Anspruch auf Wahrheit durch das Epitheton menschlich ausschließen
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oder auch nur verdächtigen wollte«.</SMALL></P>
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<P>Damit also nicht der Verdacht aufkomme, als sei auf irgendeinem andern Weltkörper
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zwei mal zwei gleich fünf, darf Herr Dühring das Denken nicht als menschliches
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bezeichnen, muß es damit abtrennen von der einzigen wirklichen Grundlage,
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auf der es für uns vorkommt, nämlich vom Menschen und der Natur, und
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plumpst damit rettungslos in eine Ideologie, die ihn als Epigonen des »Epigonen«
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Hegel auftreten macht. Übrigens werden wir Herrn Dühring noch öfters
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auf andern Weltkörpern begrüßen.</P>
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<P>Es versteht sich von selbst, daß man auf so ideologischer Grundlage keine
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materialistische Lehre gründen kann. Wir werden später sehn, daß
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Herr Dühring genötigt ist, der Natur mehr als einmal bewußte Handlungsweise
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unterzuschieben, also das, was man auf deutsch Gott nennt.</P>
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<P>Indes hatte unser Wirklichkeitsphilosoph auch noch andre Beweggründe,
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die Grundlage aller Wirklichkeit aus der wirklichen Welt in die Gedankenwelt zu
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übertragen. Die Wissenschaft von diesem allgemeinen Weltschematismus, von
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diesen formellen Grundsätzen des Seins, ist ja grade die Grundlage von Herrn
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Dührings Philosophie. Wenn wir den Weltschematismus nicht aus dem Kopf, sondern
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bloß <I>vermittelst</I> des Kopfs aus der wirklichen Welt, die Grundsätze
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des Seins aus dem, was ist, ableiten, so brauchen wir dazu keine Philosophie,
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sondern positive Kenntnisse von der Welt und was in ihr vorgeht; und was dabei
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herauskommt, ist ebenfalls keine Philosophie, sondern positive Wissenschaft. Damit
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wäre aber Herrn Dührings ganzer Band nichts als verlorne Liebesmüh.</P>
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<P>Ferner: wenn keine Philosophie als solche mehr nötig, dann auch kein System,
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selbst kein natürliches System der Philosophie mehr. Die Einsicht, daß
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die Gesamtheit der Naturvorgänge in einem systematischen Zusammenhang steht,
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treibt die Wissenschaft dahin, diesen systematischen Zusammenhang überall
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im einzelnen wie im ganzen nachzuweisen. Aber eine entsprechende, erschöpfende,
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wissenschaftliche Darstellung dieses Zusammenhangs, die Abfassung eines exakten
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Gedankenabbildes des Weltsystems, in dem wir leben, bleibt für uns sowohl
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wie für alle Zeiten eine Unmöglichkeit. Würde an irgendeinem Zeitpunkt
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der Menschheitsentwicklung ein solches endgültig abschließendes System
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der Weltzusammenhänge, <A NAME="S35"></A><B>|35|</B> physischer wie geistiger
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und geschichtlicher, fertiggebracht, so wäre damit das Reich der menschlichen
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Erkenntnis abgeschlossen, und die zukünftige geschichtliche Fortentwicklung
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abgeschnitten von dem Augenblick an, wo die Gesellschaft im Einklang mit jenem
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System eingerichtet ist - was eine Absurdität, ein reiner Widersinn wäre.
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Die Menschen finden sich also vor den Widerspruch gestellt: einerseits das Weltsystem
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erschöpfend in seinem Gesamtzusammenhang zu erkennen, und andrerseits, sowohl
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ihrer eignen wie der Natur des Weltsystems nach, diese Aufgabe nie vollständig
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lösen zu können. Aber dieser Widerspruch liegt nicht nur in der Natur
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der beiden Faktoren: Welt und Menschen, sondern er ist auch der Haupthebel des
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gesamten intellektuellen Fortschritts und löst sich tagtäglich und fortwährend
|
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in der unendlichen progressiven Entwicklung der Menschheit, ganz wie z.B. mathematische
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Aufgaben in einer unendlichen Reihe oder einem Kettenbruch ihre Lösung finden.
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|
Tatsächlich ist und bleibt jedes Gedankenabbild des Weltsystems objektiv
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durch die geschichtliche Lage und subjektiv durch die Körper- und Geistesverfassung
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seines Urhebers beschränkt. Aber Herr Dühring erklärt von vornherein
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seine Denkweise für eine solche, die jede Anwandlung zu einer subjektivistisch
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beschränkten Weltvorstellung ausschließt. Wir sahn vorher, er war allgegenwärtig
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- auf allen möglichen Weltkörpern. Jetzt sehn wir auch, daß er
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allwissend ist. Er hat die letzten Aufgaben der Wissenschaft gelöst und so
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die Zukunft aller Wissenschaft mit Brettern zugenagelt.</P>
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<P>Wie die Grundgestalten des Seins, meint Herr Dühring, auch die gesamte
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reine Mathematik apriorisch, d.h. ohne Benutzung der Erfahrungen, die uns die
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|
Außenwelt bietet, aus dem Kopf heraus fertigbringen zu können.</P>
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<P><SMALL>In der reinen Mathematik soll sich der Verstand befassen »mit seinen
|
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eignen freien Schöpfungen und Imaginationen«; die Begriffe von Zahl und Figur
|
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sind »ihr zureichendes und von ihr selbst erzeugbares Objekt«, und somit hat sie
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eine »von der <I>besondern</I> Erfahrung und dem realen Weltinhalt unabhängige
|
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Geltung«.</SMALL></P>
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<P>Daß die reine Mathematik eine von der <I>besondern</I> Erfahrung jedes
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einzelnen unabhängige Geltung hat, ist allerdings richtig und gilt von allen
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festgestellten Tatsachen aller Wissenschaften, ja von allen Tatsachen überhaupt.
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Die magnetischen Pole, die Zusammensetzung des Wassers aus Wasserstoff und Sauerstoff,
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|
die Tatsache, daß Hegel tot ist und Herr Dühring lebt, gelten unabhängig
|
|
von meiner oder andrer einzelnen Leute Erfahrung, selbst unabhängig von der
|
|
des Herrn Dühring, sobald er den Schlaf des Gerechten schläft. Keineswegs
|
|
aber befaßt sich in der reinen <A NAME="S36"></A><B>|36|</B> Mathematik
|
|
der Verstand bloß mit seinen eignen Schöpfungen und Imaginationen.
|
|
Die Begriffe von Zahl und Figur sind nirgends anders hergenommen, als aus der
|
|
wirklichen Welt. Die zehn Finger, an denen die Menschen zählen, also die
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|
erste arithmetische Operation vollziehn gelernt haben, sind alles andre, nur nicht
|
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eine freie Schöpfung des Verstandes. Zum Zählen gehören nicht nur
|
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zählbare Gegenstände, sondern auch schon die Fähigkeit, bei Betrachtung
|
|
dieser Gegenstände von allen ihren übrigen Eigenschaften abzusehn außer
|
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ihrer Zahl - und diese Fähigkeit ist das Ergebnis einer langen geschichtlichen,
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erfahrungsmäßigen Entwicklung. Wie der Begriff Zahl, so ist der Begriff
|
|
Figur ausschließlich der Außenwelt entlehnt, nicht im Kopf aus dem
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reinen Denken entsprungen. Es mußte Dinge geben, die Gestalt hatten und
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|
deren Gestalten man verglich, ehe man auf den Begriff Figur kommen konnte. Die
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reine Mathematik hat zum Gegenstand die Raumformen und Quantitätsverhältnisse
|
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der wirklichen Welt, also einen sehr realen Stoff. Daß dieser Stoff in einer
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|
höchst abstrakten Form erscheint, kann seinen Ursprung aus der Außenwelt
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nur oberflächlich verdecken. Um diese Formen und Verhältnisse in ihrer
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|
Reinheit untersuchen zu können, muß man sie aber vollständig von
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|
ihrem Inhalt trennen, diesen als gleichgültig beiseite setzen; so erhält
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|
man die Punkte ohne Dimensionen, die Linien ohne Dicke und Breite, die <I>a</I>
|
|
und <I>b</I> und <I>x</I> und <I>y</I>, die Konstanten und die Variablen, und
|
|
kommt dann ganz zuletzt erst auf die eignen freien Schöpfungen und Imaginationen
|
|
des Verstandes, nämlich die imaginären Größen. Auch die scheinbare
|
|
Ableitung mathematischer Größen aus einander beweist nicht ihren apriorischen
|
|
Ursprung, sondern nur ihren rationellen Zusammenhang. Ehe man auf die Vorstellung
|
|
kam, die <I>Form</I> eines Zylinders aus der Drehung eines Rechtecks um eine seiner
|
|
Seiten abzuleiten, muß man eine Anzahl wirklicher Rechtecke und Zylinder,
|
|
wenn auch in noch so unvollkommner Form, untersucht haben. Wie alle andern Wissenschaften
|
|
ist die Mathematik aus den <I>Bedürfnissen</I> der Menschen hervorgegangen:
|
|
aus der Messung von Land und Gefäßinhalt, aus Zeitrechnung und Mechanik.
|
|
Aber wie in allen Gebieten des Denkens werden auf einer gewissen Entwicklungsstufe
|
|
die aus der wirklichen Welt abstrahierten Gesetze von der wirklichen Welt getrennt,
|
|
ihr als etwas Selbständiges gegenübergestellt, als von außen kommende
|
|
Gesetze, wonach die Welt sich zu richten hat. So ist es in Gesellschaft und Staat
|
|
hergegangen, so und nicht anders wird die <I>reine</I> Mathematik nachher auf
|
|
die Welt <I>angewandt,</I> obwohl sie eben dieser Welt entlehnt ist und nur einen
|
|
Teil ihrer Zusammensetzungsformen darstellt - und grade <I>nur deswegen</I> überhaupt
|
|
anwendbar ist.</P>
|
|
<P><B><A NAME="S37">|37|</A></B> Wie aber Herr Dühring sich einbildet, aus
|
|
den mathematischen Axiomen, die</P>
|
|
<P><SMALL>»auch nach der rein logischen Vorstellung einer Begründung weder
|
|
fähig noch bedürftig sind«,</SMALL></P>
|
|
<P>ohne irgendwelche erfahrungsmäßige Zutat die ganze reine Mathematik
|
|
ableiten und diese dann auf die Welt anwenden zu können, ebenso bildet er
|
|
sich ein, zuerst die Grundgestalten des Seins, die einfachen Bestandteile alles
|
|
Wissens, die Axiome der Philosophie, aus dem Kopf erzeugen, aus ihnen die ganze
|
|
Philosophie oder Weltschematik ableiten und diese seine Verfassung der Natur und
|
|
Menschenwelt Allerhöchst oktroyieren zu können. Leider besteht die Natur
|
|
gar nicht und die Menschenwelt nur zum allergeringsten Teil aus den Manteuffelschen
|
|
Preußen von 1850.</P>
|
|
<P>Die mathematischen Axiome sind die Ausdrücke des höchst dürftigen
|
|
Gedankeninhalts, den die Mathematik der Logik entlehnen muß. Sie lassen
|
|
sich auf zwei zurückführen:</P>
|
|
<P>1. Das Ganze ist größer als der Teil. Dieser Satz ist eine reine
|
|
Tautologie, da die quantitativ gefaßte Vorstellung: Teil sich von vornherein
|
|
in bestimmter Weise auf die Vorstellung: Ganzes bezieht, nämlich so, daß
|
|
»Teil« ohne weiteres besagt, daß das quantitative »Ganze« aus mehreren quantitativen
|
|
»Teilen« besteht. Indem das sogenannte Axiom dies ausdrücklich konstatiert,
|
|
sind wir keinen Schritt weiter. Man kann diese Tautologie sogar gewissermaßen
|
|
<I>beweisen</I>, wenn man sagt: ein Ganzes ist das, was aus mehreren Teilen besteht;
|
|
ein Teil ist das, von dem mehrere ein Ganzes ausmachen, folglich ist der Teil
|
|
kleiner als das Ganze - wo die Öde der Wiederholung die Öde des Inhalts
|
|
noch stärker hervortreten läßt.</P>
|
|
<P>2. Wenn zwei Größen einer dritten gleich sind, so sind sie untereinander
|
|
gleich. Dieser Satz ist, wie schon Hegel nachgewiesen hat, ein Schluß, für
|
|
dessen Richtigkeit die Logik einsteht, der also bewiesen ist, wenn auch außerhalb
|
|
der reinen Mathematik. Die übrigen Axiome über Gleichheit und Ungleichheit
|
|
sind bloße logische Erweiterungen dieses Schlusses.</P>
|
|
<P>Diese magern Sätze locken weder in der Mathematik noch sonstwo einen Hund
|
|
vom Ofen. Um weiterzukommen, müssen wir reale Verhältnisse hineinziehn,
|
|
Verhältnisse und Raumformen, die von wirklichen Körpern hergenommen
|
|
sind. Die Vorstellungen von Linien, Flächen, Winkeln, von Vielecken, Würfeln,
|
|
Kugeln usw. sind alle der Wirklichkeit entlehnt, und es gehört ein gut Stück
|
|
naiver Ideologie dazu, den Mathematikern zu glauben, die erste Linie sei durch
|
|
Bewegung eines Punktes im Raum entstanden, die erste Fläche durch Bewegung
|
|
einer Linie, der erste Körper durch <A NAME="S38"></A><B>|38|</B> Bewegung
|
|
einer Fläche usw. Schon die Sprache rebelliert dagegen. Eine mathematische
|
|
Figur von drei Dimensionen heißt ein Körper, corpus solidum, also im
|
|
Lateinischen sogar ein handgreiflicher Körper, führt also einen Namen,
|
|
der keineswegs der freien Imagination des Verstandes, sondern der handfesten Realität
|
|
entlehnt ist.</P>
|
|
<P>Aber wozu all diese Weitläufigkeiten? Nachdem Herr Dühring auf Seite
|
|
42 und 43 die Unabhängigkeit der reinen Mathematik von der Erfahrungswelt,
|
|
ihre Apriorität, ihre Beschäftigung mit den eignen freien Schöpfungen
|
|
und Imaginationen des Verstandes, begeistert besungen, sagt er auf Seite 63:</P>
|
|
<P><SMALL>»Es wird nämlich leicht übersehn, daß jene mathematischen
|
|
Elemente« (»Zahl, Größe, Zeit, Raum und geometrische Bewegung«) »<I>nur
|
|
ihrer Form nach ideell</I> sind, ... die <I>absoluten Größen</I> sind
|
|
daher etwas durchaus <I>Empirisches</I>, gleichviel welcher Gattung sie angehören«,
|
|
... aber »die mathematischen Schemata sind einer von der Erfahrung <I>abgesonderten</I>
|
|
und dennoch zureichenden Charakteristik fähig«,</SMALL></P>
|
|
<P>welches letztere mehr oder weniger von <I>jeder</I> Abstraktion gilt, aber
|
|
keineswegs beweist, daß sie nicht aus der Wirklichkeit abstrahiert ist.
|
|
In der Weltschematik ist die reine Mathematik aus dem reinen Denken entsprungen
|
|
- in der Naturphilosophie ist sie etwas durchaus Empirisches, aus der Außenwelt
|
|
Genommenes und dann Abgesondertes. Wem sollen wir nun glauben?</P>
|
|
<H3 ALIGN="CENTER"><A NAME="Kap_IV"></A>IV. Weltschematik</H3>
|
|
<P><SMALL>»Das allumfassende Sein ist <I>einzig</I>. In seiner Selbstgenügsamkeit
|
|
hat es nichts neben oder über sich. Ihm ein zweites Sein zugesellen, hieße
|
|
es zu dem machen, was es nicht ist, nämlich zu dem Teil oder Bestandstück
|
|
eines umfangreicheren Ganzen. Indem wir unsern <I>einheitlichen</I> Gedanken gleichsam
|
|
als Rahmen ausspannen, kann nichts, was in diese Gedanken<I>einheit</I> eingehn
|
|
muß, eine Doppelheit an sich behalten. Es kann sich aber dieser Gedankeneinheit
|
|
auch nichts entziehn ... Das Wesen alles Denkens besteht in der Vereinigung von
|
|
Bewußtseinselementen zu einer Einheit ... Es ist der Einheitspunkt der Zusammenfassung,
|
|
wodurch der <I>unteilbare Weltbegriff </I>entstanden und das Universum, wie es
|
|
schon das Wort besagt, als etwas erkannt wird, worin alles zu einer <I>Einheit</I>
|
|
vereinigt ist.«</SMALL></P>
|
|
<P>Soweit Herr Dühring. Die mathematische Methode:</P>
|
|
<P><SMALL>»Jede Frage ist an einfachen Grundgestalten <I>axiomatisch</I> zu entscheiden,
|
|
als wenn es sich um einfache ... Grundsätze der Mathematik handelte« -</SMALL></P>
|
|
<P>diese Methode wird hier zuerst angewandt.</P>
|
|
<P><B><A NAME="S39">|39|</A></B> »Das allumfassende Sein ist einzig.« Wenn Tautologie
|
|
einfache Wiederholung, im Prädikat, dessen, was im Subjekte schon ausgesprochen
|
|
worden - wenn das ein Axiom ausmacht, so haben wir hier eins vom reinsten Wasser.
|
|
Im Subjekt sagt uns Herr Dühring, daß das Sein alles umfaßt,
|
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und im Prädikat behauptet er unerschrocken, daß alsdann nichts außer
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ihm ist. Welch kolossal »systemschaffender Gedanke«!</P>
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<P>Systemschaffend in der Tat. Ehe wir sechs Zeilen weiter sind, hat Herr Dühring
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die <I>Einzigkeit</I> des Seins vermittelst unsres einheitlichen Gedankens in
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seine <I>Einheit</I> verwandelt. Da das Wesen alles Denkens in der Zusammenfassung
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zu einer Einheit besteht, so ist das Sein, sobald es gedacht wird, als einheitliches
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gedacht, der Weltbegriff ein unteilbarer, und weil das <I>gedachte </I>Sein, der
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<I>Weltbegriff</I> einheitlich ist, so ist das wirkliche Sein, die wirkliche Welt,
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ebenfalls eine unteilbare Einheit. Und somit</P>
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<P><SMALL>»haben die Jenseitigkeiten keinen Raum mehr, sobald der Geist einmal
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gelernt hat, das Sein in seiner gleichartigen Universalität zu erfassen«.</SMALL></P>
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<P>Das ist ein Feldzug, gegen den Austerlitz und Jena, Königgrätz und
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Sedan vollständig verschwinden. In ein paar Sätzen, kaum eine Seite,
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nachdem wir das erste Axiom mobil gemacht haben, haben wir bereits alle Jenseitigkeiten,
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Gott, die himmlischen Heerscharen, Himmel, Hölle und Fegefeuer samt der Unsterblichkeit
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der Seele abgeschafft, beseitigt, vernichtet.</P>
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<P>Wie kommen wir von der Einzigkeit des Seins zu seiner Einheit? Indem wir es
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uns überhaupt vorstellen. Sowie wir unsern einheitlichen Gedanken als Rahmen
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um es ausspannen, wird das einzige Sein in Gedanken ein einheitliches, eine Gedankeneinheit;
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denn das Wesen <I>alles</I> Denkens besteht in der Vereinigung von Bewußtseinselementen
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zu einer Einheit.</P>
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<P>Dieser letzte Satz ist einfach falsch. Erstens besteht das Denken ebensosehr
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in der Zerlegung von Bewußtseinsgegenständen in ihre Elemente, wie
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in der Vereinigung zusammengehöriger Elemente zu einer Einheit. Ohne Analyse
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keine Synthese. Zweitens kann das Denken, ohne Böcke zu schießen, nur
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diejenigen Bewußtseinselemente zu einer Einheit zusammenfassen, in denen
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oder in deren realen Urbildern diese Einheit schon <I>vorher bestanden</I>. Wenn
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ich eine Schuhbürste unter die Einheit Säugetier zusammenfasse, so bekommt
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sie damit noch lange keine Milchdrüsen. Die Einheit des Seins, beziehentlich
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die Berechtigung seiner Gedankenauffassung als einer Einheit, ist also grade das,
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was zu beweisen war, und wenn Herr Dühring uns versichert, er denke sich
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das Sein einheitlich und nicht etwa als Doppelheit, so sagt er uns damit weiter
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nichts, als seine unmaßgebliche Meinung.</P>
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<P><B><A NAME="S40">|40|</A></B> Wenn wir seinen Gedankengang rein darstellen
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wollen, so ist er folgender: Ich fange an mit dem Sein. Also denke ich mir das
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Sein. Der Gedanke des Seins ist einheitlich. Denken und Sein müssen aber
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zusammenstimmen, sie entsprechen einander, sie »decken sich«. Also ist das Sein
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auch in der Wirklichkeit einheitlich. Also gibt's keine »Jenseitigkeiten«. Hätte
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Herr Dühring aber so unverhüllt gesprochen, statt uns obige Orakelstelle
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zum besten zu geben, so lag die Ideologie klar zutage. Aus der Identität
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von Denken und Sein die Realität irgendeines Denkergebnisses beweisen zu
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wollen, das war ja grade eine der tollsten Fieberphantasien - eines Hegel.</P>
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<P>Den Spiritualisten hätte Herr Dühring, selbst wenn seine ganze Beweisführung
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richtig wäre, noch keinen Zollbreit Gebiet abgewonnen. Die Spiritualisten
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antworten ihm kurz: die Welt <I>ist</I> auch für uns einfach; die Spaltung
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in Diesseits und Jenseits existiert nur für unsern spezifisch irdischen,
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erbsündlichen Standpunkt; an und für sich, d.h. in Gott, ist das gesamte
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Sein ein einiges. Und sie werden Herrn Dühring auf seine beliebten andern
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Weltkörper begleiten und ihm einen oder mehrere zeigen, wo kein Sündenfall
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stattgefunden, wo also auch kein Gegensatz zwischen Diesseits und Jenseits besteht
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und die Einheitlichkeit der Welt Forderung des Glaubens ist.</P>
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<P>Das komischste bei der Sache ist, daß Herr Dühring, um die Nichtexistenz
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Gottes aus dem Begriff des Seins zu beweisen, den ontologischen Beweis für
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das Dasein Gottes anwendet. Dieser lautet: Wenn wir uns Gott denken, so denken
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wir ihn uns als den Inbegriff aller Vollkommenheiten. Zum Inbegriff aller Vollkommenheiten
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gehört aber vor allem das Dasein, denn ein nicht daseiendes Wesen ist notwendig
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unvollkommen. Also müssen wir zu den Vollkommenheiten Gottes auch das Dasein
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rechnen. Also muß Gott existieren. - Genauso räsoniert Herr Dühring:
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Wenn wir uns das Sein denken, so denken wir es uns als <I>einen</I> Begriff. Was
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in Einem Begriff zusammengefaßt, das ist einheitlich. Das Sein entspräche
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also seinem Begriff nicht, wäre es nicht einheitlich. Folglich muß
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es einheitlich sein. Folglich gibt es keinen Gott usw.</P>
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<P>Wenn wir vom <I>Sein</I> sprechen, und <I>bloß</I> vom Sein, so kann
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die Einheit nur darin bestehn, daß alle die Gegenstände, um die es
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sich handelt - <I>sind</I>, existieren. In der Einheit dieses Seins, und in keiner
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andern, sind sie zusammengefaßt und der gemeinsame Ausspruch, daß
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sie alle <I>sind</I>, kann ihnen nicht nur keine weiteren, gemeinsamen oder nicht
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gemeinsamen, Eigenschaften geben, sondern schließt alle solche von der Betrachtung
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vorläufig aus. Denn sowie wir uns von der einfachen Grundtatsache, daß
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allen diesen Dingen das Sein gemeinsam zukommt, auch nur einen Millimeter breit
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entfernen, so fangen die <I>Unterschiede</I> dieser Dinge an, vor unsern <A NAME="S41"></A><B>|41|</B>
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Blick zu treten - und ob diese Unterschiede darin bestehn, daß die einen
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weiß, die andern schwarz, die einen belebt, die andern unbelebt, die einen
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etwa diesseitig, die andern etwa jenseitig sind, das können wir nicht daraus
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entscheiden, daß ihnen allen gleichmäßig die bloße Existenz
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zugeschrieben wird.</P>
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<P>Die Einheit der Welt besteht nicht in ihrem Sein, obwohl ihr Sein eine Voraussetzung
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ihrer Einheit ist, da sie doch zuerst <I>sein</I> muß, ehe sie <I>eins</I>
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sein kann. Das Sein ist ja überhaupt eine offene Frage von der Grenze an,
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wo unser Gesichtskreis aufhört. Die wirkliche Einheit der Welt besteht in
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ihrer Materialität, und diese ist bewiesen nicht durch ein paar Taschenspielerphrasen,
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sondern durch eine lange und langwierige Entwicklung der Philosophie und der Naturwissenschaft.</P>
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<P>Weiter im Text. Das <I>Sein</I>, wovon Herr Dühring uns unterhält,
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ist</P>
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<P><SMALL>»nicht jenes reine Sein, welches sich selbst gleich, aller besondern
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Bestimmungen ermangeln soll, und in der Tat nur ein Gegenbild des Gedanken<I>nichts</I>
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oder der Gedankenabwesenheit vertritt«.</SMALL></P>
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<P>Nun werden wir aber sehr bald sehn, daß Herrn Dührings Welt allerdings
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mit einem Sein anhebt, welches aller innern Unterscheidung, aller Bewegung und
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Veränderung ermangelt und also in der Tat nur ein Gegenbild des Gedankennichts,
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also ein wirkliches Nichts ist. Erst aus diesem <I>Sein-Nichts</I> entwickelt
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sich der gegenwärtige differenzierte, wechselvolle, eine Entwicklung, ein
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<I>Werden</I> darstellende Weltzustand; und erst nachdem wir dies begriffen, kommen
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wir dahin, auch unter dieser ewigen Wandlung</P>
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<P><SMALL>»den Begriff des universellen Seins sich selbst gleich festzuhalten«.</SMALL></P>
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<P>Wir haben also jetzt den Begriff des Seins auf einer höhern Stufe, wo
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er sowohl Beharrung wie Veränderung, Sein wie Werden in sich begreift. Hier
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angekommen, finden wir, daß</P>
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<P><SMALL>»Gattung und Art, überhaupt Allgemeines und Besonderes die einfachsten
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Unterscheidungsmittel sind, ohne welche die Verfassung der Dinge nicht begriffen
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werden kann«.</SMALL></P>
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<P>Es sind dies aber Unterscheidungsmittel der <I>Qualität</I>; und nachdem
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diese verhandelt, gehn wir weiter:</P>
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<P><SMALL>»den Gattungen gegenüber steht der Begriff der Größe,
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als desjenigen Gleichartigen, in welchem keine Artdifferenzen mehr stattfinden«;</SMALL></P>
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<P>d.h. von der <I>Qualität</I> gehn wir über zur <I>Quantität</I>,
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und diese ist stets <I>»meßbar«</I>.</P>
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<P><B><A NAME="S42">|42|</A></B> Vergleichen wir nun diese »scharfe Sonderung
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der allgemeinen Wirkungsschemata« und ihren »wirklich kritischen Standpunkt« mit
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den Kruditäten, Wüstheiten und Fieberphantasien eines Hegel. Wir finden,
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daß Hegels Logik anfängt, vom <I>Sein</I> - wie Herr Dühring;
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daß das Sein sich herausstellt als das <I>Nichts</I>, wie bei Herrn Dühring;
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daß aus diesem Sein-Nichts übergegangen wird zum <I>Werden</I>, dessen
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Resultat das Dasein ist, d.h. eine höhere, erfülltere Form des Seins
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- ganz wie bei Herrn Dühring. Das Dasein führt zur <I>Qualität</I>,
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die Qualität zur <I>Quantität -</I> ganz wie bei Herrn Dühring.
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Und damit kein wesentliches Stück fehle, erzählt uns Herr Dühring
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bei einer andern Gelegenheit:</P>
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<P><SMALL>»Aus dem Reich der Empfindungslosigkeit tritt man in das der Empfindung,
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trotz aller quantitativen Allmählichkeit, nur mit einem <I>qualitativen Sprung</I>
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ein, von dem wir ... behaupten können, daß er sich unendlich von der
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bloßen Gradation einer und derselben Eigenschaft unterscheide.«</SMALL></P>
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<P>Dies ist ganz die Hegelsche Knotenlinie von Maßverhältnissen, wo
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bloß quantitative Steigerung oder Abnahme an gewissen bestimmten Knotenpunkten
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einen <I>qualitativen Sprung</I> verursacht, z.B. bei erwärmtem oder abgekühltem
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Wasser, wo der Siedepunkt und der Gefrierpunkt die Knoten sind, an denen der Sprung
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in einen neuen Aggregatzustand - unter Normaldruck - sich vollzieht, wo also Quantität
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in Qualität umschlägt.</P>
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<P>Unsre Untersuchung hat ebenfalls versucht, bis an die Wurzeln zu reichen, und
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als die Wurzel der wurzelhaften Dühringschen Grundschemata findet sie - die
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»Fieberphantasien« eines Hegel, die Kategorien der Hegelschen »Logik«, erster
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Teil, Lehre vom Sein, in streng althegelscher »Abfolge« und mit kaum versuchter
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Verschleierung des Plagiats!</P>
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<P>Und nicht zufrieden damit, seinem bestverleumdeten Vorgänger dessen ganze
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Schematik vom Sein zu entwenden, hat Herr Dühring, nachdem er selbst obiges
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Beispiel von sprungweisem Umschlagen der Quantität in die Qualität gegeben,
|
|
die Gelassenheit, von Marx zu sagen:</P>
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<P><SMALL>»Wie komisch nimmt sich nicht z.B. die Berufung« (Marx') »auf die Hegelsche
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<I>konfuse Nebelvorstellung</I> aus, daß <I>die Quantität in die Qualität
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umschlage</I>!«</SMALL></P>
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<P>Konfuse Nebelvorstellung! Wer schlägt hier um, und wer nimmt sich hier
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komisch aus, Herr Dühring?</P>
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<P>Alle diese schönen Sächelchen sind also nicht nur nicht vorschriftsmäßig
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»axiomatisch entschieden«, sondern einfach von außen, d.h. aus Hegels »Logik«
|
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hineingetragen. Und zwar so, daß in dem ganzen Kapitel auch nicht einmal
|
|
der Schein eines innern Zusammenhangs figuriert, soweit er nicht auch aus Hegel
|
|
entlehnt ist, und daß das Ganze schließlich in ein <A NAME="S43"></A><B>|43|</B>
|
|
inhaltloses Spintisieren über Raum und Zeit, Beharrung und Veränderung
|
|
ausläuft.</P>
|
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<P>Vom Sein kommt Hegel zum Wesen, zur Dialektik. Hier handelt er von den Reflexionsbestimmungen,
|
|
deren innern <I>Gegensätzen</I> und Widersprüchen, wie z.B. positiv
|
|
und negativ, kommt dann zur <I>Kausalität</I> oder dem Verhältnis von
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|
Ursache und Wirkung, und schließt mit der <I>Notwendigkeit</I>. Nicht anders
|
|
Herr Dühring. Was Hegel Lehre vom Wesen nennt, übersetzt Herr Dühring
|
|
in: logische Eigenschaften des Seins. Diese bestehn aber vor allem im »Antagonismus
|
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von Kräften«, in <I>Gegensätzen</I>. Den Widerspruch leugnet Herr Dühring
|
|
dagegen radikal; wir werden später auf dies Thema zurückkommen. Dann
|
|
geht er über auf die <I>Kausalität</I> und von dieser auf die <I>Notwendigkeit</I>.
|
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Wenn Herr Dühring also von sich sagt:</P>
|
|
<P><SMALL>»Wir, die wir nicht <I>aus dem Käfig</I> philosophieren«, </SMALL></P>
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|
<P>so meint er wohl, er philosophiere im Käfig, nämlich dem Käfig
|
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des Hegelschen Kategorienschematismus.</P>
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<H3 ALIGN="CENTER"><A NAME="Kap_V"></A>V. Naturphilosophie. Zeit und Raum</H3>
|
|
<P>Wir kommen jetzt zur <I>Naturphilosophie</I>. Hier hat Herr Dühring wieder
|
|
alle Ursache, mit seinen Vorgängern unzufrieden zu sein.</P>
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<P><SMALL>Die Naturphilosophie »sank so tief, daß sie zur wüsten, auf
|
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Unwissenheit beruhenden Afterpoesie wurde« und »der prostituierten Philosophasterei
|
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eines Schelling und ähnlicher, im Priestertum des Absoluten kramender und
|
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das Publikum mystifizierender Gesellen anheimgefallen« war. Die Ermüdung
|
|
hat uns aus diesen »Mißgestalten« gerettet, aber sie hat bisher nur der
|
|
»Haltlosigkeit« Platz gemacht; »und was das größere Publikum betrifft,
|
|
so ist für dasselbe bekanntlich der Abtritt eines größern Scharlatans
|
|
oft nur die Gelegenheit für einen kleinern, aber geschäftserfahrenen
|
|
Nachfolger, die Produktionen jenes unter einem andern Aushängeschild zu wiederholen«.
|
|
die Naturforscher selbst verspüren wenig »Lust zu einem Ausflug in das Reich
|
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der weltumspannenden Ideen« und begehn daher lauter »zerfahrene Voreiligkeiten«
|
|
auf theoretischem Gebiet.</SMALL></P>
|
|
<P>Hier muß dringend Rettung geschaffen werden, und glücklicherweise
|
|
ist Herr Dühring zur Stelle.</P>
|
|
<P>Um die nun folgenden Enthüllungen über die Entfaltung der Welt in
|
|
der Zeit und ihre Begrenzung im Raum richtig zu würdigen, müssen wir
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|
wieder auf einige Stellen in der »Weltschematik« zurückgreifen.</P>
|
|
<P>Dem Sein wird, ebenfalls im Einklang mit Hegel (»Enzyklopädie« § 93),
|
|
Unendlichkeit - was Hegel die <I>schlechte</I> Unendlichkeit nennt - zugeschrieben
|
|
und nun diese Unendlichkeit untersucht.</P>
|
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<P><SMALL><B><A NAME="S44">|44|</A></B></SMALL><SMALL> »die deutlichste Gestalt
|
|
einer <I>widerspruchslos</I> zu denkenden Unendlichkeit ist die unbeschränkte
|
|
Häufung der Zahlen in der Zahlenreihe ... Wie wir zu jeder Zahl noch eine
|
|
weitere Einheit hinzufügen können, ohne jemals die Möglichkeit
|
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des Weiterzählens zu erschöpfen, so reiht sich auch an jeglichen Zustand
|
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des Seins ein fernerer an, und in der unbeschränkten Erzeugung dieser Zustände
|
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besteht die Unendlichkeit. Diese <I>genau gedachte</I> Unendlichkeit hat daher
|
|
auch nur eine einzige Grundform mit einer einzigen Richtung. Wenn es nämlich
|
|
auch für unser Denken gleichgültig ist, eine entgegengesetzte Richtung
|
|
der Häufungen der Zustände zu entwerfen, so ist doch die rückwärts
|
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fortschreitende Unendlichkeit eben nur ein voreiliges Vorstellungsgebilde. Da
|
|
sie nämlich in der Wirklichkeit in <I>umgekehrter</I> Richtung durchlaufen
|
|
sein müßte, so würde sie bei jedem ihrer Zustände eine unendliche
|
|
Zahlenreihe hinter sich haben. Hiermit wäre aber der unzulässige Widerspruch
|
|
einer abgezählten unendlichen Zahlenreihe begangen, und so erweist es sich
|
|
als widersinnig, noch eine zweite Richtung der Unendlichkeit vorauszusetzen.«</SMALL></P>
|
|
<P>Die erste Folgerung, die aus dieser Auffassung der Unendlichkeit gezogen wird,
|
|
ist, daß die Verkettung von Ursachen und Wirkungen in der Welt einmal einen
|
|
Anfang gehabt haben muß:</P>
|
|
<P><SMALL>»eine unendliche Zahl von Ursachen, die sich bereits aneinandergereiht
|
|
haben soll, ist schon darum undenkbar, weil sie die Unzahl als abgezählt
|
|
voraussetzt«.</SMALL></P>
|
|
<P>Also eine <I>Endursache</I> erwiesen. Die zweite Folgerung ist</P>
|
|
<P><SMALL>»das Gesetz der bestimmten Anzahl: die Häufung des Identischen
|
|
irgendeiner realen Gattung von Selbständigkeiten ist nur als Bildung einer
|
|
bestimmten Zahl denkbar«. Nicht nur die vorhandne Zahl der Weltkörper muß
|
|
in jedem Zeitpunkt eine an sich bestimmte sein, sondern auch die Gesamtzahl aller
|
|
in der Welt existierenden kleinsten selbständigen Teile der Materie. Letztere
|
|
Notwendigkeit ist der wahre Grund, warum keine Zusammensetzung ohne Atome gedacht
|
|
werden kann. Alle wirkliche Geteiltheit hat stets eine endliche Bestimmtheit und
|
|
muß sie haben, wenn nicht der Widerspruch der abgezählten Unzahl eintreten
|
|
soll. Nicht nur muß aus demselben Grund die bisherige Anzahl der Umläufe
|
|
der Erde um die Sonne eine bestimmte, wenn auch nicht angebbare, sein, sondern
|
|
alle periodischen Naturprozesse müssen irgendeinen Anfang gehabt haben, und
|
|
alle Differenzenbildung, alle Mannigfaltigkeiten der Natur, die einander folgen,
|
|
müssen in einem <I>sich selbst gleichen Zustand</I> wurzeln. Dieser kann
|
|
ohne Widerspruch von Ewigkeit her existiert haben, aber auch diese Vorstellung
|
|
wäre ausgeschlossen, wenn die Zeit an sich selbst aus realen Teilen bestände
|
|
und nicht vielmehr bloß durch die ideelle Setzung der Möglichkeiten
|
|
von unserm Verstand nach Belieben eingeteilt würde. Mit dem realen und in
|
|
sich unterschiednen Zeitinhalt hat es eine andre Bewandtnis; diese wirkliche Erfüllung
|
|
der Zeit mit unterscheidbar gearteten Tatsachen und die Existenzformen dieses
|
|
Bereichs gehören eben, ihrer Unterschiedenheit wegen, dem Zählbaren
|
|
an. Denken wir uns einen Zustand, der ohne Veränderungen ist und in seiner
|
|
Sichselbstgleichheit gar keine Unterschiede der Folge darbietet, so <A NAME="S45"></A><B>|45|</B>
|
|
verwandelt sich auch der speziellere Zeitbegriff in die allgemeinere Idee des
|
|
Seins. Was die Häufung einer leeren Dauer bedeuten soll, ist gar nicht erfindlich.</SMALL></P>
|
|
<P>Soweit Herr Dühring, und er ist nicht wenig erbaut von der Bedeutung dieser
|
|
Entdeckungen. Er hofft zunächst, daß man sie »mindestens nicht als
|
|
eine geringfügige Wahrheit ansehn« wird; später aber heißt es:</P>
|
|
<P><SMALL>»Man erinnere sich <I>der höchst einfachen</I> Wendungen, mit denen
|
|
<I>wir</I> den Unendlichkeitsbegriffen und deren Kritik zu einer <I>bisher ungekannten
|
|
Tragweite</I> verholfen haben ... die durch die gegenwärtige Verschärfung
|
|
und Vertiefung so <I>einfach</I> gestalteten Elemente der universellen Raum- und
|
|
Zeitauffassung.«</SMALL></P>
|
|
<P><I>Wir</I> haben verholfen! Gegenwärtige Vertiefung und Verschärfung!
|
|
Wer sind wir, und wann spielt unsre Gegenwart? Wer vertieft und verschärft?</P>
|
|
<P><SMALL>»Thesis. Die Welt hat einen Anfang in der Zeit und ist dem Raum nach
|
|
auch in Grenzen eingeschlossen. - Beweis: Denn man nehme an, die Welt habe der
|
|
Zeit nach keinen Anfang, so ist bis zu jedem gegebnen Zeitpunkt eine Ewigkeit
|
|
abgelaufen, und mithin eine unendliche Reihe aufeinanderfolgender Zustände
|
|
der Dinge in der Welt verflossen. Nun besteht aber eben darin die Unendlichkeit
|
|
einer Reihe, daß sie durch sukzessive Synthesis niemals vollendet sein kann.
|
|
Also ist eine unendliche verflossene Weltreihe unmöglich, mithin ein Anfang
|
|
der Welt eine notwendige Bedingung ihres Daseins, welches zuerst zu beweisen war.
|
|
- in Ansehung des Zweiten nehme man wiederum das Gegenteil an, so wird die Welt
|
|
ein unendliches gegebnes Ganzes von zugleich existierenden Dingen sein. Nun können
|
|
wir die Größe eines Quantums, welches nicht innerhalb gewisser Grenzen
|
|
jeder Anschauung gegeben wird, auf keine Art als nur durch die Synthese der Teile,
|
|
und die Totalität eines solchen Quantums nur durch die vollendete Synthese
|
|
oder durch wiederholte Hinzusetzung der Einheit zu sich selbst denken. Demnach,
|
|
um sich die Welt, die alle Räume erfüllt, als ein Ganzes zu denken,
|
|
müßte die sukzessive Synthese der Teile einer unendlichen Welt als
|
|
vollendet angesehn, d.i. eine unendliche Zeit müßte, in der Durchzählung
|
|
aller koexistierenden Dinge, als abgelaufen angesehn werden, welches unmöglich
|
|
ist. Demnach kann ein unendliches Aggregat wirklicher Dinge nicht als ein gegebnes
|
|
Ganzes, mithin auch nicht als <I>zugleich</I> gegeben angesehn werden. Eine Welt
|
|
ist folglich der Ausdehnung im Raum nach nicht unendlich, sondern in ihre Grenzen
|
|
eingeschlossen, welches das Zweite« (zu beweisen) »war.«</SMALL></P>
|
|
<P>Diese Sätze sind buchstäblich kopiert aus einem wohlbekannten Buch,
|
|
welches im Jahre 1781 zuerst erschien und betitelt ist: »Kritik der reinen Vernunft«,
|
|
von <I>Immanuel Kant,</I> wo männiglich sie nachlesen kann im ersten Teil,
|
|
zweite Abteilung, zweites Buch, zweites Hauptstück, zweiter Abschnitt: Erste
|
|
Antinomie der reinen Vernunft. Herrn Dühring gehört hiernach lediglich
|
|
der Ruhm, den <I>Namen</I>: Gesetz der bestimmten Anzahl, auf einen von Kant ausgesprochenen
|
|
Gedanken geklebt und die Entdeckung gemacht zu haben, daß einmal eine Zeit
|
|
war, wo es noch keine Zeit gab, wohl aber eine <A NAME="S46"></A><B>|46|</B> Welt.
|
|
Für alles übrige, also für alles, was in Herrn Dührings Auseinandersetzung
|
|
noch einigen Sinn hat, sind »Wir« - Immanuel Kant, und die »Gegenwart« ist nur
|
|
fünfundneunzig Jahre alt. Allerdings »höchst einfach«! Merkwürdige
|
|
»bisher ungekannte Tragweite«!</P>
|
|
<P>Nun stellt aber Kant obige Sätze keineswegs als durch seinen Beweis erledigt
|
|
auf. Im Gegenteil; auf der gegenüberstehenden Seite behauptet und beweist
|
|
er das Entgegengesetzte: daß die Welt nach der Zeit keinen Anfang und nach
|
|
dem Raum kein Ende habe; und darin setzt er grade die Antinomie, den unlösbaren
|
|
Widerspruch, daß das eine ebenso beweisbar ist wie das andre. Leute von
|
|
geringerm Kaliber wären vielleicht dadurch etwas bedenklich geworden, daß
|
|
»ein Kant« hier eine unlösbare Schwierigkeit fand. Nicht so unser kühner
|
|
Verfertiger »von Grund aus eigentümlicher Ergebnisse und Anschauungen«: was
|
|
ihm von Kants Antinomie dienen kann, schreibt er unverdrossen ab und wirft den
|
|
Rest beiseite.</P>
|
|
<P>Die Sache selbst löst sich sehr einfach. Ewigkeit in der Zeit, Unendlichkeit
|
|
im Raum, besteht schon von vornherein und dem einfachen Wortsinne nach darin,
|
|
nach <I>keiner</I> Seite hin ein Ende zu haben, weder nach vorn oder nach hinten,
|
|
nach oben oder nach unten, nach rechts oder nach links. Diese Unendlichkeit ist
|
|
eine ganz andre als die einer unendlichen Reihe, denn diese fängt von vornherein
|
|
immer mit Eins, mit einem ersten Gliede an. Die Unanwendbarkeit dieser Reihenvorstellung
|
|
auf unsern Gegenstand zeigt sich sofort, wenn wir sie auf den Raum anwenden. Die
|
|
unendliche Reihe, ins Räumliche übersetzt, ist die von einem bestimmten
|
|
Punkt in bestimmter Richtung ins Unendliche gezogne Linie. Ist damit die Unendlichkeit
|
|
des Raums auch nur entfernt ausgedrückt? Im Gegenteil, es gehören allein
|
|
sechs von diesem einen Punkt in dreifach entgegengesetzten Richtungen aus gezogene
|
|
Linien dazu, um die Dimensionen des Raums zu begreifen; und dieser Dimensionen
|
|
hätten wir hiernach sechs. Kant sah dies so gut ein, daß er seine Zahlenreihe
|
|
auch nur indirekt, auf einem Umweg, auf die Räumlichkeit der Welt übertrug.
|
|
Herr Dühring dagegen zwingt uns zur Annahme von sechs Dimensionen im Raum,
|
|
und hat gleich nachher nicht Worte der Entrüstung genug über den mathematischen
|
|
Mystizismus von Gauß, der sich nicht mit den gewöhnlichen drei Raumdimensionen
|
|
begnügen wollte.</P>
|
|
<P>Auf die Zeit angewandt, hat die nach beiden Seiten endlose Linie oder Reihe
|
|
von Einheiten einen gewissen bildlichen Sinn. Stellen wir uns aber die Zeit als
|
|
eine von <I>Eins</I> an gezählte oder von einem bestimmten <I>Punkt </I>ausgehende
|
|
Linie vor, so sagen wir damit von vornherein, daß die Zeit einen Anfang
|
|
hat: wir setzen voraus, was wir grade beweisen sollen. Wir geben <A NAME="S47"></A><B>|47|</B>
|
|
der Unendlichkeit der Zeit einen einseitigen, halben Charakter; aber eine einseitige,
|
|
eine halbierte Unendlichkeit ist auch ein Widerspruch in sich, das grade Gegenteil
|
|
von einer »widerspruchslos gedachten Unendlichkeit«. Über diesen Widerspruch
|
|
kommen wir nur hinaus, wenn wir annehmen, daß die Eins, mit der wir anfangen,
|
|
die Reihe zu zählen, der Punkt, von dem aus wir die Linie weitermessen, eine
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beliebige Eins in der Reihe, ein beliebiger Punkt in der Linie sind, von denen
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es für die Linie oder Reihe gleichgültig ist, wohin wir sie verlegen.</P>
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<P>Aber der Widerspruch der »abgezählten unendlichen Zahlenreihe«? Wir werden
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imstande sein, ihn näher zu untersuchen, sobald Herr Dühring uns das
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Kunststück vorgemacht haben wird, <I>sie abzuzählen</I>. Wenn er es
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fertiggebracht hat, von minus Unendlich bis Null zu zählen, dann mag er wiederkommen.
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Es ist ja klar, daß, wo auch immer er anfängt zu zählen, er eine
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unendliche Reihe hinter sich läßt und mit ihr die Aufgabe, die er lösen
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soll. Er kehre nur seine eigne unendliche Reihe 1 + 2 + 3 + 4 ... um und versuche,
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vom unendlichen Ende wieder nach Eins zu zählen; es ist augenscheinlich der
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Versuch eines Menschen, der gar nicht sieht, worum es sich handelt. Noch mehr.
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Wenn Herr Dühring behauptet, die unendliche Reihe der verflossenen Zeit sei
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abgezählt, so behauptet er damit, daß die Zeit einen Anfang hat; denn
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sonst könnte er ja gar nicht anfangen »abzuzählen«. Er schiebt also
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wieder als Voraussetzung unter, was er beweisen soll. Die Vorstellung der abgezählten
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unendlichen Reihe, mit andern Worten, das weltumspannende Dühringsche Gesetz
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der bestimmten Anzahl, ist also eine contradictio in adjecto, enthält einen
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Widerspruch in sich selbst, und zwar einen <I>absurden</I> Widerspruch.</P>
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<P>Es ist klar: die Unendlichkeit, die ein Ende hat, aber keinen Anfang, ist nicht
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mehr und nicht weniger unendlich, als die, die einen Anfang hat, aber kein Ende.
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Die geringste dialektische Einsicht hätte Herrn Dühring sagen müssen,
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daß Anfang und Ende notwendig zusammengehören, wie Nordpol und Südpol,
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und daß, wenn man das Ende wegläßt, der Anfang eben das Ende
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wird - das <I>eine</I> Ende, das die Reihe hat, und umgekehrt. Die ganze Täuschung
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wäre unmöglich ohne die mathematische Gewohnheit, mit unendlichen Reihen
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zu operieren. Weil man in der Mathematik vom Bestimmten, Endlichen ausgehn muß,
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um zum Unbestimmten, Endlosen zu kommen, so müssen alle mathematischen Reihen,
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positive oder negative, mit Eins anfangen, sonst kann man nicht damit rechnen.
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Das ideelle Bedürfnis des Mathematikers ist aber weit davon entfernt, ein
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Zwangsgesetz für die reale Welt zu sein.</P>
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<P>Übrigens wird Herr Dühring es nie fertigbringen, sich die wirkliche
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<A NAME="S48"></A><B>|48|</B> Unendlichkeit widerspruchslos zu denken. Die Unendlichkeit
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<I>ist</I> ein Widerspruch und voll von Widersprüchen. Es ist schon ein Widerspruch,
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daß eine Unendlichkeit aus lauter Endlichkeiten zusammengesetzt sein soll,
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und doch ist dies der Fall. Die Begrenztheit der materiellen Welt führt nicht
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weniger zu Widersprüchen als ihre Unbegrenztheit, und jeder Versuch, diese
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Widersprüche zu beseitigen, führt, wie wir gesehn haben, zu neuen und
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schlimmeren Widersprüchen. Eben <I>weil</I> die Unendlichkeit ein Widerspruch
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ist, ist sie unendlicher, in Zeit und Raum ohne Ende sich abwickelnder Prozeß.
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Die Aufhebung des Widerspruchs wäre das Ende der Unendlichkeit. Das hatte
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Hegel schon ganz richtig eingesehn und behandelt daher auch die über diesen
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Widerspruch spintisierenden Herren mit verdienter Verachtung.</P>
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<P>Gehn wir weiter. Also, die Zeit hat einen Anfang gehabt. Was war vor diesem
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Anfang? die in einem sich selbst gleichen, unveränderlichen Zustand befindliche
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Welt. Und da in diesem Zustand keine Veränderungen aufeinanderfolgen, so
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verwandelt sich auch der speziellere Zeitbegriff in die allgemeinere Idee des
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<I>Seins</I>. Erstens geht es uns hier gar nichts an, welche Begriffe sich im
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Kopf des Herrn Dühring verwandeln. Es handelt sich nicht um den <I>Zeitbegriff</I>,
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sondern um die <I>wirkliche</I> Zeit, die Herr Dühring so wohlfeilen Kaufs
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keineswegs los wird. Zweitens mag sich der Zeitbegriff noch so sehr in die allgemeinere
|
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Idee des Seins verwandeln, so kommen wir damit keinen Schritt weiter. Denn die
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Grundformen alles Seins sind Raum und Zeit, und ein Sein außer der Zeit
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ist ein ebenso großer Unsinn, wie ein Sein außerhalb des Raums. Das
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Hegelsche »zeitlos vergangne Sein« und das neuschellingsche »unvordenkliche Sein«
|
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sind rationelle Vorstellungen verglichen mit diesem Sein außer der Zeit.
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Darum geht Herr Dühring auch sehr behutsam zu Werke: eigentlich ist es wohl
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eine Zeit, aber eine solche, die man im Grunde keine Zeit nennen kann: die Zeit
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besteht ja nicht an sich selbst aus realen Teilen und wird bloß von unserm
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Verstand nach Belieben eingeteilt - nur eine wirkliche Erfüllung der Zeit
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mit unterscheidbaren Tatsachen gehört dem Zählbaren an - was die Häufung
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einer leeren Dauer bedeuten soll, ist gar nicht erfindlich. Was diese Häufung
|
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bedeuten soll, ist hier ganz gleichgültig; es fragt sich, ob die Welt, in
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dem hier vorausgesetzten Zustand, dauert, eine Zeitdauer durchmacht? daß
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nichts dabei herauskommt, eine solche inhaltslose Dauer zu messen, ebensowenig
|
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wie dabei, in den leeren Raum zwecklos und ziellos hinauszumessen, das wissen
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wir längst, und Hegel nennt ja auch, gerade wegen der Langweiligkeit dieses
|
|
Verfahrens, diese Unendlichkeit die <I>schlechte</I>. Nach Herrn Dühring
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existiert die Zeit nur durch die Veränderung, nicht die Veränderung
|
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<A NAME="S49"></A><B>|49|</B> in und durch die Zeit. Eben weil die Zeit von der
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Veränderung verschieden, unabhängig ist, kann man sie durch die Veränderung
|
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messen, denn zum Messen gehört immer ein von dem zu messenden Verschiednes.
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|
Und die Zeit, in der keine erkennbaren Veränderungen vorgehn, ist weit entfernt
|
|
davon, <I>keine</I> Zeit zu sein; sie ist vielmehr die <I>reine</I>, von keinen
|
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fremden Beimischungen affizierte, also die wahre Zeit, die Zeit <I>als solche</I>.
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|
In der Tat, wenn wir den Zeitbegriff in seiner ganzen Reinheit, abgetrennt von
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allen fremden und ungehörigen Beimischungen erfassen wollen, so sind wir
|
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genötigt, alle die verschiednen Ereignisse, die neben- und nacheinander in
|
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der Zeit vor sich gehn, als nicht hierhergehörig beiseite zu setzen und uns
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somit eine Zeit vorzustellen, in der nichts passiert. Wir haben damit also nicht
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den Zeitbegriff in der allgemeinen Idee des Seins untergehn lassen, sondern wir
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|
sind damit erst beim reinen Zeitbegriff angekommen.</P>
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<P>Alle diese Widersprüche und Unmöglichkeiten sind aber noch pures
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Kinderspiel gegen die Verwirrung, in die Herr Dühring mit seinem sich selbst
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gleichen Anfangszustand der Welt gerät. War die Welt einmal in einem Zustand,
|
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in dem absolut keine Veränderung in ihr vorging, wie konnte sie aus diesem
|
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Zustand zur Veränderung übergehn? Das absolut Veränderungslose,
|
|
noch dazu, wenn es von Ewigkeit in diesem Zustand war, kann durch sich selbst
|
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unmöglich aus diesem Zustand herauskommen, in den der Bewegung und Veränderung
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übergehn. Es muß also von außen her, von außerhalb der
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Welt, ein erster Anstoß gekommen sein, der sie in Bewegung setzte. Der »erste
|
|
Anstoß« ist aber bekanntlich nur ein andrer Ausdruck für Gott. Der
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Gott und das Jenseits, die Herr Dühring in seiner Weltschematik so schön
|
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abgetakelt zu haben vorgab, er bringt sie beide hier, verschärft und vertieft,
|
|
selbst wieder in die Naturphilosophie.</P>
|
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<P>Ferner. Herr Dühring sagt:</P>
|
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<P><SMALL>»Wo die Größe einem beharrlichen Element des Seins zukommt,
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|
wird sie in ihrer Bestimmtheit unverändert bleiben. Dies gilt ... von der
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Materie und der mechanischen Kraft.«</SMALL></P>
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<P>Der erste Satz gibt, beiläufig gesagt, ein kostbares Beispiel von der
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axiomatisch-tautologischen Grandiloquenz des Herrn Dühring: Wo die Größe
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sich nicht verändert, da bleibt sie dieselbe. Also die Menge der mechanischen
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Kraft, die einmal in der Welt ist, bleibt ewig dieselbe. Wir sehn davon ab, daß,
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soweit dies richtig, in der Philosophie Descartes dies schon vor beinahe dreihundert
|
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Jahren gewußt und gesagt hat, und daß in der Naturwissenschaft die
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|
Lehre von der Erhaltung der Kraft seit zwanzig Jahren allgemein grassiert; daß
|
|
Herr Dühring, indem er sie auf die <I>mechanische </I><A NAME="S50"></A><B>|50|</B>
|
|
Kraft beschränkt, sie keineswegs verbessert. Wo aber war die mechanische
|
|
Kraft zur Zeit des veränderungslosen Zustands ? Auf diese Frage verweigert
|
|
uns Herr Dühring hartnäckig jede Antwort.</P>
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|
<P>Wo, Herr Dühring, war damals die sich ewig gleichbleibende mechanische
|
|
Kraft, und was trieb sie? Antwort:</P>
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<P><SMALL>»Der Ursprungszustand des Universums, oder deutlicher bezeichnet, eines
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veränderungslosen, keine zeitliche Häufung von Veränderungen einschließenden
|
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Seins der Materie, ist eine Frage, die nur derjenige Verstand abweisen kann, der
|
|
in der Selbstverstümmlung seiner Zeugungskraft den Gipfel der Weisheit sieht.«</SMALL></P>
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<P>Also: Entweder ihr nehmt meinen veränderungslosen Urzustand unbesehn hin
|
|
oder ich, der zeugungsfähige Eugen Dühring, erkläre euch für
|
|
geistige Eunuchen. Das mag allerdings manchen abschrecken. Wir, die wir von der
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|
Zeugungskraft des Herrn Dühring schon einige Beispiele gesehn haben, können
|
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uns erlauben, das elegante Schimpfwort vorderhand unerwidert zu lassen und nochmals
|
|
zu fragen: Aber, Herr Dühring, wenn's gefällig ist, wie ist das mit
|
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der mechanischen Kraft?</P>
|
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<P>Herr Dühring wird sofort verlegen.</P>
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|
<P><SMALL>In der Tat, stammelt er, »die absolute Identität jenes anfänglichen
|
|
Grenzzustandes liefert an sich selbst kein Übergangsprinzip. Erinnern wir
|
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uns jedoch, daß es mit jedem kleinsten neuen Gliede in der uns wohlbekannten
|
|
Daseinskette im Grunde eine gleiche Bewandtnis hat. Wer also in dem vorliegenden
|
|
Hauptfall Schwierigkeiten erheben will, mag zusehn, daß er sie sich nicht
|
|
bei weniger scheinbaren Gelegenheiten erlasse. Überdies steht die Einschaltungsmöglichkeit
|
|
von allmählich graduierten Zwischenzuständen, und mithin die Brücke
|
|
der Stetigkeit offen, um rückwärts bis zu dem Erlöschen des Wechselspiels
|
|
zu gelangen. Rein begrifflich hilft freilich diese Stetigkeit nicht über
|
|
den Hauptgedanken hinweg, aber sie ist uns die Grundform aller Gesetzmäßigkeit
|
|
und jedes sonst bekannten Übergangs, so daß wir ein Recht haben, sie
|
|
auch als Vermittlung zwischen jenem ersten Gleichgewicht und dessen Störung
|
|
zu gebrauchen. Dächten wir uns nun aber das sozusagen (!) regungslose Gleichgewicht
|
|
nach Maßgabe der Begriffe, die in unsrer heutigen Mechanik ohne sonderliche
|
|
Anstandnahme (!) zugelassen werden, so ließe sich gar nicht angeben, wie
|
|
die Materie zu dem Veränderungsspiel gelangt sein könnte.« Außer
|
|
der Mechanik der Massen gebe es aber auch noch eine Verwandlung von Massenbewegung
|
|
in Bewegung kleinster Teilchen, aber wie diese erfolge, »dafür haben wir
|
|
bis jetzt kein allgemeines Prinzip zur Verfügung, und wir dürfen uns
|
|
daher nicht wundern, wenn diese Vorgänge ein wenig <I>ins Dunkle</I> auslaufen«.</SMALL></P>
|
|
<P>Das ist alles, was Herr Dühring zu sagen hat. Und in der Tat, wir müßten
|
|
nicht nur in der Selbstverstümmelung der Zeugungskraft, sondern auch im blinden
|
|
Köhlerglauben den Gipfel der Weisheit sehn, wollten wir uns mit diesen wahrhaft
|
|
jammervollen faulen Ausflüchten und Redensarten <A NAME="S51"></A><B>|51|</B>
|
|
abspeisen lassen. Aus sich selbst, das gesteht Herr Dühring ein, kann die
|
|
absolute Identität nicht zur Veränderung kommen. Aus sich selbst gibt
|
|
es kein Mittel, wodurch das absolute Gleichgewicht in Bewegung überzugehn
|
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vermag. Was gibt's denn? Drei falsche faule Wendungen.</P>
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<P>Erstens: Es sei ebenso schwer, von jedem kleinsten Gliede in der uns wohlbekannten
|
|
Daseinskette zum nächsten den Übergang nachzuweisen. - Herr Dühring
|
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scheint seine Leser für Säuglinge zu halten. Der Nachweis der einzelnen
|
|
Übergänge und Zusammenhänge der kleinsten Glieder in der Daseinskelte
|
|
macht eben den Inhalt der Naturwissenschaft aus, und wenn es dabei irgendwo hapert,
|
|
so denkt niemand, selbst nicht Herr Dühring, daran, die vorgegangne Bewegung
|
|
aus Nichts zu erklären, sondern stets nur aus der Übertragung, Verwandlung
|
|
oder Fortpflanzung einer vorgängigen Bewegung. Hier aber handelt es sich
|
|
eingestandnermaßen darum, die Bewegung aus der Bewegungslosigkeit, also
|
|
aus <I>Nichts</I> entstehn zu lassen.</P>
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|
<P>Zweitens haben wir die »Brücke der Stetigkeit«. Diese hilft uns freilich
|
|
rein begrifflich nicht über die Schwierigkeiten hinweg, aber wir haben doch
|
|
ein Recht, sie als Vermittlung zwischen der Bewegungslosigkeit und der Bewegung
|
|
<I>zu gebrauchen</I>. Leider besteht die Stetigkeit der Bewegungslosigkeit dann,
|
|
sich <I>nicht</I> zu bewegen; wie also damit Bewegung zu erzeugen ist, bleibt
|
|
geheimnisvoller als je. Und wenn Herr Dühring seinen Übergang vom Nichts
|
|
der Bewegung zur universellen Bewegung noch so sehr in unendlich kleine Teilchen
|
|
zerlegt und ihm eine noch so lange Zeitdauer zuschreibt, so sind wir noch keinen
|
|
Zehntausendstel Millimeter weiter vom Fleck. Von Nichts können wir nun einmal
|
|
ohne Schöpfungsakt nicht zu Etwas kommen, und wäre das Etwas so klein
|
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wie ein mathematisches Differential. Die Brücke der Stetigkeit ist also nicht
|
|
einmal eine Eselsbrücke, sie ist nur für Herrn Dühring passierbar.</P>
|
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<P>Drittens. Solange die heutige Mechanik gilt, und diese ist nach Herrn Dühring
|
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einer der wesentlichsten Hebel zur Bildung des Denkens, läßt sich gar
|
|
nicht angeben, wie man von der Bewegungslosigkeit zur Bewegung kommt. Aber die
|
|
mechanische Wärmetheorie zeigt uns, daß Massenbewegung unter Umständen
|
|
in Molekularbewegung umschlägt (obwohl auch hier Bewegung aus andrer Bewegung
|
|
hervorgeht, nie aber aus Bewegungslosigkeit), und dies, deutet Herr Dühring
|
|
schüchtern an, könnte möglicherweise eine Brücke bieten zwischen
|
|
dem streng Statischen (Gleichgewichtlichen) und Dynamischen (sich Bewegenden).
|
|
Aber diese Vorgänge laufen »ein wenig ins Dunkle aus«. Und im Dunklen ist
|
|
es, wo Herr Dühring uns sitzen läßt.</P>
|
|
<P><B><A NAME="S52">|52|</A></B> Dahin sind wir gekommen mit aller Vertiefung
|
|
und Verschärfung, daß wir uns stets tiefer in stets verschärften
|
|
Blödsinn vertieft haben und endlich anlanden, wo wir notwendig anlanden müssen
|
|
- im »Dunkeln«. Das aber geniert Herrn Dühring wenig. Gleich auf der nächsten
|
|
Seite hat er die Stirn zu behaupten, er habe</P>
|
|
<P><SMALL>»den Begriff der sich selbst gleichen Beharrung unmittelbar aus dem
|
|
Verhalten der Materie <I>und der mechanischen Kräfte</I> mit einem realen
|
|
Inhalt ausstatten können«.</SMALL></P>
|
|
<P>Und dieser Mann bezeichnet andere Leute als »Scharlatans«! </P>
|
|
<P>Zum Glück bleibt uns bei all dieser hülflosen Verirrung und Verwirrung
|
|
»im Dunkeln« noch ein Trost, und der ist allerdings herzerhebend:</P>
|
|
<P><SMALL>»die Mathematik der Bewohner andrer Weltkörper kann auf keinen
|
|
andern Axiomen beruhen, als die unsrige!«</SMALL></P>
|
|
<H3 ALIGN="CENTER"><A NAME="Kap_VI">VI. Naturphilosophie. Kosmogonie, Physik,
|
|
Chemie</A></H3>
|
|
<P>Im weitern Verlauf kommen wir nun auf die Theorien von der Art und Weise, wie
|
|
die jetzige Welt zustande gekommen ist.</P>
|
|
<P><SMALL>Einuniverseller Zerstreuungszustand der Materie sei schon die Ausgangsvorstellung
|
|
der ionischen Philosophen gewesen, seit Kant aber besonders habe die Annahme eines
|
|
Urnebels eine neue Rolle gespielt, wobei Gravitation und Wärmeausstrahlung
|
|
die allmähliche Bildung der einzelnen festen Weltkörper vermittelten.
|
|
Die mechanische Wärmetheorie unsrer Zeit gestatte, die Rückschlüsse
|
|
auf die frühern Zustände des Universums weit bestimmter zu gestalten.
|
|
Bei alledem kann »der gasförmige Zerstreuungszustand nur dann ein Ausgangspunkt
|
|
für ernsthafte Ableitungen sein, wenn man das in ihm gegebne mechanische
|
|
System zuvor bestimmter zu kennzeichnen vermag. Andernfalls bleibt nicht nur die
|
|
Idee in der Tat äußerst nebelhaft, sondern der ursprüngliche Nebel
|
|
wird auch wirklich im Fortschritt der Ableitungen immer dichter und undurchdringlicher;
|
|
... vorläufig bleibt noch alles im Vagen und Formlosen einer nicht näher
|
|
bestimmbaren Diffusionsidee«, und so haben wir »mit diesem Gasuniversum nur eine
|
|
höchst luftige Konzeption«.</SMALL></P>
|
|
<P>die Kantische Theorie von der Entstehung aller jetzigen Weltkörper aus
|
|
rotierenden Nebelmassen war der größte Fortschritt, den die Astronomie
|
|
seit Kopernikus gemacht hatte. Zum ersten Male wurde an der Vorstellung gerüttelt,
|
|
als habe die Natur keine Geschichte in der Zeit. Bis dahin galten die Weltkörper
|
|
als von Anfang an in stets gleichen Bahnen und Zuständen verharrend; und
|
|
wenn auch auf den einzelnen Weltkörpern die organischen Einzelwesen abstarben,
|
|
so galten doch die Gattungen und Arten <A NAME="S53"></A><B>|53|</B> für
|
|
unveränderlich. Die Natur war zwar augenscheinlich in steter Bewegung begriffen,
|
|
aber diese Bewegung erschien als die unaufhörliche Wiederholung derselben
|
|
Vorgänge. In diese, ganz der metaphysischen Denkweise entsprechende Vorstellung
|
|
legte Kant die erste Bresche, und zwar in so wissenschaftlicher Weise, daß
|
|
die meisten von ihm gebrauchten Beweisgründe auch heute noch Geltung haben.
|
|
Allerdings ist die Kantsche Theorie bis jetzt noch, streng genommen, eine Hypothese.
|
|
Aber mehr ist auch das Kopernikanische Weltsystem bis auf den heutigen Tag nicht,
|
|
und nach der spektroskopischen, allen Widerspruch zu Boden schlagenden Nachweisung
|
|
solcher glühenden Gasmassen am Sternenhimmel hat die wissenschaftliche Opposition
|
|
gegen Kants Theorie geschwiegen. Auch Herr Dühring kann seine Weltkonstruktion
|
|
nicht ohne ein solches Nebelstadium fertigbringen, rächt sich aber dafür,
|
|
indem er verlangt, man soll ihm das in diesem Nebelzustand gegebne mechanische
|
|
System zeigen, und indem er, weil man dies nicht kann, den Nebelzustand mit allerhand
|
|
geringschätzigen Beiwörtern belegt. Die heutige Wissenschaft kann dies
|
|
System leider nicht zur Zufriedenheit des Herrn Dühring kennzeichnen. Ebensowenig
|
|
vermag sie auf viele andre Fragen zu antworten. Auf die Frage: warum haben die
|
|
Kröten keine Schwänze? kann sie bis jetzt nur antworten: weil sie sie
|
|
verloren haben. Wenn man nun aber sich ereifern wollte und sagen, das sei ja alles
|
|
im Vagen und Formlosen einer nicht näher bestimmbaren Verlustidee und eine
|
|
höchst luftige Konzeption, so kämen wir mit dergleichen Anwendungen
|
|
der Moral auf die Naturwissenschaft keinen Schritt weiter. Dergleichen Mißliebigkeiten
|
|
und Äußerungen der Verdrießlichkeit kann man immer und überall
|
|
anbringen, und eben deswegen sind sie nie und nirgends angebracht. Wer hindert
|
|
denn Herrn Dühring, selbst das mechanische System des Urnebels auszufinden?</P>
|
|
<P>Zum Glück erfahren wir jetzt, daß die Kantsche Nebelmasse</P>
|
|
<P><SMALL>»weit davon entfernt ist, sich mit einem völlig identischen zustande
|
|
des Weltmediums oder, anders ausgedrückt, mit dem sich selbst gleichen Zustand
|
|
der Materie zu decken«.</SMALL></P>
|
|
<P>Ein wahres Glück für Kant, der zufrieden sein konnte, von den bestehenden
|
|
Weltkörpern zum Nebelball zurückgehn zu können, und der sich noch
|
|
nichts träumen ließ von dem sich selbst gleichen Zustand der Materie!
|
|
Beiläufig bemerkt, wenn in der heutigen Naturwissenschaft der Kantsche Nebelball
|
|
als Urnebel bezeichnet wird, so ist dies selbstredend nur beziehungsweise zu verstehn,
|
|
Urnebel ist er, einerseits, als Ursprung der bestehenden Weltkörper und andrerseits
|
|
als die frühste Form der Materie, auf die wir bis jetzt zurückgehn können.
|
|
Was durchaus nicht ausschließt, sondern viel- <A NAME="S54"></A><B>|54|</B>
|
|
mehr bedingt, daß die Materie vor dem Urnebel eine unendliche Reihe andrer
|
|
Formen durchgemacht habe.</P>
|
|
<P>Herr Dühring merkt seinen Vorteil hier. Wo wir, mit der Wissenschaft,
|
|
beim einstweiligen Urnebel einstweilen stehnbleiben, hilft ihm seine Wissenschaftswissenschaft
|
|
viel weiter zurück zu jenem</P>
|
|
<P><SMALL>»Zustand des Weltmediums, der sich weder als rein statisch im heutigen
|
|
Sinne der Vorstellung, noch als dynamisch«</SMALL></P>
|
|
<P>- der sich also überhaupt nicht -</P>
|
|
<P><SMALL>»begreifen läßt. Die Einheit von Materie und mechanischer
|
|
Kraft, die wir als Weltmedium bezeichnen, ist eine sozusagen logisch-reale Formel,
|
|
um den sich selbst gleichen Zustand der Materie als die Voraussetzung aller zählbaren
|
|
Entwicklungsstadien anzuzeigen.«</SMALL></P>
|
|
<P>Wir sind offenbar den sich selbst gleichen Urzustand der Materie noch lange
|
|
nicht los. Hier wird er bezeichnet als Einheit von Materie und mechanischer Kraft,
|
|
und dies als eine logisch-reale Formel usw. Sobald also die Einheit von Materie
|
|
und mechanischer Kraft aufhört, fängt die Bewegung an.</P>
|
|
<P>Die logisch-reale Formel ist nichts als ein lahmer Versuch, die Hegelschen
|
|
Kategorien des Ansich und Fürsich für die Wirklichkeitsphilosophie nutzbar
|
|
zu machen. Im Ansich besteht bei Hegel die ursprüngliche Identität der
|
|
in einem Ding, einem Vorgang, einem Begriff verborgenen unentwickelten Gegensätze;
|
|
im Fürsich tritt die Unterscheidung und Trennung dieser verborgenen Elemente
|
|
ein und ihr Widerstreit beginnt. Wir sollen uns also den regungslosen Urzustand
|
|
vorstellen als Einheit von Materie und mechanischer Kraft, und den Übergang
|
|
zur Bewegung als Trennung und Entgegensetzung beider. Was wir damit gewonnen haben,
|
|
ist nicht der Nachweis der Realität jenes phantastischen Urzustands, sondern
|
|
nur dies, daß man ihn unter die Hegelsche Kategorie des Ansich fassen kann,
|
|
und sein ebenso phantastisches Aufhören unter die des Fürsich. Hegel
|
|
hilf!</P>
|
|
<P>die Materie, sagt Herr Dühring, ist der Träger alles Wirklichen;
|
|
wonach es keine mechanische Kraft außer der Materie geben kann. Die mechanische
|
|
Kraft ist ferner ein Zustand der Materie. Im Urzustand nun, wo nichts passierte,
|
|
war die Materie und ihr Zustand, die mechanische Kraft, Eins. Nachher, als etwas
|
|
vorzugehn anfing, muß sich also wohl der Zustand von der Materie unterschieden
|
|
haben. Also mit solchen mystischen Phrasen und mit der Versicherung, daß
|
|
der sich selbst gleiche Zustand weder statisch noch dynamisch, weder im Gleichgewicht
|
|
noch in der Bewegung war, sollen wir uns abspeisen lassen. Wir wissen noch immer
|
|
nicht, wo die <A NAME="S55"></A><B>|55|</B> mechanische Kraft in jenem Zustand
|
|
war, und wie wir ohne Anstoß von außen, d.h. ohne Gott, von der absoluten
|
|
Bewegungslosigkeit zur Bewegung kommen sollen.</P>
|
|
<P>Vor Herrn Dühring sprachen die Materialisten von Materie und Bewegung.
|
|
Er reduziert die Bewegung auf die mechanische Kraft als ihre angebliche Grundform
|
|
und macht es sich damit unmöglich, den wirklichen Zusammenhang zwischen Materie
|
|
und Bewegung zu verstehn, der übrigens auch allen frühern Materialisten
|
|
unklar war. Und doch ist die Sache einfach genug. <I>Die Bewegung ist die Daseinsweise
|
|
der Materie.</I> Nie und nirgends hat es Materie ohne Bewegung gegeben oder kann
|
|
es sie geben. Bewegung im Weltraum, mechanische Bewegung kleinerer Massen auf
|
|
den einzelnen Weltkörpern, Molekularschwingung als Wärme oder als elektrische
|
|
oder magnetische Strömung, chemische Zersetzung und Verbindung. organisches
|
|
Leben - in einer oder der andern dieser Bewegungsformen oder in mehreren zugleich
|
|
befindet sich jedes einzelne Stoffatom der Welt in jedem gegebnen Augenblick.
|
|
Alle Ruhe, alles Gleichgewicht ist nur relativ, hat nur Sinn in Beziehung auf
|
|
diese oder jene bestimmte Bewegungsform. Ein Körper kann z.B. auf der Erde
|
|
im mechanischen Gleichgewicht, mechanisch in Ruhe sich befinden; dies hindert
|
|
durchaus nicht, daß er an der Bewegung der Erde wie an der des ganzen Sonnensystems
|
|
teilnimmt, ebensowenig wie es seine kleinsten physikalischen Teilchen verhindert,
|
|
die durch seine Temperatur bedingten Schwingungen zu vollziehn, oder seine Stoffatome,
|
|
einen chemischen Prozeß durchzumachen. Materie ohne Bewegung ist ebenso
|
|
undenkbar wie Bewegung ohne Materie. Die Bewegung ist daher ebenso unerschaffbar
|
|
und unzerstörbar wie die Materie selbst; was die ältere Philosophie
|
|
(Descartes) so ausdrückt, daß die Quantität der in der Welt vorhandnen
|
|
Bewegung stets dieselbe sei. Bewegung kann also nicht erzeugt, sie kann nur übertragen
|
|
werden. Wenn Bewegung von einem Körper auf einen andern übertragen wird,
|
|
so kann man sie, soweit sie sich überträgt, aktiv ist, ansehn als die
|
|
Ursache der Bewegung, soweit diese übertragen wird, passiv ist. Diese aktive
|
|
Bewegung nennen wir <I>Kraft,</I> die passive <I>Kraftäußerung</I>.
|
|
Es ist hiernach sonnenklar, daß die Kraft ebenso groß ist wie ihre
|
|
Äußerung, weil es in beiden ja <I>dieselbe</I> Bewegung ist, die sich
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vollzieht.</P>
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<P>Ein bewegungsloser Zustand der Materie erweist sich hiernach als eine der hohlsten
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und abgeschmacktesten Vorstellungen, als eine reine »Fieberphantasie«. Um dahin
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zu kommen, muß man das relativ mechanische Gleichgewicht, worin sich ein
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Körper auf dieser Erde befinden kann, sich als absolute Ruhe vorstellen und
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dann es auf das gesamte Weltall übertragen. <A NAME="S56"></A><B>|56|</B>
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Das wird allerdings erleichtert, wenn man die universelle Bewegung auf die bloße
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mechanische Kraft reduziert. Und dann bietet die Beschränkung der Bewegung
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auf bloße mechanische Kraft noch den Vorteil, daß man sich eine Kraft
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als ruhend, als gebunden, also augenblicklich unwirksam vorstellen kann. Wenn
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nämlich die Übertragung einer Bewegung, was sehr oft vorkommt, ein einigermaßen
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verwickelter Vorgang ist, zu dem verschiedne Mittelglieder gehören, so kann
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man die wirkliche Übertragung auf einen beliebigen Augenblick verschieben,
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indem man das letzte Glied in der Kette ausläßt. So z.B., wenn man
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eine Flinte ladet und sich den Augenblick vorbehält, wann durch Abziehen
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des Drückers die Entladung, die Übertragung der durch Verbrennung des
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Pulvers freigesetzten Bewegung sich vollziehn soll. Man kann sich also vorstellen,
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während des bewegungslosen, sich selbst gleichen Zustandes sei die Materie
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mit Kraft geladen gewesen, und dies scheint Herr Dühring, wenn überhaupt
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etwas, unter Einheit von Materie und mechanischer Kraft zu verstehn. Diese Vorstellung
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ist widersinnig, weil sie auf das Weltall einen Zustand als absolut überträgt,
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der seiner Natur nach relativ ist, und dem also immer nur <I>ein Teil</I> der
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Materie gleichzeitig unterworfen sein kann. Sehn wir jedoch selbst hiervon ab,
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so bleibt immer noch die Schwierigkeit, erstens, wie die Welt dazu kam, geladen
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zu werden, da sich heutzutage die Flinten nicht von selbst laden, und zweitens,
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wessen Finger dann den Drücker abgezogen hat? Wir mögen uns drehn und
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wenden, wie wir wollen, unter Herrn Dührings Leitung kommen wir immer wieder
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auf - Gottes Finger.</P>
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<P>Von der Astronomie geht unser Wirklichkeitsphilosoph auf die Mechanik und Physik
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über und beklagt sich, daß die mechanische Wärmetheorie in einem
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Menschenalter seit ihrer Entdeckung nicht wesentlich weiter gefördert worden
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sei, als wozu Robert Mayer sie selbst nach und nach gebracht. Außerdem sei
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die ganze Sache noch sehr dunkel;</P>
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<P><SMALL>wir müssen »immer wieder erinnern, daß mit den Bewegungszuständen
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der Materie auch statische Verhältnisse gegeben sind, und daß diese
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letztern an der mechanischen Arbeit kein Maß haben ... wenn wir früher
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die Natur als eine große Arbeiterin bezeichnet haben und diesen Ausdruck
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jetzt streng nehmen, so müssen wir noch hinzufügen, daß die sich
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selbst gleichen Zustände und ruhenden Verhältnisse keine mechanische
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Arbeit repräsentieren. Wir vermissen also wiederum die Brücke vom Statischen
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zum Dynamischen, und wenn die sogenannte latente Wärme bis jetzt für
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die Theorie ein Anstoß geblieben ist, so müssen wir auch hier einen
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Mangel anerkennen, der sich am wenigsten in den kosmischen Anwendungen verleugnen
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sollte.«</SMALL></P>
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<P>Dies ganze orakelhafte Gerede ist wieder nichts als der Ausfluß des bösen
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Gewissens, das sehr wohl fühlt, daß es sich mit seiner Erzeugung der
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<A NAME="S57"></A><B>|57|</B> Bewegung aus der absoluten Bewegungslosigkeit unrettbar
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festgeritten hat und sich doch schämt, an den einzigen Retter zu appellieren,
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nämlich an den Schöpfer Himmels und der Erden. Wenn sogar in der Mechanik,
|
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die der Wärme eingeschlossen, die Brücke vom Statischen zum Dynamischen,
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vom Gleichgewicht zur Bewegung, nicht gefunden werden kann, wie sollte dann Herr
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Dühring verpflichtet sein, die Brücke von seinem bewegungslosen Zustand
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zur Bewegung zu finden? Und damit wäre er dann glücklich aus der Not.</P>
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<P>In der gewöhnlichen Mechanik ist die Brücke vom Statischen zum Dynamischen
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- der Anstoß von außen. Wenn ein Stein vom Gewicht eines Zentners
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zehn Meter hochgehoben und frei aufgehängt wird, so daß er in einem
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sich selbst gleichen Zustand und ruhenden Verhältnis dort hängenbleibt,
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so muß man an ein Publikum von Säuglingen appellieren, um behaupten
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zu können, daß die jetzige Lage dieses Körpers keine mechanische
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Arbeit repräsentiere oder ihr Abstand von seiner frühern Lage an der
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mechanischen Arbeit kein Maß habe. Jeder Vorübergehende wird Herrn
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Dühring ohne Mühe begreiflich machen, daß der Stein nicht von
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selbst da oben an den Strick gekommen ist, und das erste beste Handbuch der Mechanik
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kann ihm sagen, daß, wenn er den Stein wieder fallenläßt, dieser
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im Fallen ebensoviel mechanisches Werk leistet als nötig war, ihn die zehn
|
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Meter hochzuheben. Selbst die einfachste Tatsache, daß der Stein da oben
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hängt, repräsentiert mechanisches Werk, denn wenn er lange genug hängenbleibt,
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reißt der Strick, sobald er infolge chemischer Zersetzung nicht mehr stark
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genug ist, den Stein zu tragen. Auf solche einfache Grundgestalten, um mit Herrn
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|
Dühring zu reden, lassen sich aber alle mechanischen Vorgänge reduzieren,
|
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und der Ingenieur soll noch geboren werden, der die Brücke vom Statischen
|
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zum Dynamischen nicht finden kann, solange er über hinreichenden Anstoß
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|
verfügt.</P>
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<P>Allerdings ist es eine harte Nuß und bittre Pille für unsern Metaphysiker,
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daß die Bewegung ihr Maß finden soll in ihrem Gegenteil, in der Ruhe.
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Das ist ja ein schreiender Widerspruch, und jeder Wider<I>spruch</I> ist, nach
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Herrn Dühring, ein Wider<I>sinn</I>. Nichtsdestoweniger ist es eine Tatsache,
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daß der hängende Stein eine bestimmte, durch sein Gewicht und seine
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Entfernung vom Erdboden genau meßbare, in verschiedner Art - z.B. durch
|
|
direkten Fall, durch Herabgleiten auf der schiefen Ebene, durch Umdrehung einer
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Welle - beliebig verwendbare Menge von mechanischer Bewegung vertritt, und eine
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geladne Flinte ebenfalls. Für die dialektische Auffassung bietet die Ausdrückbarkeit
|
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von Bewegung in ihrem Gegenteil, in Ruhe, durchaus keine Schwierigkeit. Für
|
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sie ist der ganze Gegensatz, wie <A NAME="S58"></A><B>|58|</B> wir gesehn haben,
|
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nur relativ; absolute Ruhe, unbedingtes Gleichgewicht gibt es nicht. Die einzelne
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Bewegung strebt dem Gleichgewicht zu, die Gesamtbewegung hebt das Gleichgewicht
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wieder auf. So sind Ruhe und Gleichgewicht, wo sie vorkommen, das Resultat einer
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beschränkten Bewegung, und es ist selbstredend, daß diese Bewegung
|
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an ihrem Resultat meßbar, in ihm ausdrückbar, und aus ihm in einer
|
|
oder der andern Form wieder herstellbar ist. Mit einer so einfachen Darstellung
|
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der Sache darf aber Herr Dühring sich nicht zufriedengeben. Als guter Metaphysiker
|
|
reißt er zwischen Bewegung und Gleichgewicht zuerst eine in der Wirklichkeit
|
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nicht existierende, gähnende Kluft auf, und wundert sich dann, wenn er keine
|
|
Brücke über diese selbstfabrizierte Kluft finden kann. Er könnte
|
|
ebensogut seine metaphysische Rosinante besteigen und dem Kantschen »Ding an sich«
|
|
nachjagen; denn das und nichts andres ist es, was schließlich hinter dieser
|
|
unerfindlichen Brücke steckt.</P>
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<P>Aber wie steht's mit der mechanischen Wärmetheorie und der gebundnen oder
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latenten Wann«, die für diese Theorie »ein Anstoß geblieben« ist?</P>
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<P>Wenn man ein Pfund Eis von der Temperatur des Gefrierpunkts und bei Normalluftdruck
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durch Wärme in ein Pfund Wasser von derselben Temperatur verwandelt, so verschwindet
|
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eine Wärmemenge, die hinreichend wäre, dasselbe Pfund Wasser von 0 bis
|
|
auf 79<SPAN class="top">4</SPAN>/<SPAN class="bottom">10</SPAN> Grad des hundertteiligen Thermometers oder um
|
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79<SPAN class="top">4</SPAN>/<SPAN class="bottom">10</SPAN> Pfund Wasser um einen Grad zu erwärmen. Wenn
|
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man dies Pfund Wasser auf den Siedepunkt, also auf 100° erhitzt und nun in Dampf
|
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von 100° verwandelt, so verschwindet, bis das letzte Wasser in Dampf verwandelt
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ist, eine fast siebenfach größere Wärmemenge, hinreichend, um
|
|
die Temperatur von 537<SPAN class="top">2</SPAN>/<SPAN class="bottom">10</SPAN> Pfund Wasser um einen Grad zu
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|
erhöhen. Diese verschwundne Wärme nennt man <I>gebunden</I>. Verwandelt
|
|
sich durch Abkühlung der Dampf wieder in Wasser und das Wasser wieder in
|
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Eis, so wird dieselbe Menge Wärme, die vorher gebunden wurde, wieder <I>frei</I>,
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|
d.h. als Wärme fühlbar und meßbar. Dies Freiwerden von Wärme
|
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beim Verdichten des Dampfs und beim Gefrieren des Wassers ist die Ursache, daß
|
|
Dampf, wenn er auf 100° abgekühlt, sich erst allmählich in Wasser und
|
|
daß eine Wassermasse von der Temperatur des Gefrierpunkts nur sehr langsam
|
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sich in Eis verwandelt. Dies sind die Tatsachen. Die Frage ist nun: was wird aus
|
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der Wärme, während sie gebunden ist?</P>
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<P>Die mechanische Wärmetheorie, nach der die Wärme in einer nach Temperatur
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und Aggregatzustand größern oder geringern Schwingung der kleinsten
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physikalisch tätigen Teilchen (Moleküle) der Körper besteht, einer
|
|
Schwingung, die unter Umständen in jede andre Form der Bewegung umschlagen
|
|
kann, erklärt die Sache daraus, daß die verschwundne Wärme <A NAME="S59"></A><B>|59|</B>
|
|
Werk verrichtet hat, in Werk umgesetzt worden ist. Beim Schmelzen des Eises ist
|
|
der enge feste Zusammenhang der einzelnen Moleküle unter sich aufgehoben
|
|
und in lose Aneinanderlegung verwandelt; beim Verdampfen des Wassers auf dem Siedepunkt
|
|
ist ein Zustand eingetreten, worin die einzelnen Moleküle gar keinen merklichen
|
|
Einfluß aufeinander ausüben und unter der Einwirkung der Wärme
|
|
sogar in allen Richtungen auseinanderfliegen. Es ist nun klar, daß die einzelnen
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Moleküle eines Körpers im gasförmigen zustande mit einer weit größern
|
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Energie begabt sind als im flüssigen, und im flüssigen wieder mehr als
|
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im festen zustande Die gebundne Wärme ist also nicht verschwunden, sie ist
|
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einfach verwandelt worden und hat die Form der molekularen Spannkraft angenommen.
|
|
Sobald die Bedingung aufhört, unter der die einzelnen Moleküle diese
|
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absolute oder relative Freiheit gegeneinander behaupten können, sobald nämlich
|
|
die Temperatur unter das Minimum von 100°, beziehungsweise 0° herabgeht, wird
|
|
diese Spannkraft losgelassen, die Moleküle drängen sich wieder aneinander
|
|
mit derselben Kraft, mit der sie vorher auseinandergerissen; und diese Kraft verschwindet,
|
|
aber nur, um als Wärme wiederzuerscheinen, und zwar als genau dieselbe Quantität
|
|
Wärme, die vorher gebunden war. Diese Erklärung ist natürlich eine
|
|
Hypothese wie die ganze mechanische Wärmetheorie, insofern niemand bis jetzt
|
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ein Molekül, geschweige ein schwingendes, je gesehn hat. Sie ist eben deswegen
|
|
sicher voller Mängel wie die ganze noch sehr junge Theorie, aber sie kann
|
|
wenigstens den Hergang erklären, ohne irgendwie mit der Unzerstörbarkeit
|
|
und Unerschaffbarkeit der Bewegung in Widerstreit zu kommen, und sie weiß
|
|
sogar genau von dem Verbleib der Wärme innerhalb ihrer Verwandlung Rechenschaft
|
|
zu geben. Die latente oder gebundne Wärme ist also keineswegs ein Anstoß
|
|
für die mechanische Wärmetheorie. Im Gegenteil bringt diese Theorie
|
|
zum erstenmal eine rationelle Erklärung des Vorgangs fertig, und ein Anstoß
|
|
kann höchstens daraus entstehn, daß die Physiker fortfahren, die in
|
|
eine andre Form von Molekularenergie verwandelte Wärme mit dem veralteten
|
|
und unpassend gewordenen Ausdruck »gebunden« zu bezeichnen.</P>
|
|
<P>Also repräsentieren die sich selbst gleichen Zustände und ruhenden
|
|
Verhältnisse des festen, tropfbarflüssigen und gasförmigen Aggregatzustandes
|
|
allerdings mechanisches Werk, insofern das mechanische Werk das Maß der
|
|
Wärme ist. Sowohl die feste Erdkruste wie das Wasser des Ozeans repräsentiert
|
|
in seinem jetzigen Aggregatzustand eine ganz bestimmte Quantität frei gewordner
|
|
Wärme, der selbstredend ein ebenso bestimmtes Quantum mechanischer Kraft
|
|
entspricht. Bei dem Übergang des Gasballs, aus dem die Erde entstanden, in
|
|
den tropfbarflüssigen und später in den großen- <A NAME="S60"></A><B>|60|</B>
|
|
teils festen Aggregatzustand, ist ein bestimmtes Quantum Molekularenergie als
|
|
Wärme in den Weltraum ausgestrahlt worden. Die Schwierigkeit, von der Herr
|
|
Dühring in geheimnisvoller Weise munkelt, existiert also nicht, und selbst
|
|
bei den kosmischen Anwendungen mögen wir zwar auf Mängel und Lücken
|
|
stoßen - die unsern unvollkommnen Erkenntnismitteln geschuldet - aber nirgendswo
|
|
auf theoretisch unüberwindliche Hindernisse. Die Brücke vom Statischen
|
|
zum Dynamischen ist auch hier der Anstoß von außen - Abkühlung
|
|
oder Erwärmung, veranlaßt durch andre Körper, die auf den im Gleichgewicht
|
|
befindlichen Gegenstand einwirken. Je weiter wir in dieser Dühringschen Naturphilosophie
|
|
vordringen, desto unmöglicher erscheinen alle Versuche, die Bewegung aus
|
|
der Bewegungslosigkeit zu erklären oder die Brücke zu finden, auf der
|
|
das rein Statische, Ruhende <I>aus sich selbst</I> zum Dynamischen, zur Bewegung
|
|
kommen kann.</P>
|
|
<P>Hiermit wären wir dann den sich selbst gleichen Urzustand für einige
|
|
Zeit glücklich los. Herr Dühring geht zur Chemie über, und enthüllt
|
|
uns bei dieser Gelegenheit drei bis jetzt durch die Wirklichkeitsphilosophie gewonnene
|
|
Beharrungsgesetze der Natur, wie folgt:</P>
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|
<P><SMALL>1. der Größenbestand der allgemeinen Materie, 2. der der
|
|
einfachen (chemischen) Elemente und 3. der der mechanischen Kraft sind unveränderlich.</SMALL></P>
|
|
<P>Also: die Unerschaffbarkeit und Unzerstörbarkeit der Materie sowie ihrer
|
|
einfachen Bestandteile, soweit sie deren hat, und der Bewegung - diese alten,
|
|
weltbekannten Tatsachen, höchst ungenügend ausgedrückt -, das ist
|
|
das einzig wirklich Positive, das uns Herr Dühring als Resultat seiner Naturphilosophie
|
|
der unorganischen Welt zu bieten imstande ist. Alles Dinge, die wir längst
|
|
gewußt. Aber was wir nicht gewußt haben, ist: daß es »Beharrungsgesetze«
|
|
und als solche »schematische Eigenschaften des Systems der Dinge« sind. Es geht
|
|
uns wieder wie <A HREF="me20_032.htm#S44">oben bei Kant</A>: Herr Dühring nimmt irgendwelche
|
|
allbekannte Schnurre, klebt eine Dühringsche Etikette drauf, und nennt das:</P>
|
|
<P><SMALL>»von Grund aus eigentümliche Ergebnisse und Anschauungen ... systemschaffende
|
|
Gedanken ... wurzelhafte Wissenschaft«.</SMALL></P>
|
|
<P>Doch wir brauchen deswegen noch lange nicht zu verzweifeln. Welche Mängel
|
|
auch die wurzelhafteste Wissenschaft und die beste Gesellschaftseinrichtung haben
|
|
mögen, eins kann Herr Dühring mit Bestimmtheit behaupten:</P>
|
|
<P><SMALL><B><A NAME="S61">|61|</A></B></SMALL><SMALL> »Das im Universum vorhandne
|
|
Gold muß jederzeit dieselbe Menge gewesen sein und kann sich ebensowenig
|
|
wie die allgemeine Materie vermehrt oder vermindert haben.«</SMALL></P>
|
|
<P>Was wir uns aber für dies »vorhandne Gold« kaufen können, das sagt
|
|
Herr Dühring leider nicht.</P>
|
|
<H3 ALIGN="CENTER"><A NAME="Kap_VII">VII. Naturphilosophie. Organische Welt</A></H3>
|
|
<P><SMALL>»Von der Mechanik in Druck und Stoß bis zur Verknüpfung der
|
|
Empfindungen und Gedanken reicht eine einheitliche und einzige Stufenleiter von
|
|
Einschaltungen.«</SMALL></P>
|
|
<P>Mit dieser Versicherung erspart es sich Herr Dühring, über die Entstehung
|
|
des Lebens etwas weiteres zu sagen, obwohl man von einem Denker, der die Entwicklung
|
|
der Welt bis auf den sich selbst gleichen Zustand zurück verfolgt hat, und
|
|
der auf den andern Weltkörpern so heimisch ist, wohl erwarten dürfte,
|
|
daß er auch hier genau Bescheid wisse. Im übrigen ist jene Versicherung
|
|
nur halb richtig, solange sie nicht durch die schon erwähnte <A HREF="me20_032.htm#S42">Hegelsche
|
|
Knotenlinie</A> von Maßverhältnissen ergänzt wird. Bei aller Allmählichkeit
|
|
bleibt der Übergang von einer Bewegungsform zur andern immer ein Sprung,
|
|
eine entscheidende Wendung. So der Übergang von der Mechanik der Weltkörper
|
|
zu der der kleineren Massen auf einem einzelnen Weltkörper; ebenso der von
|
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der Mechanik der Massen zu der Mechanik der Moleküle - die Bewegungen umfassend,
|
|
die wir in der eigentlich sogenannten Physik untersuchen: Wärme, Licht, Elektrizität,
|
|
Magnetismus; ebenso vollzieht sich der Übergang von der Physik der Moleküle
|
|
zu der Physik der Atome - der Chemie - wieder durch einen entschiednen Sprung,
|
|
und noch mehr ist dies der Fall beim Übergang von gewöhnlicher chemischer
|
|
Aktion zum Chemismus des Eiweißes, den wir Leben nennen. Innerhalb der Sphäre
|
|
des Lebens werden dann die Sprünge immer seltner und unmerklicher. - Es ist
|
|
also wieder Hegel, der Herrn Dühring berichtigen muß.</P>
|
|
<P>Den begrifflichen Übergang zur organischen Welt liefert Herrn Dühring
|
|
der Zweckbegriff. Dies ist wieder entlehnt aus Hegel, der in der »Logik« - Lehre
|
|
vom Begriff - vermittelst der Teleologie oder Lehre vom Zweck, vom Chemismus zum
|
|
Leben übergeht. Wohin wir blicken, stoßen wir bei Herrn Dühring
|
|
auf eine Hegelsche »Krudität«, die er ganz ungeniert für seine eigne
|
|
wurzelhafte Wissenschaft ausgibt. Es würde zu weit <A NAME="S62"></A><B>|62|</B>
|
|
führen, hier zu untersuchen, inwieweit die Anwendung der Vorstellungen von
|
|
Zweck und Mittel auf die organische Welt berechtigt und angebracht ist. Jedenfalls
|
|
führt auch die Anwendung des Hegelschen »inneren Zwecks«, d.h. eines Zwecks,
|
|
der nicht durch einen absichtlich handelnden Dritten, etwa die Weisheit der Vorsehung,
|
|
in die Natur importiert ist, sondern der in der Notwendigkeit der Sache selbst
|
|
liegt, bei Leuten, die nicht vollständig philosophisch geschult sind, fortwährend
|
|
zur gedankenlosen Unterschiebung bewußter und absichtlicher Handlung. Derselbe
|
|
Herr Dühring, der bei der geringsten »spiritistischen« Regung andrer Leute
|
|
in ungemessene sittliche Entrüstung gerät, versichert</P>
|
|
<P><SMALL>»mit Bestimmtheit, daß die Triebempfindungen in der Hauptsache
|
|
um der Befriedigung willen geschaffen worden sind, die mit ihrem Spiel verbunden
|
|
ist«.</SMALL></P>
|
|
<P>Er erzählt uns, die arme Natur</P>
|
|
<P><SMALL>»muß immer wieder von neuem die gegenständliche Welt in Ordnung
|
|
halten«, und daneben hat sie noch mehr als eine Angelegenheit zu erledigen, »die
|
|
von seiten der Natur mehr Subtilität erforderlich macht, als man gewöhnlich
|
|
zugesteht«. Aber die Natur <I>weiß</I> nicht nur, warum sie dies und jenes
|
|
schafft, sie hat nicht nur Hausmagdsdienste zu verrichten, sie hat nicht nur Subtilität,
|
|
was doch schon eine ganz hübsche Vervollkommnung im subjektiven bewußten
|
|
Denken ist, sie hat auch einen Willen; denn die Zugabe zu den Trieben, daß
|
|
sie nebenbei reale Naturbedingungen: Ernährung, Fortpflanzung usw. erfüllen,
|
|
diese Zugabe »dürfen wir nicht als direkt, sondern nur als indirekt <I>gesollt</I>
|
|
ansehen«.</SMALL></P>
|
|
<P>Wir sind hiermit bei einer bewußt denkenden und handelnden Natur angekommen,
|
|
stehn also schon auf der »Brücke« zwar nicht vom Statischen zum Dynamischen,
|
|
aber doch vom Pantheismus zum Deismus. Oder beliebt es Herrn Dühring etwa,
|
|
auch einmal ein wenig »naturphilosophische Halbpoesie« zu treiben?</P>
|
|
<P>Unmöglich. Alles was uns unser Wirklichkeitsphilosoph über die organische
|
|
Natur zu sagen weiß, beschränkt sich auf den Kampf gegen diese naturphilosophische
|
|
Halbpoesie, gegen »die Scharlatanerie mit ihren leichtfertigen Oberflächlichkeiten
|
|
und sozusagen wissenschaftlichen Mystifikationen«, gegen die »dichtelnden Züge«
|
|
des <I>Darwinismus</I>.</P>
|
|
<P>Vor allen Dingen wird Darwin vorgeworfen, daß er die Malthussche Bevölkerungstheorie
|
|
aus der Ökonomie in die Naturwissenschaft übertrage, daß er in
|
|
den Vorstellungen des Tierzüchters befangen sei, daß er mit dem Kampf
|
|
ums Dasein unwissenschaftliche Halbpoesie treibe, und daß der ganze Darwinismus,
|
|
nach Abzug des von Lamarck Entlehnten, ein Stück gegen die Humanität
|
|
gekehrte Brutalität sei.</P>
|
|
<P><B><A NAME="S63">|63|</A></B> Darwin hatte von seinen wissenschaftlichen Reisen
|
|
die Ansicht nach Hause gebracht, daß die Arten der Pflanzen und Tiere nicht
|
|
beständige, sondern sich verändernde sind. Um diesen Gedanken zu Hause
|
|
weiter zu verfolgen, bot sich ihm kein besseres Feld als das der Tier- und Pflanzenzüchtung.
|
|
Grade hierfür ist England das klassische Land; die Leistungen andrer Länder,
|
|
z.B. Deutschlands, können nicht entfernt einen Maßstab abgeben für
|
|
das in dieser Beziehung in England Erreichte. Dabei gehören die meisten Erfolge
|
|
den letzten hundert Jahren an, so daß die Konstatierung der Tatsachen wenig
|
|
Schwierigkeiten macht. Darwin fand nun, daß diese Züchtung künstlich,
|
|
an Tieren und Pflanzen derselben Art, Unterschiede hervorgerufen hatte, größer
|
|
als diejenigen, die bei allgemein als verschieden anerkannten Arten vorkommen.
|
|
Einerseits war also die Veränderlichkeit der Arten bis auf einen gewissen
|
|
Grad nachgewiesen, andrerseits die Möglichkeit gemeinschaftlicher Vorfahren
|
|
für Organismen, die verschiedne Artcharaktere besaßen. Darwin untersuchte
|
|
nun, ob nicht etwa in der Natur sich Ursachen finden, die - ohne die bewußte
|
|
Absicht des Züchters - dennoch auf die Dauer an den lebenden Organismen ähnliche
|
|
Veränderungen hervorrufen mußten, wie die künstliche Züchtung.
|
|
Diese Ursachen fand er in dem Mißverhältnis zwischen der ungeheuren
|
|
Zahl der von der Natur geschaffenen Keime und der geringen von wirklich zur Reife
|
|
gelangenden Organismen. Da nun aber jeder Keim zur Entwicklung strebt, so entsteht
|
|
notwendig ein Kampf ums Dasein, der nicht bloß als direkte, körperliche
|
|
Bekämpfung oder Verzehrung, sondern auch als Kampf um Raum und Licht, selbst
|
|
bei Pflanzen noch, sich zeigt. Und es ist augenscheinlich, das in diesem Kampfe
|
|
diejenigen Individuen am meisten Aussicht haben, zur Reife zu gelangen und sich
|
|
fortzupflanzen, die irgendeine, noch so unbedeutende, aber im Kampf ums Dasein
|
|
vorteilhafte individuelle Eigentümlichkeit besitzen. Diese individuellen
|
|
Eigentümlichkeiten haben demnach die Tendenz, sich zu vererben, und wenn
|
|
sie bei mehreren Individuen derselben Art vorkommen, sich durch gehäufte
|
|
Vererbung in der einmal angenommenen Richtung zu steigern; während die diese
|
|
Eigentümlichkeit nicht besitzenden Individuen im Kampf ums Dasein leichter
|
|
erliegen und allmählich verschwinden. Auf diese Weise verändert sich
|
|
eine Art durch natürliche Züchtung, durch das Überleben der Geeignetsten.</P>
|
|
<P>Gegen diese Darwinsche Theorie sagt nun Herr Dühring, der Ursprung der
|
|
Vorstellung vom Kampf ums Dasein sei, wie es Darwin selbst eingestanden habe,
|
|
in einer Verallgemeinerung der Ansichten des nationalökonomischen Bevölkerungstheoretikers
|
|
Malthus zu suchen und demgemäß auch mit allen denjenigen Schäden
|
|
behaftet, die den priesterlich malthusiani- <A NAME="S64"></A><B>|64|</B> sehen
|
|
Anschauungen über das Bevölkerungsgedränge eigen sind. - Nun fällt
|
|
es Darwin gar nicht ein zu sagen, der <I>Ursprung</I> der Vorstellung vom Kampf
|
|
ums Dasein sei bei Malthus zu suchen. Er sagt nur: seine Theorie vom Kampf ums
|
|
Dasein sei die Theorie von Malthus, angewandt auf die ganze tierische und pflanzliche
|
|
Welt. Wie groß auch der Bock sein mag, den Darwin geschossen, indem er in
|
|
seiner Naivetät die Malthussche Lehre so unbesehn akzeptierte, so sieht doch
|
|
jeder auf den ersten Blick, daß man keine Malthus-Brille braucht, um den
|
|
Kampf ums Dasein in der Natur wahrzunehmen - den Widerspruch zwischen der zahllosen
|
|
Menge von Keimen, die die Natur verschwenderisch erzeugt, und der geringen Anzahl
|
|
von ihnen, die überhaupt zur Reife kommen können; einen Widerspruch,
|
|
der sich in der Tat größtenteils in einem - stellenweise äußerst
|
|
grausamen - Kampf ums Dasein löst. Und wie das Gesetz des Arbeitslohns seine
|
|
Geltung behalten hat, auch nachdem die malthusianischen Argumente längst
|
|
verschollen sind, auf die Ricardo es stützte -, so kann der Kampf ums Dasein
|
|
in der Natur ebenfalls stattfinden, auch ohne irgendeine malthusianische Interpretation.
|
|
Übrigens haben die Organismen der Natur ebenfalls ihre Bevölkerungsgesetze,
|
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die so gut wie gar nicht untersucht sind, deren Feststellung aber für die
|
|
Theorie von der Entwicklung der Arten von entscheidender Wichtigkeit sein wird.
|
|
Und wer hat auch in dieser Richtung den entscheidenden Anstoß gegeben? Niemand
|
|
anders als Darwin.</P>
|
|
<P>Herr Dühring hütet sich wohl, auf diese positive Seite der Frage
|
|
einzugehn. Statt dessen muß der Kampf ums Dasein immer wieder vorhalten.
|
|
Von einem Kampf ums Dasein unter bewußtlosen Pflanzen und gemütlichen
|
|
Pflanzenfressern könne von vornherein keine Rede sein:</P>
|
|
<P><SMALL>»in genau bestimmtem Sinne ist nun der Kampf ums Dasein innerhalb der
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Brutalität insoweit vertreten, als die Ernährung durch Raub und Verzehrung
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erfolgt«.</SMALL></P>
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<P>Und nachdem er den Begriff: Kampf ums Dasein, auf diese engen Grenzen reduziert,
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kann er über die Brutalität dieses von ihm selbst auf die Brutalität
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beschränkten Begriffs seiner vollen Entrüstung freien Lauf lassen. Diese
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sittliche Entrüstung trifft aber nur Herrn Dühring selbst, der ja der
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alleinige Verfasser des Kampfs ums Dasein in dieser Beschränkung und daher
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auch allein dafür verantwortlich ist. Es ist also nicht Darwin, der</P>
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<P><SMALL>»im Gebiet der Bestien die Gesetze und das Verständnis aller Naturaktion
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sucht« -</SMALL></P>
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<P>Darwin hatte ja grade die ganze organische Natur mit in den Kampf eingeschlossen
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-, sondern ein von Herrn Dühring selbst zurechtgemachter Phantasiepopanz.
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Der <I>Name:</I> Kampf ums Dasein, kann übrigens dem hochmoralischen Zorn
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des Herrn Dühring gern preisgegeben werden. Daß <A NAME="S65"></A><B>|65|</B>
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die <I>Sache</I> auch unter Pflanzen existiert, kann ihm jede Wiese, jedes Kornfeld,
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jeder Wald beweisen, und nicht um den Namen handelt es sich, ob man das »Kampf
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ums Dasein« nennen soll oder »Mangel der Existenzbedingungen und mechanische Wirkungen«,
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sondern darum, wie diese Tatsache auf die Erhaltung oder Veränderung der
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Arten einwirkt. Darüber verharrt Herr Dühring in einem hartnäckig
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sich selbst gleichen Stillschweigen. Es wird also wohl vorläufig bei der
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Naturzüchtung sein Bewenden haben.</P>
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<P><SMALL>Aber der Darwinismus »produziert seine Verwandlungen und Differenzen
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aus nichts«.</SMALL></P>
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<P>Allerdings sieht Darwin, wo er von der Naturzüchtung handelt, ab von den
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<I>Ursachen</I>, die die Veränderungen in den einzelnen Individuen hervorgerufen
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haben, und handelt zunächst von der Art und Weise, in der solche individuelle
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Abweichungen nach und nach zu Kennzeichen einer Race, Spielart oder Art werden.
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Für Darwin handelt es sich zunächst weniger darum, diese Ursachen zu
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finden - die bis jetzt teilweise ganz unbekannt, teilweise nur ganz allgemein
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angebbar sind -, als vielmehr eine rationelle Form, in der sich ihre Wirkungen
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festsetzen, dauernde Bedeutung erhalten. Daß Darwin dabei seiner Entdeckung
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einen übermäßigen Wirkungskreis zuschrieb, sie zum ausschließlichen
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Hebel der Artveränderung machte und die Ursachen der wiederholten individuellen
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Veränderungen über der Form ihrer Verallgemeinerung vernachlässigte,
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ist ein Fehler, den er mit den meisten Leuten gemein hat, die einen wirklichen
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Fortschritt machen. Zudem, wenn Darwin seine individuellen Verwandlungen aus nichts
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produziert und dabei »die Weisheit des Züchters« ausschließlich anwendet,
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so muß hiernach der Züchter seine nicht bloß vorgestellten, sondern
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wirklichen Verwandlungen der Tier- und Pflanzenformen ebenfalls aus <I>nichts
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</I>produzieren. Wer aber den Anstoß gegeben hat, zu untersuchen, woraus
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denn eigentlich diese Verwandlungen und Differenzen entstehn, ist wieder niemand
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anders als Darwin.</P>
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<P>Neuerdings ist, namentlich durch Haeckel, die Vorstellung von der Naturzüchtung
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erweitert und die Artveränderung gefaßt als Resultat der Wechselwirkung
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von Anpassung und Vererbung, wobei dann die Anpassung als die ändernde, die
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Vererbung als die erhaltende Seite des Prozesses dargestellt wird. Auch dies ist
|
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Herrn Dühring wieder nicht recht.</P>
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<P><SMALL>»Eigentliche Anpassung an Lebensbedingungen, wie sie durch die Natur
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geboten oder entzogen werden, setzt Antriebe und Tätigkeiten voraus, die
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sich nach Vorstellungen bestimmen. Andernfalls ist die Anpassung nur ein Schein
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und die alsdann <A NAME="S66"></A><B>|66|</B> wirkende Kausalität erhebt
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sich nicht über die niedern Stufen des Physikalischen, Chemischen und pflanzlich
|
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Physiologischen.«</SMALL></P>
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<P>Es ist wieder der Name, der Herrn Dühring zum Ärgernis dient. Wie
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er aber auch den Vorgang bezeichnen möge: die Frage ist hier die, ob durch
|
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solche Vorgänge Veränderungen in den Arten der Organismen hervorgerufen
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werden oder nicht? Und Herr Dühring gibt wieder keine Antwort.</P>
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<P><SMALL>»Wenn eine Pflanze in ihrem Wachstum den Weg nimmt, auf welchem sie
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das meiste Licht erhält, so ist diese Wirkung des Reizes nichts als eine
|
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Kombination physikalischer Kräfte und chemischer Agenzien, und wenn man hier
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nicht metaphorisch, sondern eigentlich von einer Anpassung reden will, so muß
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dies in die Begriffe eine <I>spiritistische</I> Verworrenheit bringen.«</SMALL></P>
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<P>So streng gegen andre ist derselbe Mann, der ganz genau weiß, um wessen
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<I>Willen</I> die Natur dies oder jenes tut, der von der <I>Subtililät</I>
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der Natur spricht, ja von ihrem <I>Willen</I>! Spiritistische Verworrenheit in
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der Tat - aber wo, bei Haeckel oder bei Herrn Dühring?</P>
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<P>Und nicht nur spiritistische, sondern auch logische Verworrenheit. Wir sahen,
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daß Herr Dühring mit aller Gewalt darauf besteht, den Zweckbegriff
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in der Natur geltend zu machen:</P>
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<P><SMALL>»Die Beziehung von Mittel und Zweck setzt keineswegs eine bewußte
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Absicht voraus.«</SMALL></P>
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<P>Was ist nun aber die Anpassung ohne bewußte Absicht, ohne Vermittlung
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von Vorstellungen, gegen die er so eifert, anders als eine solche unbewußte
|
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Zwecktätigkeit?</P>
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<P>Wenn also Laubfrösche und laubfressende Insekten grüne, Wüstentiere
|
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sandgelbe, Polarlandtiere vorwiegend schneeweiße Farbe haben, so haben sie
|
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sich diese sicher nicht absichtlich oder nach irgendwelchen Vorstellungen angeeignet;
|
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im Gegenteil lassen sich die Farben nur aus physikalischen Kräften und chemischen
|
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Agenzien erklären. Und doch ist es unleugbar, daß diese Tiere, durch
|
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jene Farben, dem Mittel, in dem sie leben, zweckmäßig <I>angepaßt</I>
|
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sind, und zwar so, daß sie ihren Feinden dadurch weit weniger sichtbar geworden.
|
|
Ebenso sind die Organe, womit gewisse Pflanzen die sich darauf niedersetzenden
|
|
Insekten fangen und verzehren, dieser Tätigkeit angepaßt, und sogar
|
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zweckmäßig angepaßt. Wenn nun Herr Dühring darauf besteht,
|
|
daß die Anpassung durch Vorstellungen bewirkt sein muß, so sagt er
|
|
nur mit andern Worten, daß die Zwecktätigkeit ebenfalls durch Vorstellungen
|
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vermittelt, bewußt, absichtlich sein muß. Womit wir wieder, wie gewöhnlich
|
|
in der Wirklichkeitsphilosophie, beim zwecktätigen Schöpfer, bei Gott
|
|
angekommen sind.</P>
|
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<P><SMALL><B><A NAME="S67">|67|</A></B></SMALL><SMALL> »Sonst nannte man eine
|
|
solche Auskunft Deismus und hielt nicht viel davon« (sagt Herr Dühring);
|
|
»jetzt aber scheint <I>man</I> sich auch in dieser Beziehung rückwärtsentwickelt
|
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zu haben.«</SMALL></P>
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<P>Von der Anpassung kommen wir auf die Vererbung. Auch hier ist der Darwinismus,
|
|
nach Herrn Dühring, vollständig auf dem Holzwege. Die ganze organische
|
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Welt, behaupte Darwin, soll von einem Urwesen abstammen, sozusagen die Brut eines
|
|
einzigen Wesens sein. Die selbständige Nebenordnung gleichartiger Naturproduktionen
|
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ohne Abstammungsvermittlung sei für Darwin gar nicht vorhanden, und er müsse
|
|
daher mit seinen rückwärtsgekehrten Anschauungen sofort am Ende sein,
|
|
wo ihm der Faden der Zeugung oder sonstigen Fortpflanzung reißt.</P>
|
|
<P>Die Behauptung, Darwin leite alle jetzigen Organismen von Einem Urwesen her,
|
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ist, um uns höflich auszudrücken, eine »eigne freie Schöpfung und
|
|
Imagination« des Herrn Dühring. Darwin sagt ausdrücklich auf der vorletzten
|
|
Seite der »Origin of Species«, 6. Auflage, er sehe</P>
|
|
<P><SMALL>»alle Wesen nicht als besondre Schöpfungen, sondern als die Nachkommen,
|
|
in gerader Linie, <I>einiger weniger Wesen</I>« |Hervorhebung von Engels| an.</SMALL></P>
|
|
<P>Und Haeckel geht noch bedeutend weiter und nimmt</P>
|
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<P><SMALL>»einen ganz selbständigen Stamm für das Pflanzenreich, einen
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|
zweiten für das Tierreich« an und zwischen beiden »eine Anzahl von selbständigen
|
|
Protistenstämmen, deren jeder ganz unabhängig von jenen aus einer eignen
|
|
archigonen Monerenform sich entwickelt hat« (»Schöpfungsgeschichte« S. 397).</SMALL></P>
|
|
<P>Dieses Urwesen ist von Herrn Dühring nur erfunden worden, um es durch
|
|
Parallele mit dem Urjuden Adam möglichst in Verruf zu bringen; wobei ihm
|
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- nämlich Herrn Dühring - das Unglück passiert, daß ihm unbekannt
|
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geblieben, wieso dieser Urjude durch [George] Smiths assyrische Entdeckungen sich
|
|
als Ursemit entpuppt; daß die ganze Schöpfungs- und Sündflutgeschichte
|
|
der Bibel sich erweist als ein Stück aus dem altheidnischen, den Juden mit
|
|
Babyloniern, Chaldäern und Assyrern gemeinsamen religiösen Sagenkreise.</P>
|
|
<P>Es ist allerdings ein harter, aber nicht abzuweisender Vorwurf gegen Darwin,
|
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daß er sofort am Ende ist, wo ihm der Faden der Abstammung reißt.
|
|
Leider verdient ihn unsre gesamte Naturwissenschaft. Wo ihr der Faden der Abstammung
|
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reißt, ist sie »am Ende«. Sie hat es bisher noch nicht fertiggebracht, organische
|
|
Wesen ohne Abstammung zu erzeugen; ja noch nicht einmal einfaches Protoplasma
|
|
oder andre Eiweißkörper aus den chemischen Elementen herzustellen.
|
|
Sie kann also über den Ursprung des <A NAME="S68"></A><B>|68|</B> Lebens
|
|
bis jetzt nur soviel mit Bestimmtheit sagen, daß er sich auf chemischem
|
|
Wege vollzogen haben muß. Vielleicht aber ist die Wirklichkeitsphilosophie
|
|
in der Lage, hier abhelfen zu können, da sie über selbständig nebengeordnete
|
|
Naturproduktionen verfügt, die nicht durch Abstammung untereinander vermittelt
|
|
sind. Wie können diese entstanden sein? Durch Urzeugung? Aber bis jetzt haben
|
|
selbst die verwegensten Vertreter der Urzeugung nichts als Bakterien, Pilzkeime
|
|
und andere sehr ursprüngliche Organismen auf diesem Wege zu erzeugen beansprucht
|
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- keine Insekten, Fische, Vögel oder Säugetiere. Wenn nun diese gleichartigen
|
|
Naturproduktionen - wohlverstanden organische, von denen ist hier allein die Rede
|
|
- nicht durch Abstammung zusammenhängen, so müssen sie oder jeder ihrer
|
|
Vorfahren da, »wo der Faden der Abstammung reißt«, durch einen aparten Schöpfungsakt
|
|
in die Welt gesetzt sein. Also schon wieder beim Schöpfer und dem, was man
|
|
Deismus nennt.</P>
|
|
<P>Ferner erklärt Herr Dühring es für eine große Oberflächlichkeit
|
|
von Darwin,</P>
|
|
<P><SMALL>»den bloßen Akt geschlechtlicher Komposition von Eigenschaften
|
|
zum Fundamentalprinzip der Entstehung dieser Eigenschaften zu machen«.</SMALL></P>
|
|
<P>Dies ist wieder eine freie Schöpfung und Imagination unseres wurzelhaften
|
|
Philosophen. Im Gegenteil erklärt Darwin bestimmt: der Ausdruck Naturzüchtung
|
|
schließe nur ein die <I>Erhaltung</I> von Veränderungen, nicht aber
|
|
ihre Erzeugung (S. 63). Diese neue Unterschiebung von Sachen, die Darwin nie gesagt,
|
|
dient aber dazu, uns zu folgendem Dühringschen Tiefsinn zu verhelfen:</P>
|
|
<P><SMALL>»Hätte man im innern Schematismus der Zeugung irgendein Prinzip
|
|
der selbständigen Veränderung aufgesucht, so würde dieser Gedanke
|
|
ganz rationell gewesen sein; denn es ist ein natürlicher Gedanke, das Prinzip
|
|
der allgemeinen Genesis mit dem der geschlechtlichen Fortpflanzung zu einer Einheit
|
|
zusammenzufassen und die sogenannte Urzeugung aus einem hohem Gesichtspunkt nicht
|
|
als absoluten Gegensatz der Reproduktion, sondern eben als eine Produktion anzusehn.«</SMALL></P>
|
|
<P>Und der Mann, der solchen Gallimathias verfassen konnte, geniert sich nicht,
|
|
Hegel seinen »Jargon« vorzuwerfen!</P>
|
|
<P>doch genug der verdrießlichen, widerspruchsvollen Quengelei und Nörgelei,
|
|
mit der Herr Dühring seinem Ärger über den kolossalen Aufschwung
|
|
Luft macht, den die Naturwissenschaft dem Anstoß der Darwinschen Theorie
|
|
verdankt. Weder Darwin noch seine Anhänger unter den Naturforschern denken
|
|
daran, die großen Verdienste Lamarcks irgendwie zu verkleinern; sind sie
|
|
es doch grade, die ihn zuerst wieder auf den Schild <A NAME="S69"></A><B>|69|</B>
|
|
gehoben haben. Aber wir dürfen nicht übersehn, daß zu Lamarcks
|
|
Zeit die Wissenschaft bei weitem noch nicht über hinreichendes Material verfügte,
|
|
um die Frage nach dem Ursprung der Arten anders als antizipierend, sozusagen prophetisch
|
|
beantworten zu können. Außer dem enormen Material aus dem Gebiet der
|
|
sammelnden wie der anatomischen Botanik und Zoologie, das seitdem angehäuft,
|
|
sind aber seit Lamarck zwei ganz neue Wissenschaften entstanden, die hier von
|
|
entscheidender Wichtigkeit sind: die Untersuchung der Entwicklung der pflanzlichen
|
|
und tierischen Keime (Embryologie) und die der, in den verschiednen Schichten
|
|
der Erdoberfläche aufbewahrten, organischen Überreste (Paläontologie).
|
|
Es findet sich nämlich eine eigentümliche Übereinstimmung zwischen
|
|
der stufenweisen Entwicklung der organischen Keime zu reifen Organismen und der
|
|
Reihenfolge der nacheinander in der Geschichte der Erde auftretenden Pflanzen
|
|
und Tiere. Und grade diese Übereinstimmung ist es, die der Entwicklungstheorie
|
|
die sicherste Grundlage gegeben hat. Die Entwicklungstheorie selbst ist aber noch
|
|
sehr jung, und es ist daher unzweifelhaft, daß die weitere Forschung die
|
|
heutigen, auch die streng darwinistischen Vorstellungen von dem Hergang der Artenentwicklung
|
|
sehr bedeutend modifizieren wird.</P>
|
|
<P>Was hat uns nun die Wirklichkeitsphilosophie über die Entwicklung des
|
|
organischen Lebens Positives zu sagen?</P>
|
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<P><SMALL>»Die ... Abänderlichkeit der Arten ist eine annehmbare Voraussetzung.«
|
|
Daneben gilt aber auch »die selbständige Nebenordnung gleichartiger Naturproduktionen,
|
|
ohne Abstammungsvermittlung«.</SMALL></P>
|
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<P>Hiernach sollte man meinen, die ungleichartigen Naturproduktionen, d.h. die
|
|
sich ändernden Arten stammten voneinander ab, die gleichartigen aber nicht.
|
|
Dies stimmt aber auch nicht ganz; denn auch bei sich ändernden Arten dürfte</P>
|
|
<P><SMALL>»die Vermittlung durch Abstammung im Gegenteil erst ein ganz sekundärer
|
|
Akt der Natur sein«.</SMALL></P>
|
|
<P>Also doch Abstammung, aber »zweiter Klasse«. Seien wir froh, daß die
|
|
Abstammung, nachdem Herr Dühring ihr soviel Übles und Dunkles nachgesagt,
|
|
dennoch endlich durch die Hintertür wieder zugelassen wird. Ebenso geht es
|
|
der Naturzüchtung, denn nach all der sittlichen Entrüstung über
|
|
den Kampf ums Dasein, vermittelst dessen die Naturzüchtung sich ja vollzieht,
|
|
heißt es plötzlich:</P>
|
|
<P><SMALL>»Der tiefere Grund der Beschaffenheit der Gebilde ist mithin in den
|
|
Lebensbedingungen und kosmischen Verhältnissen zu suchen, während die
|
|
von Darwin betonte Naturzüchtung erst in zweiter Linie in Frage kommen kann.«</SMALL></P>
|
|
<P><B><A NAME="S70">|70|</A></B> Also doch Naturzüchtung, wenn auch zweiter
|
|
Klasse; also mit der Naturzüchtung auch Kampf ums Dasein und damit auch priesterlich-malthusianisches
|
|
Bevölkerungsgedränge! Das ist alles, im übrigen verweist uns Herr
|
|
Dühring auf Lamarck.</P>
|
|
<P>Schließlich warnt er uns vor dem Mißbrauch der Worte Metamorphose
|
|
und Entwicklung. Metamorphose sei ein unklarer Begriff und der Begriff der Entwicklung
|
|
nur soweit zulässig, als sich Entwicklungsgesetze wirklich nachweisen lassen.
|
|
Statt beider sollen wir sagen »Komposition«, und dann sei alles gut. Es ist wieder
|
|
die alte Geschichte: die Sachen bleiben, wie sie waren, und Herr Dühring
|
|
ist ganz zufrieden, sobald wir nur die Namen ändern, wenn wir von der Entwicklung
|
|
des Hühnchens im Ei sprechen, so machen wir Konfusion, weil wir die Entwicklungsgesetze
|
|
nur mangelhaft nachweisen können. Sprechen wir aber von seiner Komposition,
|
|
so wird alles klar. Wir werden also nicht mehr sagen: dies Kind entwickelt sich
|
|
prächtig, sondern: es komponiert sich ausgezeichnet, und wir dürfen
|
|
Herrn Dühring Glück wünschen, daß er dem Schöpfer des
|
|
Nibelungenringes nicht nur in edler Selbstschätzung würdig zur Seite
|
|
steht, sondern auch in seiner Eigenschaft als Komponist der Zukunft.</P>
|
|
<H3 ALIGN="CENTER"><A NAME="Kap_VIII"></A>VIII. Naturphilosophie. Organische Welt</H3>
|
|
<H4 ALIGN="CENTER">(Schluß)</H4>
|
|
<P><SMALL>»Man erwäge, ... was zu unserm naturphilosophischen Abschnitt an
|
|
positiver Erkenntnis gehöre, um ihn mit allen seinen wissenschaftlichen Voraussetzungen
|
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auszustatten. Ihm liegen zunächst alle wesentlichen Errungenschaften der
|
|
Mathematik und alsdann die Hauptfeststellungen des exakten Wissens in Mechanik,
|
|
Physik, Chemie, sowie überhaupt die naturwissenschaftlichen Ergebnisse in
|
|
Physiologie, Zoologie und in ähnlichen Forschungsgebieten zugrunde.«</SMALL></P>
|
|
<P>So zuversichtlich und entschieden spricht sich Herr Dühring aus über
|
|
die mathematische und naturwissenschaftliche Gelehrsamkeit des Herrn Dühring.
|
|
Man sieht es dem magern Abschnitt selbst nicht an, und noch weniger seinen noch
|
|
dürftigeren Resultaten, welche Wurzelhaftigkeit positiver Erkenntnis dahintersteckt.
|
|
Jedenfalls braucht man, um die Dühringschen Orakel über Physik und Chemie
|
|
zustande zu bringen, von der Physik nichts zu wissen als die Gleichung, die das
|
|
mechanische Äquivalent der Wärme ausdrückt, und von der Chemie
|
|
nur dies, daß alle Körper sich einteilen in Elemente und Zusammensetzungen
|
|
von Elementen. Wer zudem, <A NAME="S71"></A><B>|71|</B> wie Herr Dühring
|
|
S. 131, von »gravitierenden Atomen« sprechen kann, beweist nur damit, daß
|
|
er über den Unterschied von Atom und Molekül gänzlich »im Dunkeln«
|
|
ist. Atome existieren bekanntlich nicht für die Gravitation oder andre mechanische
|
|
oder physikalische Bewegungsformen, sondern nur für die chemische Aktion.
|
|
Und wenn man gar das Kapitel über die organische Natur liest, so kann man
|
|
bei dem leeren, sich widersprechenden, am entscheidenden Punkt orakelhaft sinnlosen
|
|
Hin- und Hergerede, und bei der absoluten Nichtigkeit des Schlußergebnisses
|
|
schon von vornherein sich der Ansicht nicht erwehren, daß Herr Dühring
|
|
hier von Dingen spricht, von denen er merkwürdig wenig weiß. Diese
|
|
Ansicht wird zur Gewißheit, wenn man zu seinem Vorschlag kommt, in der Lehre
|
|
von dem organischen Wesen (Biologie) fernerhin Komposition zu sagen statt Entwicklung.
|
|
Wer so etwas vorschlagen kann, beweist, daß er von der Bildung organischer
|
|
Körper nicht die geringste Ahnung hat.</P>
|
|
<P>Alle organischen Körper, mit Ausnahme der allerniedrigsten, bestehn aus
|
|
Zellen, kleinen, nur durch starke Vergrößerung sichtbaren Eiweißklümpchen
|
|
mit einem Zellenkern im Innern. In der Regel entwickelt die Zelle auch eine äußere
|
|
Haut, und der Inhalt ist dann mehr oder weniger flüssig. Die niedrigsten
|
|
Zellenkörper bestehn aus einer Zelle; die ungeheure Mehrzahl der organischen
|
|
Wesen ist vielzellig, ein zusammengehöriger Komplex vieler Zellen, die, bei
|
|
niedrigem Organismen noch gleichartig, bei den höhern mehr und mehr verschiedne
|
|
Formen, Gruppierungen und Tätigkeiten erhalten. Im menschlichen Körper
|
|
z. B. sind Knochen, Muskel, Nerven, Sehnen, Bänder, Knorpel. Haut, kurz,
|
|
alle Gewebe aus Zellen entweder zusammengesetzt oder doch entstanden. Aber allen
|
|
organischen Zellengebilden, von der Amöbe, die ein einfaches, die meiste
|
|
Zeit hautloses Eiweißklümpchen mit einem Zeilenkern im Innern ist,
|
|
bis zum Menschen, und von der kleinsten einzelligen Desmidiacee bis zur höchstentwickelten
|
|
Pflanze, ist die Art gemeinsam wie die Zellen sich vermehren: durch Spaltung.
|
|
Der Zellenkern schnürt sich zuerst in der Mitte ein, die Einschnürung,
|
|
die die beiden Kolben des Kerns trennt, wird immer stärker, zuletzt trennen
|
|
sie sich und bilden zwei Zellenkerne. Derselbe Vorgang findet an der Zelle selbst
|
|
statt, jeder der beiden Kerne wird der Mittelpunkt einer Ansammlung von Zellstoff,
|
|
die mit der andern durch eine immer enger werdende Einschnürung zusammenhängt,
|
|
bis zuletzt beide sich trennen und als selbständige Zellen fortleben. Durch
|
|
solche wiederholte Zellenspaltung wird aus dem Keimbläschen des tierischen
|
|
Eies, nach eingetretener Befruchtung, nach und nach das ganze fertige Tier entwickelt,
|
|
und ebenso beim <A NAME="S72"></A><B>|72|</B> erwachsenen Tier der Ersatz der
|
|
verbrauchten Gewebe vollzogen. Einen solchen Vorgang eine Komposition, und seine
|
|
Bezeichnung als Entwicklung »eine pure Imagination« zu nennen, dazu gehört
|
|
doch sicher jemand, der - so schwer das auch heutzutage anzunehmen ist - von diesem
|
|
Vorgang gar nichts weiß; hier wird ja eben nur, und zwar im buchstäblichsten
|
|
Sinn entwickelt, komponiert aber ganz und gar nicht!</P>
|
|
<P>Über das, was Herr Dühring im allgemeinen unter Leben versteht, werden
|
|
wir weiter unten noch etwas zu sagen haben. Im besondern stellt er sich unter
|
|
Leben folgendes vor:</P>
|
|
<P><SMALL>»Auch die unorganische Welt ist ein System sich selbst vollziehender
|
|
Regungen; aber erst da, wo die eigentliche Gliederung und die Vermittlung der
|
|
Zirkulation der Stoffe durch besondre Kanäle von einem innern Punkt und nach
|
|
einem an ein kleineres Gebilde übertragbaren Keimschema beginnt, darf man
|
|
im engeren und strengeren Sinne von eigentlichem Leben zu reden unternehmen.«</SMALL></P>
|
|
<P>Dieser Satz ist im engern und strengern Sinn ein System sich selbst vollziehender
|
|
Regungen (was das auch immer für Dinger sein mögen) von Unsinn, selbst
|
|
abgesehn von der hülflos verworrenen Grammatik. Wenn das Leben erst anfängt,
|
|
wo die eigentliche Gliederung beginnt, dann müssen wir das ganze Haeckelsche
|
|
Protistenreich und vielleicht noch viel mehr für tot erklären, je nachdem
|
|
der Begriff von Gliederung gefaßt wird. Wenn das Leben erst da beginnt,
|
|
wo diese Gliederung durch ein kleineres Keimschema übertragbar ist, so sind
|
|
mindestens alle Organismen bis zu den einzeiligen hinauf, und diese eingeschlossen,
|
|
nicht lebendig. Ist die Vermittlung der Zirkulation der Stoffe durch besondre
|
|
Kanäle das Kennzeichen des Lebens, so müssen wir außer den obigen
|
|
noch die ganze Oberklasse der Coelenterata, allenfalls mit Ausnahme der Medusen,
|
|
also sämtliche Polypen und andre Pflanzentiere aus der Reihe der lebenden
|
|
Wesen ausstreichen. Gilt aber gar die Zirkulation der Stoffe durch besondre Kanäle
|
|
von einem innern Punkt für das wesentliche Kennzeichen des Lebens, so müssen
|
|
wir alle diejenigen Tiere für tot erklären, die kein Herz, oder auch
|
|
die mehrere Herzen haben. Dazu gehören außer den vorerwähnten
|
|
noch sämtliche Würmer, Seesterne und Rädertiere (Annuloida und
|
|
Annulosa, Huxleys Einteilung), ein Teil der Krustentiere (Krebse) und endlich
|
|
sogar ein Wirbeltier, das Lanzettierchen (Amphioxus). Dazu sämtliche Pflanzen.</P>
|
|
<P>Indem also Herr Dühring unternimmt, das eigentliche Leben im engern und
|
|
strengern Sinne zu kennzeichnen, gibt er vier einander total widersprechende Kennzeichen
|
|
des Lebens an, von denen das eine nicht nur das ganze Pflanzenreich, sondern auch
|
|
ungefähr das halbe Tierreich zu ewigem <A NAME="S73"></A><B>|73|</B> Tode
|
|
verdammt. Wahrhaftig, niemand kann sagen, er habe uns angeführt, als er uns</P>
|
|
<P><SMALL>»von Grund aus eigentümliche Ergebnisse und Anschauungen«</SMALL></P>
|
|
<P>versprach!</P>
|
|
<P>An einer andern Stelle heißt es:</P>
|
|
<P><SMALL>»auch in der Natur liegt allen Organisationen von der niedrigsten bis
|
|
zur höchsten ein einfacher Typus zugrunde«, und dieser Typus ist »schon in
|
|
der untergeordnetsten Regung der unvollkommensten Pflanze in seinem allgemeinen
|
|
Wesen voll und ganz anzutreffen.«</SMALL></P>
|
|
<P>Diese Behauptung ist wieder »voll und ganz« Unsinn. Der allereinfachste Typus,
|
|
der in der ganzen organischen Natur anzutreffen, ist die Zelle; und sie liegt
|
|
den höchsten Organisationen allerdings zugrunde. Dagegen finden sich unter
|
|
den niedrigsten Organismen eine Menge, die noch tief unter der Zelle stehn - die
|
|
Protamöbe, ein einfaches Eiweißklümpchen, ohne irgendwelche Differenzierung,
|
|
eine ganze Reihe andrer Monere und sämtliche Schlauchalgen (Siphoneen). Diese
|
|
sind sämtlich mit den höhern Organismen nur dadurch verknüpft,
|
|
daß ihr wesentlicher Bestandteil Eiweiß ist und sie demnach Eiweißfunktionen
|
|
vollziehn, d.h. leben und sterben.</P>
|
|
<P>Weiter erzählt uns Herr Dühring:</P>
|
|
<P><SMALL>»Physiologisch ist die Empfindung an das Vorhandensein irgendeines,
|
|
wenn auch noch so einfachen Nervenapparates geknüpft. Es ist daher das Charakteristische
|
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aller tierischen Gebilde, der Empfindung, d.h. einer subjektiv bewußten
|
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Auffassung ihrer Zustände fähig zu sein. Die scharfe Grenze zwischen
|
|
Pflanze und Tier liegt da, wo der Sprung zur Empfindung vollzogen wird. Diese
|
|
Grenze läßt sich so wenig durch die bekannten Übergangsgebilde
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verwischen, daß sie vielmehr grade durch diese äußerlich unentschiednen
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oder unentscheidbaren Gestaltungen erst recht zum logischen Bedürfnis gemacht
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wird.«</SMALL></P>
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<P>Und ferner:</P>
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<P><SMALL>»Dagegen sind die Pflanzen gänzlich und für immer ohne die
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leiseste Spur von Empfindung und auch ohne jede Anlage dazu.«</SMALL></P>
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<P>Erstens sagt Hegel, »Naturphilosophie« §351, Zusatz, daß </P>
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<P><SMALL>»die Empfindung die differentia specifica, das absolut Auszeichnende
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des Tieres ist«.</SMALL></P>
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<P>Also wieder eine »Krudität« Hegels, die durch einfache Annexion von Seiten
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Herrn Dührings in den Adelstand einer endgültigen Wahrheit letzter Instanz
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erhoben wird.</P>
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<P><B><A NAME="S74">|74|</A></B> Zweitens hören wir hier zum ersten Male
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von Übergangsgebilden, äußerlich unentschiednen oder unentscheidbaren
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Gestaltungen (schönes Kauderwelsch!) zwischen Pflanze und Tier. Daß
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diese Zwischenformen existieren; daß es Organismen gibt, von denen wir platterdings
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nicht sagen können, ob sie Pflanzen oder Tiere sind; daß wir also überhaupt
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die Grenze zwischen Pflanze und Tier nicht scharf feststellen können - das
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macht es für Herrn Dühring grade zum logischen Bedürfnis, ein Unterscheidungsmerkmal
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aufzustellen, von dem er im selben Atem zugibt, daß es nicht stichhaltig
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ist! Aber wir brauchen gar nicht auf das zweifelhafte Gebiet zwischen Pflanzen
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und Tieren zurückzugehen; sind die sensitiven Pflanzen, die bei der leisesten
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Berührung ihre Blätter falten oder ihre Blumen schließen, sind
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die insektenfressenden Pflanzen ohne die leiseste Spur von Empfindung und auch
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ohne jede Anlage dazu? Das kann selbst Herr Dühring nicht ohne »unwissenschaftliche
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Halbpoesie« behaupten.</P>
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<P>Drittens ist es wieder eine freie Schöpfung und Imagination des Herrn
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Dühring, wenn er behauptet, die Empfindung sei psychologisch |muß offenbar
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»physiologisch« heißen| an das Vorhandensein irgendeines, wenn auch noch
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so einfachen Nervenapparates geknüpft. Nicht nur alle Urtiere, auch noch
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die Pflanzentiere, wenigstens ihrer großen Mehrzahl nach, weisen keine Spur
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eines Nervenapparates auf. Erst von den Würmern an wird ein solcher regelmäßig
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vorgefunden, und Herr Dühring ist der erste, der die Behauptung aufstellt,
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jene Tiere hätten keine Empfindung, weil keine Nerven. Die Empfindung ist
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nicht notwendig an Nerven geknüpft, wohl aber an gewisse, bisher nicht näher
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festgestellte Eiweißkörper.</P>
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<P>Übrigens werden die biologischen Kenntnisse des Herrn Dühring hinreichend
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charakterisiert durch die Frage, die er sich nicht scheut, Darwin gegenüber
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aufzuwerfen:</P>
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<P><SMALL>»Soll sich das Tier aus der Pflanze entwickelt haben?«</SMALL></P>
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<P>So kann nur jemand fragen, der weder von Tieren noch von Pflanzen das geringste
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weiß.</P>
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<P>Vom Leben im allgemeinen weiß uns Herr Dühring nur zu sagen:</P>
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<P><SMALL>»Der Stoffwechsel, der sich vermittelst einer plastisch bildenden Schematisierung«
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(was in aller Welt ist das nur ein Ding?) »vollzieht, bleibt stets ein auszeichnender
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Charakter des eigentlichen Lebensprozesses.«</SMALL></P>
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<P>Das ist alles, was wir vom Leben erfahren, wobei wir noch gelegentlich der
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»plastisch bildenden Schematisierung« knietief im sinnlosen Kauderwelsch des reinsten
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Dühring-Jargons steckenbleiben. Wenn wir also wissen <A NAME="S75"></A><B>|75|</B>
|
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wollen, was Leben ist, so werden wir uns wohl selbst näher danach umsehn
|
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müssen.</P>
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<P>Daß der organische Stoffwechsel die allgemeinste und bezeichnendste Erscheinung
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des Lebens, ist seit dreißig Jahren von physiologischen Chemikern und chemischen
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Physiologen unzähligemal gesagt und hier von Herrn Dühring einfach in
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seine eigne elegante und klare Sprache übersetzt. Aber das Leben als organischen
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Stoffwechsel definieren, heißt das Leben definieren als - Leben; denn organischer
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Stoffwechsel oder Stoffwechsel mit plastisch bildender Schematisierung ist eben
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ein Ausdruck, der selbst wieder der Erklärung durch das Leben bedarf, der
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Erklärung durch den Unterschied von Organischem und Unorganischem, d.h. Lebendem
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und Nichtlebendem. Mit dieser Erklärung kommen wir also nicht vom Fleck.</P>
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<P>Stoffwechsel als solcher findet statt auch ohne Leben. Es gibt eine ganze Reihe
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von Prozessen in der Chemie, die bei genügender Zufuhr von Rohstoffen ihre
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eignen Bedingungen stets wieder erzeugen und zwar so, daß dabei ein bestimmter
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Körper Träger des Prozesses ist. So bei der Fabrikation von Schwefelsäure
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durch Verbrennung von Schwefel. Es erzeugt sich dabei Schwefeldioxyd, SO<SPAN class="bottom">2</SPAN>,
|
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und indem man Wasserdampf und Salpetersäure zuführt, nimmt das Schwefeldioxyd
|
|
Wasserstoff und Sauerstoff auf und verwandelt sich in Schwefelsäure, H<SPAN class="top">2</SPAN>SO<SPAN class="bottom">4</SPAN>.
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|
Die Salpetersäure gibt dabei Sauerstoff ab und wird zu Stickoxyd reduziert;
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|
dies Stickoxyd nimmt sogleich wieder aus der Luft neuen Sauerstoff auf und verwandelt
|
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sich in höhere Oxyde des Stickstoffs, aber nur um diesen Sauerstoff sofort
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wieder an das Schwefeldioxyd abzugeben und von neuem denselben Prozeß durchzumachen,
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so daß theoretisch eine unendlich kleine Menge von Salpetersäure hinreichen
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sollte, um eine unbeschränkte Menge von Schwefeldioxyd, Sauerstoff und Wasser
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in Schwefelsäure zu verwandeln. - Stoffwechsel findet ferner statt bei dem
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Durchtritt von Flüssigkeiten durch tote organische und selbst durch unorganische
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Membranen, sowie bei Traubes künstlichen Zellen. Es zeigt sich hier wiederum,
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daß wir mit dem Stoffwechsel nicht vom Fleck kommen; denn der eigentümliche
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Stoffwechsel, der das Leben erklären soll, bedarf selbst wieder der Erklärung
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durch das Leben. Wir müssen es also anders versuchen.</P>
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<P><I>Leben ist die Daseinsweise der Eiweißkörper,</I> und diese Daseinsweise
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besteht wesentlich in der beständigen Selbsterneuerung der chemischen Bestandteile
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dieser Körper.</P>
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<P>Eiweißkörper ist hier verstanden im Sinn der modernen Chemie, die
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unter diesem Namen alle dem gewöhnlichen Eiweiß analog zusammen- <A NAME="S76"></A><B>|76|</B>
|
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gesetzten Körper, sonst auch Proteinsubstanzen genannt, zusammenfaßt.
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Der Name ist ungeschickt, weil das gewöhnliche Eiweiß von allen ihm
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verwandten Substanzen die lebloseste, passivste Rolle spielt, indem es neben dem
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Eidotter lediglich Nahrungssubstanz für den sich entwickelnden Keim ist.
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Solange indes über die chemische Zusammensetzung der Eiweißkörper
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noch so wenig bekannt, ist dieser Name immer noch besser, weil allgemeiner, als
|
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alle andern.</P>
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<P>Überall, wo wir Leben vorfinden, finden wir es an einen Eiweißkörper
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gebunden, und überall, wo wir einen nicht in der Auflösung begriffenen
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Eiweißkörper vorfinden, da finden wir ausnahmslos auch Lebenserscheinungen.
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Unzweifelhaft ist die Gegenwart auch andrer chemischer Verbindungen in einem lebenden
|
|
Körper notwendig, um besondre Differenzierungen dieser Lebenserscheinungen
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hervorzurufen; zum nackten Leben sind sie nicht erforderlich, es sei denn soweit
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sie als Nahrung eingehn und in Eiweiß verwandelt werden. Die niedrigsten
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lebenden Wesen, die wir kennen, sind eben nichts als einfache Eiweißklümpchen,
|
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und sie zeigen schon alle wesentlichen Lebenserscheinungen.</P>
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<P>Worin aber bestehn diese überall, bei allen lebenden Wesen gleichmäßig
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vorhandnen Lebenserscheinungen? Vor allem darin, daß der Eiweißkörper
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aus seiner Umgebung andre geeignete Stoffe in sich aufnimmt, sie sich assimiliert,
|
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während andre, ältere Teile des Körpers sich zersetzen und ausgeschieden
|
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werden. Andre, nicht lebende Körper verändern, zersetzen oder kombinieren
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sich auch im Lauf der natürlichen Dinge; aber dabei hören sie auf, das
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zu sein, was sie waren. Der Fels, der verwittert, ist kein Fels mehr; das Metall,
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das oxydiert, geht in Rost über. Aber was bei toten Körpern Ursache
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des Untergangs, das ist beim Eiweiß <I>Grundbedingung der Existenz</I>.
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Von dem Augenblick an, wo diese ununterbrochene Umsetzung der Bestandteile im
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Eiweißkörper, dieser andauernde Wechsel von Ernährung und Ausscheidung
|
|
aufhört, von dem Augenblick an hört der Eiweißkörper selbst
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auf, zersetzt sich, d.h. <I>stirbt</I>. Das Leben, die Daseinsweise des Eiweißkörpers
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besteht also vor allem darin, daß er in jedem Augenblick er selbst und zugleich
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ein andrer ist; und dies nicht infolge eines Prozesses, dem er von außen
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her unterworfen wird, wie dies auch bei toten Körpern der Fall sein kann.
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Im Gegenteil, das Leben, der durch Ernährung und Ausscheidung erfolgende
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Stoffwechsel ist ein sich selbst vollziehender Prozeß, der seinem Träger,
|
|
dem Eiweiß, inhärent, eingeboren ist, ohne den es nicht sein kann.
|
|
Und daraus folgt, daß, wenn es der Chemie jemals gelingen sollte, Eiweiß
|
|
künstlich herzustellen, dies Eiweiß Lebenserscheinungen zeigen muß,
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|
mögen sie auch noch so schwach sein. Es ist freilich fraglich, <A NAME="S77"></A><B>|77|</B>
|
|
ob die Chemie auch gleichzeitig das richtige Futter für dies Eiweiß
|
|
entdecken wird.</P>
|
|
<P>Aus dem durch Ernährung und Ausscheidung vermittelten Stoffwechsel als
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wesentlicher Funktion des Eiweißes und aus der ihm eignen Plastizität
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leiten sich dann alle übrigen einfachsten Faktoren des Lebens ab: Reizbarkeit
|
|
- die schon in der Wechselwirkung zwischen dem Eiweiß und seiner Nahrung
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eingeschlossen liegt; Kontraktibilität - die sich schon auf sehr niedriger
|
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Stufe bei der Verzehrung des Futters zeigt, Wachstumsmöglichkeit, die auf
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niedrigster Stufe die Fortpflanzung durch Teilung einschließt; innere Bewegung,
|
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ohne die weder Verzehrung noch Assimilation der Nahrung möglich ist.</P>
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<P>Unsre Definition des Lebens ist natürlich sehr ungenügend, indem
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|
sie, weit entfernt <I>alle</I> Lebenserscheinungen einzuschließen, sich
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vielmehr auf die allerallgemeinsten und einfachsten beschränken muß.
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Alle Definitionen sind wissenschaftlich von geringem Wert. Um wirklich erschöpfend
|
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zu wissen, was das Leben ist, müßten wir alle seine Erscheinungsformen
|
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durchgehn, von der niedrigsten bis zur höchsten. Für den Handgebrauch
|
|
sind jedoch solche Definitionen sehr bequem und stellenweise nicht gut zu entbehren;
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|
sie können auch nicht schaden, solange man nur ihre unvermeidlichen Mängel
|
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nicht vergißt.</P>
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|
<P>Doch zurück zu Herrn Dühring. Wenn es ihm im Bereich der irdischen
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Biologie einigermaßen schlecht ergeht, so weiß er sich zu trösten,
|
|
er flüchtet in seinen Sternenhimmel.</P>
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<P><SMALL>»Es ist nicht erst die besondre Einrichtung eines empfindenden Organs,
|
|
sondern schon die ganze objektive Welt, welche auf die Hervorbringung von Lust
|
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und Schmerz angelegt ist. Aus diesem Grunde nehmen wir an, daß der Gegensatz
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von Lust und Schmerz, und zwar <I>genau</I> in der uns bekannten Weise, ein universeller
|
|
sei und <I>in den verschiednen Welten des Alls </I>durch wesentlich gleichartige
|
|
Gefühle vertreten sein müsse ... Diese Übereinstimmung bedeutet
|
|
aber <I>nicht wenig</I>; denn sie ist der Schlüssel zu dem <I>Universum der
|
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Empfindungen </I>... Uns ist mithin die subjektive kosmische Welt nicht viel fremder
|
|
als die objektive. Die Konstitution beider Reiche ist nach einem übereinstimmenden
|
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Typus zu denken, und hiermit haben wir die Anfänge zu einer Bewußtseinslehre,
|
|
die eine größere als bloß terrestrische Tragweite hat.«</SMALL></P>
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<P>Was verschlagen ein paar grobe Schnitzer in der irdischen Naturwissenschaft
|
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für den, der den Schlüssel zu dem Universum der Empfindungen in der
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|
Tasche trägt? Allons donc! |Also wohlan!|</P>
|
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<H3 align="center">IX. Moral und Recht. Ewige Wahrheiten<A name="Kap_IX"></A></H3>
|
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<P><B><A NAME="S78">|78|</A></B> Wir enthalten uns, Pröbchen zu geben von
|
|
dem Mischmasch von Plattheit und Orakelhaftigkeit, kurz von dem simplen <I>Kohl</I>,
|
|
den Herr Dühring seinen Lesern fünfzig volle Seiten zu genießen
|
|
gibt, als wurzelhafte Wissenschaft von den Elementen des Bewußtseins. Wir
|
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zitieren nur dies:</P>
|
|
<P><SMALL>»Wer nur an der Hand der Sprache zu denken vermag, hat noch nie erfahren,
|
|
was <I>abgesondertes</I> und <I>eigentliches</I> Denken zu bedeuten habe.«</SMALL></P>
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|
<P>Danach sind die Tiere die abgesondertsten und eigentlichsten Denker, weil ihr
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|
Denken nie durch die zudringliche Einmischung der Sprache getrübt wird. Allerdings
|
|
sieht man es den Dühringschen Gedanken und der sie ausdrückenden Sprache
|
|
an, wie wenig diese Gedanken für irgendeine Sprache gemacht sind und wie
|
|
wenig die deutsche Sprache für diese Gedanken.</P>
|
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<P>Endlich erlöst uns der vierte Abschnitt, der uns, außer jenem zerfließenden
|
|
Redebrei, wenigstens hie und da etwas Greifbares über <I>Moral</I> und <I>Recht</I>
|
|
bietet. Gleich im Anfang werden wir diesmal zu einer Reise auf die andern Weltkörper
|
|
eingeladen:</P>
|
|
<P><SMALL>die Elemente der Moral müssen sich »bei allen außermenschlichen
|
|
Wesen, in denen sich ein tätiger Verstand mit der bewußten Ordnung
|
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von triebförmigen Lebensregungen zu befassen hat, in übereinstimmender
|
|
Weise ... wiederfinden ... Doch wird unsre Teilnahme für solche Folgerungen
|
|
gering bleiben ... Außerdem aber bleibt es immer eine den Gesichtskreis
|
|
<I>wohltätig erweiternde</I> Idee, wenn wir uns vorstellen, daß auf
|
|
andern Weltkörpern das Einzel- und das Gemeinleben von einem Schema ausgehen
|
|
muß, welches ... nicht vermag, die allgemeine Grundverfassung eines verstandesmäßig
|
|
handelnden Lesens aufzuheben oder zu umgehn.«</SMALL></P>
|
|
<P>Wenn hier ausnahmsweise die Gültigkeit der Dühringschen Wahrheiten
|
|
auch für alle andern möglichen Welten an die Spitze, statt ans Ende
|
|
des betreffenden Kapitels gestellt wird, so hat das seinen zureichenden Grund.
|
|
Hat man erst die Gültigkeit der Dühringschen Moral- und Gerechtigkeitsvorstellungen
|
|
für alle <I>Welten</I> festgestellt, so wird man um so leichter ihre Gültigkeit
|
|
auf alle <I>Zeiten</I> wohltätig erweitern können. Es handelt sich aber
|
|
hier wieder um nichts Geringeres als um endgültige Wahrheit letzter Instanz.</P>
|
|
<P><SMALL>Die moralische Welt hat »so gut wie diejenige des allgemeinen Wissens
|
|
... ihre bleibenden Prinzipien und einfachen Elemente«, die moralischen Prinzipien
|
|
stehn »über der Geschichte und über den heutigen Unterschieden der Völkerbeschaffenheiten
|
|
... Die besondern Wahrheiten, aus denen sich im Lauf der Entwicklung das <A NAME="S79"></A><B>|79|</B>
|
|
vollere moralische Bewußtsein und sozusagen das Gewissen zusammensetzt,
|
|
können, soweit sie bis in ihre letzten Gründe erkannt sind, eine ähnliche
|
|
Geltung und Tragweite beanspruchen, wie die Einsichten und Anwendungen der Mathematik.
|
|
<I>Echte Wahrheiten sind überhaupt nicht wandelbar</I> ... so daß es
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|
überhaupt eine Torheit ist, die Richtigkeit der Erkenntnis als von der Zeit
|
|
und den realen Veränderungen angreifbar vorzustellen.« Daher läßt
|
|
uns die Sicherheit strengen Wissens und die Zulänglichkeit der gemeineren
|
|
Erkenntnis nicht dazu kommen, im besonnenen zustande an der absoluten Gültigkeit
|
|
der Wissensprinzipien zu verzweifeln. »Schon der dauernde Zweifel selbst ist ein
|
|
krankhafter Schwächezustand und nichts als der Ausdruck <I>wüster Verworrenheit,</I>
|
|
die bisweilen in dem systematischen Bewußtsein ihrer <I>Nichtigkeit</I>
|
|
den Schein von etwas Haltung aufzutreiben sucht. In den sittlichen Angelegenheiten
|
|
klammert sich die Leugnung allgemeiner Prinzipien an die geographischen und geschichtlichen
|
|
Mannigfaltigkeiten der Sitten und Grundsätze, und gibt man ihr die unausweichliche
|
|
Notwendigkeit des sittlich Schlimmen und Bösen zu, so glaubt sie erst recht
|
|
über die Anerkennung der ernsthaften Geltung und tatsächlichen Wirksamkeit
|
|
übereinstimmender moralischer Antriebe hinaus zu sein. Diese <I>aushöhlende
|
|
Skepsis,</I> die sich nicht etwa gegen einzelne falsche Lehren, sondern gegen
|
|
die menschliche Fähigkeit zur bewußten Moralität selbst kehrt,
|
|
mündet schließlich in ein wirkliches Nichts, ja eigentlich in etwas,
|
|
was schlimmer ist als der bloße Nihilismus ... Sie schmeichelt sich, in
|
|
ihrem <I>wirren Chaos</I> von aufgelösten sittlichen Vorstellungen leichten
|
|
Kaufes herrschen und dem grundsatzlosen Belieben alle Tore öffnen zu können.
|
|
Sie täuscht sich aber gewaltig: denn die bloße Hinweisung auf die unvermeidlichen
|
|
Schicksale des Verstandes in Irrtum und Wahrheit genügt, um schon durch diese
|
|
einzige Analogie erkennbar zu machen, wie die naturgesetzliche Fehlbarkeit die
|
|
Vollbringung des Zutreffenden nicht auszuschließen braucht.«</SMALL></P>
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|
<P> Wir haben bis jetzt alle diese pompösen Aussprüche des Herrn Dühring
|
|
über endgültige Wahrheiten letzter Instanz, Souveränetät des
|
|
Denkens, absolute Sicherheit des Erkennens usw. ruhig hingenommen, weil die Sache
|
|
doch erst an dem Punkt zum Austrag gebracht werden konnte, wo wir jetzt angelangt
|
|
sind. Bisher genügte die Untersuchung, inwieweit die einzelnen Behauptungen
|
|
der Wirklichkeitsphilosophie »souveräne Geltung« und »unbedingten Anspruch
|
|
auf Wahrheit« hatten; hier kommen wir vor die Frage, ob und welche Produkte des
|
|
menschlichen Erkennens überhaupt souveräne Geltung und unbedingten Anspruch
|
|
auf Wahrheit haben können. Wenn ich sage: des <I>menschlichen</I> Erkennens,
|
|
so sage ich dies nicht etwa in beleidigender Absicht gegen die Bewohner andrer
|
|
Weltkörper, die ich nicht die Ehre habe zu kennen, sondern nur weil auch
|
|
die Tiere erkennen, aber keineswegs souverän. Der Hund erkennt in seinem
|
|
Herrn seinen Gott, wobei dieser Herr der größte Lump sein kann.</P>
|
|
<P> Ist das menschliche Denken souverän? Ehe wir ja oder nein antworten,
|
|
müssen wir erst untersuchen, was das menschliche Denken ist. Ist es das <A NAME="S80"></A><B>|80|</B>
|
|
Denken eines einzelnen Menschen? Nein. Aber es existiert nur als das Einzeldenken
|
|
von vielen Milliarden vergangner, gegenwärtiger und zukünftiger Menschen.
|
|
Wenn ich nun sage, daß dies in meiner Vorstellung zusammengefaßte
|
|
Denken aller dieser Menschen, die zukünftigen eingeschlossen, <I>souverän</I>,
|
|
imstande ist, die bestehende Welt zu erkennen, sofern die Menschheit nur lange
|
|
genug dauert und soweit nicht in den Erkenntnisorganen und den Erkenntnisgegenständen
|
|
diesem Erkennen Schranken gesetzt sind, so sage ich etwas ziemlich Banales und
|
|
zudem ziemlich Unfruchtbares. Denn das wertvollste Resultat dürfte dies sein,
|
|
uns gegen unsre heutige Erkenntnis äußerst mißtrauisch zu machen,
|
|
da wir ja aller Wahrscheinlichkeit nach so ziemlich am Anfang der Menschheitsgeschichte
|
|
stehn, und die Generationen, die <I>uns</I> berichtigen werden, wohl viel zahlreicher
|
|
sein dürften als diejenigen, deren Erkenntnis wir - oft genug mit beträchtlicher
|
|
Geringschätzung - zu berichtigen im Falle sind.</P>
|
|
<P>Herr Dühring selbst erklärt es für eine Notwendigkeit, daß
|
|
das Bewußtsein, also auch das Denken und Erkennen, nur in einer Reihe von
|
|
Einzelwesen zur Erscheinung kommen könne. Dem Denken jedes dieser Einzelnen
|
|
können wir nur insofern Souveränetät zuschreiben, als wir keine
|
|
Macht kennen, die imstande wäre, ihm im gesunden und wachenden Zustand irgendeinen
|
|
Gedanken mit Gewalt aufzunötigen. Was aber die souveräne Geltung der
|
|
Erkenntnisse jedes Einzeldenkens angeht, so wissen wir alle, daß davon gar
|
|
keine Rede sein kann, und daß nach aller bisherigen Erfahrung sie ohne Ausnahme
|
|
stets viel mehr Verbesserungsfähiges als Nichtverbesserungsfähiges oder
|
|
Richtiges enthalten.</P>
|
|
<P>Mit andern Worten: die Souveränetät des Denkens verwirklicht sich
|
|
in einer Reihe höchst unsouverän denkender Menschen; die Erkenntnis,
|
|
welche unbedingten Anspruch auf Wahrheit hat, in einer Reihe von relativen Irrtümern;
|
|
weder die eine noch die andre kann anders als durch eine unendliche Lebensdauer
|
|
der Menschheit vollständig verwirklicht werden.</P>
|
|
<P>Wir haben hier wieder denselben Widerspruch, wie <A HREF="me20_032.htm#S35">schon oben</A>,
|
|
zwischen dem notwendig als absolut vorgestellten Charakter des menschlichen Denkens,
|
|
und seiner Realität in lauter beschränkt denkenden Einzelmenschen, ein
|
|
Widerspruch, der sich nur im unendlichen Progreß, in der für uns wenigstens
|
|
praktisch endlosen Aufeinanderfolge der Menschengeschlechter lösen kann.
|
|
In diesem Sinn ist das menschliche Denken ebensosehr souverän wie nicht souverän
|
|
und seine Erkenntnisfähigkeit ebensosehr unbeschränkt wie beschränkt.
|
|
Souverän und unbeschränkt der Anlage, <A NAME="S81"></A><B>|81|</B>
|
|
dem Beruf, der Möglichkeit, dem geschichtlichen Endziel nach; nicht souverän
|
|
und beschränkt der Einzelausführung und der jedesmaligen Wirklichkeit
|
|
nach.</P>
|
|
<P>Ebenso verhält es sich mit den ewigen Wahrheiten. Käme die Menschheit
|
|
je dahin, daß sie nur noch mit ewigen Wahrheiten, mit Denkresultaten operierte,
|
|
die souveräne Geltung und unbedingten Anspruch auf Wahrheit haben, so wäre
|
|
sie auf dem Punkt angekommen, wo die Unendlichkeit der intellektuellen Welt nach
|
|
Wirklichkeit wie Möglichkeit erschöpft und damit das vielberühmte
|
|
Wunder der abgezählten Unzahl vollzogen wäre.</P>
|
|
<P>Nun gibt es aber doch Wahrheiten, die so feststehn, daß jeder Zweifel
|
|
daran uns als gleichbedeutend mit Verrücktheit erscheint? daß zwei
|
|
mal zwei vier ist, daß die drei Winkel eines Dreiecks gleich zwei Rechten
|
|
sind, daß Paris in Frankreich liegt, daß ein Mensch ohne Nahrung Hungers
|
|
stirbt usw.? Also gibt es doch <I>ewige</I> Wahrheiten, endgültige Wahrheiten
|
|
letzter Instanz?</P>
|
|
<P>allerdings Wir können das ganze Gebiet des Erkennens nach altbekannter
|
|
Art in drei große Abschnitte teilen. Der erste umfaßt alle Wissenschaften,
|
|
die sich mit der unbelebten Natur beschäftigen und mehr oder minder einer
|
|
mathematischen Behandlung fähig sind: Mathematik, Astronomie, Mechanik, Physik,
|
|
Chemie. Wenn es jemandem Vergnügen macht, gewaltige Worte auf sehr einfache
|
|
Dinge anzuwenden, so kann man sagen, daß <I>gewisse</I> Ergebnisse dieser
|
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Wissenschaften ewige Wahrheiten, endgültige Wahrheiten letzter Instanz sind:
|
|
weshalb man diese Wissenschaften auch die <I>exakten</I> genannt hat. Aber noch
|
|
lange nicht alle Ergebnisse. Mit der Einführung der veränderlichen Größen
|
|
und der Ausdehnung ihrer Veränderlichkeit bis ins unendlich Kleine und unendlich
|
|
Große hat die sonst so sittenstrenge Mathematik den Sündenfall begangen;
|
|
sie hat den Apfel der Erkenntnis gegessen, der ihr die Laufbahn der riesenhaftesten
|
|
Erfolge eröffnete, aber auch die der Irrtümer. Der jungfräuliche
|
|
Zustand der absoluten Gültigkeit, der unumstößlichen Bewiesenheit
|
|
alles Mathematischen war auf ewig dahin; das Reich der Kontroversen brach an,
|
|
und wir sind dahin gekommen, daß die meisten Leute differenzieren und integrieren,
|
|
nicht weil sie verstehn, was sie tun, sondern aus reinem Glauben, weil es bisher
|
|
immer richtig herausgekommen ist. Mit der Astronomie und Mechanik steht es noch
|
|
schlimmer, und in Physik und Chemie befindet man sich inmitten der Hypothesen
|
|
wie inmitten eines Bienenschwarms. Es ist dies auch gar nicht anders möglich.
|
|
In der Physik haben wir es mit der Bewegung von Molekülen, in der Chemie
|
|
mit der Bildung von Molekülen aus Atomen zu tun, und wenn nicht die Interferenz
|
|
der Lichtwellen eine Fabel <A NAME="S82"></A><B>|82|</B> ist, so haben wir absolut
|
|
keine Aussicht, jemals diese interessanten Dinger mit unsern Augen zu sehn. Die
|
|
endgültigen Wahrheiten letzter Instanz werden da mit der Zeit merkwürdig
|
|
selten.</P>
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<P>Noch schlimmer sind wir dran in der Geologie, die ihrer Natur nach sich hauptsächlich
|
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mit Vorgängen beschäftigt, bei denen nicht nur nicht wir, sondern überhaupt
|
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kein Mensch dabeigewesen ist. Die Ausbeute an endgültigen Wahrheiten letzter
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Instanz ist daher hier mit sehr vieler Mühe verknüpft und dabei äußerst
|
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sparsam.</P>
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<P>Die zweite Klasse von Wissenschaften ist die, welche die Erforschung der lebenden
|
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Organismen in sich begreift. Auf diesem Gebiet entwickelt sich eine solche Mannigfaltigkeit
|
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der Wechselbeziehungen und Ursächlichkeiten, daß nicht nur jede gelöste
|
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Frage eine Unzahl neuer Fragen aufwirft, sondern auch jede einzelne Frage meist
|
|
nur stückweise, durch eine Reihe von oft Jahrhunderte in Anspruch nehmenden
|
|
Forschungen gelöst werden kann; wobei dann das Bedürfnis systematischer
|
|
Auffassung der Zusammenhänge stets von neuem dazu nötigt, die endgültigen
|
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Wahrheiten letzter Instanz mit einer überwuchernden Anpflanzung von Hypothesen
|
|
zu umgeben. Welche lange Reihe von Mittelstufen von Galen bis Malpighi war nötig,
|
|
um eine so einfache Sache wie die Zirkulation des Bluts bei Säugetieren richtig
|
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festzustellen, wie wenig wissen wir von der Entstehung der Blutkörperchen,
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und wieviel Mittelglieder fehlen uns heute noch, um z.B. die Erscheinungen einer
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Krankheit mit ihren Ursachen in rationellen Zusammenhang zu bringen! Dabei kommen
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oft genug Entdeckungen vor wie die der Zelle, die uns zwingen, alle bisher festgestellten
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endgültigen Wahrheiten letzter Instanz auf dem Gebiet der Biologie einer
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totalen Revision zu unterwerfen und ganze Haufen davon ein für allemal zu
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beseitigen. Wer also hier wirklich echte, unwandelbare Wahrheiten aufstellen will,
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der wird sich mit Plattheiten begnügen müssen wie: Alle Menschen müssen
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sterben, alle weiblichen Säugetiere haben Milchdrüsen usw.; er wird
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nicht einmal sagen können, daß die höheren Tiere mit dem Magen
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und Darmkanal verdauen und nicht mit dem Kopf, denn die im Kopf zentralisierte
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Nerventätigkeit ist zur Verdauung unumgänglich.</P>
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<P>Noch schlimmer aber steht es mit den ewigen Wahrheiten in der dritten Gruppe
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von Wissenschaften, der historischen, die die Lebensbedingungen der Menschen,
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die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Rechts- und Staatsformen mit ihrem
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idealen Überbau von Philosophie, Religion, Kunst usw. in ihrer geschichtlichen
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Folge und ihrem gegenwärtigen Ergebnis untersucht. In der organischen Natur
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haben wir es doch wenigstens mit einer Reihenfolge von Hergängen zu tun,
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die sich, soweit unsre unmittelbare <A NAME="S83"></A><B>|83|</B> Beobachtung
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in Frage kommt, innerhalb sehr weiter Grenzen ziemlich regelmäßig wiederholen.
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Die Arten der Organismen sind seit Aristoteles im ganzen und großen dieselben
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geblieben. In der Geschichte der Gesellschaft dagegen sind die Wiederholungen
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der Zustände die Ausnahme, nicht die Regel, sobald wir über die Urzustände
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der Menschen, das sogenannte Steinalter, hinausgehn; und wo solche Wiederholungen
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vorkommen, da ereignen sie sich nie genau unter denselben Umständen. So das
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Vorkommen des ursprünglichen Gemeineigentums am Boden bei allen Kulturvölkern
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und die Form seiner Auflösung. Wir sind daher auf dem Gebiet der Menschengeschichte
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mit unsrer Wissenschaft noch weit mehr im Rückstand als auf dem der Biologie;
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und mehr noch: wenn einmal ausnahmsweise der innere Zusammenhang der gesellschaftlichen
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und politischen Daseinsformen eines Zeitabschnitts erkannt wird, so geschieht
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es regelmäßig dann, wenn diese Formen sich schon halb überlebt
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haben, dem Verfall entgegengehn. Die Erkenntnis ist hier also wesentlich relativ,
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indem sie sich beschränkt auf die Einsicht in den Zusammenhang und auf die
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Folgen gewisser, nur zu einer gegebnen Zeit und für gegebne Völker bestehenden
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und ihrer Natur nach vergänglichen Gesellschafts- und Staatsformen. Wer hier
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also auf endgültige Wahrheiten letzter Instanz, auf echte, überhaupt
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nicht wandelbare Wahrheiten Jagd macht, der wird wenig heimtragen, es seien denn
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Plattheiten und Gemeinplätze der ärgsten Art, z.B. daß die Menschen
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im allgemeinen ohne Arbeit nicht leben können, daß sie sich bisher
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meist eingeteilt haben in Herrschende und Beherrschte, daß Napoleon am 5.
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Mal 1821 gestorben ist usw.</P>
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<P>Nun ist es aber merkwürdig, daß gerade auf diesem Gebiet die angeblichen
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ewigen Wahrheiten, die endgültigen Wahrheiten letzter Instanz usw. uns am
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häufigsten begegnen. Daß zwei mal zwei vier ist, daß die Vögel
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Schnäbel haben, oder derartiges wird nur der für ewige Wahrheiten erklären,
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der mit der Absicht umgeht, aus dem Dasein ewiger Wahrheiten überhaupt zu
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folgern, daß es auch auf dem Gebiete der Menschengeschichte ewige Wahrheiten
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gebe, eine ewige Moral, eine ewige Gerechtigkeit usw., die eine ähnliche
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Geltung und Tragweite beanspruchen wie die Einsichten und Anwendungen der Mathematik.
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Und dann können wir mit Bestimmtheit darauf rechnen, daß derselbe Menschenfreund
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uns bei erster Gelegenheit erklären wird, alle früheren Fabrikanten
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ewiger Wahrheiten seien mehr oder weniger Esel und Scharlatane, seien alle im
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Irrtum befangen gewesen, hätten gefehlt; das Vorhandensein <I>ihres</I> Irrtums
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und <I>ihrer</I> Fehlbarkeit aber sei naturgesetzlich und beweise das Dasein der
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Wahrheit und des Zutreffenden <I>bei ihm</I>, und er, der jetzt erstandne Prophet,
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trage die endgültige Wahr- <A NAME="S84"></A><B>|84|</B> heit letzter Instanz,
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die ewige Moral, die ewige Gerechtigkeit, fix und fertig im Sack. Das alles ist
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schon so hundertmal und tausendmal dagewesen, daß man sich nur wundern muß,
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wenn es noch Menschen gibt, leichtgläubig genug, um dies nicht von andern,
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nein, von sich selbst zu glauben. Und dennoch erleben wir hier wenigstens noch
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einen solchen Propheten, der denn auch ganz in gewohnter Weise in hochmoralischen
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Harnisch gerät, wenn andre Leute es ableugnen, daß irgendein einzelner
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die endgültige Wahrheit letzter Instanz zu liefern imstande sei. Solche Leugnung,
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ja schon der bloße Zweifel ist ein Schwächezustand, wüste Verworrenheit,
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Nichtigkeit, aushöhlende Skepsis, schlimmer als der bloße Nihilismus,
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wirres Chaos und was dergleichen Liebenswürdigkeiten mehr sind. Wie bei allen
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Propheten, wird nicht kritisch-wissenschaftlich untersucht und beurteilt, sondern
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ohne weiteres moralisch verdonnert.</P>
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<P>Wir hätten oben noch die Wissenschaften erwähnen können, die
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die Gesetze des menschlichen Denkens untersuchen, also Logik und Dialektik. Hier
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aber sieht es mit den ewigen Wahrheiten nicht besser aus. Die eigentliche Dialektik
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erklärt Herr Dühring für reinen Widersinn, und die vielen Bücher,
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die über Logik geschrieben worden sind und noch geschrieben werden, beweisen
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zur Genüge, daß auch da die endgültigen Wahrheiten letzter Instanz
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viel dünner gesäet sind, als mancher glaubt.</P>
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<P>Übrigens brauchen wir uns keineswegs darüber zu erschrecken, daß
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die Erkenntnisstufe, auf der wir heute stehn, ebensowenig endgültig ist als
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alle vorhergegangenen. Sie umfaßt schon ein ungeheures Material von Einsichten
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und erfordert eine sehr große Spezialisierung der Studien für jeden,
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der in irgendeinem Fach heimisch werden will. Wer aber den Maßstab echter,
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unwandelbarer, endgültiger Wahrheit letzter Instanz an Erkenntnisse legt,
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die der Natur der Sache nach entweder für lange Reihen von Generationen relativ
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bleiben und stückweise vervollständigt werden müssen, oder gar
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an solche, die, wie in Kosmogonie, Geologie, Menschheitsgeschichte schon wegen
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der Mangelhaftigkeit des geschichtlichen Materials stets lückenhaft und unvollständig
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bleiben werden - der beweist damit nur seine eigne Unwissenheit und Verkehrtheit,
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selbst wenn nicht, wie hier, der Anspruch auf persönliche Unfehlbarkeit den
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eigentlichen Hintergrund bildet. Wahrheit und Irrtum, wie alle sich in polaren
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Gegensätzen bewegenden Denkbestimmungen, haben absolute Gültigkeit eben
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nur für ein äußerst beschränktes Gebiet; wie wir das eben
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gesehn haben, und wie auch Herr Dühring wissen würde, bei einiger Bekanntschaft
|
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mit den ersten Elementen der Dialektik, die grade von der Unzulänglichkeit
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aller polaren Gegensätze handeln. Sobald wir den Gegensatz von Wahrheit und
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Irrtum außerhalb <A NAME="S85"></A><B>|85|</B> jenes oben bezeichneten engen
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Gebiets anwenden, wird er relativ und damit für genaue wissenschaftliche
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Ausdrucksweise unbrauchbar; versuchen wir aber, ihn außerhalb jenes Gebiets
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als absolut gültig anzuwenden, so kommen wir erst recht in die Brüche;
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die beiden Pole des Gegensatzes schlagen in ihr Gegenteil um, Wahrheit wird Irrtum
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und Irrtum Wahrheit. Nehmen wir als Beispiel das bekannte Boylesche Gesetz, wonach
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bei gleichbleibender Temperatur das Volumen der Gase sich umgekehrt verhält
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wie der Druck, dem sie ausgesetzt sind. Regnault fand, daß dies Gesetz für
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gewisse Fälle nicht zutraf. Wäre er nun ein Wirklichkeitsphilosoph gewesen,
|
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so war er verpflichtet zu sagen: das Boylesche Gesetz ist wandelbar, also keine
|
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echte Wahrheit, also überhaupt keine Wahrheit, also Irrtum. Damit hätte
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er aber einen weit größeren Irrtum begangen, als der im Boyleschen
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Gesetz enthaltene war; in einem Sandhaufen von Irrtum wäre sein Körnchen
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Wahrheit verschwunden; er hätte also sein ursprünglich richtiges Resultat
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zu einem Irrtum verarbeitet, gegen den das Boylesche Gesetz mitsamt dem bißchen
|
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Irrtum, das an ihm klebte, als Wahrheit erschien. Regnault, als wissenschaftlicher
|
|
Mann, ließ sich aber auf dergleichen Kindereien nicht ein, sondern untersuchte
|
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weiter und fand, daß das Boylesche Gesetz überhaupt nur annähernd
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richtig ist, und besonders seine Gültigkeit verliert bei Gasen, die durch
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Druck tropfbarflüssig gemacht werden können, und zwar sobald der Druck
|
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sich dem Punkt nähert, wo die Tropfbarkeit eintritt. Das Boylesche Gesetz
|
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erwies sich also als richtig nur innerhalb bestimmter Grenzen. Ist es aber absolut,
|
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endgültig wahr innerhalb dieser Grenzen? Kein Physiker wird das behaupten.
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Er wird sagen, daß es Gültigkeit hat innerhalb gewisser Druck- und
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Temperaturgrenzen und für gewisse Gase; und er wird innerhalb dieser noch
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enger gesteckten Grenzen die Möglichkeit nicht ausschließen einer noch
|
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engeren Begrenzung oder veränderter Fassung durch künftige Untersuchungen.<A NAME="ZF1"></A><A HREF="me20_032.htm#F1"><SPAN class="top">(1)</SPAN></A>
|
|
So steht es also um die endgül- <A NAME="S86"></A><B>|86|</B> tigen Wahrheiten
|
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letzter Instanz, z.B. in der Physik. Wirklich wissenschaftliche Arbeiten vermeiden
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daher regelmäßig solche dogmatisch-moralische Ausdrücke wie Irrtum
|
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und Wahrheit, während diese uns überall entgegentreten in Schriften
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wie die Wirklichkeitsphilosophie, wo leeres Hin- und Herreden uns als souveränstes
|
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Resultat des souveränen Denkens sich aufdrängen will.</P>
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|
<P>Aber, könnte ein naiver Leser fragen, wo hat denn Herr Dühring ausdrücklich
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gesagt, daß der Inhalt seiner Wirklichkeitsphilosophie endgültige Wahrheit
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sei, und zwar letzter Instanz? Wo? Nun, zum Beispiel in dem Dithyrambus auf sein
|
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System (S. 13), den wir im <A HREF="me20_016.htm#S26">II. Kapitel</A> teilweise ausgezogen.
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Oder wenn er in dem <A HREF="me20_032.htm#S78">oben zitierten Satz</A> sagt: Die moralischen
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|
Wahrheiten, soweit sie bis in ihre letzten Gründe erkannt sind, beanspruchen
|
|
eine ähnliche Geltung wie die Einsichten der Mathematik. Und behauptet nicht
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Herr Dühring, von seinem wirklich kritischen Standpunkt aus und vermittelst
|
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seiner bis an die Wurzeln reichenden Untersuchung bis zu diesen letzten Gründen,
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den Grundschematen, vorgedrungen zu sein, also den moralischen Wahrheiten Endgültigkeit
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letzter Instanz verliehen zu haben? Oder aber, wenn Herr Dühring diesen Anspruch
|
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weder für sich noch für seine Zeit stellt, wenn er nur sagen will, daß
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irgendeinmal in nebelgrauer Zukunft endgültige Wahrheiten letzter Instanz
|
|
festgestellt werden können, wenn er also ungefähr, nur konfuser, dasselbe
|
|
sagen will wie die »aushöhlende Skepsis« und »wüste Verworrenheit« -
|
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ja dann, wozu der Lärm, was steht dem Herrn zu Diensten?</P>
|
|
<P>Wenn wir schon mit Wahrheit und Irrtum nicht weit vom Fleck kamen, so noch
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viel weniger mit Gut und Böse. Dieser Gegensatz bewegt sich ausschließlich
|
|
auf moralischem, also auf einem der Menschengeschichte angehörigen Gebiet,
|
|
und hier sind die endgültigen Wahrheiten letzter Instanz grade am dünnsten
|
|
gesäet. Von Volk zu Volk, von Zeitalter zu Zeitalter haben die Vorstellungen
|
|
von Gut und Böse so sehr gewechselt, daß sie einander oft geradezu
|
|
widersprachen. - Aber, wird jemand einwerfen, Gut ist doch nicht Böse, und
|
|
Böse nicht Gut; wenn Gut und Böse zusammengeworfen werden, so hört
|
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alle Moralität auf, und jeder kann tun und lassen, was er will. - dies ist
|
|
auch, aller Orakelhaftigkeit entkleidet, die Meinung des Herrn Dühring. Aber
|
|
so einfach erledigt sich die Sache doch nicht. Wenn das so einfach ginge, würde
|
|
ja über Gut und Böse gar kein Streit sein, würde jeder wissen,
|
|
was Gut und was Böse ist. Wie steht's aber heute? Welche Moral wird uns heute
|
|
gepredigt? Da ist zuerst die christlich-feudale, <A NAME="S87"></A><B>|87|</B>
|
|
aus frühern glaubten Zeiten überkommne, die sich wesentlich wieder in
|
|
eine katholische und protestantische teilt, wobei wieder Unterabteilungen von
|
|
der jesuitisch-katholischen und orthodox-protestantischen bis zur lax-aufgeklärten
|
|
Moral nicht fehlen. Daneben figuriert die modern-bürgerliche und neben dieser
|
|
wieder die proletarische Zukunftsmoral, so daß Vergangenheit, Gegenwart
|
|
und Zukunft allein in den fortgeschrittensten Ländern Europas drei große
|
|
Gruppen gleichzeitig und nebeneinander geltender Moraltheorien liefern. Welche
|
|
ist nun die wahre? Keine einzige, im Sinn absoluter Endgültigkeit; aber sicher
|
|
wird diejenige Moral die meisten, Dauer versprechenden, Elemente besitzen, die
|
|
in der Gegenwart die Umwälzung der Gegenwart, die Zukunft, vertritt, also
|
|
die proletarische.</P>
|
|
<P>Wenn wir nun aber sehn, daß die drei Klassen der modernen Gesellschaft,
|
|
die Feudalaristokratie, die Bourgeoisie und das Proletariat jede ihre besondre
|
|
Moral haben, so können wir daraus nur den Schluß ziehn, daß die
|
|
Menschen, bewußt oder unbewußt, ihre sittlichen Anschauungen in letzter
|
|
Instanz aus den praktischen Verhältnissen schöpfen, in denen ihre Klassenlage
|
|
begründet ist - aus den ökonomischen Verhältnissen, in denen sie
|
|
produzieren und austauschen.</P>
|
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<P>Aber in den obigen drei Moraltheorien ist doch manches allen dreien gemeinsam
|
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- wäre dies nicht wenigstens ein Stück der ein für allemal feststehenden
|
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Moral? - Jene Moraltheorien vertreten drei verschiedne Stufen derselben geschichtlichen
|
|
Entwicklung, haben also einen gemeinsamen geschichtlichen Hintergrund, und schon
|
|
deshalb notwendig viel Gemeinsames. Noch mehr. Für gleiche oder annähernd
|
|
gleiche ökonomische Entwicklungsstufen müssen die Moraltheorien notwendig
|
|
mehr oder weniger übereinstimmen. Von dem Augenblick an, wo das Privateigentum
|
|
an beweglichen Sachen sich entwickelt hatte, mußte allen Gesellschaften,
|
|
wo dies Privateigentum galt, daß Moralgebot gemeinsam sein: Du sollst nicht
|
|
stehlen. Wird dies Gebot dadurch zum ewigen Moralgebot? Keineswegs. In einer Gesellschaft,
|
|
wo die Motive zum Stehlen beseitigt sind, wo also auf die Dauer nur noch höchstens
|
|
von Geisteskranken gestohlen werden kann, wie würde da der Moralprediger
|
|
ausgelacht werden, der feierlich die ewige Wahren proklamieren wollte: Du sollst
|
|
nicht stehlen!</P>
|
|
<P>Wir weisen demnach eine jede Zumutung zurück, uns irgendwelche Moraldogmatik
|
|
als ewiges, endgültiges, fernerhin unwandelbares Sittengesetz aufzudrängen,
|
|
unter dem Vorwand, auch die moralische Welt habe ihre bleibenden Prinzipien, die
|
|
über der Geschichte und den Völkerverschiedenheiten stehn. Wir behaupten
|
|
dagegen, alle bisherige Moraltheorie sei das Erzeugnis, in letzter Instanz, der
|
|
jedesmaligen ökonomischen <A NAME="S88"></A><B>|88|</B> Gesellschaftslage.
|
|
Und wie die Gesellschaft sich bisher in Klassengegensätzen bewegte, so war
|
|
die Moral stets eine Klassenmoral; entweder rechtfertigte sie die Herrschaft und
|
|
die Interessen der herrschenden Klasse, oder aber sie vertrat, sobald die unterdrückte
|
|
Klasse mächtig genug wurde, die Empörung gegen diese Herrschaft und
|
|
die Zukunftsinteressen der Unterdrückten. Daß dabei im ganzen und großen
|
|
für die Moral sowohl, wie für alle andern Zweige der menschlichen Erkenntnis
|
|
ein Fortschritt zustande gekommen ist, daran wird nicht gezweifelt. Aber über
|
|
die Klassenmoral sind wir noch nicht hinaus. Eine über den Klassengegensätzen
|
|
und über der Erinnerung an sie stehende, wirklich menschliche Moral wird
|
|
erst möglich auf einer Gesellschaftsstufe, die den Klassengegensatz nicht
|
|
nur überwunden, sondern auch für die Praxis des Lebens vergessen hat.
|
|
Und nun ermesse man die Selbstüberheburg des Herrn Dühring, der mitten
|
|
aus der alten Klassengesellschaft heraus den Anspruch macht, am Vorabend einer
|
|
sozialen Revolution der künftigen, klassenlosen Gesellschaft eine ewige,
|
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von der Zeit und den realen Veränderungen unabhängige Moral aufzuzwingen!
|
|
Vorausgesetzt selbst - was uns bis jetzt noch unbekannt -, daß er die Struktur
|
|
dieser künftigen Gesellschaft wenigstens in ihren Grundzügen verstehe.</P>
|
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<P>Schließlich noch eine »von Grund aus eigentümliche«, aber darum
|
|
nicht weniger »bis an die Wurzeln reichende« Enthüllung: in Beziehung auf
|
|
den Ursprung des Bösen</P>
|
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<P><SMALL>»steht uns die Tatsache, daß der <I>Typus der Katze</I> mit der
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|
zugehörigen Falschheit in einer Tierbildung vorhanden ist, mit dem Umstande
|
|
auf gleicher Stufe, daß sich eine ähnliche Charaktergestaltung auch
|
|
im Menschen vorfindet ... Das Böse ist daher nichts Geheimnisvolles, wenn
|
|
man nicht etwa Lust hat, auch in dem Dasein der <I>Katze</I> oder überhaupt
|
|
des Raubtiers etwas Mystisches zu wittern.«</SMALL></P>
|
|
<P>Das Böse ist - die Katze. Der Teufel hat also keine Hörner und Pferdefuß,
|
|
sondern Krallen und grüne Augen. Und Goethe beging einen unverzeihlichen
|
|
Fehler, wenn er den Mephistopheles als schwarzen Hund, statt als ditto Katze einführt.
|
|
Das Böse ist die Katze! Das ist Moral, nicht nur für alle Welten, sondern
|
|
auch - für die Katze!</P>
|
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<H3 ALIGN="CENTER"><A NAME="Kap_X">X. Moral und Recht, Gleichheit</A></H3>
|
|
<P>Wir haben die Methode des Herrn Dühring schon mehrfach kennengelernt.
|
|
Sie besteht darin, jede Gruppe von Erkenntnisgegenständen in ihre angeblichen
|
|
einfachsten Elemente zu zerlegen, auf diese Elemente ebenso einfache, angeblich
|
|
selbstverständliche Axiome anzuwenden, und mit den <A NAME="S89"></A><B>|89|</B>
|
|
so gewonnenen Resultaten weiter zu operieren. Auch eine Frage aus dem Bereich
|
|
des gesellschaftlichen Lebens</P>
|
|
<P><SMALL>»ist an einzelnen einfachen Grundgestalten axiomatisch so zu entscheiden,
|
|
als wenn es sich um einfache ... Grundgestalten der Mathematik handelte«.</SMALL></P>
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|
<P>Und so soll die Anwendung der mathematischen Methode auf Geschichte, Moral
|
|
und Recht uns auch hier mathematische Gewißheit verschaffen für die
|
|
Wahrheit der erlangten Resultate, sie kennzeichnen als echte, unwandelbare Wahrheiten.</P>
|
|
<P>Es ist dies nur eine andere Wendung der alten beliebten, ideologischen, sonst
|
|
auch aprioristisch genannten Methode, die Eigenschaften eines Gegenstandes nicht
|
|
aus dem Gegenstand selbst zu erkennen, sondern sie aus dem Begriff des Gegenstandes
|
|
beweisend abzuleiten. Erst macht man sich aus dem Gegenstand den Begriff des Gegenstandes;
|
|
dann dreht man den Spieß um und mißt den Gegenstand an seinem Abbild,
|
|
dem Begriff. Nicht der Begriff soll sich nun nach dem Gegenstand, der Gegenstand
|
|
soll sich nach dem Begriff richten. Bei Herrn Dühring tun die einfachsten
|
|
Elemente, die letzten Abstraktionen, zu denen er gelangen kann, Dienst für
|
|
den Begriff, was an der Sache nichts ändert; diese einfachsten Elemente sind
|
|
im besten Fall rein begrifflicher Natur. Die Wirklichkeitsphilosophie erweist
|
|
sich also auch hier als pure Ideologie, Ableitung der Wirklichkeit nicht aus sich
|
|
selbst, sondern aus der Vorstellung.</P>
|
|
<P>Wenn nun ein solcher Ideolog die Moral und das Recht, statt aus den wirklichen
|
|
gesellschaftlichen Verhältnissen der ihn umgebenden Menschen, aus dem Begriff
|
|
oder den sogenannten einfachsten Elementen »der Gesellschaft« herauskonstruiert,
|
|
welches Material liegt dann vor für diesen Aufbau? Offenbar zweierlei: erstens
|
|
der dürftige Rest von wirklichem Inhalt, der noch in jenen zugrunde gelegten
|
|
Abstraktionen möglicherweise vorhanden ist, und zweitens der Inhalt, den
|
|
unser Ideolog aus seinem eignen Bewußtsein wieder hineinträgt. Und
|
|
was findet er vor in seinem Bewußtsein? Größtenteils moralische
|
|
und rechtliche Anschauungen, die ein mehr oder weniger entsprechender Ausdruck
|
|
- positiv oder negativ, bestätigend oder bekämpfend - der gesellschaftlichen
|
|
und politischen Verhältnisse sind, unter denen er lebt; ferner vielleicht
|
|
Vorstellungen, die der einschlägigen Literatur entlehnt sind: endlich möglicherweise
|
|
noch persönliche Schrullen. Unser Ideolog mag sich drehn und wenden, wie
|
|
er will, die historische Realität, die er zur Tür hinausgeworfen, kommt
|
|
zum Fenster wieder herein, und während er glaubt, eine Sitten- und Rechtslehre
|
|
für alle Welten und Zeiten zu entwerfen, verfertigt er in der Tat ein verzerrtes,
|
|
weil von seinem <A NAME="S90"></A><B>|90|</B> wirklichen Boden losgerissenes,
|
|
wie im Hohlspiegel auf den Kopf gestelltes Konterfei der konservativen oder revolutionären
|
|
Strömungen seiner Zeit.</P>
|
|
<P>Herr Dühring zerlegt also die Gesellschaft in ihre einfachsten Elemente
|
|
und findet dabei, daß die einfachste Gesellschaft mindestens aus <I>zwei</I>
|
|
Menschen besteht. Mit diesen zwei Menschen wird nun axiomatisch operiert. Und
|
|
da bietet sich ungezwungen das moralische Grundaxiom dar:</P>
|
|
<P><SMALL>»Zwei menschliche Willen sind als solche einander <I>völlig gleich</I>,
|
|
und der eine kann dem andern zunächst positiv gar nichts zumuten.« Hiermit
|
|
ist die »Grundform der moralischen Gerechtigkeit gekennzeichnet«; und ebenfalls
|
|
die der juristischen, denn »zur Entwicklung der prinzipiellen Rechtsbegriffe bedürfen
|
|
wir nur das gänzlich einfache und elementare Verhältnis von <I>zwei
|
|
Menschen</I>«.</SMALL></P>
|
|
<P>daß zwei Menschen oder zwei menschliche Willen als solche einander <I>völlig</I>
|
|
gleich sind, ist nicht nur kein Axiom, sondern sogar eine starke Übertreibung.
|
|
Zwei Menschen können zunächst, selbst als solche, ungleich sein nach
|
|
dem Geschlecht, und diese einfache Tatsache führt uns sofort darauf, daß
|
|
die einfachsten Elemente der Gesellschaft - wenn wir für einen Augenblick
|
|
auf die Kinderei eingehn - nicht zwei Männer sind, sondern ein Männlein
|
|
und ein Weiblein, die eine <I>Familie</I> stiften, die einfachste und erste Form
|
|
der Vergesellschaftung behufs der Produktion. Aber dies kann Herrn Dühring
|
|
keineswegs konvenieren. Denn einerseits müssen die beiden Gesellschaftsstifter
|
|
möglichst gleichgemacht werden, und zweitens brachte es selbst Herr Dühring
|
|
nicht fertig, aus der Urfamilie die moralische und rechtliche Gleichstellung von
|
|
Mann und Weib herauszukonstruieren. Also von zwei Dingen eins: entweder ist das
|
|
Dühringsche Gesellschaftsmolekül, aus dessen Vervielfachung sich die
|
|
ganze Gesellschaft aufbauen soll, von vornherein auf den Untergang angelegt, da
|
|
die beiden Männer unter sich nie ein Kind zustande bringen, oder aber wir
|
|
müssen sie uns als zwei Familienhäupter vorstellen. Und in diesem Fall
|
|
ist das ganze einfache Grundschema in sein Gegenteil verkehrt; statt der Gleichheit
|
|
der Menschen beweist es höchstens die Gleichheit der Familienhäupter,
|
|
und da die Weiber nicht gefragt werden, außerdem noch die Unterordnung der
|
|
Weiber.</P>
|
|
<P>Wir haben hier dem Leser die unangenehme Mitteilung zu machen, daß er
|
|
von nun an auf geraume Zeit diese beiden famosen Männer nicht wieder loswerden
|
|
wird. Sie spielen auf dem Gebiet der gesellschaftlichen Verhältnisse eine
|
|
ähnliche Rolle, wie bisher die Bewohner anderer Weltkörper, mit denen
|
|
wir jetzt hoffentlich fertig sind. Gibt es eine Frage der Ökonomie, der Politik
|
|
usw. zu lösen, flugs marschieren die beiden Männer auf und machen die
|
|
Sache im Nu »axiomatisch« ab. Ausgezeichnete, schöpferische, systemschaffende
|
|
Entdeckung unseres Wirklichkeitsphilosophen: Aber <A NAME="S91"></A><B>|91|</B>
|
|
leider, wenn wir der Wahrheit die Ehre geben wollen, hat er die beiden Männer
|
|
nicht entdeckt. Sie sind dem ganzen 18. Jahrhundert gemein. Sie kommen schon vor
|
|
in Rousseaus Abhandlung über die Ungleichheit 1754, wo sie beiläufig
|
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das Gegenteil von den Dühringschen Behauptungen axiomatisch beweisen. Sie
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spielen eine Hauptrolle bei den politischen Ökonomen von Adam Smith bis Ricardo;
|
|
aber hier sind sie wenigstens darin ungleich, daß sie jeder ein verschiednes
|
|
Geschäft betreiben - meist der Jäger und der Fischer - und ihre Produkte
|
|
gegenseitig austauschen. Auch dienen sie im ganzen 18. Jahrhundert hauptsächlich
|
|
als bloßes erläuterndes Beispiel, und Herrn Dührings Originalität
|
|
besteht nur darin, daß er diese Beispielsmethode zur Grundmethode aller
|
|
Gesellschaftswissenschaft und zum Maßstab aller geschichtlichen Bildungen
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|
erhebt, Leichter kann man sich die »strengwissenschaftliche Auffassung von Dingen
|
|
und Menschen« allerdings nicht machen.</P>
|
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<P>Um das Grundaxiom fertigzubringen, daß zwei Menschen und ihre Willen
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einander völlig gleich sind und keiner dem andern etwas zu befehlen hat,
|
|
dazu können wir noch keineswegs jede beliebigen zwei Männer gebrauchen.
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Es müssen zwei Menschen sein, die so sehr von aller Wirklichkeit, von allen
|
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auf der Erde vorkommenden nationalen, ökonomischen, politischen, religiösen
|
|
Verhältnissen, von allen geschlechtlichen und persönlichen Eigentümlichkeiten
|
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befreit sind, daß von dem einen wie von dem andern nichts übrigbleibt
|
|
als der bloße Begriff: Mensch, und dann sind sie allerdings »völlig
|
|
gleich«. Sie sind also zwei vollständige Gespenster, beschworen von demselben
|
|
Herrn Dühring, der überall »spiritistische« Regungen wittert und denunziert.
|
|
Diese beiden Gespenster müssen natürlich alles tun, was ihr Beschwörer
|
|
von ihnen verlangt, und ebendeshalb sind ihre sämtlichen Kunstproduktionen
|
|
von der höchsten Gleichgültigkeit für die übrige Welt.</P>
|
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<P>Doch verfolgen wir Herrn Dührings Axiomatik etwas weiter. Die beiden Willen
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können der eine dem andern gar nichts positiv zumuten. Tut der eine dies
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dennoch und setzt seine Zumutung mit Gewalt durch, so entsteht ein ungerechter
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Zustand, und an diesem Grundschema erklärt Herr Dühring die Ungerechtigkeit,
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die Vergewaltigung, die Knechtschaft, kurz die ganze bisherige verwerfliche Geschichte.
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Nun hat schon Rousseau, in der oben angeführten Schrift, grade vermittelst
|
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der beiden Männer das Gegenteil ebenso axiomatisch nachgewiesen, nämlich
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daß von Zweien A den B nicht durch Gewalt knechten kann, sondern nur dadurch,
|
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daß er den B in eine Lage versetzt, worin dieser den A nicht entbehren kann;
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was für Herrn Dühring allerdings eine schon viel zu materialistische
|
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Auffassung ist. Fassen wir also dieselbe Sache etwas anders. Zwei Schiffbrüchige
|
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sind auf einer <A NAME="S92"></A><B>|92|</B> Insel allein und bilden eine Gesellschaft.
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Ihre Willen sind formell völlig gleich, und dies ist von beiden anerkannt.
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Aber materiell besteht eine große Ungleichheit. A ist entschlossen und energisch,
|
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B unentschieden, träg und schlapp; A ist aufgeweckt, B ist dumm. Wie lange
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dauert's, so nötigt A seinen Willen dem B erst durch Überredung, nachher
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gewohnheitsmäßig, aber immer unter der Form der Freiwilligkeit, regelmäßig
|
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auf? Ob die Form der Freiwilligkeit gewahrt oder mit Füßen getreten
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wird, Knechtschaft bleibt Knechtschaft. Freiwilliger Eintritt in die Knechtschaft
|
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geht durchs ganze Mittelalter, in Deutschland bis nach dem Dreißigjährigen
|
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Krieg. Als in Preußen nach den Niederlagen von 1806 und 1807 die Hörigkeit
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abgeschafft wurde und mit ihr die Verpflichtung der gnädigen Herrn, für
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ihre Untertanen in Not, Krankheit und Alter zu sorgen, da petitionierten die Bauern
|
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an den König, man möge sie doch in der Knechtschaft lassen - wer solle
|
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sonst im Elend für sie sorgen? Es ist also das Schema der zwei Männer
|
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auf die Ungleichheit und Knechtschaft ebensosehr »angelegt« wie auf die Gleichheit
|
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und den gegenseitigen Beistand; und da wir sie, bei Strafe des Aussterbens, als
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Familienhäupter annehmen müssen, so ist auch schon die erbliche Knechtschaft
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darin vorgesehn.</P>
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<P>Lassen wir indes alles das für einen Augenblick auf sich beruhn. Nehmen
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wir an, Herrn Dührings Axiomatik habe uns überzeugt, und wir schwärmten
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für die völlige Gleichberechtigung der beiden Willen, für die »allgemein
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menschliche Souveränetät«, für die »Souveränetät des
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Individuums« - wahre Prachtkolosse von Worten, gegen die Stirners »Einziger« mit
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seinem Eigentum ein Stümper bleibt, obwohl auch er sein bescheidnes Teil
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daran beanspruchen dürfte. Also wir sind jetzt alle <I>völlig gleich</I>
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und unabhängig. Alle? Nein, doch nicht alle.</P>
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<P><SMALL>Es gibt auch »zulässige Abhängigkeiten«, aber diese erklären
|
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sich »aus Gründen, die nicht in der Betätigung der beiden Willen als
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solcher, sondern in einem dritten Gebiet, also z.B. Kindern gegenüber, in
|
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der Unzulänglichkeit ihrer Selbstbestimmung zu suchen sind«.</SMALL></P>
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<P>in der Tat! Die Gründe der Abhängigkeit sind nicht in der Betätigung
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der beiden Willen als solcher zu suchen! Natürlich nicht, denn die Betätigung
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des einen Willens wird ja grade verhindert! Sondern in einem dritten Gebiet! Und
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was ist dies dritte Gebiet? Die konkrete Bestimmtheit des einen unterdrückten
|
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Willens als eines unzulänglichen! Soweit hat sich unser Wirklichkeitsphilosoph
|
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von der Wirklichkeit entfernt, daß ihm, gegenüber der abstrakten und
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inhaltslosen Redensart: Wille, der wirkliche Inhalt, die charakteristische Bestimmtheit
|
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dieses Willens schon als ein »drittes Gebiet« gilt. Wie dem aber auch sei, wir
|
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müssen konstatieren, daß die <A NAME="S93"></A><B>|93|</B> Gleichberechtigung
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ihre Ausnahme hat. Sie gilt nicht für einen Willen, der mit der Unzulänglichkeit
|
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der Selbstbestimmung behaftet ist. <I>Rückzug Nr. 1. </I></P>
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|
<P>Weiter:</P>
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<P><SMALL>»Wo die Bestie und der Mensch in einer Person gemischt sind, da kann
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man im Namen einer zweiten, völlig menschlichen Person fragen, ob deren Handlungsweise
|
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dieselbe sein dürfe, als wenn sich sozusagen nur menschliche Personen gegenüber
|
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stehn ... es ist daher unsre Voraussetzung von zwei moralisch ungleichen Personen,
|
|
deren eine an dem eigentlichen Bestiencharakter in irgendeinem Sinne teilhat,
|
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die typische Grundgestalt für alle Verhältnisse, welche diesem Unterschiede
|
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gemäß in und zwischen den Menschengruppen ... vorkommen können.«</SMALL></P>
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<P>Und nun möge der Leser selbst die sich an diese verlegenen Ausflüchte
|
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anschließende Jammerdiatribe nachsehn, in der Herr Dühring sich dreht
|
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und windet wie ein Jesuitenpfaff, um kasuistisch festzustellen, wie weit der menschliche
|
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Mensch gegen den bestialischen Menschen einschreiten, wie weit er Mißtrauen,
|
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Kriegslist, scharfe, ja terroristische, ingleichen Täuschungsmittel gegen
|
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ihn anwenden dürfe, ohne selbst der unwandelbaren Moral etwas zu vergeben.</P>
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<P>Also auch wenn zwei Personen »moralisch ungleich« sind, hört die Gleichheit
|
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auf. Dann war es aber gar nicht der Mühe wert, die beiden sich völlig
|
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gleichen Männer heraufzubeschwören, denn es gibt gar keine zwei Personen,
|
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die moralisch völlig gleich sind. - Die Ungleichheit soll aber darin bestehn,
|
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daß die eine eine menschliche Person ist und die andre ein Stück Bestie
|
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in sich trägt. Nun liegt es aber schon in der Abstammung des Menschen aus
|
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dem Tierreich, daß der Mensch die Bestie nie völlig los wird, so daß
|
|
es sich also immer nur um ein Mehr oder Minder, um einen Unterschied des Grades
|
|
der Bestialität resp. Menschlichkeit handeln kann. Eine Einteilung der Menschen
|
|
in zwei scharf geschiedne Gruppen, in menschliche und Bestienmenschen, in Gute
|
|
und Böse, Schafe und Böcke, kennt außer der Wirklichkeitsphilosophie
|
|
nur noch das Christentum, das ganz konsequent auch seinen Weltrichter hat, der
|
|
die Scheidung vollzieht. Wer soll aber Weltrichter sein in der Wirklichkeitsphilosophie?
|
|
Es wird wohl hergehn müssen wie in der christlichen Praxis, wo die frommen
|
|
Schäflein das Amt des Weltrichters gegen ihre weltlichen Bocks-Nächsten
|
|
selbst, und mit bekanntem Erfolg, übernehmen. Die Sekte der Wirklichkeitsphilosophen,
|
|
wenn sie je zustande kommt, wird in dieser Beziehung den Stillen im Lande sicher
|
|
nichts nachgeben. Das kann uns indes gleichgültig sein; was uns interessiert,
|
|
ist das Eingeständnis, daß, infolge der moralischen Ungleichheit zwischen
|
|
den Menschen, es mit der Gleichheit wieder nichts ist. <I>Rückzug Nr. 2.</I></P>
|
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<P><B><A NAME="S94">|94|</A></B> Abermals weiter:</P>
|
|
<P><SMALL>»Handelt der Eine nach Wahrheit und Wissenschaft, der andre aber nach
|
|
irgendeinem Aberglauben oder Vorurteil, so ... müssen in der Regel gegenseitige
|
|
Störungen eintreten ... Bei einem gewissen Grad von Unfähigkeit, Roheit
|
|
oder böser Charaktertendenz wird in allen Fällen ein Zusammenstoß
|
|
erfolgen müssen ... Es sind nicht bloß Kinder und Wahnsinnige, denen
|
|
gegenüber die <I>Gewalt</I> das letzte Mittel ist. Die Artung ganzer Naturgruppen
|
|
und Kulturklassen von Menschen kann die <I>Unterwerfung </I>ihres durch seine
|
|
Verkehrtheit feindlichen Wollens im Sinne der Zurückführung desselben
|
|
auf die gemeinschaftlichen Bindemittel zur unausweichlichen Notwendigkeit machen.
|
|
Der fremde Wille wird auch hier noch als <I>gleichberechtigt</I> erachtet; aber
|
|
durch die Verkehrtheit seiner verletzenden und feindlichen Betätigung hat
|
|
er eine <I>Ausgleichung</I> herausgefordert, und wenn er Gewalt erleidet, so erntet
|
|
er nur die Rückwirkung seiner eignen Ungerechtigkeit.«</SMALL></P>
|
|
<P>Also nicht nur moralische, sondern auch geistige Ungleichheit reicht hin, um
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|
die »völlige Gleichheit« der beiden Willen zu beseitigen und eine Moral herzustellen,
|
|
nach der alle Schandtaten zivilisierter Raubstaaten gegen zurückgebliebne
|
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Völker, bis herab zu den Scheußlichkeiten der Russen in Turkestan sich
|
|
rechtfertigen lassen. Als General Kaufmann im Sommer 1873 den Tatarenstamm der
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Jomuden überfallen, ihre Zelte verbrennen, ihre Weiber und Kinder »auf gut
|
|
kaukasisch«, wie der Befehl lautete, niedermetzeln ließ, behauptete er auch,
|
|
die Unterwerfung des durch seine Verkehrtheit feindlichen Wollens der Jomuden,
|
|
im Sinne der Zurückführung desselben auf die gemeinschaftlichen Bindemittel,
|
|
sei zur unausweichlichen Notwendigkeit geworden, und die von ihm angewandten Mittel
|
|
seien die zweckmäßigsten; wer aber den Zweck wolle, müsse auch
|
|
die Mittel wollen. Nur war er nicht so grausam, die Jomuden noch obendrein zu
|
|
verhöhnen und zu sagen, dadurch, daß er sie zur Ausgleichung massakriere,
|
|
achte er ihren Willen grade als gleichberechtigt. Und wieder sind es in diesem
|
|
Konflikt die Auserwählten, die angeblich nach Wahrheit und Wissenschaft Handelnden,
|
|
also in letzter Instanz die Wirklichkeitsphilosophen, die zu entscheiden haben,
|
|
was Aberglauben, Vorurteil, Roheit, böse Charaktertendenz und wann Gewalt
|
|
und Unterwerfung zur Ausgleichung nötig sind. Die Gleichheit ist also jetzt
|
|
- die Ausgleichung durch die Gewalt, und der zweite Wille wird vom ersten als
|
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gleichberechtigt anerkannt durch Unterwerfung. <I>Rückzug Nr. 3</I>, der
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|
hier schon in schimpfliche Flucht ausartet.</P>
|
|
<P>Beiläufig ist die Phrase, der fremde Wille werde grade in der Ausgleichung
|
|
durch Gewalt als gleichberechtigt erachtet, nur eine Verdrehung der Hegelschen
|
|
Theorie, wonach die Strafe das Recht des Verbrechers ist;</P>
|
|
<P><SMALL><B><A NAME="S95">|95|</A></B></SMALL><SMALL> »daß die Strafe als
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|
sein eignes Recht enthaltend angesehn wird, darin wird der Verbrecher als Vernünftiges
|
|
geehrt«. (Rechtsphilosophie, § 100, Anmerk.)</SMALL></P>
|
|
<P>Hiermit können wir abbrechen. Es wird überflüssig sein, Herrn
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|
Dühring in die stückweise Zerstörung seiner so axiomatisch aufgestellten
|
|
Gleichheit, allgemein menschlichen Souveränetät usw. noch weiter zu
|
|
folgen; zu beobachten, wie er zwar die Gesellschaft mit zwei Männern fertigbringt,
|
|
aber um den Staat herzustellen, noch einen dritten braucht, weil - um die Sache
|
|
kurz zu fassen - ohne diesen dritten keine Majoritätsbeschlüsse gefaßt
|
|
werden können, und ohne solche, also auch ohne Herrschaft der Majorität
|
|
über die Minorität, kein Staat bestehn kann; und wie er dann allmählich
|
|
in das ruhigere Fahrwasser der Konstruktion seines sozialitären Zukunftsstaates
|
|
einlenkt, wo wir ihn eines schönen Morgens aufzusuchen die Ehre haben werden.
|
|
Wir haben hinlänglich gesehn, daß die völlige Gleichheit der beiden
|
|
Willen nur so lange besteht, als diese beiden Willen <I>nichts wollen</I>; daß,
|
|
sobald sie aufhören, menschliche Willen als solche zu sein, und sich in wirkliche,
|
|
individuelle Willen, in die Willen von zwei wirklichen Menschen verwandeln, die
|
|
Gleichheit aufhört; daß Kindheit, Wahnsinn, sogenannte Bestienhaftigkeit,
|
|
angeblicher Aberglaube, behauptetes Vorurteil, vermutete Unfähigkeit auf
|
|
der einen, und eingebildete Menschlichkeit, Einsicht in die Wahrheit und Wissenschaft
|
|
auf der andern Seite, daß also jede Differenz in der Qualität der beiden
|
|
Willen und in derjenigen der sie begleitenden Intelligenz eine Ungleichheit rechtfertigt,
|
|
die sich bis zur Unterwerfung steigern kann; was verlangen wir noch mehr, nachdem
|
|
Herr Dühring sein eignes Gleichheitsgebäude so wurzelhaft von Grund
|
|
aus zertrümmert hat?</P>
|
|
<P>Wenn wir aber auch mit Herrn Dührings flacher und stümperhafter Behandlung
|
|
der Gleichheitsvorstellung fertig sind, so sind wir darum noch nicht fertig mit
|
|
dieser Vorstellung selbst, wie sie namentlich durch Rousseau eine theoretische,
|
|
in und seit der großen Revolution eine praktisch-politische, und auch heute
|
|
noch in der sozialistischen Bewegung fast aller Länder eine bedeutende agitatorische
|
|
Rolle spielt. Die Feststellung ihres wissenschaftlichen Gehalts wird auch ihren
|
|
Wert für die proletarische Agitation bestimmen.</P>
|
|
<P>Die Vorstellung, daß alle Menschen als Menschen etwas Gemeinsames haben,
|
|
und so weit dies Gemeinsame reicht, auch gleich sind, ist selbstverständlich
|
|
uralt. Aber hiervon ganz verschieden ist die moderne Gleichheitsforderung; diese
|
|
besteht vielmehr darin, aus jener gemeinschaftlichen Eigenschaft des Menschseins,
|
|
jener Gleichheit der Menschen als Menschen, den Anspruch auf gleiche politische
|
|
resp. soziale Geltung aller Menschen, <A NAME="S96"></A><B>|96|</B> oder doch
|
|
wenigstens aller Bürger eines Staats, oder aller Mitglieder einer Gesellschaft
|
|
abzuleiten. Bis aus jener ursprünglichen Vorstellung relativer Gleichheit
|
|
die Folgerung auf Gleichberechtigung in Staat und Gesellschaft gezogen werden,
|
|
bis sogar diese Folgerung als etwas Natürliches, Selbstverständliches
|
|
erscheinen konnte, darüber mußten Jahrtausende vergehn und sind Jahrtausende
|
|
vergangen. In den ältesten, naturwüchsigen Gemeinwesen konnte von Gleichberechtigung
|
|
höchstens unter den Gemeindemitgliedern die Rede sein; Weiber, Sklaven, Fremde
|
|
waren von selbst davon ausgeschlossen. Bei den Griechen und Römern galten
|
|
die Ungleichheiten der Menschen viel mehr als irgendwelche Gleichheit. Daß
|
|
Griechen und Barbaren, Freie und Sklaven, Staatsbürger und Schutzverwandte,
|
|
römische Bürger und römische Untertanen (um einen umfassenden Ausdruck
|
|
zu gebrauchen) einen Anspruch auf gleiche politische Geltung haben sollten, wäre
|
|
den Alten notwendig verrückt vorgekommen. Unter dem römischen Kaisertum
|
|
lösten sich alle diese Unterschiede allmählich auf, mit Ausnahme desjenigen
|
|
von Freien und Sklaven; es entstand damit, für die Freien wenigstens, jene
|
|
Gleichheit der Privatleute, auf deren Grundlage das römische Recht sich entwickelte,
|
|
die vollkommenste Ausbildung des auf Privateigentum beruhenden Rechts, die wir
|
|
kennen. Aber solange der Gegensatz von Freien und Sklaven bestand, konnte von
|
|
rechtlichen Folgerungen aus der allgemein <I>menschlichen</I> Gleichheit keine
|
|
Rede sein; wir sahen dies noch neuerdings in den Sklavenstaaten der nordamerikanischen
|
|
Union.</P>
|
|
<P>Das Christentum kannte nur <I>eine</I> Gleichheit aller Menschen, die der gleichen
|
|
Erbsündhaftigkeit, die ganz seinem Charakter als Religion der Sklaven und
|
|
Unterdrückten entsprach. Daneben kannte es höchstens die Gleichheit
|
|
der Auserwählten, die aber nur ganz im Anfang betont wurde. Die Spuren der
|
|
Gütergemeinschaft, die sich ebenfalls in den Anfängen der neuen Religion
|
|
vorfinden, lassen sich vielmehr auf den Zusammenhalt der Verfolgten zurückführen
|
|
als auf wirkliche Gleichheitsvorstellungen. Sehr bald machte die Festsetzung des
|
|
Gegensatzes von Priester und Laie auch diesem Ansatz von christlicher Gleichheit
|
|
ein Ende. - Die Überflutung Westeuropas durch die Germanen beseitigte für
|
|
Jahrhunderte alle Gleichheitsvorstellungen durch den allmählichen Aufbau
|
|
einer sozialen und politischen Rangordnung von so verwickelter Art, wie sie bisher
|
|
noch nicht bestanden hatte; aber gleichzeitig zog sie West- und Mitteleuropa in
|
|
die geschichtliche Bewegung, schuf zum erstenmal ein kompaktes Kulturgebiet, und
|
|
auf diesem Gebiet zum erstenmal ein System sich gegenseitig beeinflussender und
|
|
gegenseitig in Schach haltender, vorwiegend nationaler <A NAME="S97"></A><B>|97|</B>
|
|
Staaten. Damit bereitete sie den Boden vor, auf dem allein in späterer Zeit
|
|
von menschlicher Gleichgeltung, von Menschenrechten die Rede sein konnte.</P>
|
|
<P>Das feudale Mittelalter entwickelte außerdem in seinem Schoß die
|
|
Klasse, die berufen war, in ihrer weitern Ausbildung die Trägerin der modernen
|
|
Gleichheitsforderung zu werden: das Bürgertum. Anfangs selbst feudaler Stand,
|
|
hatte das Bürgertum die vorwiegend handwerksmäßige Industrie und
|
|
den Produktenaustausch innerhalb der feudalen Gesellschaft auf eine verhältnismäßig
|
|
hohe Stufe entwickelt, als mit dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts die
|
|
großen Entdeckungen zur See ihm eine neue, umfassendere Laufbahn eröffneten.
|
|
Der außereuropäische Handel, bisher nur zwischen Italien und der Levante
|
|
betrieben, wurde jetzt bis Amerika und Indien ausgedehnt und überflügelte
|
|
bald an Bedeutung sowohl den Austausch der einzelnen europäischen Länder
|
|
unter sich, wie den innern Verkehr eines jeden einzelnen Landes. Das amerikanische
|
|
Gold und Silber überflutete Europa und drang wie ein zersetzendes Element
|
|
in alle Lücken, Risse und Poren der feudalen Gesellschaft. Der handwerksmäßige
|
|
Betrieb genügte nicht mehr für den wachsenden Bedarf; in den leitenden
|
|
Industrien der fortgeschrittensten Länder wurde er ersetzt durch die Manufaktur.</P>
|
|
<P>Diesem gewaltigen Umschwung der ökonomischen Lebensbedingungen der Gesellschaft
|
|
folgte indes keineswegs sofort eine entsprechende Änderung ihrer politischen
|
|
Gliederung. Die staatliche Ordnung blieb feudal, während die Gesellschaft
|
|
mehr und mehr bürgerlich wurde. Der Handel auf großer Stufenleiter,
|
|
also namentlich der internationale, und noch mehr der Welthandel, fordert freie,
|
|
in ihren Bewegungen ungehemmte Warenbesitzer, die als solche gleichberechtigt
|
|
sind, die auf Grundlage eines, wenigstens an jedem einzelnen Ort, für sie
|
|
alle gleichen Rechts austauschen. Der Übergang vom Handwerk zur Manufaktur
|
|
hat zur Voraussetzung die Existenz einer Anzahl freier Arbeiter - frei einerseits
|
|
von Zunftfesseln und andrerseits von den Mitteln, um ihre Arbeitskraft selbst
|
|
zu verwerten -, die mit dem Fabrikanten wegen Vermietung ihrer Arbeitskraft kontrahieren
|
|
können, also ihm als Kontrahenten gleichberechtigt gegenüberstehn. Und
|
|
endlich fand die Gleichheit und gleiche Gültigkeit aller menschlichen Arbeiten,
|
|
weil und insofern sie <I>menschliche</I> Arbeit überhaupt sind |siehe Karl
|
|
Marx: »Das Kapital«, Bd. I, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, <a href="../me23/me23_049.htm" target="#S74">Bd.
|
|
23, S. 74</a>|, ihren unbewußten aber stärksten Ausdruck im Wertgesetz
|
|
der modernen bürgerlichen Ökonomie, wonach der Wert einer Ware gemessen
|
|
wird durch die in <A NAME="S98"></A><B>|98|</B> ihr enthaltene gesellschaftlich
|
|
notwendige Arbeit.<A NAME="ZF2"></A><A HREF="me20_032.htm#F2"><SPAN class="top">(2)</SPAN></A> - Wo aber
|
|
die ökonomischen Verhältnisse Freiheit und Gleichberechtigung forderten,
|
|
setzte ihnen die politische Ordnung Zunftfesseln und Sonderprivilegien auf jedem
|
|
Schritt entgegen. Lokalvorrechte, Differentialzölle, Ausnahmsgesetze aller
|
|
Art trafen im Handel nicht nur den Fremden oder Kolonialbewohner, sondern oft
|
|
genug auch ganze Kategorien der eignen Staatsangehörigen; zünftige Privilegien
|
|
lagerten sich überall und immer von neuem der Entwicklung der Manufaktur
|
|
quer über den Weg. Nirgendwo war die Bahn frei und die Chancen für die
|
|
bürgerlichen Wettläufer gleich - und doch war dies die erste und immer
|
|
dringlichere Forderung.</P>
|
|
<P>Die Forderung der Befreiung von feudalen Fesseln und der Herstellung der Rechtsgleichheit
|
|
durch Beseitigung der feudalen Ungleichheiten, sobald sie erst durch den ökonomischen
|
|
Fortschritt der Gesellschaft auf die Tagesordnung gesetzt war, mußte bald
|
|
größere Dimensionen annehmen. Stellte man sie im Interesse der Industrie
|
|
und des Handels, so mußte man dieselbe Gleichberechtigung fordern für
|
|
die große Menge der Bauern, die in allen Stufen der Knechtschaft, von der
|
|
vollen Leibeigenschaft an, den größten Teil ihrer Arbeitszeit unentgeltlich
|
|
dem gnädigen Feudalherrn darbringen und außerdem noch zahllose Abgaben
|
|
an ihn und den Staat entrichten mußten. Man konnte andrerseits nicht umhin
|
|
zu verlangen, daß ebenfalls die feudalen Bevorzugungen, die Steuerfreiheit
|
|
des Adels, die politischen Vorrechte der einzelnen Stände aufgehoben würden.
|
|
Und da man nicht mehr in einem Weltreich lebte, wie das römische gewesen,
|
|
sondern in einem System unabhängiger, miteinander auf gleichem Fuß
|
|
verkehrender Staaten von annähernd gleicher Höhe der bürgerlichen
|
|
Entwicklung, so verstand es sich von selbst, daß die Forderung einen allgemeinen,
|
|
über den einzelnen Staat hinausgreifenden Charakter annahm, daß Freiheit
|
|
und Gleichheit proklamiert wurden als <I>Menschenrechte</I>. Wobei es für
|
|
den spezifisch bürgerlichen Charakter dieser Menschenrechte bezeichnend ist,
|
|
daß die amerikanische Verfassung, die erste, welche die Menschenrechte anerkennt,
|
|
in demselben Atem die in Amerika bestehende Sklaverei der Farbigen bestätigt:
|
|
die Klassenvorrechte werden geächtet, die Racenvorrechte geheiligt.</P>
|
|
<P>Bekanntlich wird indes die Bourgeoisie, von dem Augenblick an, wo sie sich
|
|
aus dem feudalen Bürgertum entpuppt, wo der mittelalterliche Stand in eine
|
|
moderne Klasse übergeht, stets und unvermeidlich begleitet von ihrem <A NAME="S99"></A><B>|99|</B>
|
|
Schatten, dem Proletariat. Und ebenso werden die bürgerlichen Gleichheitsforderungen
|
|
begleitet von proletarischen Gleichheitsforderungen. Von dem Augenblick an, wo
|
|
die bürgerliche Forderung der Abschaffung der Klassen<I>vorrechte</I> gestellt
|
|
wird, tritt neben sie die proletarische Forderung der Abschaffung der <I>Klassen
|
|
selbst -</I> zuerst in religiöser Form, in Anlehnung an das Urchristentum,
|
|
später gestützt auf die bürgerlichen Gleichheitstheorien selbst.
|
|
Die Proletarier nehmen die Bourgeoisie beim Wort: die Gleichheit soll nicht bloß
|
|
scheinbar, nicht bloß auf dem Gebiet des Staats, sie soll auch wirklich,
|
|
auch auf dem gesellschaftlichen, ökonomischen Gebiet durchgeführt werden.
|
|
Und namentlich seit die französische Bourgeoisie, von der großen Revolution
|
|
an, die bürgerliche Gleichheit in den Vordergrund gestellt hat, hat ihr das
|
|
französische Proletariat Schlag auf Schlag geantwortet mit der Forderung
|
|
sozialer, ökonomischer Gleichheit, ist die Gleichheit der Schlachtruf speziell
|
|
des französischen Proletariats geworden.</P>
|
|
<P>Die Gleichheitsforderung im Munde des Proletariats hat somit eine doppelte
|
|
Bedeutung. Entweder ist sie - und dies ist namentlich in den ersten Anfängen,
|
|
z.B. im Bauernkrieg, der Fall - die naturwüchsige Reaktion gegen die schreienden
|
|
sozialen Ungleichheiten, gegen den Kontrast von Reichen und Armen, von Herren
|
|
und Knechten, von Prassern und Verhungernden; als solche ist sie einfach Ausdruck
|
|
des revolutionären Instinkts und findet darin, und auch nur darin, ihre Rechtfertigung.
|
|
Oder aber, sie ist entstanden aus der Reaktion gegen die bürgerliche Gleichheitsforderung,
|
|
zieht mehr oder weniger richtige, weitergehende Forderungen aus dieser, dient
|
|
als Agitationsmittel, um die Arbeiter mit den eignen Behauptungen der Kapitalisten
|
|
gegen die Kapitalisten aufzuregen, und in diesem Fall steht und fällt sie
|
|
mit der bürgerlichen Gleichheit selbst. In beiden Fällen ist der wirkliche
|
|
Inhalt der proletarischen Gleichheitsforderung die Forderung der <I>Abschaffung
|
|
der Klassen</I>. Jede Gleichheitsforderung, die darüber hinausgeht, verläuft
|
|
notwendig ins Absurde. Wir haben Beispiele davon gegeben und werden ihrer noch
|
|
genug finden, wenn wir zu den Zukunftsphantasien des Herrn Dühring kommen.</P>
|
|
<P>Somit ist die Vorstellung der Gleichheit, sowohl in ihrer bürgerlichen
|
|
wie in ihrer proletarischen Form, selbst ein geschichtliches Produkt, zu deren
|
|
Hervorbringung bestimmte geschichtliche Verhältnisse notwendig waren, die
|
|
selbst wieder eine lange Vorgeschichte voraussetzen. Sie ist also alles, nur keine
|
|
ewige Wahrheit. Und wenn sie sich heute für das große Publikum - im
|
|
einen oder im andern Sinn - von selbst versteht, wenn sie, wie Marx sagt, »bereits
|
|
die Festigkeit eines Volksvorurteils <A NAME="S100"></A><B>|100|</B> besitzt«
|
|
|Siehe Karl Marx: »Das Kapital«, Bd. I, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke,
|
|
<A HREF="../me23/me23_049.htm#S74">Bd. 23, S. 74</A>| so ist das nicht Wirkung
|
|
ihrer axiomatischen Wahrheit, sondern Wirkung der allgemeinen Verbreitung und
|
|
der andauernden Zeitgemäßheit der Ideen des achtzehnten Jahrhunderts.
|
|
Wenn also Herr Dühring seine berühmten beiden Männer so ohne weiteres
|
|
auf dem Boden der Gleichheit kann wirtschaften lassen, so kommt dies daher, daß
|
|
dem Volksvorurteil dies ganz natürlich vorkommt. Und in der Tat, Herr Dühring
|
|
nennt seine Philosophie die <I>natürliche</I>, weil sie von lauter Dingen
|
|
ausgeht, die ihm ganz natürlich vorkommen. Warum aber sie ihm natürlich
|
|
vorkommen - danach fragt er freilich nicht.</P>
|
|
<H3 ALIGN="CENTER"><A NAME="Kap_XI">XI. Moral und Recht. Freiheit und Notwendigkeit</A></H3>
|
|
<P><SMALL>»Für das politische und juristische Gebiet liegen den in diesem
|
|
Kursus ausgesprochenen Grundsätzen die <I>eindringendsten Fachstudien </I>zugrunde.
|
|
Man wird daher ... davon ausgehn müssen, daß es sich hier ... um die
|
|
konsequente Darstellung der <I>Ergebnisse </I>des juristischen und staatswissenschaftlichen
|
|
Gebiets gehandelt hat. Mein ursprüngliches Fachstudium war grade die Jurisprudenz,
|
|
und ich habe derselben nicht nur die gewöhnlichen drei Jahre der theoretischen
|
|
Universitätsvorbereitung, sondern auch während neuer drei Jahre gerichtlicher
|
|
Praxis noch ein fortgesetztes, besonders auf die <I>Vertiefung</I> ihres wissenschaftlichen
|
|
Gehalts gerichtetes Studium gewidmet ... Auch würde <I>sicherlich </I>die
|
|
Kritik der Privatrechtsverhältnisse und der entsprechenden juristischen Unzulänglichkeiten
|
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nicht mit <I>gleicher Zuversicht </I>haben auftreten können, wenn sie sich
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nicht bewußt gewesen wäre, überall die Schwächen des Faches
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ebensogut wie dessen stärkere Seiten <I>zu kennen</I>.«</SMALL></P>
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<P>Ein Mann, der so von sich selbst zu sprechen berechtigt ist, muß von
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vornherein Vertrauen einflößen, besonders gegenüber dem</P>
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<P><SMALL>»einstigen, eingestandnermaßen vernachlässigten Rechtsstudium
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des Herrn Marx«.</SMALL></P>
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<P>Wundern muß es uns deshalb, daß die mit solcher Zuversicht auftretende
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Kritik der Privatrechtsverhältnisse sich darauf <SMALL>beschränkt, uns
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zu erzählen, daß es</SMALL></P>
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<P><SMALL>»mit der Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz nicht weit her« ist,
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daß das positive bürgerliche Recht das Unrecht ist, indem es das Gewalteigentum
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sanktioniert, und daß der »Naturgrund« des Kriminalrechts die <I>Rache</I>
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ist -</SMALL></P>
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<P>eine Behauptung, an der nur die mystische Verkleidung in den »Naturgrund« allenfalls
|
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neu ist. Die staatswissenschaftlichen Ergebnisse beschränken sich auf die
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Verhandlungen der bewußten drei Männer, von denen der <A NAME="S101"></A><B>|101|</B>
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eine die andern bisher vergewaltigt, und wobei Herr Dühring alles Ernstes
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untersucht, ob es der zweite oder der dritte ist, der die Gewalt und die Knechtschaft
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zuerst eingeführt hat.</P>
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<P>Verfolgen wir indes die eindringendsten Fachstudien und die durch dreijährige
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gerichtliche Praxis vertiefte Wissenschaftlichkeit unsres zuversichtlichen Juristen
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etwas weiter.</P>
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<P>Von Lassalle erzählt uns Herr Dühring, er sei</P>
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<P><SMALL>»wegen der Veranlassung des Versuchs zum Diebstahl einer Kassette« in
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Anklagezustand versetzt worden, »ohne daß jedoch eine gerichtliche Verurteilung
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zu verzeichnen gewesen wäre, indem die <I>damals noch mögliche </I>sogenannte
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<I>Freisprechung von der Instanz </I>Platz griff ... diese <I>halbe </I>Freisprechung«.</SMALL></P>
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<P>Der Prozeß Lassalles, von dem hier die Rede ist, wurde verhandelt im
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Sommer 1948 vor den Assisen zu Köln, wo, wie fast in der ganzen Rheinprovinz,
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das französische Strafrecht in Kraft war. Nur für politische Vergehen
|
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und Verbrechen war das preußische Landrecht ausnahmsweise eingeführt
|
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gewesen, aber schon im April 1848 wurde diese Ausnahmsbestimmung durch Camphausen
|
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wieder beseitigt. Das französische Recht kennt durchaus nicht die liederliche
|
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preußische Landrechtskategorie einer »Veranlassung« zu einem Verbrechen,
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geschweige der Veranlassung des Versuchs eines Verbrechens. Es kennt nur <I>Anreizung
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</I>zum Verbrechen, und diese, um strafbar zu sein, muß geschehn »durch
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Geschenke, Versprechungen, Drohungen, Mißbrauch des Ansehns oder der Gewalt,
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listige Anstiftungen oder sträfliche Kunstgriffe« (Code pénal, art.
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60). Das in das preußische Landrecht vertiefte öffentliche Ministerium
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übersah, ganz wie Herr Dühring, den wesentlichen Unterschied zwischen
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der scharf bestimmten französischen Vorschrift und der verschwommenen landrechtlichen
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Unbestimmtheit, machte Lassalle einen Tendenzprozeß und fiel glänzend
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durch. Denn die Behauptung, als kenne der französische Strafprozeß
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die preußische landrechtliche Freisprechung von der Instanz, diese <I>halbe
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</I>Freisprechung, kann nur jemand wagen, der auf dem Gebiet des französischen
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modernen Rechts ein vollständiger Ignorant ist; dies Recht kennt im Strafprozeß
|
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nur Verurteilung oder Freisprechung, kein Mittelding.</P>
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<P> Somit sind wir im Falle sagen zu müssen, daß Herr Dühring
|
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sicherlich nicht mit gleicher Zuversicht diese »Geschichtszeichnung großen
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Stils« an Lassalle hätte verüben können, wenn er den Code Napoléon
|
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jemals in der Hand gehabt hätte. Wir müssen also konstatieren, daß
|
|
Herrn Dühring das <I>einzige </I>modern-bürgerliche, auf den gesellschaftlichen
|
|
Errungenschaften der großen französischen Revolution ruhende und sie
|
|
ins Juristische <A NAME="S102"></A><B>|102|</B> übersetzende Gesetzbuch,
|
|
das moderne französische Recht, <I>gänzlich unbekannt</I> ist.</P>
|
|
<P>Anderswo, bei der Kritik der nach französischem Muster auf dem ganzen
|
|
Kontinent eingeführten, nach Stimmenmehrheit entscheidenden Geschwornengerichte,
|
|
werden wir belehrt:</P>
|
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<P><SMALL>»Ja, man wird sich <I>sogar</I> mit dem, übrigens nicht einmal
|
|
geschichtlich beispiellosen Gedanken vertraut machen können, daß eine
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|
Verurteilung mit <I>Widerspruch der Stimmen</I> in einem vollkommnen Gemeinwesen
|
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zu den unmöglichen Institutionen gehören sollte ... Jedoch muß
|
|
diese <I>ernste</I> und <I>tief geistige</I> Auffassungsart, wie schon oben angedeutet,
|
|
für die überlieferten Gebilde darum als unpassend erscheinen, weil sie
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|
für dieselben <I>zu gut</I> ist.«</SMALL></P>
|
|
<P>Es ist Herrn Dühring abermals unbekannt, daß die Einstimmigkeit
|
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der Geschwornen nicht nur bei strafrechtlichen Verurteilungen, sondern auch bei
|
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Urteilen in bürgerlichen Prozessen unumgänglich notwendig ist nach dem
|
|
englischen gemeinen Recht, d.h. dem ungeschriebnen Gewohnheitsrecht, das seit
|
|
unvordenklicher Zeit in Kraft steht, also mindestens seit dem vierzehnten Jahrhundert.
|
|
Die ernste und tiefgeistige Auffassungsart, die nach Herrn Dühring für
|
|
die heutige Welt <I>zu gut</I> ist, hat in England also gesetzliche Geltung gehabt
|
|
schon im dunkelsten Mittelalter, und ist von England nach Irland, nach den Vereinigten
|
|
Staaten Amerikas und nach allen englischen Kolonien übergeführt worden,
|
|
ohne daß die eindringendsten Fachstudien dem Herrn Dühring auch nur
|
|
ein Sterbenswörtchen davon verraten hätten! Das Gebiet der Geschwornen-Einstimmigkeit
|
|
ist also nicht nur unendlich groß gegenüber dem winzigen Geltungsbereich
|
|
des preußischen Landrechts, es ist auch ausgedehnter als alle die Gebiete
|
|
zusammengenommen, auf denen die Geschwornen-Mehrheit entscheidet. Nicht nur, daß
|
|
Herrn Dühring das einzige moderne, das französische Recht total unbekannt
|
|
ist, er ist auch ebenso unwissend in Beziehung auf das einzige germanische Recht,
|
|
das sich unabhängig von römischer Autorität bis auf die heutige
|
|
Zeit fortentwickelt und auf alle Weltteile ausgebreitet hat - das englische Recht.
|
|
Und warum nicht? Denn die englische Art der juristischen Denkweise</P>
|
|
<P><SMALL>»würde doch angesichts der auf deutschem Boden bewerkstelligten
|
|
Schulung in den reinen Begriffen der klassischen römischen Juristen nicht
|
|
standhalten«,</SMALL></P>
|
|
<P>sagt Herr Dühring, und ferner sagt er:</P>
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|
<P><SMALL>»was ist die englisch-redende Welt mit ihrer kinderhaften Gemengselsprache
|
|
unserer urwüchsigen Sprachgestaltung gegenüber?«</SMALL></P>
|
|
<P><B><A NAME="S103">|103|</A></B> Worauf wir nur mit Spinoza antworten können:
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|
Ignorantia non est argumentum, die Unwissenheit ist kein Beweisgrund.</P>
|
|
<P>Wir können hiernach zu keinem andern Schlußergebnis kommen, als
|
|
daß Herrn Dührings eindringendste Fachstudien darin bestanden, daß
|
|
er drei Jahre theoretisch in das Corpus juris und weitere drei Jahre praktisch
|
|
in das edle preußische Landrecht sich vertieft hat. Es ist das sicherlich
|
|
auch schon ganz verdienstlich und genügend für einen recht achtungswerten
|
|
altpreußischen Kreisrichter oder Advokaten. Wenn man aber eine Rechtsphilosophie
|
|
für alle Welten und Zeiten zu verfassen unternimmt, so sollte man doch auch
|
|
einigermaßen Bescheid wissen in den Rechtsverhältnissen von Nationen
|
|
wie die Franzosen, Engländer und Amerikaner, Nationen, die eine ganz andre
|
|
Rolle in der Geschichte gespielt haben als der Winkel von Deutschland, wo das
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|
preußische Landrecht floriert. Doch sehn wir weiter zu.</P>
|
|
<P><SMALL>»Die bunte Mischung von Orts-, Provinzial- und Landesrechten, die sich
|
|
in sehr willkürlicher Weise bald als Gewohnheitsrecht, bald als geschriebnes
|
|
Gesetz, oft unter Einkleidung der wichtigsten Angelegenheiten in reine Statutarform,
|
|
in den verschiedensten Richtungen kreuzen - diese Musterkarte von Unordnung und
|
|
Widerspruch, auf welcher die Einzelheiten das Allgemeine, und dann gelegentlich
|
|
wiederum die Allgemeinheiten das Besondre hinfällig machen, ist wahrlich
|
|
nicht geeignet, ein klares Rechtsbewußtsein bei irgend jemand ... möglich
|
|
zu machen.«</SMALL></P>
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|
<P>Wo aber herrscht dieser verworrene Zustand? Wieder im Geltungsbereich des preußischen
|
|
Landrechts, wo neben, über oder unter diesem Landrecht Provinzialrechte,
|
|
Ortsstatuten, hier und da auch gemeines Recht und andrer Quark die verschiedensten
|
|
relativen Abstufungen von Gültigkeit haben und bei allen praktischen Juristen
|
|
jenen Notschrei hervorrufen, den Herr Dühring hier so sympathisch wiederholt.
|
|
Er braucht gar nicht sein geliebtes Preußen zu verlassen, er darf nur an
|
|
den Rhein kommen, um sich zu überzeugen, daß dort von alledem seit
|
|
siebzig Jahren keine Rede mehr ist - von andern zivilisierten Ländern gar
|
|
nicht zu reden, wo dergleichen veraltete Zustände längst beseitigt sind.</P>
|
|
<P>Ferner:</P>
|
|
<P><SMALL>»in einer weniger schroffen Art tritt die Verschleierung der natürlichen
|
|
individuellen Verantwortlichkeit durch die geheimen und hiermit anonymen Kollektivurteile
|
|
und Kollektivhandlungen von Kollegien oder sonstigen Behördeneinrichtungen
|
|
hervor, die den persönlichen Anteil eines jeden Mitglieds maskieren.«</SMALL></P>
|
|
<P>Und an einer andern Stelle:</P>
|
|
<P><SMALL>»in unserm heutigen zustande wird es als eine <I>überraschende</I>
|
|
und äußerst strenge <A NAME="S104"></A><B>|104|</B> Forderung gelten,
|
|
wenn man von der Verhüllung und Deckung der Einzelverantwortlichkeit durch
|
|
Kollegien nichts wissen will.«</SMALL></P>
|
|
<P>Vielleicht wird es für Herrn Dühring als eine überraschende
|
|
Mitteilung gelten, wenn wir ihm sagen, daß im Gebiet des englischen Rechts
|
|
jedes Mitglied des Richterkollegiums sein Urteil in öffentlicher Sitzung
|
|
einzeln abzugeben und zu begründen hat; daß die Verwaltungskollegien,
|
|
soweit sie nicht gewählt sind und öffentlich verhandeln und abstimmen,
|
|
eine vorzugs<I>weise preußische </I>Einrichtung und in den meisten übrigen
|
|
Ländern unbekannt sind, und daß daher seine Forderung für überraschend
|
|
und äußerst streng eben nur gelten kann - in <I>Preußen</I>.</P>
|
|
<P>Ebenso treffen seine Klagen über die Zwangseinmischungen der Religionspraktiken
|
|
bei Geburt, Ehe, Tod und Bestattung von allen größern zivilisierten
|
|
Ländern nur Preußen, und seit Einführung der Zivilstandsregister
|
|
auch dies nicht mehr. Was Herr Dühring nur vermittelst eines »sozialitären«
|
|
Zukunftszustandes fertig bringt, hat sogar Bismarck inzwischen durch ein einfaches
|
|
Gesetz erledigt. - Nicht anders wird in der »Klage der mangelhaften Ausstattung
|
|
der Juristen für ihren Beruf«, eine Klage, die sich auch auf die »Verwaltungsbeamten«
|
|
ausdehnen läßt, eine spezifisch preußische Jeremiade angestimmt;
|
|
und selbst der bis ins Lächerliche übertriebne Judenhaß, den Herr
|
|
Dühring bei jeder Gelegenheit zur Schau trägt, ist eine, wo nicht spezifisch
|
|
preußische, so doch spezifisch ostelbische Eigenschaft. Derselbe Wirklichkeitsphilosoph,
|
|
der auf alle Vorurteile und Superstitionen souverän herabsieht, steckt selbst
|
|
so tief in persönlichen Marotten, daß er das aus der Bigotterie des
|
|
Mittelalters überkommne Volksvorurteil gegen die Juden ein auf »Naturgründen«
|
|
beruhendes »Natururteil« nennt und sich bis zu der pyramidalen Behauptung versteigt:</P>
|
|
<P><SMALL>»der Sozialismus ist die einzige Macht, welche Bevölkerungszuständen
|
|
mit stärkerer jüdischer Untermischung« (Zustände mit jüdischer
|
|
Untermischung! welches Naturdeutsch!) »die Spitze bieten kann.«</SMALL></P>
|
|
<P>Genug. Die Großprahlerei mit der juristischen Gelahrtheit hat zum Hintergrund
|
|
- im besten Falle - die allerordinärsten Fachkenntnisse eines ganz gewöhnlichen
|
|
altpreußischen Juristen. Das juristische und staatswissenschaftliche Gebiet,
|
|
dessen Ergebnisse uns Herr Dühring konsequent darstellt, »deckt sich« mit
|
|
dem Geltungsbereich des preußischen Landrechts. Außer dem jedem Juristen,
|
|
jetzt selbst in England so ziemlich geläufigen römischen Recht, beschränken
|
|
sich seine juristischen Kenntnisse einzig und allein auf das preußische
|
|
Landrecht, jenes Gesetzbuch des aufgeklärten patriarchalischen Despotismus,
|
|
das in einem Deutsch geschrieben ist, als wäre Herr Dühring dort in
|
|
die Schule gegangen, und das mit seinen <A NAME="S105"></A><B>|105|</B> Moralglossen,
|
|
seiner juristischen Unbestimmtheit und Haltlosigkeit, seinen Stockprügeln
|
|
als Tortur- und Strafmittel noch ganz der vorrevolutionären Zeit angehört.
|
|
Was darüber ist, das ist für Herrn Dühring vom Übel - sowohl
|
|
das modern-bürgerliche französische Recht wie das englische Recht mit
|
|
seiner ganz eigenartigen Entwicklung und seiner auf dem ganzen Kontinent unbekannten
|
|
Sicherung der persönlichen Freiheit. Die Philosophie, welche »keinen bloß
|
|
<I>scheinbaren</I> Horizont gelten läßt, sondern in mächtig umwälzender
|
|
Bewegung alle Erden und Himmel der äußern und innern Natur aufrollt«
|
|
- sie hat zu ihrem <I>wirklichen</I> Horizont - die Grenzen der sechs altpreußischen
|
|
Ostprovinzen und allenfalls noch der paar sonstigen Landfetzen, wo das edle Landrecht
|
|
gilt; und jenseits dieses Horizonts rollt sie weder Erden noch Himmel, weder äußere
|
|
noch innere Natur auf, sondern nur das Gemälde der krassesten Unwissenheit
|
|
über das, was in der übrigen Welt vorgeht.</P>
|
|
<P>Man kann nicht gut von Moral und Recht handeln, ohne auf die Frage vom sogenannten
|
|
freien Willen, von der Zurechnungsfähigkeit des Menschen, von dem Verhältnis
|
|
von Notwendigkeit und Freiheit zu kommen. Auch die Wirklichkeitsphilosophie hat
|
|
nicht nur eine, sondern sogar zwei Lösungen für diese Frage.</P>
|
|
<P><SMALL>»An die Stelle aller falschen Freiheitstheorien hat man die erfahrungsmäßige
|
|
Beschaffenheit des Verhältnisses zu setzen, in welchem sich rationelle Einsicht
|
|
auf der einen und triebförmige Bestimmungen auf der andern Seite <I>gleichsam</I>
|
|
zu einer Mittelkraft vereinigen. Die Grundtatsachen dieser Art von Dynamik sind
|
|
aus der Beobachtung zu entnehmen, und für die Vorausbemessung des noch nicht
|
|
erfolgten Geschehns auch, so <I>gut es gehen will</I>, im allgemeinen nach Art
|
|
und Größe zu veranschlagen. Hierdurch werden die albernen Einbildungen
|
|
über die innere Freiheit, an denen Jahrtausende genagt und gezehrt haben,
|
|
nicht nur gründlich weggeräumt, sondern auch durch etwas Positives ersetzt,
|
|
was sich für die praktische Einrichtung des Lebens brauchen läßt.«</SMALL></P>
|
|
<P>Danach besteht die Freiheit dann, daß die rationelle Einsicht den Menschen
|
|
nach rechts, die irrationellen Triebe ihn nach links zerren, und bei diesem Parallelogramm
|
|
der Kräfte die wirkliche Bewegung in der Richtung der Diagonale erfolgt.
|
|
Die Freiheit wäre also der Durchschnitt zwischen Einsicht und Trieb, Verstand
|
|
und Unverstand, und ihr Grad wäre bei jedem einzelnen erfahrungsmäßig
|
|
festzustellen durch eine »persönliche Gleichung«, um einen astronomischen
|
|
Ausdruck zu gebrauchen. Aber wenige Seiten später heißt es:</P>
|
|
<P><SMALL>»Wir gründen die moralische Verantwortlichkeit auf die Freiheit,
|
|
die uns jedoch weiter nichts bedeutet als die Empfänglichkeit für bewußte
|
|
Beweggründe nach Maß- <A NAME="S106"></A><B>|106|</B> gabe des natürlichen
|
|
und erworbnen Verstandes. Alle solche Beweggründe wirken trotz der Wahrnehmung
|
|
des möglichen Gegensatzes in den Handlungen mit unausweichlicher Naturgesetzmäßigkeit;
|
|
aber grade auf diese unumgängliche Nötigung zählen wir, indem wir
|
|
die moralischen Hebel ansetzen.«</SMALL></P>
|
|
<P>Diese zweite Bestimmung der Freiheit, die der ersten ganz ungeniert ins Gesicht
|
|
schlägt, ist wieder nichts als eine äußerste Verflachung der Hegelschen
|
|
Auffassung. Hegel war der erste, der das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit
|
|
richtig darstellte. Für ihn ist die Freiheit die Einsicht in die Notwendigkeit.
|
|
»<I>Blind</I> ist die Notwendigkeit nur, <I>insofern dieselbe nicht begriffen
|
|
wird</I>.« Nicht in der geträumten Unabhängigkeit von den Naturgesetzen
|
|
liegt die Freiheit, sondern in der Erkenntnis dieser Gesetze, und in der damit
|
|
gegebnen Möglichkeit, sie planmäßig zu bestimmten Zwecken wirken
|
|
zu lassen. Es gilt dies mit Beziehung sowohl auf die Gesetze der äußern
|
|
Natur, wie auf diejenigen, welche das körperliche und geistige Dasein des
|
|
Menschen selbst regeln - zwei Klassen von Gesetzen, die wir höchstens in
|
|
der Vorstellung, nicht aber in der Wirklichkeit voneinander trennen können.
|
|
Freiheit des Willens heißt daher nichts andres als die Fähigkeit, mit
|
|
Sachkenntnis entscheiden zu können. Je <I>freier</I> also das Urteil eines
|
|
Menschen in Beziehung auf einen bestimmten Fragepunkt ist, mit desto größerer
|
|
<I>Notwendigkeit</I> wird der Inhalt dieses Urteils bestimmt sein; während
|
|
die auf Unkenntnis beruhende Unsicherheit, die zwischen vielen verschiednen und
|
|
widersprechenden Entscheidungsmöglichkeiten scheinbar willkürlich wählt,
|
|
eben dadurch ihre Unfreiheit beweist, ihr Beherrschtsein von dem Gegenstande,
|
|
den sie grade beherrschen sollte. Freiheit besteht also in der auf Erkenntnis
|
|
der Naturnotwendigkeiten gegründeten Herrschaft über uns selbst und
|
|
über die äußere Natur; sie ist damit notwendig ein Produkt der
|
|
geschichtlichen Entwicklung. Die ersten, sich vom Tierreich sondernden Menschen
|
|
waren in allem Wesentlichen so unfrei wie die Tiere selbst; aber jeder Fortschritt
|
|
in der Kultur war ein Schritt zur Freiheit. An der Schwelle der Menschheitsgeschichte
|
|
steht die Entdeckung der Verwandlung von mechanischer Bewegung in Wärme:
|
|
die Erzeugung des Reibfeuers; am Abschluß der bisherigen Entwicklung steht
|
|
die Entdeckung der Verwandlung von Wärme in mechanische Bewegung: die Dampfmaschine.
|
|
- Und trotz der riesigen befreienden Umwälzung, die die Dampfmaschine in
|
|
der gesellschaftlichen Weit vollzieht - sie ist noch nicht halb vollendet -, ist
|
|
es doch unzweifelhaft, daß das Reibfeuer sie an weltbefreiender Wirkung
|
|
noch übertrifft. Denn das Reibfeuer gab dem Menschen zum <A NAME="S107"></A><B>|107|</B>
|
|
erstenmal die Herrschaft über eine Naturkraft und trennte ihn damit endgültig
|
|
vom Tierreich. Die Dampfmaschine wird nie einen so gewaltigen Sprung in der Menschheitsentwicklung
|
|
zustande bringen, sosehr sie uns auch als Repräsentantin aller jener, an
|
|
sie sich anlehnenden gewaltigen Produktivkräfte gilt, mit deren Hülfe
|
|
allein ein Gesellschaftszustand ermöglicht wird, worin es keine Klassenunterschiede,
|
|
keine Sorgen um die individuellen Existenzmittel mehr gibt, und worin von wirklicher
|
|
menschlicher Freiheit, von einer Existenz in Harmonie mit den erkannten Naturgesetzen,
|
|
zum ersten mal die Rede sein kann. Wie jung aber noch die ganze Menschengeschichte
|
|
und wie lächerlich es wäre, unsern jetzigen Anschauungen irgendwelche
|
|
absolute Gültigkeit zuschreiben zu wollen, geht aus der einfachen Tatsache
|
|
hervor, daß die ganze bisherige Geschichte sich bezeichnen läßt
|
|
als Geschichte des Zeitraums von der praktischen Entdeckung der Verwandlung von
|
|
mechanischer Bewegung in Wärme bis zu derjenigen der Verwandlung von Wärme
|
|
in mechanische Bewegung.</P>
|
|
<P>Bei Herrn Dühring wird die Geschichte freilich anders behandelt. Im allgemeinen
|
|
ist sie als Geschichte der Irrtümer, der Unwissenheit und Roheit, der Vergewaltigung
|
|
und Knechtung ein die Wirklichkeitsphilosophie anwidernder Gegenstand, im besondern
|
|
jedoch teilt sie sich in zwei große Abschnitte, nämlich 1. von dem
|
|
sich selbst gleichen Zustand der Materie bis auf die französische Revolution,
|
|
und 2. von der französischen Revolution bis auf Herrn Dühring; und dabei
|
|
bleibt das 19. Jahrhundert</P>
|
|
<P><SMALL>»noch wesentlich reaktionär, ja es ist es (?) in geistiger Beziehung
|
|
noch mehr als das 18.«, wobei es jedoch den Sozialismus in seinem Schoß
|
|
trägt, und damit »den Keim einer gewaltigeren Umschaffung als sie von den
|
|
Vorläufern und den Heroen der französischen Revolution erdacht (!) wurde«.</SMALL></P>
|
|
<P>Die wirklichkeitsphilosophische Verachtung gegen die bisherige Geschichte rechtfertigt
|
|
sich wie folgt:</P>
|
|
<P><SMALL>»Die wenigen Jahrtausende, für welche eine historische Rückerinnerung
|
|
durch ursprüngliche Aufzeichnungen vermittelt wird, haben mit ihrer bisherigen
|
|
Menschheitsverfassung <I>nicht viel zu bedeuten</I>, wenn man an die Reihe der
|
|
kommenden Jahrtausende denkt ... Das Menschengeschlecht ist als Ganzes noch sehr
|
|
jung, und wenn einst die wissenschaftliche Rückerinnerung mit Zehntausenden
|
|
statt mit Tausenden von Jahren zu rechnen hat, wird die geistig unreife Kindheit
|
|
unserer Institutionen eine selbstverständliche Voraussetzung über unsre
|
|
alsdann als Uraltertum gewürdigte Zeit unbestrittene Geltung haben.«</SMALL></P>
|
|
<P>Ohne uns bei der in der Tat »urwüchsigen Sprachgestaltung« des letzten
|
|
Satzes länger aufzuhalten, bemerken wir nur zweierlei: Erstens, daß
|
|
dies »Uraltertum« unter allen Umständen ein Geschichtsabschnitt von höch-
|
|
<A NAME="S108"></A><B>|108|</B> stem Interesse für alle künftigen Generationen
|
|
bleiben wird, weil es die Grundlage aller spätern höhern Entwicklung
|
|
bildet, weil es die Herausbildung des Menschen aus dem Tierreich zum Ausgangspunkt,
|
|
und zum Inhalt die Überwindung von solchen Schwierigkeiten hat, wie sie sich
|
|
den zukünftigen assoziierten Menschen nie wieder entgegenstellen werden.
|
|
Und zweitens, daß der Abschluß dieses Uraltertums, demgegenüber
|
|
die künftigen, nicht mehr durch diese Schwierigkeiten und Hindernisse aufgehaltenen
|
|
Geschichtsperioden ganz andre wissenschaftliche, technische und gesellschaftliche
|
|
Erfolge versprechen, ein jedenfalls sehr sonderbar gewählter Moment ist,
|
|
um diesen kommenden Jahrtausenden Vorschriften zu machen durch endgültige
|
|
Wahrheiten letzter Instanz, unwandelbare Wahrheiten und wurzelhafte Konzeptionen,
|
|
entdeckt auf Grundlage der geistig unreifen Kindheit unsres so sehr »rückständigen«
|
|
und »rückläufigen« Jahrhunderts. Man muß eben der philosophische
|
|
Richard Wagner sein - doch ohne Wagners Talent -, um zu übersehn, daß
|
|
alle die Herabwürdigungen, die man auf die bisherige Geschichtsentwicklung
|
|
wirft, ebenfalls an ihrem angeblich letzten Resultat haften bleiben - an der sogenannten
|
|
Wirklichkeitsphilosophie.</P>
|
|
<P>Eines der bezeichnendsten Stücke der neuen wurzelhaften Wissenschaft ist
|
|
der Abschnitt über Individualisierung und Wertsteigerung des Lebens. Hier
|
|
sprudelt und strömt in unaufhaltsamem Quelldrang durch volle drei Kapitel
|
|
der orakelhafte Gemeinplatz. Wir müssen uns leider auf ein paar kurze Proben
|
|
beschränken.</P>
|
|
<P><SMALL>»Das tiefere Wesen aller Empfindung und mithin aller subjektiven Lebensformen
|
|
beruht auf der <I>Differenz</I> von Zuständen ... Für das <I>volle</I>
|
|
(!) Leben läßt sich aber auch ohne weiteres (!) dartun, daß es
|
|
nicht die beharrliche Lage. Sondern der Übergang von einer Lebenssituation
|
|
in die andre ist, wodurch das Lebensgefühl gesteigert und die entscheidenden
|
|
Reize entwickelt werden ... Der annähernd sich selbst gleiche, <I>sozusagen</I>
|
|
in Trägheitsbeharrung und <I>gleichsam</I> in derselben Gleichgewichtslage
|
|
verbleibende Zustand hat, wie er auch beschaffen sein möge, für die
|
|
Erprobung des Daseins nicht viel zu bedeuten ... Die Gewöhnung und <I>sozusagen</I>
|
|
Einlebung macht ihn vollends zu etwas Indifferentem und Gleichgültigem, was
|
|
sich nicht sonderlich vom Totsein unterscheidet. Höchstens tritt noch als
|
|
eine Art negativer Lebensregung die Pein der Langeweile hinzu ... In einem sich
|
|
stauenden Leben erlischt für einzelne und Völker alle Leidenschaft und
|
|
alles Interesse am Dasein. <I>Unser Gesetz der Differenz aber ist es, aus welchem
|
|
alle diese Erscheinungen erklärlich werden</I>.«</SMALL></P>
|
|
<P>Es geht über allen Glauben, mit welcher Geschwindigkeit Herr Dühring
|
|
seine von Grund aus eigentümlichen Ergebnisse zustande bringt. Eben erst
|
|
ist der Gemeinplatz ins Wirklichkeitsphilosophische übersetzt, daß
|
|
fort- <A NAME="S109"></A><B>|109|</B> dauernde Reizung desselben Nerven oder Fortdauer
|
|
desselben Reizes jeden Nerv und jedes Nervensystem ermüdet, daß also
|
|
im normalen Zustand Unterbrechung und Abwechslung der Nervenreize stattfinden
|
|
muß - was seit Jahren in jedem Handbuch der Physiologie zu lesen und was
|
|
jeder Philister aus eigner Erfahrung weiß -, kaum ist diese uralte Plattheit
|
|
in die mysteriöse Form übersetzt worden, daß das tiefere Wesen
|
|
aller Empfindung auf der Differenz von Zuständen beruht, so verwandelt sie
|
|
sich auch schon in »<I>Unser</I> Gesetz der Differenz«. Und dies Gesetz der Differenz
|
|
macht »vollkommen erklärlich« eine ganze Reihe von Erscheinungen, welche
|
|
wieder nichts sind als Illustrationen und Beispiele von der Annehmlichkeit der
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Abwechslung, welche selbst für den allergewöhnlichsten Philisterverstand
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durchaus keiner Erklärung bedürfen, und welche durch den Hinweis auf
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dies angebliche Gesetz der Differenz nicht um die Breite eines Atoms an Klarheit
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gewinnen.</P>
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<P>Aber damit ist die Wurzelhaftigkeit »<I>unsres</I> Gesetzes der Differenz«
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noch lange nicht erschöpft:</P>
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<P><SMALL>»Die Abfolge der Lebensalter und das Eintreten der mit ihnen verbundnen
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Veränderungen der Lebensverhältnisse liefern ein recht naheliegendes
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Beispiel zur Veranschaulichung <I>unsres</I> Differenzprinzips. Kind, Knabe, Jüngling
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und Mann erfahren die Starke ihrer jeweiligen Lebensgefühle weniger durch
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die bereits fixierten Zustände, in denen sie sich befinden, als durch die
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Epochen des Übergangs, von dem einen zum andern.«</SMALL></P>
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<P>Damit nicht genug:</P>
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<P><SMALL>»<I>Unser</I> Gesetz der Differenz kann noch eine entlegnere Anwendung
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erhalten, indem man die Tatsache in Anschlag bringt, daß die Wiederholung
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des bereits Erprobten oder Geleisteten keinen Reiz hat.«</SMALL></P>
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<P>Und nun kann sich der Leser den orakelhaften Kohl selbst hinzudenken, zu dem
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Sätze von der Tiefe und Wurzelhaftigkeit der obigen den Anknüpfungspunkt
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bieten; und wohl mag Herr Dühring am Schluß seines Buches triumphierend
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ausrufen:</P>
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<P><SMALL>»Für die Schätzung und Steigerung des Lebenswerts wurde das
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Gesetz der Differenz zugleich theoretisch und praktisch maßgebend!«</SMALL></P>
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<P>Für die Schätzung des geistigen Werts seines Publikums durch Herrn
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Dühring ebenfalls: er muß glauben, es bestehe aus lauter Eseln oder
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Philistern.</P>
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<P>Weiterhin erhalten wir folgende äußerst praktische Lebensregeln:</P>
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<P><SMALL>»Die Mittel, das Gesamtinteresse am Leben rege zu erhalten« (schöne
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Aufgabe für Philister und solche, die es werden wollen!) »bestehen darin,
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die einzelnen <I>sozusagen</I> <A NAME="S110"></A><B>|110|</B> elementaren Interessen,
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aus denen sich das Ganze zusammensetzt, sich nach den natürlichen Zeitmaßen
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entwickeln oder einander ablösen zu lassen. Auch gleichzeitig für denselben
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Zustand wird die Stufenfolge in der Ersetzbarkeit der niedern und leichter befriedigten
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Reize durch die hohern und anhaltender wirksamen Erregungen dahin zu benutzen
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sein, daß die Entstehung von gänzlich interesselosen Lücken vermieden
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werde. Übrigens wird es aber darauf ankommen, zu verhüten, daß
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die naturgemäß oder sonst im normalen Lauf des gesellschaftlichen Daseins
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entstehenden Spannungen in willkürlicher Weise gehäuft, forciert oder,
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was die gegenteilige Verkehrtheit ist, schon bei der leisesten Regung befriedigt
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und so an der Entwicklung eines genußfähigen Bedürfens verhindert
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werden. Die Einhaltung des natürlichen Rhythmus ist hier wie anderwärts
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die Vorbedingung der ebenmäßigen und anmutenden Bewegung. Auch darf
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man sich nicht die unlösbare Aufgabe stellen, die Reize irgendeiner Situation
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über die ihnen von der Natur oder den Verhältnissen zugemeßne
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Frist ausdehnen zu wollen« usw.</SMALL></P>
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<P>Der Biedermann, der sich diese feierlichen Philisterorakel einer über
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die fadesten Plattheiten spintisierenden Pedanterie zur Regel der »Lebenserprobung«
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dienen läßt, wird allerdings nicht über »gänzlich interesselose
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Lücken« zu klagen haben. Er wird alle seine Zeit nötig haben zur regelrechten
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Vorbereitung und Anordnung der Genüsse, so daß ihm zum Genießen
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selbst kein freier Augenblick bleibt.</P>
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<P>Erproben sollen wir das Leben, das volle Leben. Nur zweierlei verbietet uns
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Herr Dühring:</P>
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<P><SMALL>erstens »die Unsauberkeiten der Einlassung mit dem Tabak«, und zweitens
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Getränke und Nahrungsmittel, welche »widerwärtig erregende oder überhaupt
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für die feinere Empfindung verwerfliche Eigenschaften haben«.</SMALL></P>
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<P>da nun Herr Dühring in dem Kursus der Ökonomie die Schnapsbrennerei
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so dithyrambisch feiert, so kann er unter diesen Getränken unmöglich
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den Branntwein verstehn; wir sind also zu dem Schluß gezwungen, daß
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sein Verbot sich bloß auf Wein und Bier erstreckt. Er verbiete nun auch
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noch das Fleisch, und dann hat er die Wirklichkeitsphilosophie auf dieselbe Höhe
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gebracht, auf der weiland Gustav Struve sich mit soviel Erfolg bewegte - auf der
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Höhe der puren Kinderei.</P>
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<P>Übrigens könnte Herr Dühring doch in Beziehung auf die geistigen
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Getränke etwas liberaler sein. Ein Mann, der eingestandnermaßen die
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Brücke vom Statischen zum Dynamischen noch immer nicht finden kann, hat doch
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sicher alle Ursache, gelind zu urteilen, wenn irgendein armer Teufel einmal zu
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tief ins Glas guckt und infolgedessen die Brücke vom Dynamischen zum Statischen
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ebenfalls vergebens sucht.</P>
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<H3 ALIGN="CENTER"><A NAME="Kap_XII">XII. Dialektik - Quantität und Qualität</A></H3>
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<P><SMALL><B><A NAME="S111">|111|</A></B></SMALL><SMALL> »Der erste und wichtigste
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Satz über die logischen Grundeigenschaften des Seins bezieht sich auf den
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Ausschluß des Widerspruchs. Das Widersprechende ist eine Kategorie, die
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nur der Gedankenkombination, aber keiner Wirklichkeit angehören kann. In
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den Dingen sind keine Widersprüche, oder, mit andern Worten, der real gesetzte
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Widerspruch ist selbst der Gipfelpunkt des Widersinns ... Der Antagonismus von
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Kräften, die sich in entgegengesetzter Richtung einander messen, ist sogar
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die Grundform aller Aktionen im Dasein der Welt und ihrer Wesen. Dieser Widerstreit
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der Kräfterichtungen der Elemente und der Individuen fällt aber nicht
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im entferntesten mit dem Gedanken von Widerspruchsabsurditäten zusammen ...
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Hier können wir zufrieden sein, die Nebel, die aus vermeintlichen Mysterien
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der Logik aufzusteigen pflegen, durch ein klares Bild von der wirklichen Absurdität
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des realen Widerspruchs aufgelöst, und die Nutzlosigkeit des Weihrauchs dargetan
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zu haben, welchen man für die der antagonistischen Weltschematik untergeschobne
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und recht plump geschnitzte Holzpuppe von Widerspruchsdialektik hier und da verschwendet
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hat.«</SMALL></P>
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<P>Dies ist so ziemlich alles, was in dem »Kursus der Philosophie« über Dialektik
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gesagt wird. In der »Kritischen Geschichte« dagegen wird die Widerspruchsdialektik,
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und mit ihr namentlich Hegel, ganz anders mitgenommen.</P>
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<P><SMALL>»Das Widersprechende ist nämlich nach der Hegelschen Logik oder
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vielmehr Logoslehre nicht etwa in dem seiner Natur nach nicht anders als subjektiv
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und bewußt vorzustellenden Denken, sondern in den Dingen und Vorgängen
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selbst objektiv vorhanden und sozusagen leibhaft anzutreffen, so daß der
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Widersinn nicht eine unmögliche Kombination des Gedankens bleibt, sondern
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eine tatsächliche Macht wird. Die Wirklichkeit des Absurden ist der erste
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Glaubensartikel der Hegelschen Einheit von Logik und Unlogik ... Je widersprechender,
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desto wahrer, oder mit andern Worten: je absurder, desto glaublicher, diese nicht
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einmal neu erfundne, sondern der Offenbarungstheologie und der Mystik entlehnte
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Maxime ist der nackte Ausdruck des sogenannten dialektischen Prinzips.«</SMALL></P>
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<P>Der Gedankeninhalt der beiden angeführten Stellen faßt sich in dem
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Satz zusammen, daß Widerspruch = Widersinn ist, und daher in der wirklichen
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Welt nicht vorkommen kann. Dieser Satz mag für Leute von sonst ziemlich gesundem
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Menschenverstand dieselbe selbstverständliche Geltung haben wie der, daß
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gerade nicht krumm und krumm nicht gerade sein kann. Aber die Differentialrechnung
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setzt, ungeachtet aller Proteste des gesunden Menschenverstandes, Gerade und Krumm
|
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unter gewissen Umständen dennoch gleich und erreicht damit Erfolge, die der
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auf den Widersinn der Identität von Gerade und Krumm sich steifende gesunde
|
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Menschenverstand nie fertigbringt. Und nach der bedeutenden Rolle, die die sogenannte
|
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Widerspruchsdialektik in der Philosophie von den ältesten Griechen an bis
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|
jetzt gespielt hat, wäre selbst ein stärkerer Gegner als <A NAME="S112"></A><B>|112|</B>
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|
Herr Dühring verpflichtet gewesen, ihr mit andern Argumenten entgegenzutreten,
|
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als mit einer Behauptung und vielen Schimpfwörtern.</P>
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<P>Solange wir die Dinge als ruhende und leblose, jedes für sich, neben-
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|
und nacheinander, betrachten, stoßen wir allerdings auf keine Widersprüche
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an ihnen. Wir finden da gewisse Eigenschaften, die teils gemeinsam, teils verschieden,
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ja einander widersprechend, aber in diesem Fall auf verschiedne Dinge verteilt
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sind und also keinen Widerspruch in sich enthalten. Soweit dies Gebiet der Betrachtung
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ausreicht, soweit kommen wir auch mit der gewöhnlichen, metaphysischen Denkweise
|
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aus. Aber ganz anders, sobald wir die Dinge in ihrer Bewegung, ihrer Veränderung,
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ihrem Leben, in ihrer wechselseitigen Einwirkung aufeinander betrachten. Da geraten
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wir sofort in Widersprüche. Die Bewegung selbst ist ein Widerspruch; sogar
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schon die einfache mechanische Ortsbewegung kann sich nur dadurch vollziehn, daß
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|
ein Körper in einem und demselben Zeitmoment an einem Ort und zugleich an
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einem andern Ort, an einem und demselben Ort und nicht an ihm ist. Und die fortwährende
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Setzung und gleichzeitige Lösung dieses Widerspruchs ist eben die Bewegung.</P>
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<P>Hier haben wir also einen Widerspruch, der »in den Dingen und Vorgängen
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selbst objektiv vorhanden und sozusagen leibhaft anzutreffen ist«. Und was sagt
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Herr Dühring dazu? Er behauptet,</P>
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<P><SMALL>es gebe überhaupt bis jetzt »in der rationellen Mechanik keine
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Brücke zwischen dem streng Statischen und dem Dynamischen«.</SMALL></P>
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<P>Der Leser merkt jetzt endlich, was hinter dieser Lieblingsphrase des Herrn
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Dühring steckt; weiter nichts als dies: der metaphysisch denkende Verstand
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kann absolut nicht vom Gedanken der Ruhe zu dem der Bewegung kommen, weil ihm
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hier obiger Widerspruch den Weg versperrt. Für ihn ist die Bewegung, weil
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|
ein Widerspruch, rein unbegreiflich. Und indem er die Unbegreiflichkeit der Bewegung
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behauptet, gibt er selbst die Existenz dieses Widerspruchs wider Willen zu, gibt
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also zu, daß es einen in den Dingen und Vorgängen selbst objektiv vorhandnen
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Widerspruch gibt, der zudem eine tatsächliche Macht ist.</P>
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<P>Wenn schon die einfache mechanische Ortsbewegung einen Widerspruch in sich
|
|
enthält, so noch mehr die höhern Bewegungsformen der Materie und ganz
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besonders das organische Leben und seine Entwicklung. Wir sahen <A HREF="me20_032.htm#S76">oben</A>,
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daß das Leben grade vor allem darin besteht, daß ein Wesen in jedem
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|
Augenblick dasselbe und doch ein andres ist. Das Leben ist also ebenfalls ein
|
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in den Dingen und Vorgängen selbst vorhandner, sich stets <A NAME="S113"></A><B>|113|</B>
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|
setzender und lösender Widerspruch; und sobald der Widerspruch aufhört,
|
|
hört auch das Leben auf, der Tod tritt ein. Ebenso sahen wir |Siehe <A HREF="me20_032.htm#S35">S.
|
|
35</A> und <A HREF="me20_032.htm#S80">80/81</A>|, wie auch auf dem Gebiete des Denkens wir
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den Widersprüchen nicht entgehn können und wie z.B. der Widerspruch
|
|
zwischen dem innerlich unbegrenzten menschlichen Erkenntnisvermögen und seinem
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wirklichen Dasein in lauter äußerlich beschränkten und beschränkt
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erkennenden Menschen sich löst in der für uns wenigstens praktisch endlosen
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|
Aufeinanderfolge der Geschlechter, im unendlichen Progreß.</P>
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|
<P>Wir erwähnten schon, daß die höhere Mathematik den Widerspruch,
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|
daß Gerade und Krumm unter Umständen dasselbe sein sollen, zu einer
|
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ihrer Hauptgrundlagen hat. Sie bringt den andern Widerspruch fertig, daß
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|
Linien, die sich vor unsern Augen schneiden, dennoch schon fünf bis sechs
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Zentimeter von ihrem Schneidepunkt als parallel, als solche gelten sollen, die
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|
sich selbst bei unendlicher Verlängerung nicht schneiden können. Und
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|
dennoch bringt sie mit diesen und mit noch weit stärkern Widersprüchen
|
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nicht nur richtige, sondern auch für die niedere Mathematik ganz unerreichbare
|
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Resultate zustande.</P>
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|
<P>Aber auch schon in diesen letztern wimmelt es von Widersprüchen. Es ist
|
|
z.B. ein Widerspruch, daß eine Wurzel von A eine Potenz von A sein soll,
|
|
und doch ist <IMG SRC="term_1.gif" WIDTH=62 HEIGHT=11 alt="Wurzel A" hspace="2" vspace="0">.
|
|
Es ist ein Widerspruch, daß eine negative Größe das Quadrat von
|
|
etwas sein soll, denn jede negative Größe, mit sich selbst multipliziert,
|
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gibt ein positives Quadrat. Die Quadratwurzel aus Minus Eins ist daher nicht nur
|
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ein Widerspruch, sondern sogar ein absurder Widerspruch, ein wirklicher Widersinn.
|
|
Und dennoch ist <IMG SRC="-1.gif" WIDTH=24 HEIGHT=11 alt="-1"> ein in vielen Fällen
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notwendiges Resultat richtiger mathematischer Operationen; ja, noch mehr, wo wäre
|
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die Mathematik, niedre wie höhere, wenn ihr verboten würde, mit <IMG SRC="-1.gif" WIDTH=24 HEIGHT=11 alt="Wurzel -1">
|
|
zu operieren?</P>
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|
<P>Die Mathematik selbst betritt mit der Behandlung der veränderlichen Größen
|
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das dialektische Gebiet, und bezeichnenderweise ist es ein dialektischer Philosoph,
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Descartes, der diesen Fortschritt in sie eingeführt hat. Wie die Mathematik
|
|
der veränderlichen sich zu der der unveränderlichen Größen
|
|
verhält, so verhält sich überhaupt dialektisches Denken zu metaphysischem.
|
|
Was durchaus nicht verhindert, daß die große Menge der Mathematiker
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die Dialektik nur auf mathematischem Gebiet anerkennt, und daß es genug
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unter ihnen gibt, die mit den auf dialektischem Weg gewonnenen Methoden ganz in
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der alten, beschränkten, metaphysischen Weise weiteroperieren.</P>
|
|
<P><B><A NAME="S114">|114|</A></B> Auf Herrn Dührings Antagonismus von Kräften
|
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und seine antagonistische Weltschematik näher einzugehn, wäre nur dann
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möglich, wenn er uns etwas mehr über dies Thema gegeben hätte,
|
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als - die bloße Phrase. Nachdem er dies fertiggebracht, wird uns dieser
|
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Antagonismus weder in der Weltschematik noch in der Naturphilosophie ein einziges
|
|
Mal wirkend vorgeführt, das beste Eingeständnis, daß Herr Dühring
|
|
mit dieser »Grundform aller Aktionen im Dasein der Welt und ihrer Wesen« absolut
|
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nichts Positives anzufangen weiß. Wenn man in der Tat Hegels »Lehre vom
|
|
Wesen« bis auf die Plattheit von in entgegengesetzter Richtung, aber nicht in
|
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Widersprüchen, sich bewegenden Kräften heruntergebracht hat, so tut
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|
man allerdings am besten, jeder Anwendung dieses Gemeinplatzes aus dem Wege zu
|
|
gehn.</P>
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<P>Den weitern Anhaltspunkt für Herrn Dühring, um seinem antidialektischen
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|
Zorn Luft zu machen, bietet ihm Marx' »Kapital«.</P>
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<P><SMALL>»Mangel an natürlicher und verständlicher Logik, durch welchen
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sich die dialektisch-krausen Verschlingungen und Vorstellungsarabesken auszeichnen
|
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... schon auf den bereits vorhandnen Teil muß man das Prinzip anwenden,
|
|
daß in einer gewissen Hinsicht und auch überhaupt (!) nach einem bekannten
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philosophischen Vorurteil alles in jedem und jedes in allem zu suchen, und daß
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dieser Misch- und Mißvorstellung zufolge schließlich alles Eins sei.«</SMALL></P>
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<P> Diese seine Einsicht in das bekannte philosophische Vorurteil befähigt
|
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denn auch Herrn Dühring, mit Sicherheit vorauszusagen, was das »Ende« des
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Marxschen ökonomischen Philosophierens, also was der Inhalt der folgenden
|
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Bände des »Kapitals« sein wird, genau sieben Zeilen nachdem er erklärt
|
|
hat, es sei</P>
|
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<P><SMALL>»jedoch wirklich nicht abzusehn, was, menschlich und deutsch geredet,
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eigentlich in den zwei« (letzten) »Bänden noch folgen soll«.</SMALL></P>
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<P>Es ist indes nicht das erstemal, daß die Schriften des Herrn Dühring
|
|
sich uns erweisen als gehörig zu den »Dingen«, in denen »das Widersprechende
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|
objektiv vorhanden und sozusagen leibhaft anzutreffen« ist. Was ihn durchaus nicht
|
|
hindert, siegreich fortzufahren:</P>
|
|
<P><SMALL> »doch die gesunde Logik wird über ihre Karikatur voraussichtlich
|
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triumphieren ... Das Vornehmtun und der dialektische Geheimniskram werden niemanden,
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der noch ein wenig gesundes Urteil übrig hat, anreizen, sich mit den Unförmlichkeiten
|
|
der Gedanken und des Stils ... einzulassen. Mit dem Absterben der letzten Reste
|
|
der dialektischen Torheiten wird dieses Mittel der Düpierung ... seinen trügerischen
|
|
Einfluß verlieren, und niemand wird mehr glauben, sich abquälen zu
|
|
müssen, um dort hinter eine tiefe Weisheit zu kommen, wo der gesäuberte
|
|
Kern der krausen Dinge im besten Fall die Züge gewöhnlicher Theorien,
|
|
wo nicht gar von Gemeinplätzen zeigt ... Es ist <A NAME="S115"></A><B>|115|</B>
|
|
ganz unmöglich, die« (Marxschen) »Verschlingungen nach Maßgabe der
|
|
Logoslehre wiederzugeben, ohne die gesunde Logik zu prostituieren.« Marx' Methode
|
|
bestehe darin, »dialektische Wunder für seine Gläubigen herzurichten«,
|
|
und so weiter.</SMALL></P>
|
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<P>Wir haben es hier noch durchaus nicht mit der Richtigkeit oder Unrichtigkeit
|
|
der ökonomischen Resultate der Marxschen Untersuchung zu tun, sondern nur
|
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mit der von Marx angewandten dialektischen Methode. Soviel aber ist sicher: die
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meisten Leser des »Kapital« werden erst jetzt durch Herrn Dühring erfahren
|
|
haben, was sie eigentlich gelesen. Und unter ihnen auch Herr Dühring selbst,
|
|
der im Jahre 1867 (»Ergänzungsblätter« III, Heft 3) noch imstande war,
|
|
eine für einen Denker seines Kalibers verhältnismäßig rationelle
|
|
Inhaltsangabe des Buches zu machen, ohne genötigt zu sein, die Marxschen
|
|
Entwicklungen erst, wie es jetzt für unumgänglich erklärt wird,
|
|
ins Dühringsche zu übersetzen. Wenn er schon damals den Schnitzer beging,
|
|
die Marxsche Dialektik mit der Hegelschen zu identifizieren, so hatte er doch
|
|
nicht ganz die Fähigkeit verloren, zwischen der Methode und den durch sie
|
|
erlangten Resultaten zu unterscheiden, und zu begreifen, daß man die letztern
|
|
nicht im besondern widerlegt, wenn man die erstere im allgemeinen herunterreißt.</P>
|
|
<P>Die überraschendste Mitteilung des Herrn Dühring ist jedenfalls die,
|
|
daß für den Marxschen Standpunkt »schließlich alles Eins ist«,
|
|
daß für Marx also auch z.B. Kapitalisten und Lohnarbeiter, feudale,
|
|
kapitalistische und sozialistische Produktionsweise, »alles Eins ist«, ja am Ende
|
|
wohl gar auch Marx und Herr Dühring »alles Eins«. um die Möglichkeit
|
|
solcher simplen Narrheit zu erklären, bleibt nur die Annahme, daß das
|
|
bloße Wort Dialektik Herrn Dühring in einen Zustand von Unzurechnungsfähigkeit
|
|
versetzt, in dem ihm, einer gewissen Miß- und Mischvorstellung zufolge,
|
|
schließlich »alles Eins« ist, was er sagt und tut.</P>
|
|
<P>Wir haben hier eine Probe von dem, was Herr Dühring</P>
|
|
<P><SMALL>»<I>meine</I> Geschichtszeichnung großen Stils« nennt, oder auch
|
|
»das summarische Verfahren, welches mit der Gattung und dem Typus abrechnet, und
|
|
sich gar nicht dazu herbeiläßt, das, was ein Hume den Gelehrtenpöbel
|
|
nannte, in mikrologischen Einzelnheiten mit einer Bloßstellung zu beehren,
|
|
dieses Verfahren im höhern und edlern Stile ist allein mit den Interessen
|
|
der vollen Wahrheit und mit den Pflichten gegen das zunftfreie Publikum verträglich«.</SMALL></P>
|
|
<P>Die Geschichtszeichnung großen Stils und das summarische Abrechnen mit
|
|
der Gattung und dem Typus ist in der Tat sehr bequem für Herrn Dühring,
|
|
indem er dabei alle bestimmten Tatsachen als mikrologisch vernachlässigen,
|
|
gleich Null setzen kann, und statt zu beweisen, nur allgemeine Redensarten machen,
|
|
zu behaupten und einfach zu verdonnern hat. Dabei <A NAME="S116"></A><B>|116|</B>
|
|
hat sie noch den Vorteil, daß sie dem Gegner keine tatsächlichen Anhaltspunkte
|
|
darbietet, daß ihm also fast keine andre Möglichkeit der Antwort bleibt,
|
|
als ebenfalls im großen Stil und summarisch darauflos zu behaupten, sich
|
|
in allgemeinen Redensarten zu ergehn, und den Herrn Dühring schließlich
|
|
wieder zu verdonnern, kurz, wie man sagt, Retourkutsche zu spielen, was nicht
|
|
nach jedermanns Geschmack ist. Wir müssen es daher Herrn Dühring Dank
|
|
wissen, daß er den höhern und edlern Stil ausnahmsweise verläßt,
|
|
um uns wenigstens zwei Beispiele von der verwerflichen Marxschen Logoslehre zu
|
|
geben.</P>
|
|
<P><SMALL>»Wie komisch nimmt sich nicht z.B. die Berufung auf die Hegelsche konfuse
|
|
Nebelvorstellung aus, daß die Quantität in die Qualität umschlage,
|
|
und daß daher ein Vorschuß, wenn er eine gewisse Grenze erreiche,
|
|
bloß durch diese quantitative Steigerung zu Kapital werde.«</SMALL></P>
|
|
<P>Das nimmt sich allerdings in dieser von Herrn Dühring »gesäuberten«
|
|
Darstellung kurios genug aus. Sehn wir also zu, wie es sich im Original, bei Marx,
|
|
ausnimmt. Auf Seite 313 (2. Auflage des »Kapital«) zieht Marx aus der vorhergegangnen
|
|
Untersuchung über konstantes und variables Kapital und Mehrwert den Schluß,
|
|
daß »nicht jede beliebige Geld- oder Wertsumme in Kapital verwandelbar,
|
|
zu dieser Verwandlung vielmehr ein bestimmtes Minimum von Geld oder Tauschwert
|
|
in der Hand des einzelnen Geld- oder Warenbesitzers vorausgesetzt ist |Siehe Karl
|
|
Marx: »Das Kapital«, Bd. I, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, <A HREF="../me23/me23_321.htm#S326">Bd.
|
|
23, S. 326</A>|. Er nimmt nun als Beispiel an, daß in irgendeinem Arbeitszweige
|
|
der Arbeiter täglich acht Stunden für sich selbst, d.h. zur Erzeugung
|
|
des Werts seines Arbeitslohns, und die folgenden vier Stunden für den Kapitalisten,
|
|
zur Erzeugung von, zunächst in dessen Tasche fließendem, Mehrwert arbeite.
|
|
Dann muß jemand schon über eine Wertsumme verfügen, die ihm erlaubt,
|
|
zwei Arbeiter mit Rohstoff, Arbeitsmitteln und Arbeitslohn auszustatten, um an
|
|
Mehrwert täglich soviel einzustecken, daß er davon so gut leben kann,
|
|
wie einer seiner Arbeiter. Und da die kapitalistische Produktion nicht den bloßen
|
|
Lebensunterhalt, sondern die Vermehrung des Reichtums zum Zweck hat, so wäre
|
|
unser Mann mit seinen beiden Arbeitern immer noch kein Kapitalist. Damit er nun
|
|
doppelt so gut lebe wie ein gewöhnlicher Arbeiter und die Hälfte des
|
|
produzierten Mehrwerts in Kapital zurückverwandle, müßte er acht
|
|
Arbeiter beschäftigen können, also schon das Vierfache der oben angenommnen
|
|
Wertsumme besitzen. Und erst nach diesem, und inmitten noch weiterer Ausführungen
|
|
zur Beleuchtung und Begründung der Tatsache, daß nicht jede beliebige
|
|
kleine Wertsumme hinreicht, um sich in Kapital zu ver- <A NAME="S117"></A><B>|117|</B>
|
|
wandeln, sondern daß dafür jede Entwicklungsperiode und jeder Industriezweig
|
|
ihre bestimmten Minimalgrenzen haben, bemerkt Marx: »Hier, wie in der Naturwissenschaft,
|
|
<I>bewährt sich</I> die Richtigkeit des von Hegel in seiner 'Logik' entdeckten
|
|
Gesetzes, daß bloß quantitative Veränderungen auf einem gewissen
|
|
Punkt in qualitative Unterschiede umschlagen.« |Siehe Karl Marx: »Das Kapital«,
|
|
Bd. I, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, <A HREF="../me23/me23_321.htm#S327">Bd.
|
|
23, S. 327</A>|</P>
|
|
<P>Und nun bewundre man den höhern und edlern Stil, kraft dessen Herr Dühring
|
|
Marx das Gegenteil von dem unterschiebt, was er in Wirklichkeit gesagt hat. Marx
|
|
sagt: Die Tatsache, daß eine Wertsumme erst dann in Kapital sich verwandeln
|
|
kann, sobald sie eine je nach Umständen verschiedne, in jedem einzelnen Fall
|
|
aber bestimmte Minimalgröße erreicht hat - diese Tatsache ist ein <I>Beweis
|
|
für die Richtigkeit</I> des Hegelschen Gesetzes. Herr Dühring läßt
|
|
ihn sagen: <I>Weil</I> nach dem Hegelschen Gesetz Quantität in Qualität
|
|
umschlägt, <I>»daher«</I> wird »ein Vorschuß, wenn er eine bestimmte
|
|
Grenze erreicht ... zu Kapital«. Also das grade Gegenteil.</P>
|
|
<P>Die Sitte, in den »Interessen der vollen Wahrheit« und den »Pflichten gegen
|
|
das zunftfreie Publikum« falsch zu zitieren, haben wir schon in Herrn Dührings
|
|
Verhandlung in Sachen Darwins kennengelernt. Sie erweist sich mehr und mehr als
|
|
innere Notwendigkeit der Wirklichkeitsphilosophie, und ist allerdings ein sehr
|
|
»summarisches Verfahren«. Davon gar nicht zu sprechen, daß Herr Dühring
|
|
Marx des fernern unterschiebt, er spreche von jedem beliebigen »Vorschuß«,
|
|
während es sich hier nur um den einen Vorschuß handelt, der in Rohstoffen,
|
|
Arbeitsmitteln und Arbeitslohn gemacht wird; und daß Herr Dühring es
|
|
damit fertigbringt, Marx reinen Unsinn sagen zu lassen. Und dann hat er die Stirn,
|
|
den von ihm selbst verfertigten Unsinn <I>komisch</I> zu finden. Wie er sich einen
|
|
Phantasie-Darwin zurechtmachte, um an ihm seine Kraft zu erproben, so hier einen
|
|
Phantasie-Marx. »Geschichtszeichnung großen Stils« in der Tat!</P>
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<P>Wir haben schon oben gesehn |Siehe <A HREF="me20_032.htm#S42">S. 42</A>|, bei der Weltschematik,
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daß mit dieser Hegelschen Knotenlinie von Maßverhältnissen, wo
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an gewissen Punkten quantitativer Veränderung plötzlich ein qualitativer
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Umschwung eintritt, Herrn Dühring das kleine Malheur passiert war, sie in
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einer schwachen Stunde selbst anerkannt und angewandt zu haben. Wir gaben dort
|
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eins der bekanntesten Beispiele - das der Veränderung der Aggregatzustände
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des Wassers, das unter Normalluftdruck bei 0° C aus dem flüssigen in den
|
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festen, und bei 100° C aus dem flüssigen in den luftförmigen Zustand
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übergeht, wo also an diesen beiden Wendepunkten die bloße quantitative
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Ver- <A NAME="S118"></A><B>|118|</B> änderung der Temperatur einen qualitativ
|
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veränderten Zustand des Wassers herbeiführt.</P>
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<P>Wir hätten aus der Natur wie aus der Menschengesellschaft noch Hunderte
|
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solcher Tatsachen zum Beweis dieses Gesetzes anführen können. So z.B.
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handelt in Marx' »Kapital« der ganze vierte Abschnitt: Produktion des relativen
|
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Mehrwerts, auf dem Gebiet der Kooperation, Teilung der Arbeit und Manufaktur,
|
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Maschinerie und großen Industrie, von zahllosen Fällen, wo quantitative
|
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Veränderung die Qualität und ebenso qualitative Veränderung die
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Quantität der Dinge ändert, um die es sich handelt, wo also, um den
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Herrn Dühring so verhaßten Ausdruck zu gebrauchen, Quantität in
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Qualität umschlägt und umgekehrt. So z.B. die Tatsache, daß die
|
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Kooperation Vieler, die Verschmelzung vieler Kräfte in eine Gesamtkraft,
|
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um mit Marx zu reden, eine »neue Kraftpotenz« erzeugt, die wesentlich verschieden
|
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ist von der Summe ihrer Einzelkräfte |Siehe Karl Marx: »Das Kapital«, Bd.
|
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I, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, <A HREF="../me23/me23_341.htm#S345">Bd.
|
|
23, S. 345</A>|.</P>
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<P>Zum Überfluß hatte Marx noch an der von Herrn Dühring, im Interesse
|
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der vollen Wahrheit, in ihr Gegenteil verkehrten Stelle die Anmerkung gemacht:
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»Die in der modernen Chemie angewandte, von Laurent und Gerhardt zuerst wissenschaftlich
|
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entwickelte Molekulartheorie beruht auf keinem andern Gesetz.« |Siehe Karl Marx:
|
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»Das Kapital«, Bd. I, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, <A HREF="../me23/me23_321.htm#S327">Bd.
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23, S. 327, Note</A>, | Aber was ging das Herrn Dühring an? Wußte er
|
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doch:</P>
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<P><SMALL>»Die eminent modernen Bildungselemente der naturwissenschaftlichen Denkweise
|
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fehlen grade da, wo, wie bei Herrn Marx und seinem Rivalen Lassalle, die Halbwissenschaften
|
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und ein wenig Philosophasterei das dürftige Rüstzeug zur gelehrten Aufstutzung
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ausmachten« -</SMALL></P>
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<P>während bei Herrn Dühring »die Hauptfeststellungen des exakten Wissens
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in Mechanik, Physik und Chemie« usw. zugrunde liegen - wie, das haben wir gesehn.
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Damit aber auch dritte Leute in den Stand gesetzt werden, zu entscheiden, wollen
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wir das in der Marxschen Note angeführte Exempel etwas näher betrachten.</P>
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<P>Es handelt sich hier nämlich um die homologen Reihen von Kohlenstoffverbindungen,
|
|
deren man schon sehr viele kennt und deren jede ihre eigne algebraische Zusammensetzungsformel
|
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hat. Wenn wir z.B., wie in der Chemie geschieht, ein Atom Kohlenstoff durch C,
|
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ein Atom Wasserstoff durch H, ein Atom Sauerstoff durch O, die Zahl der in jeder
|
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Verbindung enthaltnen Kohlenstoffatome durch n ausdrücken, so können
|
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wir die Molekularformeln für einige dieser Reihen also darstellen:</P>
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<P ALIGN="LEFT">
|
|
<TABLE CELLSPACING=0 BORDER=0 CELLPADDING=2>
|
|
<TR>
|
|
<TD VALIGN="TOP"><B><A NAME="S119">|119|</A></B></TD>
|
|
<TD VALIGN="TOP" ALIGN="RIGHT">C<SPAN class="bottom">n</SPAN>H<SPAN class="bottom">2n+2</SPAN></TD>
|
|
<TD VALIGN="TOP">- Reihe der normalen Paraffine</TD>
|
|
</TR>
|
|
<TR>
|
|
<TD VALIGN="TOP">
|
|
<P></P>
|
|
</TD>
|
|
<TD VALIGN="TOP" ALIGN="RIGHT">C<SPAN class="bottom">n</SPAN>H<SPAN class="bottom">2n+2</SPAN>O</TD>
|
|
<TD VALIGN="TOP">
|
|
<P>- Reihe der primären Alkohole
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</TD>
|
|
</TR>
|
|
<TR>
|
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<TD VALIGN="TOP">
|
|
<P></P>
|
|
</TD>
|
|
<TD VALIGN="TOP" ALIGN="RIGHT">C<SPAN class="bottom">n</SPAN>H<SPAN class="bottom">2n</SPAN>O<SPAN class="bottom">2</SPAN></TD>
|
|
<TD VALIGN="TOP">- Reihe der einbasischen fetten Säuren. </TD>
|
|
</TR>
|
|
</TABLE>
|
|
<P></P>
|
|
<P>Nehmen wir als Beispiel die letzte dieser Reihen, und setzen wir nacheinander
|
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n = 1, n = 2, n = 3 usw., so erhalten wir folgende Resultate (mit Auslassung der
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Isomeren):</P>
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<P ALIGN="LEFT">
|
|
<TABLE CELLSPACING=0 BORDER=0 CELLPADDING=2>
|
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<TR>
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<TD VALIGN="TOP">
|
|
<P>CH<SPAN class="bottom">2</SPAN>O<SPAN class="bottom">2</SPAN>
|
|
</TD>
|
|
<TD VALIGN="TOP">
|
|
<P>- Ameisensäure
|
|
</TD>
|
|
<TD VALIGN="TOP">
|
|
<P>- Siedepunkt
|
|
</TD>
|
|
<TD VALIGN="TOP">
|
|
<P ALIGN="RIGHT">100°
|
|
</TD>
|
|
<TD VALIGN="TOP">
|
|
<P>Schmelzpunkt
|
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</TD>
|
|
<TD VALIGN="TOP">
|
|
<P ALIGN="RIGHT">1°
|
|
</TD>
|
|
</TR>
|
|
<TR>
|
|
<TD VALIGN="TOP">
|
|
<P>C<SPAN class="bottom">2</SPAN>H<SPAN class="bottom">4</SPAN>O<SPAN class="bottom">2</SPAN>
|
|
</TD>
|
|
<TD VALIGN="TOP">
|
|
<P>- Essigsäure
|
|
</TD>
|
|
<TD VALIGN="TOP">
|
|
<P ALIGN="CENTER">"
|
|
</TD>
|
|
<TD VALIGN="TOP">
|
|
<P ALIGN="RIGHT">118°
|
|
</TD>
|
|
<TD VALIGN="TOP">
|
|
<P ALIGN="CENTER">"
|
|
</TD>
|
|
<TD VALIGN="TOP">
|
|
<P ALIGN="RIGHT">17°
|
|
</TD>
|
|
</TR>
|
|
<TR>
|
|
<TD VALIGN="TOP">
|
|
<P>C<SPAN class="bottom">3</SPAN>H<SPAN class="bottom">6</SPAN>O<SPAN class="bottom">2</SPAN>
|
|
</TD>
|
|
<TD VALIGN="TOP">
|
|
<P>- Propionsäure
|
|
</TD>
|
|
<TD VALIGN="TOP">
|
|
<P ALIGN="CENTER">"
|
|
</TD>
|
|
<TD VALIGN="TOP">
|
|
<P ALIGN="RIGHT">140°
|
|
</TD>
|
|
<TD VALIGN="TOP">
|
|
<P ALIGN="CENTER">"
|
|
</TD>
|
|
<TD VALIGN="TOP">
|
|
<P ALIGN="RIGHT">-
|
|
</TD>
|
|
</TR>
|
|
<TR>
|
|
<TD VALIGN="TOP">
|
|
<P>C<SPAN class="bottom">4</SPAN>H<SPAN class="bottom">8</SPAN>O<SPAN class="bottom">2</SPAN>
|
|
</TD>
|
|
<TD VALIGN="TOP">
|
|
<P>- Buttersäure
|
|
</TD>
|
|
<TD VALIGN="TOP">
|
|
<P ALIGN="CENTER">"
|
|
</TD>
|
|
<TD VALIGN="TOP">
|
|
<P ALIGN="RIGHT">162°
|
|
</TD>
|
|
<TD VALIGN="TOP">
|
|
<P ALIGN="CENTER">"
|
|
</TD>
|
|
<TD VALIGN="TOP">
|
|
<P ALIGN="RIGHT">-
|
|
</TD>
|
|
</TR>
|
|
<TR>
|
|
<TD VALIGN="TOP">
|
|
<P>C<SPAN class="bottom">5</SPAN>H<SPAN class="bottom">10</SPAN>O<SPAN class="bottom">2</SPAN>
|
|
</TD>
|
|
<TD VALIGN="TOP">
|
|
<P>- Valeriansäure
|
|
</TD>
|
|
<TD VALIGN="TOP">
|
|
<P ALIGN="CENTER">"
|
|
</TD>
|
|
<TD VALIGN="TOP">
|
|
<P ALIGN="RIGHT">175°
|
|
</TD>
|
|
<TD VALIGN="TOP">
|
|
<P ALIGN="CENTER">"
|
|
</TD>
|
|
<TD VALIGN="TOP">
|
|
<P ALIGN="RIGHT">-
|
|
</TD>
|
|
</TR>
|
|
</TABLE>
|
|
<P></P>
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|
<P>und so weiter bis C<SPAN class="bottom">20</SPAN>H<SPAN class="bottom">60</SPAN>O<SPAN class="bottom">2</SPAN>, Melissinsäure,
|
|
die erst bei 80° schmilzt, und die gar keinen Siedepunkt hat, weil sie sich überhaupt
|
|
nicht ohne Zersetzung verflüchtigt.</P>
|
|
<P>Hier sehn wir also eine ganze Reihe von qualitativ verschiednen Körpern,
|
|
gebildet durch einfachen quantitativen Zusatz der Elemente, und zwar immer in
|
|
demselben Verhältnis. Am reinsten tritt dies da hervor, wo alle Elemente
|
|
der Verbindung in gleichem Verhältnis ihre Quantität ändern, so
|
|
bei den normalen Paraffinen C<SPAN class="bottom">n</SPAN>H<SPAN class="bottom">2n+2</SPAN>; das unterste ist das
|
|
Methan, CH<SPAN class="bottom">4</SPAN> ein Gas; das höchste bekannte, das Hekdekan, C<SPAN class="bottom">16</SPAN>H<SPAN class="bottom">34</SPAN>,
|
|
ein fester, farblose Kristalle bildender Körper, der bei 21° schmilzt und
|
|
erst bei 278° siedet. In beiden Reihen kommt jedes neue Glied durch den Hinzutritt
|
|
von CH<SPAN class="bottom">2</SPAN>, von einem Atom Kohlenstoff und zwei Atomen Wasserstoff zur
|
|
Molekularformel des vorigen Gliedes zustande, und diese quantitative Veränderung
|
|
der Molekularformel bringt jedesmal einen qualitativ verschiednen Körper
|
|
hervor.</P>
|
|
<P>Jene Reihen sind aber nur ein besonders handgreifliches Beispiel; fast überall
|
|
in der Chemie, schon bei den verschiednen Oxyden des Stickstoffs, in den verschiednen
|
|
Sauerstoffsäuren des Phosphors oder Schwefels kann man sehn, wie »Quantität
|
|
in Qualität umschlägt« und diese angebliche Hegelsche konfuse Nebelvorstellung
|
|
in den Dingen und Vorgängen sozusagen leibhaft anzutreffen ist, wobei indes
|
|
niemand konfus und benebelt bleibt außer Herrn Dühring. Und wenn Marx
|
|
der erste ist, der hierauf aufmerksam machte, und wenn Herr Dühring diesen
|
|
Hinweis liest, ohne ihn auch nur zu verstehn (denn sonst hätte er diesen
|
|
unerhörten Frevel gewiß nicht so hingehn lassen), so reicht dies hin,
|
|
um auch ohne Rückblick auf die ruhmvolle Dühringsche Naturphilosophie
|
|
klarzustellen, wem »die eminent modernen Bildungselemente der naturwissenschaftlichen
|
|
Denkweise« <A NAME="S120"></A><B>|120|</B> fehlen, Marx oder Herrn Dühring,
|
|
und wem die Bekanntschaft mit den »Hauptfeststellungen ... der Chemie«.</P>
|
|
<P>Zum Schluß wollen wir noch einen Zeugen für das Umschlagen von Quantität
|
|
in Qualität anrufen, nämlich Napoleon. Dieser beschreibt das Gefecht
|
|
der schlechtreitenden, aber disziplinierten französischen Kavallerie mit
|
|
den Mameluken, der für das Einzelgefecht unbedingt besten, aber undisziplinierten
|
|
Reiterei ihrer Zeit, wie folgt:</P>
|
|
<P><SMALL>»Zwei Mameluken waren drei Franzosen unbedingt überlegen; 100 Mameluken
|
|
standen 100 Franzosen gleich; 300 Franzosen waren 300 Mameluken gewöhnlich
|
|
überlegen, 1.000 Franzosen warfen jedesmal 1.500 Mameluken.«</SMALL></P>
|
|
<P>Grade wie bei Marx eine bestimmte, wenn auch veränderliche. Minimalgröße
|
|
der Tauschwertsumme nötig war, um ihren Übergang in Kapital zu ermöglichen,
|
|
gradeso ist bei Napoleon eine bestimmte Minimalgröße der Reiterabteilung
|
|
nötig, um der in der geschlossenen Ordnung und planmäßigen Verwendbarkeit
|
|
liegenden Kraft der Disziplin zu erlauben, sichtbar zu werden und sich zu steigern
|
|
bis zur Überlegenheit selbst über größere Massen besser berittner,
|
|
gewandter reitender und fechtender, und mindestens ebenso tapfrer irregulärer
|
|
Kavallerie. Aber was beweist das gegen Herrn Dühring? Ist Napoleon nicht
|
|
elendiglich im Kampf mit Europa erlegen? Hat er nicht Niederlage auf Niederlage
|
|
erlitten? Und weshalb? Einzig infolge seiner Einführung der konfusen Hegelschen
|
|
Nebelvorstellung in die Taktik der Kavallerie!</P>
|
|
<H3 ALIGN="CENTER"><A NAME="Kap_XIII">XIII. Dialektik. Negation der Negation</A></H3>
|
|
<P><SMALL>»Diese historische Skizze« (der Genesis der sogenannten ursprünglichen
|
|
Kapitalakkumulation in England) »ist noch das verhältnismäßig
|
|
beste in dem Marxschen Buch und würde noch besser sein, wenn sie sich außer
|
|
auf der gelehrten nicht auch noch auf der dialektischen Krücke fortgeholfen
|
|
hätte. Die Hegelsche Negation der Negation muß hier nämlich in
|
|
Ermanglung besserer und klarerer Mittel den Hebammendienst leisten, durch welchen
|
|
die Zukunft aus dem Schoß der Vergangenheit entbunden wird. Die Aufhebung
|
|
des individuellen Eigentums, die sich in der angedeuteten Weise seit dem 16. Jahrhundert
|
|
vollzogen hat, ist die erste Verneinung. Ihr wird eine zweite folgen, die sich
|
|
als Verneinung der Verneinung und mithin als Wiederherstellung des 'individuellen
|
|
Eigentums', aber in einer höhern, auf Gemeinbesitz des Bodens und der Arbeitsmittel
|
|
gegründeten Form charakterisiert. Wenn dieses neue 'individuelle Eigentum'
|
|
bei Herrn Marx auch zugleich 'gesellschaftliches Eigentum' genannt worden ist,
|
|
so zeigt sich ja hierin die Hegelsche höhere Einheit, in welcher der Widerspruch
|
|
aufgehoben, nämlich der Wortspielerei gemäß sowohl überwunden
|
|
als aufbewahrt sein <A NAME="S121"></A><B>|121|</B> soll ... Die Enteignung der
|
|
Enteigner ist hiernach das gleichsam automatische Ergebnis der geschichtlichen
|
|
Wirklichkeit in ihren materiell äußerlichen Verhältnissen ...
|
|
Auf den Kredit Hegelscher Flausen, wie die Negation der Negation eine ist, möchte
|
|
sich schwerlich ein besonnener Mann von der Notwendigkeit der Boden- und Kapitalkommunität
|
|
überzeugen lassen ... Die nebelhafte Zwittergestalt der Marxschen Vorstellungen
|
|
wird übrigens den nicht befremden, der da weiß, was mit der Hegel-Dialektik
|
|
als wissenschaftlicher Grundlage gereimt werden kann oder vielmehr an Ungereimtheiten
|
|
herauskommen muß. Für den Nichtkenner dieser Künste ist ausdrücklich
|
|
zu bemerken, daß die erste Negation bei Hegel der Katechismusbegriff des
|
|
Sündenfalls, und die zweite derjenige einer zur Erlösung hinführenden
|
|
höheren Einheit ist. Auf diese Analogieschnurre hin, die dem Gebiet der Religion
|
|
entlehnt ist, möchte nun wohl die Logik der Tatsachen nicht zu gründen
|
|
sein ... Herr Marx bleibt getrost in der Nebelwelt seines zugleich individuellen
|
|
und gesellschaftlichen Eigentums und überläßt es seinen Adepten,
|
|
sich das tiefsinnige dialektische Rätsel selber zu lösen.«</SMALL></P>
|
|
<P>Soweit Herr Dühring.</P>
|
|
<P>Also Marx kann die Notwendigkeit der sozialen Revolution, der Herstellung einer
|
|
auf Gemeineigentum der Erde und der durch Arbeit erzeugten Produktionsmittel nicht
|
|
anders beweisen als dadurch, daß er sich auf die Hegelsche Negation der
|
|
Negation beruft; und indem er seine sozialistische Theorie auf diese der Religion
|
|
entlehnte Analogieschnurre gründet, kommt er zu dem Resultat, daß in
|
|
der künftigen Gesellschaft ein zugleich individuelles und gesellschaftliches
|
|
Eigentum als Hegelsche höhere Einheit des aufgehobnen Widerspruchs herrschen
|
|
wird.</P>
|
|
<P>Lassen wir zunächst die Negation der Negation auf sich beruhn, und besehn
|
|
wir uns das »zugleich individuelle und gesellschaftliche Eigentum«. dies wird
|
|
von Herrn Dühring als eine »Nebelwelt« bezeichnet, und er hat darin merkwürdigerweise
|
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wirklich recht. Es ist aber leider nicht Marx, der sich in dieser Nebelwelt befindet,
|
|
sondern wiederum Herr Dühring selbst. Wie er nämlich schon oben vermittelst
|
|
seiner Gewandtheit in der Hegelschen Methode des »Delirierens« ohne Mühe
|
|
feststellen konnte, was die noch unvollendeten Bände des »Kapital« enthalten
|
|
müssen, so kann er auch hier ohne große Mühe Marx nach Hegel berichtigen,
|
|
indem er ihm die höhere Einheit eines Eigentums unterschiebt, von der Marx
|
|
kein Wort gesagt hat.</P>
|
|
<P>Bei Marx heißt es: »Es ist Negation der Negation. Diese stellt das individuelle
|
|
Eigentum wieder her, aber auf Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen
|
|
Ära, der Kooperation freier Arbeiter und ihrem Gemeineigentum an der Erde
|
|
und den durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmitteln. Die Verwandlung
|
|
des auf eigner Arbeit beruhenden, zersplitterten Privateigentums der Individuen
|
|
in kapitalistisches ist natürlich <A NAME="S122"></A><B>|122|</B> ein Prozeß,
|
|
ungleich mehr langwierig, hart und schwierig als die Verwandlung des faktisch
|
|
bereits auf gesellschaftlichem Produktionsbetrieb beruhenden kapitalistischen
|
|
Privateigentums in gesellschaftliches Eigentum.« |Siehe Karl Marx, »Das Kapital«,
|
|
Bd. I, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, <A HREF="../me23/me23_741.htm#S791">Bd.
|
|
23, S. 791</A>| Das ist alles. Der durch die Enteignung der Enteigner hergestellte
|
|
Zustand wird also bezeichnet als die Wiederherstellung des individuellen Eigentums
|
|
aber <I>auf Grundlage </I>des gesellschaftlichen Eigentums an der Erde und den
|
|
durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmitteln. Für jeden, der Deutsch
|
|
versteht, heißt dies, daß das gesellschaftliche Eigentum sich auf
|
|
die Erde und die andern Produktionsmittel erstreckt und das individuelle Eigentum
|
|
auf die Produkte, also auf die Verbrauchsgegenstände. Und damit die Sache
|
|
auch für Kinder von sechs Jahren faßlich werde, unterstellt Marx auf
|
|
Seite 56 einen »Verein freier Menschen, die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln
|
|
arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewußt als
|
|
eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben«, also einen sozialistisch organisierten
|
|
Verein, und sagt: »Das Gesamtprodukt des Vereins ist ein gesellschaftliches Produkt.
|
|
Ein Teil dieses Produkts dient wieder als Produktionsmittel. <I>Er bleibt gesellschaftlich.</I>
|
|
Aber ein andrer Teil wird als Lebensmittel von den Vereinsmitgliedern verzehrt.
|
|
<I>Er muß daher unter sie verteilt werden.</I>« |Siehe Karl Marx, »Das Kapital«,
|
|
Bd. I, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, <A HREF="../me23/me23_049.htm#S92">Bd.
|
|
23, S. 92/93</A>| Und das ist doch wohl klar genug, selbst für den verhegelten
|
|
Kopf des Herrn Dühring.</P>
|
|
<P>Das zugleich individuelle und gesellschaftliche Eigentum, diese konfuse Zwittergestalt,
|
|
diese bei der Hegel-Dialektik herauskommen müssende Ungereimtheit, diese
|
|
Nebelwelt, dies tiefsinnige dialektische Rätsel, das Marx seinen Adepten
|
|
zu lösen überläßt - es ist abermals eine freie Schöpfung
|
|
und Imagination des Herrn Dühring. Marx, als angeblicher Hegelianer ist verpflichtet,
|
|
als Resultat der Negation der Negation eine richtige höhere Einheit zu liefern,
|
|
und da er dies nicht nach dem Geschmack des Herrn Dühring tut, so muß
|
|
dieser wiederum in höhern und edlern Stil verfallen, und Marx im Interesse
|
|
der vollen Wahrheit Dinge unterschieben, die Herrn Dührings eigenstes Fabrikat
|
|
sind. Ein Mann, der so total unfähig ist, auch nur ausnahmsweise richtig
|
|
zu zitieren, mag wohl in sittliche Entrüstung geraten gegenüber der
|
|
»Chinesengelehrsamkeit« andrer Leute, die ausnahmslos richtig zitieren, aber eben
|
|
dadurch »den Mangel einer Einsicht in das Ideenganze der jedesmal angeführten
|
|
Schriftsteller schlecht verdecken«. Herr Dühring hat recht. Es lebe die Geschichtszeichnung
|
|
großen Stils!</P>
|
|
<P>Bisher sind wir von der Voraussetzung ausgegangen, Herrn Dührings hartnäckiges
|
|
Falschzitieren sei wenigstens in gutem Glauben geschehn und <A NAME="S123"></A><B>|123|</B>
|
|
beruhe entweder auf einer ihm eignen totalen Unfähigkeit des Verständnisses,
|
|
oder aber auf einer, der Geschichtszeichnung großen Stils eigentümlichen
|
|
und sonst wohl als liederlich bezeichneten Gewohnheit, aus dem Gedächtnis
|
|
anzuführen. Es scheint aber, daß wir hier an dem Punkt angekommen sind,
|
|
wo auch bei Herrn Dühring die Quantität in die Qualität umschlägt.
|
|
Denn wenn wir erwägen, daß erstens die Stelle bei Marx an sich vollkommen
|
|
klar und zudem noch durch eine andre platterdings kein Mißverständnis
|
|
zulassende Stelle desselben Buchs ergänzt wird; daß zweitens weder
|
|
in der oben angerührten Kritik des »Kapital« in den »Ergänzungsblättern«,
|
|
noch auch in derjenigen in der ersten Auflage der »Kritischen Geschichte« Herr
|
|
Dühring dies Ungeheuer von »zugleich individuellem und gesellschaftlichem
|
|
Eigentum« entdeckt hatte, sondern erst in der zweiten Auflage, also bei <I>dritter</I>
|
|
Lesung; daß in dieser sozialistisch umgearbeiteten, zweiten Auflage Herr
|
|
Dühring es nötig hatte, Marx über die zukünftige Organisation
|
|
der Gesellschaft möglichst großen Blödsinn sagen zu lassen, um
|
|
dagegen - wie er auch tut - »die Wirtschaftskommune, die <I>ich</I> in meinem
|
|
'Cursus' ökonomisch und juristisch skizziert habe«, um so triumphierender
|
|
vorführen zu können - wenn wir das alles erwägen, so wird uns der
|
|
Schluß aufgedrängt, daß Herr Dühring uns hier fast zur Annahme
|
|
zwingt, er habe hier den Marxschen Gedanken mit Vorbedacht »wohltätig erweitert«
|
|
- wohltätig für Herrn Dühring.</P>
|
|
<P>Welche Rolle spielt nun bei Marx die Negation der Negation? Auf Seite 791 u.ff.
|
|
stellt er die Schlußergebnisse der auf den vorhergehenden fünfzig Seiten
|
|
durchgeführten ökonomischen und geschichtlichen Untersuchung über
|
|
die sogenannte ursprüngliche Akkumulation des Kapitals zusammen. Vor der
|
|
kapitalistischen Ära fand, wenigstens in England, Kleinbetrieb statt, auf
|
|
Grundlage des Privateigentums des Arbeiters an seinen Produktionsmitteln. Die
|
|
sogenannte ursprüngliche Akkumulation des Kapitals bestand hier in der Expropriation
|
|
dieser unmittelbaren Produzenten, d.h. in der Auflösung des auf eigner Arbeit
|
|
beruhenden Privateigentums. Dies wurde möglich, weil der obige Kleinbetrieb
|
|
nur verträglich ist mit engen, naturwüchsigen Schranken der Produktion
|
|
und der Gesellschaft und auf einem gewissen Höhegrad daher die materiellen
|
|
Mittel seiner eignen Vernichtung zur Welt bringt. Diese Vernichtung, die Verwandlung
|
|
der individuellen und zersplitterten Produktionsmittel in gesellschaftlich konzentrierte,
|
|
bildet die Vorgeschichte des Kapitals. Sobald die Arbeiter in Proletarier, ihre
|
|
Arbeitsbedingungen in Kapital verwandelt sind, sobald die kapitalistische Produktionsweise
|
|
auf eignen Füßen steht, gewinnt die weitere Vergesellschaftung der
|
|
Arbeit und weitere Verwandlung der Erde und <A NAME="S124"></A><B>|124|</B> andern
|
|
Produktionsmittel, daher die weitere Expropriation der Privateigentümer,
|
|
eine neue Form. »Was jetzt zu expropriieren, ist nicht länger der selbstwirtschaftende
|
|
Arbeiter, sondern der viele Arbeiter exploitierende Kapitalist. Diese Expropriation
|
|
vollzieht sich durch das Spiel der immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion
|
|
selbst, durch die Konzentration der Kapitale. Je ein Kapitalist schlägt viele
|
|
tot. Hand in Hand mit dieser Konzentration oder der Expropriation vieler Kapitalisten
|
|
durch wenige entwickelt sich die kooperative Form des Arbeitsprozesses auf stets
|
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wachsender Stufenleiter, die bewußte technologische Anwendung der Wissenschaft,
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die planmäßig gemeinsame Ausbeutung der Erde, die Verwandlung der Arbeitsmittel
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in nur gemeinsam verwendbare Arbeitsmittel, und die Ökonomisierung aller
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Produktionsmittel durch ihren Gebrauch als gemeinsame Produktionsmittel kombinierter,
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gesellschaftlicher Arbeit. Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten,
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welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren,
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wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtung, der Degradation,
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der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch
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den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten
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und organisierten Arbeiterklasse. Das Kapital |in der 2. Auflage des »Kapital«
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(1872): Kapitalmonopol| wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter
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ihm aufgeblüht ist. Die Konzentration der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung
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der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen
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Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums
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schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.« |Siehe Karl Marx, »Das
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Kapital«, Bd. I, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, <A HREF="../me23/me23_741.htm#S790">Bd.
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23, S. 790/791</A>|</P>
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<P>Und nun frage ich den Leser: Wo sind die dialektisch-krausen Verschlingungen
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und Vorstellungsarabesken, wo die Misch- und Mißvorstellung, derzufolge
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schließlich alles eins ist, wo die dialektischen Wunder für die Gläubigen,
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wo der dialektische Geheimniskram und die Verschlingungen nach Maßgabe der
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Hegelschen Logoslehre, ohne die Marx, nach Herrn Dühring, seine Entwicklung
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nicht zustande bringen kann? Marx weist einfach historisch nach und faßt
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hier kurz zusammen, daß grade, wie einst der Kleinbetrieb durch seine eigne
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Entwicklung die Bedingungen seiner Vernichtung, d.h. der Enteignung der kleinen
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Eigentümer, mit Notwendigkeit erzeugte, so jetzt die kapitalistische Produktionsweise
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ebenfalls die materiellen Bedingungen selbst erzeugt hat, an denen sie zugrunde
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gehn muß. Der Prozeß ist ein geschichtlicher, und wenn er zugleich
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ein dialektischer ist, so ist das nicht die Schuld von Marx, so fatal es Herrn
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Dühring sein mag.</P>
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<P><B><A NAME="S125">|125|</A></B> Erst jetzt, nachdem Marx mit seinem historisch-ökonomischen
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Beweis fertig ist, fährt er fort: »Die kapitalistische Produktions- und Aneignungsweise,
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daher das kapitalistische Privateigentum, ist die erste Negation des individuellen,
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auf eigne Arbeit gegründeten Privateigentums. Die Negation der kapitalistischen
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Produktion wird durch sie selbst, mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses,
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produziert. Es ist Negation der Negation« usw. (wie vorher zitiert) |Siehe Karl
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Marx, »Das Kapital«, Bd. I, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, <A HREF="../me23/me23_741.htm#S791">Bd.
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23, S. 791</A>|.</P>
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<P>Indem Marx also den Vorgang als Negation der Negation bezeichnet, denkt er
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nicht daran, ihn dadurch beweisen zu wollen als einen geschichtlich notwendigen.
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Im Gegenteil: Nachdem er geschichtlich bewiesen hat, daß der Vorgang in
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der Tat teils sich ereignet hat, teils noch sich ereignen muß, bezeichnet
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er ihn zudem als einen Vorgang, der sich nach einem bestimmten dialektischen Gesetz
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vollzieht. Das ist alles. Es ist also wieder eine reine Unterschiebung des Herrn
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Dühring, wenn er behauptet, die Negation der Negation müsse hier die
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Hebammendienste leisten, durch welche die Zukunft aus dem Schoß der Vergangenheit
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entbunden wird, oder daß Marx verlange, man solle auf den Kredit der Negation
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der Negation hin sich von der Notwendigkeit der Boden- und Kapitalkommunität
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(welche selbst ein Dühringscher leibhafter Widerspruch ist) überzeugen
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lassen.</P>
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<P>Es ist schon ein totaler Mangel an Einsicht in die Natur der Dialektik, wenn
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Herr Dühring sie für ein Instrument des bloßen Beweisens hält,
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wie man etwa die formelle Logik oder die elementare Mathematik beschränkterweise
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so auffassen kann. Selbst die formelle Logik ist vor allem Methode zur Auffindung
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neuer Resultate, zum Fortschreiten vom Bekannten zum Unbekannten, und dasselbe,
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nur in weit eminenterem Sinne, ist die Dialektik, die zudem, weil sie den engen
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Horizont der formellen Logik durchbricht, den Keim einer umfassenderen Weltanschauung
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enthält. In der Mathematik liegt dasselbe Verhältnis vor. Die elementare
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Mathematik, die Mathematik der konstanten Größen bewegt sich innerhalb
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der Schranken der formellen Logik, wenigstens im ganzen und großen; die
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Mathematik der variablen Größen, deren bedeutendsten Teil die Infinitesimalrechnung
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bildet, ist wesentlich nichts andres als die Anwendung der Dialektik auf mathematische
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Verhältnisse. Das bloßem Beweisen tritt hier entschieden in den Hintergrund
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gegenüber der mannigfachen Anwendung der Methode auf neue Untersuchungsgebiete.
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Aber fast alle Beweise der höhern Mathematik, von den ersten der Differentialrechnung
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an, sind vom Standpunkt der <A NAME="S126"></A><B>|126|</B> Elementarmathematik
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aus, streng genommen, falsch. Dies kann nicht anders sein, wenn man, wie hier
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geschieht, die auf dialektischem Gebiet gewonnenen Resultate vermittelst der formellen
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Logik beweisen will. Für einen krassen Metaphysiker, wie Herr Dühring,
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vermittelst der bloßen Dialektik etwas beweisen zu wollen, wäre dieselbe
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verlorne Mühe, die Leibniz und seine Schüler hatten, den damaligen Mathematikern
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die Sätze der Infinitesimalrechnung zu beweisen. Das Differential verursachte
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ihnen dieselben Krämpfe wie dem Herrn Dühring die Negation der Negation,
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in der es übrigens, wie wir sehn werden, auch eine Rolle spielt. Die Herren
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gaben zuletzt, soweit sie inzwischen nicht starben, knurrend nach, nicht weil
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sie überzeugt waren, sondern weil es immer richtig herauskam. Herr Dühring
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ist, wie er selbst sagt, erst in den Vierzigen, und wenn er das hohe Alter erreicht,
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das wir ihm wünschen, so kann er auch noch dasselbe erleben.</P>
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<P>Aber was ist denn diese schreckliche Negation der Negation, die Herrn Dühring
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das Leben so sauer macht, die bei ihm dieselbe Rolle des unverzeihlichen Verbrechens
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spielt, wie im Christentum die Sünde wider den heiligen Geist? - Eine sehr
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einfache, überall und täglich sich vollziehende Prozedur, die jedes
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Kind verstehn kann, sobald man den Geheimniskram abstreift, unter dem die alte
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idealistische Philosophie sie verhüllte, und unter dem sie ferner zu verhüllen
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das Interesse hülfloser Metaphysiker vom Schlage des Herrn Dühring ist.
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Nehmen wir ein Gerstenkorn. Billionen solcher Gerstenkörner werden vermahlen,
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verkocht und verbraut, und dann verzehrt. Aber findet solch ein Gerstenkorn die
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für es normalen Bedingungen vor, fällt es auf günstigen Boden,
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so geht unter dem Einfluß der Wärme und der Feuchtigkeit eine eigne
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Veränderung mit ihm vor, es keimt; das Korn vergeht als solches, wird negiert,
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an seine Stelle tritt die aus ihm entstandne Pflanze, die Negation des Korns.
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Aber was ist der normale Lebenslauf dieser Pflanze? Sie wächst, blüht,
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wird befruchtet und produziert schließlich wieder Gerstenkörner, und
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sobald diese gereift, stirbt der Halm ab, wird seinerseits negiert. Als Resultat
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dieser Negation der Negation haben wir wieder das anfängliche Gerstenkorn,
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aber nicht einfach, sondern in zehn-, zwanzig-, dreißigfacher Anzahl. Getreidearten
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verändern sich äußerst langsam, und so bleibt sich die Gerste
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von heute ziemlich gleich mit der von vor hundert Jahren. Nehmen wir aber eine
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bildsame Zierpflanze, z.B. eine Dahlia oder Orchidee; behandeln wir den Samen
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und die aus ihm entstehende Pflanze nach der Kunst des Gärtners, so erhalten
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wir als Ergebnis dieser Negation der Negation nicht nur mehr Samen, sondern auch
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qualitativ verbesserten Samen, der schönere Blumen erzeugt, und jede <A NAME="S127"></A><B>|127|</B>
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Wiederholung dieses Prozesses, jede neue Negation der Negation steigert diese
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Vervollkommnung. - Ähnlich wie beim Gerstenkorn vollzieht sich dieser Prozeß
|
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bei den meisten Insekten, z.B. Schmetterlingen. Sie entstehn aus dem Ei durch
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Negation des Ei's, machen ihre Verwandlungen durch bis zur Geschlechtsreife, begatten
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sich und werden wieder negiert, indem sie sterben, sobald der Gattungsprozeß
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vollendet und das Weibchen seine zahlreichen Eier gelegt hat. Daß bei andern
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Pflanzen und Tieren der Vorgang nicht in dieser Einfachheit sich erledigt, daß
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sie nicht nur einmal, sondern mehrmal Samen, Eier oder Junge produzieren, ehe
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sie absterben, geht uns hier noch nichts an; wir haben hier nur nachzuweisen,
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daß die Negation der Negation in den beiden Reichen der organischen Welt
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<I>wirklich vorkommt</I>. Ferner ist die ganze Geologie eine Reihe von negierten
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Negationen, eine Reihe von aufeinanderfolgenden Zertrümmerungen alter und
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Ablagerungen neuer Gesteinsformationen. Zuerst wird die ursprüngliche, aus
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der Abkühlung der flüssigen Masse entstandne Erdkruste durch ozeanische,
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meteorologische und atmosphärisch-chemische Einwirkung zerkleinert und diese
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zerkleinerten Massen auf dem Meeresboden geschichtet. Lokale Hebungen des Meeresbodens
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über den Meeresspiegel setzen Teile dieser ersten Schichtung von neuem den
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Einwirkungen des Regens, der wechselnden Warme der Jahreszeiten, des Sauerstoffs
|
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und der Kohlensäure der Atmosphäre aus; denselben Einwirkungen unterliegen
|
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die aus dem Erdinnern hervor- und die Schichten durchbrechenden geschmolzenen
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und nachher abgekühlten Steinmassen. Millionen von Jahrhunderten hindurch
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werden so immer neue Schichten gebildet, immer wieder größtenteils
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zerstört und immer wieder als Bildungsstoff für neue Schichten verwendet.
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Aber das Ergebnis ist ein sehr positives: die Herstellung eines aus den verschiedensten
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chemischen Elementen gemischten Bodens in einem Zustand mechanischer Zerkleinerung,
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der die massenhafteste und verschiedenartigste Vegetation zuläßt.</P>
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<P>Ebenso in der Mathematik. Nehmen wir eine beliebige algebraische Größe,
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also <I>a</I>. Negieren wir sie, so haben wir -<I>a</I> (minus <I>a</I>). Negieren
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wir diese Negation, indem wir -<I>a</I> mit -<I>a</I> multiplizieren, so haben
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wir +<I>a<SPAN class="top">2</SPAN></I>, d.h. die ursprüngliche positive Große, aber
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auf einer höhern Stufe, nämlich auf der zweiten Potenz. Auch hier macht
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es nichts aus, daß wir dasselbe <I>a<SPAN class="top">2</SPAN></I> dadurch erlangen können,
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daß wir das positive <I>a</I> mit sich selbst multiplizieren und dadurch
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auch <I>a<SPAN class="top">2</SPAN></I> erhalten. Denn die negierte Negation sitzt so fest in
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dem <I>a<SPAN class="top">2</SPAN></I>, daß es unter allen Umständen zwei Quadratwurzeln
|
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hat, nämlich <I>a</I> und -<I>a</I>. Und diese Unmöglichkeit, die negierte
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Negation, die im Quadrat enthaltne negative Wurzel loszuwerden, bekommt eine sehr
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<A NAME="S128"></A><B>|128|</B> handgreifliche Bedeutung schon bei den quadratischen
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Gleichungen. - Noch schlagender tritt die Negation der Negation hervor bei der
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höhern Analyse, bei jenen »Summationen unbeschränkt kleiner Größen«,
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die Herr Dühring selbst für die höchsten Operationen der Mathematik
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erklärt und die man in gewöhnlicher Sprache Differential- und Integralrechnung
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nennt. Wie vollziehn sich diese Rechnungsarten? Ich habe z.B. in einer bestimmten
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Aufgabe zwei veränderliche Größen x und y, von denen sich die
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eine nicht verändern kann, ohne daß die andre sich in einem durch die
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Sachlage bestimmten Verhältnis mitverändert. Ich differenziere <I>x</I>
|
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und <I>y</I>, d.h. ich nehme <I>x</I> und <I>y</I> so unendlich klein an, daß
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sie gegen jede noch so kleine wirkliche Größe verschwinden, daß
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von <I>x</I> und <I>y</I> nichts bleibt als ihr gegenseitiges Verhältnis,
|
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aber ohne alle sozusagen materielle Grundlage, ein quantitatives Verhältnis
|
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ohne alle Quantität. <SPAN class="top">dx</SPAN>/<SPAN class="bottom">dy</SPAN>, das Verhältnis der
|
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beiden Differentiale von <I>x</I> und <I>y</I> ist also = <SPAN class="top">0</SPAN>/<SPAN class="bottom">0</SPAN>,
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|
aber <SPAN class="top">0</SPAN>/<SPAN class="bottom">0</SPAN> gesetzt als der Ausdruck von <SPAN class="top">x</SPAN>/<SPAN class="bottom">y</SPAN>.
|
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Daß dies Verhältnis zwischen zwei verschwundnen Größen,
|
|
der fixierte Moment ihres Verschwindens, ein Widerspruch ist, erwähne ich
|
|
nur nebenbei; es kann uns aber ebensowenig stören, wie es die Mathematik
|
|
überhaupt seit fast zweihundert Jahren gestört hat. Was anders also
|
|
habe ich getan, als daß ich <I>x</I> und <I>y</I> negiert habe, aber negiert
|
|
nicht so, daß ich mich nicht mehr um sie kümmere, wie die Metaphysik
|
|
negiert, sondern in der der Sachlage entsprechenden Weise? Statt <I>x</I> und
|
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<I>y</I> habe ich also ihre Negation, <I>dx</I> und <I>dy</I> in den mir vorliegenden
|
|
Formeln oder Gleichungen. Ich rechne nun mit diesen Formeln weiter, behandle <I>dx</I>
|
|
und <I>dy</I> als wirkliche, wenn auch gewissen Ausnahmsgesetzen unterworfne Größen,
|
|
und an einem gewissen Punkt - <I>negiere ich die Negation</I>, d.h. ich integriere
|
|
die Differentialformel, bekomme statt <I>dx</I> und <I>dy</I> wieder die wirklichen
|
|
Größen <I>x</I> und <I>y</I> und bin dann nicht etwa wieder so weit
|
|
wie am Anfang, sondern ich habe damit die Aufgabe gelöst, an der die gewöhnliche
|
|
Geometrie und Algebra sich vielleicht umsonst die Zähne ausgebissen hätten.</P>
|
|
<P>Nicht anders in der Geschichte. Alle Kulturvölker fangen an mit dem Gemeineigentum
|
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am Boden. Bei allen Völkern, die über eine gewisse ursprüngliche
|
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Stufe hinausgehn, wird dies Gemeineigentum im Lauf der Entwicklung des Ackerbaus
|
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eine Fessel für die Produktion. Es wird aufgehoben, negiert, nach kürzern
|
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oder längern Zwischenstufen in Privateigentum verwandelt. Aber auf höherer,
|
|
durch das Privateigentum am Boden selbst herbeigeführter Entwicklungsstufe
|
|
des Ackerbaus wird umgekehrt das Privateigentum eine Fessel für die Produktion
|
|
- wie dies heute <A NAME="S129"></A><B>|129|</B> der Fall ist sowohl mit dem kleinen
|
|
wie mit dem großen Grundbesitz. Die Forderung, es ebenfalls zu negieren,
|
|
es wieder in Gemeingut zu verwandeln, tritt mit Notwendigkeit hervor. Aber diese
|
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Forderung bedeutet nicht die Wiederherstellung des altursprünglichen Gemeineigentums,
|
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sondern die Herstellung einer weit höhern, entwickeltern Form von Gemeinbesitz,
|
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die, weit entfernt der Produktion eine Schranke zu werden, sie vielmehr erst entfesseln
|
|
und ihr die volle Ausnutzung der modernen chemischen Entdeckungen und mechanischen
|
|
Erfindungen gestatten wird.</P>
|
|
<P>Oder aber: Die antike Philosophie war ursprünglicher, naturwüchsiger
|
|
Materialismus. Als solcher war sie unfähig, mit dem Verhältnis des Denkens
|
|
zur Materie ins reine zu kommen. Die Notwendigkeit aber, hierüber klarzuwerden,
|
|
führte zur Lehre von einer vom Körper trennbaren Seele, dann zu der
|
|
Behauptung der Unsterblichkeit dieser Seele, endlich zum Monotheismus. Der alte
|
|
Materialismus wurde also negiert durch den Idealismus. Aber in der weitern Entwicklung
|
|
der Philosophie wurde auch der Idealismus unhaltbar und negiert durch den modernen
|
|
Materialismus. Dieser, die Negation der Negation, ist nicht die bloße Wiedereinsetzung
|
|
des alten, sondern fügt zu den bleibenden Grundlagen desselben noch den ganzen
|
|
Gedankeninhalt einer zweitausendjährigen Entwicklung der Philosophie und
|
|
Naturwissenschaft, sowie dieser zweitausendjährigen Geschichte selbst. Es
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ist überhaupt keine Philosophie mehr, sondern eine einfache Weltanschauung,
|
|
die sich nicht in einer aparten Wissenschaftswissenschaft, sondern in den wirklichen
|
|
Wissenschaften zu bewähren und zu betätigen hat. Die Philosophie ist
|
|
hier also »aufgehoben«, das heißt »sowohl überwunden als aufbewahrt«;
|
|
überwunden, ihrer Form, aufbewahrt, ihrem wirklichen Inhalt nach. Wo Herr
|
|
Dühring nur »Wortspielerei« sieht, findet sich also, bei genauerem Zusehn,
|
|
ein wirklicher Inhalt.</P>
|
|
<P>Endlich: Sogar die Rousseausche Gleichheitslehre, von der die Dühringsche
|
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nur ein matter, verfälschter Abklatsch ist, kommt nicht zustande, ohne daß
|
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die Hegelsche Negation der Negation - und noch dazu fast zwanzig Jahre vor Hegels
|
|
Geburt - Hebammendienste leisten muß. Und weit entfernt, sich dessen zu
|
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schämen, trägt sie in ihrer ersten Darstellung den Stempel ihrer dialektischen
|
|
Abstammung fast prunkend zur Schau. Im Zustand der Natur und der Wildheit waren
|
|
die Menschen gleich; und da Rousseau schon die Sprache als eine Fälschung
|
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des Naturzustandes ansieht, so hat er vollkommen recht, die Gleichheit der Tiere
|
|
Einer Art, soweit diese reicht, auch auf diese, neuerdings von Haeckel als Alali,
|
|
Sprachlose, hypothetisch klassifizierten Tiermenschen anzuwenden. Aber diese gleichen
|
|
Tiermenschen hatten vor den übrigen Tieren eine Eigenschaft voraus: die <A NAME="S130"></A><B>|130|</B>
|
|
Perfektibilität, die Fähigkeit, sich weiter zu entwickeln; und diese
|
|
wurde die Ursache der Ungleichheit. Rousseau sieht also in der Entstehung der
|
|
Ungleichheit einen Fortschritt. Aber dieser Fortschritt war antagonistisch, er
|
|
war zugleich ein Rückschritt.</P>
|
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<P><SMALL>»Alle weitern Fortschritte« (über den Urzustand hinaus) »waren
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|
ebensoviel Schritte scheinbar zur <I>Vervollkommnung des Einzelmenschen</I>, in
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|
der Tat aber zum <I>Verfall der Gattung </I>... Die Metallbearbeitung und der
|
|
Ackerbau waren die beiden Künste, deren Erfindung diese große Revolution
|
|
hervorrief« (die Umwandlung des Urwaldes in kultiviertes Land, aber auch die Einführung
|
|
des Elends und der Knechtschaft vermittelst des Eigentums). »Für den Dichter
|
|
haben Gold und Silber, für den Philosophen haben Eisen und Korn die <I>Menschen</I>
|
|
zivilisiert und das Menschen<I>geschlecht</I> ruiniert.« |Alle Hervorhebungen
|
|
von Engels|</SMALL></P>
|
|
<P>Jeder neue Fortschritt der Zivilisation ist zugleich ein neuer Fortschritt
|
|
der Ungleichheit. Alle Einrichtungen, die sich die mit der Zivilisation entstandne
|
|
Gesellschaft gibt, schlagen in das Gegenteil ihres ursprünglichen Zwecks
|
|
um.</P>
|
|
<P><SMALL>»Es ist unbestreitbar und Grundgesetz des ganzen Staatsrechts, daß
|
|
die Völker sich Fürsten gegeben haben, um ihre Freiheit zu schützen,
|
|
nicht aber sie zu vernichten.«</SMALL></P>
|
|
<P>Und dennoch werden diese Fürsten mit Notwendigkeit die Unterdrücker
|
|
der Völker und steigern diese Unterdrückung bis auf den Punkt, wo die
|
|
Ungleichheit, auf die äußerste Spitze getrieben, wieder in ihr Gegenteil
|
|
umschlägt, Ursache der Gleichheit wird: vor dem Despoten sind alle gleich,
|
|
nämlich gleich Null.</P>
|
|
<P><SMALL>»Hier ist der äußerste Grad der Ungleichheit, <I>der Endpunkt</I>,
|
|
<I>der den Kreis schließt und den Punkt berührt</I>, <I>von dem wir
|
|
ausgegangen sind</I>: hier werden alle Privatleute gleich, weil sie eben nichts
|
|
sind, und die Untertanen kein andres Gesetz mehr haben als den Willen des Herrn.«
|
|
Aber der Despot ist nur Herr, solange er die Gewalt hat, und deswegen kann er,
|
|
sobald man »ihn vertreibt, sich nicht gegen die Gewalt beklagen ... Die Gewalt
|
|
erhielt ihn, die Gewalt wirft ihn um, alles geht seinen richtigen naturgemäßen
|
|
Gang.« |Alle Hervorhebungen von Engels|</SMALL></P>
|
|
<P>Und so schlägt die Ungleichheit wieder um in Gleichheit, aber nicht in
|
|
die alte naturwüchsige Gleichheit der sprachlosen Urmenschen, sondern in
|
|
die höhere des Gesellschaftsvertrags. Die Unterdrücker werden unterdrückt.
|
|
Es ist Negation der Negation.</P>
|
|
<P>Wir haben hier also schon bei Rousseau nicht nur einen Gedankengang, der dem
|
|
in Marx' »Kapital« verfolgten auf ein Haar gleicht, sondern auch <A NAME="S131"></A><B>|131|</B>
|
|
im einzelnen eine ganze Reihe derselben dialektischen Wendungen, deren Marx sich
|
|
bedient: Prozesse, die ihrer Natur nach antagonistisch sind, einen Widerspruch
|
|
in sich enthalten, Umschlagen eines Extrems in sein Gegenteil, endlich als Kern
|
|
des Ganzen die Negation der Negation. Wenn Rousseau also 1754 den Hegel-Jargon
|
|
noch nicht sprechen konnte, so ist er doch, 16 Jahre vor Hegels Geburt, tief von
|
|
der Hegel-Seuche, Widerspruchsdialektik, Logoslehre, Theologik usw. angefressen.
|
|
Und wenn Herr Dühring in seiner Verseichtigung der Rousseauschen Gleichheitstheorie
|
|
mit seinen siegreichen zwei Männern operiert, so ist er auch schon auf der
|
|
schiefen Ebene, auf der er rettungslos der Negation der Negation in die Arme rutscht.
|
|
Der Zustand, in dem die Gleichheit der beiden Männer floriert, und der auch
|
|
wohl als ein Idealzustand dargestellt wird, ist auf Seite 271 der »Philosophie«
|
|
als »Urzustand« bezeichnet. Dieser Urzustand wird aber nach Seite 279 notwendigerweise
|
|
durch das »Raubsystem« aufgehoben - erste Negation. Aber wir sind jetzt, dank
|
|
der Wirklichkeitsphilosophie, dahin gekommen, daß wir das Raubsystem abschaffen
|
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und an seiner Stelle die von Herrn Dühring erfundne, auf Gleichheit beruhende
|
|
Wirtschaftskommune einführen - Negation der Negation, Gleichheit auf höherer
|
|
Stufe. Ergötzliches, den Gesichtskreis wohltätig erweiterndes Schauspiel,
|
|
wie Herr Dühring das Kapitalverbrechen der Negation der Negation Allerhöchstselbst
|
|
begeht!</P>
|
|
<P>Was ist also die Negation der Negation? Ein äußerst allgemeines
|
|
und eben deswegen äußerst weitwirkendes und wichtiges Entwicklungsgesetz
|
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der Natur, der Geschichte und des Denkens; ein Gesetz, das, wie wir gesehn, in
|
|
der Tier- und Pflanzenwelt, in der Geologie, in der Mathematik, m der Geschichte,
|
|
in der Philosophie zur Geltung kommt und dem selbst Herr Dühring trotz allen
|
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Sperrens und Zerrens, ohne es zu wissen, in seiner Weise nachkommen muß.
|
|
Es versteht sich von selbst, daß ich über den <I>besondern</I> Entwicklungsprozeß,
|
|
den z.B. das Gerstenkorn von der Keimung bis zum Absterben der fruchttragenden
|
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Pflanze durchmacht, gar nichts sage, wenn ich sage, es ist Negation der Negation.
|
|
Denn da die Integralrechnung ebenfalls Negation der Negation ist, würde ich
|
|
mit der entgegengesetzten Behauptung nur den Unsinn behaupten, der Lebensprozeß
|
|
eines Gerstenhalms sei Integralrechnung oder meinetwegen auch Sozialismus. Das
|
|
ist es aber, was die Metaphysiker der Dialektik fortwährend in die Schuhe
|
|
schieben. Wenn ich von all diesen Prozessen sage, sie sind Negation der Negation,
|
|
so fasse ich sie allesamt unter dies eine Bewegungsgesetz zusammen, und lasse
|
|
ebendeswegen die Besonderheiten jedes einzelnen Spezialprozesses unbeachtet. Die
|
|
Dialektik ist aber weiter nichts als die <A NAME="S132"></A><B>|132|</B> Wissenschaft
|
|
von den allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Natur, der Menschengesellschaft
|
|
und des Denkens.</P>
|
|
<P>Nun kann man aber einwenden: Die hier vollzogne Negation ist gar keine richtige
|
|
Negation: ich negiere ein Gerstenkorn auch, wenn ich's vermahle, ein Insekt, wenn
|
|
ich's zertrete, die positive Größe <I>a</I>, wenn ich sie ausstreiche
|
|
usw. Oder ich negiere den Satz: die Rose ist eine Rose, wenn ich sage: die Rose
|
|
ist keine Rose; und was kommt dabei heraus, wenn ich diese Negation wieder negiere
|
|
und sage: die Rose ist aber doch eine Rose? - Diese Einwendungen sind in der Tat
|
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die Hauptargumente der Metaphysiker gegen die Dialektik und ganz dieser Borniertheit
|
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des Denkens würdig. Negieren in der Dialektik heißt nicht einfach nein
|
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sagen, oder ein Ding für nicht bestehend erklären, oder es in beliebiger
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Weise zerstören. Schon Spinoza sagt: Omnis determinatio est negatio, jede
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Begrenzung oder Bestimmung ist zugleich eine Negation. Und ferner ist die Art
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der Negation hier bestimmt erstens durch die allgemeine und zweitens die besondre
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Natur des Prozesses. Ich soll nicht nur negieren, sondern auch die Negation wieder
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aufheben. Ich muß also die erste Negation so einrichten, daß die zweite
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möglich bleibt oder wird. Wie? Je nach der besondern Natur jedes einzelnen
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Falls. Vermahle ich ein Gerstenkorn, zertrete ich ein Insekt, so habe ich zwar
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den ersten Akt vollzogen, aber den zweiten unmöglich gemacht. Jede Art von
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Dingen hat also ihre eigentümliche Art, so negiert zu werden, daß eine
|
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Entwicklung dabei herauskommt, und ebenso jede Art von Vorstellungen und Begriffen.
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In der Infinitesimalrechnung wird anders negiert als in der Herstellung positiver
|
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Potenzen aus negativen Wurzeln. Das will gelernt sein, wie alles andre. Mit der
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bloßen Kenntnis, daß Gerstenhalm und Infinitesimalrechnung unter die
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Negation der Negation fallen, kann ich weder erfolgreich Gerste bauen, noch differenzieren
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und integrieren, ebensowenig wie ich mit den bloßen Gesetzen der Tonbestimmung
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durch die Dimensionen der Saiten ohne weiteres Violine spielen kann. - Es ist
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aber klar, daß bei einer Negationsnegierung, die in der kindischen Beschäftigung
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besteht, <I>a</I> abwechselnd zu setzen und wieder auszustreichen, oder von einer
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Rose abwechselnd zu behaupten, sie sei eine Rose und sie sei keine Rose, nichts
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herauskommt als die Albernheit dessen, der solche langweilige Prozeduren vornimmt.
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Und doch möchten die Metaphysiker uns weismachen, wenn wir einmal die Negation
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der Negation vollziehn wollten, dann sei das die richtige Art.</P>
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<P>Es ist also wiederum niemand anders als Herr Dühring, der uns mystifiziert,
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wenn er behauptet, die Negation der Negation sei eine von Hegel erfundne, dem
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Gebiet der Religion entlehnte, auf die Geschichte vom <A NAME="S133"></A><B>|133|</B>
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Sündenfall und der Erlösung gebaute Analogieschnurre. Die Menschen haben
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dialektisch gedacht, lange ehe sie wußten, was Dialektik war, ebenso wie
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sie schon Prosa sprachen, lange bevor der Ausdruck Prosa bestand. Das Gesetz der
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Negation der Negation, das sich in der Natur und Geschichte, und bis es einmal
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erkannt ist, auch in unsern Köpfen unbewußt vollzieht, ist von Hegel
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nur zuerst scharf formuliert worden. Und wenn Herr Dühring die Sache im stillen
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selbst betreiben will und nur den Namen nicht vertragen kann, so möge er
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einen bessern Namen finden. Will er aber die Sache aus dem Denken vertreiben,
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so vertreibe er sie gütigst zuerst aus der Natur und der Geschichte, und
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erfinde eine Mathematik, worin -a × -a nicht +a<SPAN class="top">2</SPAN> ist und worin das
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Differenzieren und Integrieren bei Strafe verboten ist.</P>
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<H3 ALIGN="CENTER"><A NAME="Kap_XIV">XIV. Schluß</A></H3>
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<P>Wir sind zu Ende mit der Philosophie; was sonst noch von Zukunftsphantasien
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im »Cursus« vorhanden, wird uns gelegentlich der Dühringschen Umwälzung
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des Sozialismus beschäftigen. Was hat uns Herr Dühring versprochen?
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Alles. Und was hat er gehalten? Gar nichts. »Die Elemente einer wirklichen und
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demgemäß auf die Wirklichkeit der Natur und des Lebens gerichteten
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Philosophie«, die »strengwissenschaftliche Weltanschauung«, die »systemschaffenden
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Gedanken«, und alle die andern, in hochtönenden Redewendungen von Herrn Dühring
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ausposaunten Leistungen des Herrn Dühring erwiesen sich, wo immer wir sie
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anfaßten, als <I>reiner Schwindel</I>. Die Weltschematik, die »ohne der
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Tiefe des Gedankens etwas zu vergeben, die Grundgestalten des Seins sicher festgestellt
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hat«, stellte sich heraus als ein unendlich verseichtigter Abklatsch der Hegelschen
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Logik und teilt mit ihr den Aberglauben, daß diese »Grundgestalten« oder
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logischen Kategorien irgendwo ein geheimnisvolles Dasein führen vor und außer
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der Welt, auf die sie »anzuwenden« sind. Die Naturphilosophie bot uns eine Kosmogonie,
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deren Ausgangspunkt ein »sich selbst gleicher Zustand der Materie« ist, ein Zustand,
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vorstellbar nur vermittelst der rettungslosesten Verwirrung über den Zusammenhang
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von Materie und Bewegung, und vorstellbar außerdem nur unter Annahme eines
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außerweltlichen persönlichen Gottes, der allein diesem Zustand zur
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Bewegung verhelfen kann. Bei Behandlung der organischen Natur mußte die
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Wirklichkeitsphilosophie, nachdem sie Darwins Kampf ums Dasein und Naturzüchtung
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als »ein Stück gegen die Humanität gerichtete Brutalität« verworfen,
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sie beide durch die Hintertür wieder zulassen als in der Natur wirksame Faktoren,
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wenn <A NAME="S134"></A><B>|134|</B> auch zweiter Ordnung. Sie fand zudem Gelegenheit,
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auf dem Gebiet der Biologie eine Unwissenheit zu dokumentieren, wie man sie, seit
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den populärwissenschaftlichen Vorträgen nicht mehr zu entgehn ist, selbst
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bei Töchtern gebildeter Stände mit der Laterne suchen müßte.
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Auf dem Gebiet der Moral und des Rechts war sie mit der Verflachung Rousseaus
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nicht glücklicher als vorher mit der Verseichtigung Hegels und bewies auch
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in Beziehung auf Rechtswissenschaft, trotz aller Versicherung des Gegenteils,
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eine Unkenntnis, wie sie selbst bei den allergewöhnlichsten, altpreußischen
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Juristen nur selten anzutreffen sein dürfte. Die Philosophie, »die keinen
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bloß scheinbaren Horizont gelten läßt«, begnügt sich juristisch
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mit einem wirklichen Horizont, der sich deckt mit dem Geltungsbereich des preußischen
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Landrechts. Auf die »Erden und Himmel der äußern und innern Natur«,
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die diese Philosophie in ihrer mächtig umwälzenden Bewegung vor uns
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aufzurollen versprach, warten wir noch immer, nicht weniger auf die »endgültigen
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Wahrheiten letzter Instanz« und auf »das absolut Fundamentale«. Der Philosoph,
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dessen Denkweise jede Anwandlung zu einer »subjektivistisch-beschränkten
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Weltvorstellung ausschließt«, erweist sich nicht nur als subjektivistisch
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beschränkt durch seine wie nachgewiesen äußerst mangelhaften Kenntnisse,
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durch seine borniert metaphysische Denkweise und seine fratzenhafte Selbstüberhebung,
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sondern sogar durch kindische persönliche Schrullen. Er kann die Wirklichkeitsphilosophie
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nicht fertigbringen, ohne seinen Widerwillen gegen Tabak, Katzen und Juden als
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allgemeingültiges Gesetz der ganzen übrigen Menschheit, die Juden eingeschlossen,
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aufzudrängen. Sein »wirklich kritischer Standpunkt« gegenüber andern
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Leuten besteht dann, ihnen beharrlich Dinge unterzuschieben, die sie nie gesagt,
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und die Herrn Dührings eigenstes Fabrikat sind. Seine breiten Bettelsuppen
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über Spießbürgerthemata, wie der Wert des Lebens und die beste
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Art des Lebensgenusses, sind von einer Phllisterhaftigkeit, die seinen Zorn gegen
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Goethes Faust erklärlich macht. Es war allerdings unverzeihlich von Goethe,
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den unmoralischen Faust zum Helden zu machen und nicht den ernsten Wirklichkeitsphilosophen
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Wagner. - Kurz, die Wirklichkeitsphilosophie, alles in allem genommen, erweist
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sich, mit Hegel zu reden, als »der seichteste Abkläricht des deutschen Aufkläricht«,
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ein Abkläricht, dessen Dünnheit und durchsichtige Gemeinplätzlichkeit
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verdickt und getrübt wird nur durch die eingerührten orakelhaften Redebrocken.
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Und wenn wir mit dem Buch zu Ende sind, so sind wir genauso gescheit wie vorher
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und zu dem Geständnis gezwungen, daß die »neue Denkweise«, die »von
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Grund aus eigentümlichen Ergebnisse und Anschauungen« und die »systemschaffenden
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Gedanken« uns zwar verschiednen neuen Unsinn <A NAME="S135"></A><B>|135|</B> vorgeführt
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haben, aber auch nicht eine Zeile, aus der wir hätten etwas lernen können.
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Und dieser Mensch, der seine Künste und seine Waren unter Pauken- und Trompetenschall
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anpreist trotz dem ordinärsten Marktschreier, und hinter dessen großen
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Worten nichts, aber auch rein gar nichts ist - dieser Mensch unterfängt sich,
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Leute wie Fichte, Schelling und Hegel, deren kleinster noch ein Riese ist ihm
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gegenüber, als Scharlatans zu bezeichnen. Scharlatan in der Tat - aber wer?</P>
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<P ALIGN="CENTER">
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<HR ALIGN="LEFT" size="1">
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<P></P>
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<P>Fußnoten von Friedrich Engels</P>
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<P><SPAN class="top"><A NAME="F1">(1)</A></SPAN> Seit ich obiges niederschrieb, scheint es sich
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bereits bestätigt zu haben. Nach den neuesten, von Mendelejew und Boguski
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mit genaueren Apparaten angestellten Untersuchungen zeigten alle echten Gase ein
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veränderliches Verhältnis zwischen Druck und Volumen; der Ausdehnungskoeffizient
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war bei Wasserstoff bei allen bisher angewandten Druckstärken positiv (das
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Volumen nahm langsamer ab, als der Druck zunahm); bei der atmosphärischen
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Luft und den andern untersuchten Gasen fand sich für jedes ein Nullpunkt
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des Drucks, so daß bei geringerem Druck jener Koeffizient positiv, bei größerem
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negativ war. Das bisher noch immer praktisch brauchbare Boylesche Gesetz wird
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also einer Ergänzung durch eine ganze Reihe von Spezialgesetzen bedürfen.
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(Wir wissen jetzt - 1885 - auch, daß es überhaupt keine »echten« Gase
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gibt. Sie sind alle auf den tropfbar-flüssigen Zustand reduziert worden.)
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<A HREF="me20_032.htm#ZF1"><=</A></P>
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<P><SPAN class="top"><A NAME="F2">(2)</A></SPAN> Diese Ableitung der modernen Gleichheitsvorstellungen
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aus den ökonomischen Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft ist zuerst
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dargelegt von Marx im »Kapital«. <A HREF="me20_032.htm#ZF2"><=</A></P>
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<!-- #EndEditable -->
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<HR size="1" align="left" width="200">
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<P><!-- #BeginEditable "Pfad" --><SMALL>Pfad: »../me/me20«</SMALL><!-- #EndEditable --></P>
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<HR size="1">
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<TABLE width="100%" border="0" align="center" cellspacing=0 cellpadding=0>
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<TR>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><A HREF="http://www.mlwerke.de/index.shtml"><SMALL>MLWerke</SMALL></A></TD>
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<TD ALIGN="center"><B>|</B></TD>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><!-- #BeginEditable "Link%201%20b" --><A HREF="me20_016.htm"><SMALL>Einleitung</SMALL></A><!-- #EndEditable --></TD>
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<TD ALIGN="center">|</TD>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><A HREF="me20_001.htm"><SMALL>Inhalt</SMALL></A></TD>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><!-- #BeginEditable "Link%202%20b" --><A HREF="me20_136.htm"><SMALL>2.
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Abschnitt</SMALL></A><!-- #EndEditable --></TD>
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<TD ALIGN="center"><B>|</B></TD>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><A href="../default.htm"><SMALL>Marx/Engels</SMALL></A></TD>
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