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2022-08-25 20:29:11 +02:00

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<title>"Neue Rheinische Zeitung" - "Aufruf des demokratischen Kongesses an das deutsche
Volk"</title>
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<p align="center"><a href="me05_440.htm"><font size="2">Der Staatsprokurator "Hecker" und die
"Neue Rheinische Zeitung"</font></a> <font size="2">|</font> <a href="../me_nrz48.htm"><font
size="2">Inhalt</font></a> <font size="2">|</font> <a href="me05_448.htm"><font size="2">Die
Pariser "R&eacute;forme" &uuml;ber die franz&ouml;sischen Zust&auml;nde</font></a></p>
<small>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 5, S. 445-447<br>
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1959</small><br>
<br>
<h1>"Aufruf des demokratischen Kongresses an das deutsche Volk"</font></p>
<p><font size="2">["Neue Rheinische Zeitung" Nr. 133 vom 3. November 1848]</font></p>
<p><b><a name="S445">&lt;445&gt;</a></b> * <i>K&ouml;ln</i>, 2. November. Nachstehend geben wir
den Aufruf des "demokratischen Kongresses":</p>
<p align="center"><b>An das deutsche Volk!</b></p>
<p><font size="2">Lange schmachvolle Jahre hindurch seufzte des deutsche Volk unter dem Joche
der Gewaltherrschaft. Die blutigen Taten Wiens und Berlins berechtigten zu der Hoffnung,
da&szlig; seine Freiheit und Einheit mit einem Schlage zur Wahrheit werden w&uuml;rden.
Teuflische K&uuml;nste einer fluchw&uuml;rdigen Reaktion traten dieser Entwickelung entgegen,
das heldenm&uuml;tige Volk um die Fr&uuml;chte seiner gro&szlig;artigen Erhebung zu
betr&uuml;gen. Wien, ein Hauptbollwerk deutscher Freiheit, steht augenblicklich in der
h&ouml;chsten Gefahr. Aufgeopfert durch die R&auml;nke einer noch immer m&auml;chtigen
Kamarilla, sollte es aufs neue den Fesseln einer Zwingherrschaft &uuml;berliefert werden. Aber
seine edle Bev&ouml;lkerung erhob sich wie ein Mann und steht den bewaffneten Horden seiner
Unterdr&uuml;cker todesmutig entgegen. Die Sache Wiens ist die Sache Deutschlands, ist die
Sache der Freiheit. Mit dem Falle Wiens wird die alte Willk&uuml;rherrschaft mehr wie je ihr
Banner erheben, mit seinem Siege wird sie vernichtet sein. An uns ist es, deutsche
Mitbr&uuml;der, Wiens Freiheit nicht untergehen zu lassen, sie nicht dem Waffengl&uuml;cke
barbarischer Horden preiszugeben. Es ist die heiligste Pflicht der deutschen Regierungen, mit
allem ihrem Einflusse der bedr&auml;ngten Schwesterstadt zu H&uuml;lfe zu eilen; es ist
zugleich aber auch die heiligste Pflicht des deutschen Volkes, im Interesse seiner Freiheit, im
Interesse seiner Selbsterhaltung zur Rettung Wiens jedes Opfer zu bringen. Nimmer darf es die
Schmach stumpfer Gleichg&uuml;ltigkeit auf sich laden, wo des H&ouml;chste, wo alles auf dem
Spiele steht. Wir fordern Euch daher auf, Mitbr&uuml;der, da&szlig; Ihr, jeder nach seinen
Kr&auml;ften, beitragt, Wien vor dem Untergange zu retten. Was wir f&uuml;r Wien tun, tun wir
f&uuml;r Deutschland. Helfet selbst! Die M&auml;nner, die Ihr nach Frankfurt gesendet, um die
Freiheit zu gr&uuml;nden, haben die Aufforderung, Wien zu helfen, mit Hohngel&auml;chter
zur&uuml;ckgewiesen. An Euch ist es jetzt, zu handeln! Fordert Ihr es mit dem kr&auml;ftigen
und unwandelbaren Willen von Euren Regierungen, da&szlig; sie sich Eurer Majorit&auml;t
unterwerfen und die deutsche Sache und die Sache der Freiheit in Wien retten. Eilt! Ihr seid
die Macht, Euer Wille ist Gesetz! Auf! Ihr M&auml;nner der <a name=
"S446"><b>&lt;446&gt;</b></a></font> Freiheit, auf! in allen deutschen Landen und wo sonst der
Gedenke der Freiheit und Humanit&auml;t edle Herzen durchgl&uuml;ht! Auf, ehe es zu sp&auml;t
ist! Rettet die Freiheit Wiens, rettet die Freiheit Deutschlands. Die Gegenwart wird Euch
bewundern, die Nachwelt mit unsterblichem Ruhm belohnen!</p>
<p>Am 29. Oktober 1848. </p>
<p align="right"><b>Der demokratische Kongre&szlig; in Berlin</b></p>
<p>Dieser Aufruf ersetzt den Mangel an revolution&auml;rer Energie durch ein predigerartiges
Heulerpathos, hinter dem sich die entschiedenste Armut an Gedanken und an Leidenschaft
verbirgt.</p>
<p>Einige Proben!</p>
<p>Der Aufruf erwartete von den Wiener und Berliner M&auml;rzrevolutionen das "zur
Wahrheitwerden der Einheit und Freiheit" des deutschen Volks <i>"mit einem Schlage"</i>. In
andern Worten: Der Aufruf tr&auml;umte von <i>"einem Schlage"</i>, der dem deutschen Volke die
<i>"Entwicklung"</i> zur "Einheit und Freiheit" &uuml;berfl&uuml;ssig machen w&uuml;rde.</p>
<p>Gleich darauf verwandelt sich ihm aber der phantastische "eine Schlag", der die Entwicklung
ersetzt, in eine <i>"Entwicklung"</i>, welcher die Reaktion <i>entgegengetreten</i> sei.
Phrase, sich selbst aufl&ouml;sende Phrase!</p>
<p>Wir sehn ab von der eint&ouml;nigen Wiederholung des Grundthemas: Wien ist in Gefahr, mit
Wien Deutschlands Freiheit; helft Wien, ihr helft damit euch selbst! Diesem Gedanken wird nicht
Fleisch und Blut gegeben. Die <i>eine</i> Phrase wird so oft um sich selbst gewickelt, bis sie
sich zu einem Redest&uuml;ck ausgedehnt hat. Wir bemerken nur, da&szlig; der gemachte, unwahre
Pathos immer dieser st&uuml;mperhaften Rhetorik verf&auml;llt.</p>
<p><font size="2">"An uns ist es, deutsche Mitbr&uuml;der, Wiens Freiheit nicht untergehn zu
lassen, sie nicht dem Waffengl&uuml;cke barbarischer Horden preiszugeben."</font></p>
<p>Und wie sollen wir das anfangen?</p>
<p>Zun&auml;chst durch eine Adresse an das Pflichtgef&uuml;hl der <i>"deutschen
Regierungen"</i>. C'est incroyable! &lt;Das ist unglaublich!&gt;</p>
<p><font size="2">"Es ist die <i>heiligste Pflicht der deutschen Regierungen</i>, mit allem
ihrem Einflusse der bedr&auml;ngten Schwesterstadt zu H&uuml;lfe zu eilen."</font></p>
<p>Die preu&szlig;ische Regierung, soll sie Wrangel oder Colomb oder den Prinzen von
Preu&szlig;en gegen Auersperg, Jellachich und Windischgr&auml;tz senden? Durfte der
<i>"demokratische"</i> Kongre&szlig; sich einen Augenblick diese kindische und konservative
Stellung zu den deutschen Regierungen geben? Durfte er einen Augenblick die Sache und die
"heiligsten Interessen" der <a name="S447"><b>&lt;447&gt;</b></a> deutschen Regierungen von der
Sache und den Interessen der "kroatischen Ordnung und Freiheit" trennen? Die Regierungen werden
selbstvergn&uuml;gt l&auml;cheln &uuml;ber diese jungfr&auml;uliche Schw&auml;rmerei. Und das
Volk?</p>
<p>Das Volk wird im allgemeinen ermahnt, "jedes Opfer zur Rettung Wiens zu bringen". Gut! Aber
das "Volk" erwartet vom demokratischen Kongresse bestimmte Forderungen. Wer alles verlangt,
verlangt nichts und erh&auml;lt nichts. Die <i>bestimmte</i> Forderung, die Pointe also
ist:</p>
<p><font size="2">"<i>Fordert</i> Ihr es mit dem kr&auml;ftigen und unwandelbaren Willen von
<i>Euren Regierungen,</i> da&szlig; sie sich Eurer Majorit&auml;t unterwerfen und die deutsche
Sache und die Sache der Freiheit in Wien retten. Eilt! Ihr seid die Macht, Euer Wille ist
Gesetz! Auf!"</font></p>
<p>Gesetzt, es gel&auml;nge gro&szlig;artigen Volksdemonstrationen, die Regierungen zu
offizi&ouml;sen Schritten f&uuml;r Wiens Rettung zu bewegen - wir w&uuml;rden mit der zweiten
Auflage des "Steinschen Armeebefehls" begl&uuml;ckt werden. Die jetzigen "deutschen
Regierungen" als "Freiheitsretter" verwenden zu wollen - als ob sie in den
<i>Reichsexekutionen</i> ihren wahren Beruf, ihre "heiligsten Pflichten" als Gabriele der
"verfassungsm&auml;&szlig;igen Freiheit" nicht vollz&ouml;gen? Der "demokratische
Kongre&szlig;" mu&szlig;te schweigen von den deutschen Regierungen, oder er mu&szlig;te ihre
Konspiration mit Olm&uuml;tz und Petersburg schonungslos enth&uuml;llen.</p>
<p>Obgleich der Aufruf <i>"Eile"</i> empfiehlt und in Wahrheit keine Zeit zu verlieren ist,
rei&szlig;t ihn die humanistische Phraseologie &uuml;ber die Grenzen Deutschlands, &uuml;ber
jede geographische Grenze hinweg in das kosmopolitische Nebelland der "edlen Herzen" im
allgemeinen!</p>
<p><font size="2">"Eilt! Auf! Ihr M&auml;nner der Freiheit, auf! in allen deutschen Landen und
wo sonst der Gedenke der Freiheit und Humanit&auml;t edle Herzen durchgl&uuml;ht!"</font></p>
<p>Wir zweifeln nicht, da&szlig; es selbst in Lappland solche "Herzen" gibt.</p>
<p>In Deutschland und <i>wo sonst</i>! Indem der "Aufruf" in diese reine, bestimmungslose
Phrase verpufft, hat er seinen wahren Ausdruck gewonnen.</p>
<p>Es bleibt unverzeihlich, da&szlig; der "demokratische Kongre&szlig;" ein solches
Aktenst&uuml;ck kontrasignierte. Weder wird ihn "die Gegenwart daf&uuml;r bewundern", noch "die
Nachwelt mit unsterblichem Ruhm belohnen".</p>
<p>Hoffen wir trotz dem "Aufruf des demokratischen Kongresses", da&szlig; das Volk aus seiner
Lethargie erwachen und die einzige H&uuml;lfe den Wienern bringen wird, die es ihnen in diesem
Augenblicke noch bringen kann - die Besiegung der Kontrerevolution im eigenen Hause.</p>
<p><font size="2">Geschrieben von Karl Marx.</font></p>
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