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<title>Karl Marx/Friedrich Engels - Rezessionen aus der "Neuen Rheinischen Zeitung.
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Politisch-oekonomische Revue". Zweites Heft, Februar 1850</title>
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<body link="#0000FF" vlink="#800080" bgcolor="#FFFFAF">
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<p><font size="2">Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 7, 5.
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Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1960, Berlin/DDR. S.
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198-212.</font></p>
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<p><small>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 7, S.
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198-212<br>
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Dietz Verlag, Berlin/DDR 1960</small></p>
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<h2>Karl Marx/Friedrich Engels</h2>
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<h1 align="center">[Rezensionen aus der<br>
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"Neuen Rheinischen Zeitung. Politisch-ökonomische Revue".<br>
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Zweites Heft, Februar 1850]</h1>
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<hr>
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<p align="center">I</p>
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<p align="center"><i>G. Fr. Daumer, "Die Religion des neuen Weltalters.<br></i>Versuch einer
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combinatorisch-aphoristischen Grundlegung",<br>
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2 Bde., Hamburg 1850</p>
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<p><b><font size="2"><a name="S198" id="S198"><198></a></font></b> <font size="2">"Ein
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sonst sehr freisinniger fürs Neue gar nicht unempfänglicher Mann zu
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<i>Nürnberg</i> warf auf das demokratische Treiben einen ungeheuren Haß. Den Ronge
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verehrte er und hatte sein Bild im Zimmer hangen. Als er aber hörte, daß sich derselbe
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zu den Demokraten halte, hängte er das Bild in den Abtritt. Er sagte einmal: O wenn wir doch
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unter der russischen Knute lebten, wie glücklich würde ich mich fühlen! Er ist
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während der Unruhen gestorben, und ich vermute, daß ihn, wiewohl er schon alt war,
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bloß der Unmut und Gram über den Gang der Dinge ins Grab gebracht." II. Bd. pag. 321,
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322.</font></p>
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<p>Wenn dieser beklagenswerte Nürnberger Spießbürger statt zu sterben, seine
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Gedankenspäne aus dem "Correspondenten von und für Deutschland", aus Schiller und
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Goethe, aus alten Schulbüchern und neuen Leihbibliotheksmaterialien zusammengestoppelt
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hätte, hätte er sich den Tod erspart und Herrn Daumer seine sauer erarbeiteten zwei
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Bände "combinatorisch-aphoristischer Grundlegung". Uns wäre dann freilich nicht die
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erbauliche Gelegenheit geworden, mit der "Religion des neuen Weltalters" gleichzeitig ihren
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ersten Märtyrer kennenzulernen.</p>
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<p>Das Werk des Herrn Daumer teilt sich in zwei Teile, einen "vorläufigen" und einen
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"eigentlichen". In dem vorläufigen Teil spricht der treue Eckart der deutschen Philosophie
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seine tiefe Bekümmernis darüber aus, daß selbst die denkenden und gebildeten
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Deutschen seit zwei Jahren sich haben verleiten lassen, die unschätzbaren Errungenschaften
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des Gedankens aufzugeben für die bloß "äußerliche" revolutionäre
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Tätigkeit. Er hält den jetzigen Moment für geeignet, nochmals an das bessere
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Gefühl der Nation zu appellieren; <a name="S199" id="S199"><b><199></b></a> er weist
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darauf hin, was es auf sich habe, die ganze deutsche Bildung, durch die allein der deutsche
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Bürger noch etwas war, so leichtfertig fahrenzulassen. Er stellt den ganzen Inhalt der
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deutschen Bildung in den kräftigsten Kernsprüchen zusammen, die das Schatzkästlein
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seiner Belesenheit bietet, und kompromittiert dadurch diese deutsche Bildung nicht minder als die
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deutsche Philosophie. Seine Blumenlese der erhabensten Produkte deutschen Geistes übertrifft
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an Plattheit und Trivialität selbst das ordinärste Lesebuch für Töchter
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gebildeter Stände. Von den spießbürgerlichen Ausfällen Goethes und Schillers
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gegen die erste französische Revolution, von dem klassischen: "Gefährlich ist's, den
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Leu zu wecken" an bis auf die neueste Literatur herab jagt der Hohepriester der neuen Religion
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emsig jeder Stelle nach, worin der deutsche Zopf mit schläfrigem Mißbehagen sich gegen
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die ihm widerwärtige geschichtliche Bewegung steift. Autoritäten von der Force eines
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Friedrich Raumer, Berthold Auerbach, Lochner, Moriz Carrière, Alfred Meißner, Krug,
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Dingelstedt, Ronge, "Nürnberger Bote", Max Waldau, Sternberg, German Mäurer, Louise
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Aston, Eckermann, Noack, "Blätter für literarische Unterhaltung", A. Kunze, Ghillany,
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Th. Mundt, Saphir, Gutzkow, eine "geborne Gatterer" etc. sind die Säulen, auf welchen der
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Tempel der neuen Religion ruht. Die revolutionäre Bewegung, wogegen hier ein so
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vielstimmiges Anathema ausgesprochen wird, beschränkt sich für Herrn Daumer einerseits
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auf die banalste Kannengießerei, wie sie in Nürnberg unter den Auspizien des
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"Correspondenten von und für Deutschland" an der Tagesordnung ist, und andrerseits auf
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Pöbelexzesse, von denen Herr Daumer die abenteuerlichste Vorstellung hegt. Die Quellen,
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woraus hier geschöpft wird, reihen sich den obigen würdig an: Neben dem
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mehrerwähnten Nürnberger "Correspondenten" figurieren die "Bamberger Zeitung", die
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Münchner "Landbotin", die Augsburger "Allgemeine Zeitung" usw. Dieselbe
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spießbürgerliche Gemeinheit, die den Proletarier stets nur als wüsten,
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verkommenen Lumpen kennt und sich bei den Pariser Junimassacres von 1848, wo über 3.000
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dieser "Lumpen" niedergemetzelt wurden, zufrieden die Hände reibt, dieselbe Gemeinheit
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entrüstet sich über den Spott, dem die gemütlichen Vereine gegen Tierquälerei
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erlegen sind.</p>
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<p><font size="2">"Die schauderhaften Qualen", ruft Herr Daumer pag. 293, I. Bd. aus, "die das
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unglückliche Tier unter der grausamen Tyrannenhand des Menschen erduldet, sind diesen
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Barbaren ein 'Dreck', um den man sich nicht bekümmern soll!"</font></p>
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<p>Der ganze moderne Klassenkampf erscheint Herrn Daumer nur als ein Kampf der "Roheit" gegen die
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"Bildung". Statt ihn aus den historischen Bedingungen dieser Klassen zu erklären, findet er
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seine Ursache im wühlerischen <a name="S200" id="S200"><b><200></b></a> Treiben
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einiger Böswilligen, die die niedern Begierden des Pöbels gegen die gebildeten
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Stände aufhetzen.</p>
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<p><font size="2">"Dieser demokratische Reformatismus ... reizt den Neid, den Grimm, die Raubgier
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der untern Klassen der Gesellschaft gegen die höheren auf; ein saubres Mittel, den Menschen
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edler und besser zu machen und eine höhere Kulturstufe zu gründen." I. Bd. pag.
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288/289.</font></p>
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<p>Herr Daumer kennt nicht einmal die Kämpfe "der unteren Klassen der Gesellschaft gegen die
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höheren", die es gekostet hat, selbst nur eine Nürnberger "Kulturstufe"
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herbeizuführen und einen Molochsfänger à la Daumer möglich zu machen.</p>
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<p>Der zweite "eigentliche" Teil enthält nun die positive Seite der neuen Religion. Hier
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spricht sich der ganze Ärger des deutschen Philosophen über die Vergessenheit [aus],
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worin seine Kämpfe gegen das Christentum geraten sind, über die Gleichgültigkeit
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des Volks gegen die Religion, den einzigen der Betrachtung des Philosophen würdigen
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Gegenstand. Um sein durch die Konkurrenz beseitigtes Handwerk wieder zu Ehren zu bringen, bleibt
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unserm Weltweisen nichts andres übrig, nachdem er gegen die alte Religion hinlänglich
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angebellt hat, als eine neue Religion zu erfinden. Diese neue Religion aber beschränkt sich,
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im angemessenen Verfolg des ersten Teils, auf eine fortgesetzte Blumenlese der Sentenzen,
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Stammbuchverse und versus memoriales <Gedenkverse> der deutschen
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Spießbürgerbildung. Die Suren des neuen Koran sind nichts als eine Reihe von Phrasen,
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in denen die bestehenden deutschen Verhältnisse moralisch beschönigt und poetisch
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verbrämt werden. Phrasen, die darum nicht minder mit der alten Religion verwachsen sind,
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weil sie die unmittelbar religiöse Form abgestreift haben.</p>
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<p><font size="2">"Ganz neue Weltzustände und Weltverhältnisse können nur durch
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neue Religionen entstehn. Zu Beispielen und Beweisen dessen, was Religionen vermögen,
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können das Christentum und der Islam, zu einem sehr einleuchtenden und fühlbaren Belege
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der Ohnmacht und Resultatlosigkeit, an der die abstrakte, ausschließliche Politik leidet,
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die im Jahr 1848 ins Werk gesetzten Bewegungen dienen." I. Bd. pag. 313.</font></p>
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<p>In diesem inhaltsvollen Satz tritt uns gleich die ganze Flachheit und Unwissenheit des
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deutschen "Denkers" entgegen, der die kleinen deutschen und speziell bayrischen
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"Märzerrungenschaften" für die europäische Bewegung von 1848 und 49 ansieht und
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der von den ersten selbst noch sehr oberflächlichen Eruptionen einer sich allmählich
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herausarbeitenden und konzentrierenden großen Revolution verlangt, daß sie schon
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"ganz neue Weltzustände und <a name="S201" id="S201"><b><201></b></a>
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Weltverhältnisse hervorbringen sollen. Der ganze verwickelte soziale Kampf, der zwischen
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Paris und Debreczin, Berlin und Palermo in den letzten zwei Jahren zu seinen ersten
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Tirailleurgefechten kam, beschränkt sich für den Weltweisen Daumer darauf, daß
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"im Januar 1849 die Hoffnungen der kontitutionellen Vereine von Erlangen in unabsehbare Ferne
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gerückt sind" (I. pag. 312), und auf die Furcht vor einem neuen Kampf, der Herrn Daumer noch
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einmal in seinen Beschäftigungen mit Hafis, Mohammed und Berthold Auerbach unangenehm
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aufscheuchen könnte.</p>
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<p>Dieselbe schamlose Seichtigkeit macht es Herrn Daumer möglich, total zu ignorieren,
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daß dem Christentum das vollständige Zusammenbrechen der antiken "Weltzustände"
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vorherging, dessen bloßer Ausdruck das Christentum war; daß "ganz neue
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Weltzustände" nicht durch das Christentum von innen heraus entstanden, sondern erst dann,
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als die Hunnen und Germanen "äußerlich" über die Leiche des römischen Reichs
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herfielen; daß nach der germanischen Invasion nicht die "neuen Weltzustände" sich nach
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dem Christentum richteten, sondern das Christentum mit jeder neuen Phase dieser Weltzustände
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sich ebenfalls veränderte. Herr Daumer möge uns übrigens ein Exempel angeben, wo
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mit einer neuen Religion die alten Weltzustände sich veränderten, ohne daß
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zugleich die gewaltigsten "äußerlichen" und abstrakt politischen Konvulsionen
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eintraten.</p>
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<p>Es ist klar, daß mit jeder großen historischen Umwälzung der
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gesellschaftlichen Zustände auch zugleich die Anschauungen und Vorstellungen der Menschen
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und damit ihre religiösen Vorstellungen umgewälzt werden. Der Unterschied der
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gegenwärtigen Umwälzung von allen früheren besteht aber gerade darin, daß
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man endlich hinter das Geheimnis dieses historischen Umwälzungsprozesses gekommen ist und
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daher, statt sich diesen praktischen, "äußerlichen" Prozeß unter der
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überschwenglichen Form einer neuen Religion abermals zu verhimmeln, alle Religion
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abstreift.</p>
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<p>Nach den sanften Sittenlehren der neuen Weltweisheit, die insofern sogar über Knigge
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stehn, daß sie nicht nur über den Umgang mit Menschen, sondern auch über den
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Umgang mit Tieren das Nötige enthalten - nach den Sprüchen Salomonis kommt das Hohelied
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des neuen Salomo.</p>
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<p><font size="2">"<i>Natur</i> und <i>Weib</i> sind das wahrhaft Göttliche im Unterschiede
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von <i>Mensch</i> und <i>Mann</i> ... Hingebung des Menschlichen an das Natürliche, des
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Männlichen an das Weibliche ist die echte, die allein wahre Demut und
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Selbstentäußerung, die höchste, ja einzige Tugend und Frömmigkeit, die es
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gibt." II. Bd. p. 257.</font></p>
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<p>Wir sehen hier, wie die seichte Unwissenheit des spekulierenden Religionsstifters sich in eine
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sehr prononcierte Feigheit verwandelt. Herr Daumer <a name="S202" id=
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"S202"><b><202></b></a> flüchtet sich vor der geschichtlichen Tragödie, die ihm
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drohend zu nahe rückt, in die angebliche Natur, d.h. in die blöde Bauernidylle, und
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predigt den Kultus des Weibes, um seine eigene weibische Resignation zu bemänteln.</p>
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<p>Der Naturkultus des Herrn Daumer ist übrigens eigner Art. Es ist ihm gelungen, selbst
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gegenüber dem Christentum reaktionär aufzutreten. Er versucht die alte vorchristliche
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Naturreligion in modernisierter Form herzustellen. Dabei bringt er es freilich nur zu einer
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christlich-germanisch-patriarchalischen Naturfaselei, die sich z.B. folgendermaßen
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ausspricht:</p>
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<div style="margin-left: 4em">
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<p><font size="2">"Süße, heilige Natur,<br>
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Laß mich geh'n auf deiner Spur,<br>
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|
Leite mich an deiner Hand,<br>
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Wie ein Kind am Gängelband!"</font></p>
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</div>
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<p><font size="2">"Dergleichen ist aus der Mode gekommen; aber nicht zum Vorteil der Bildung, des
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Fortschritts und der menschlichen Glückseligkeit." II. Bd. p. 157.</font></p>
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<p>Der Naturkultus beschränkt sich, wie wir sehen, auf die sonntäglichen
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Spaziergänge des Kleinstädters, der seine kindliche Verwunderung darüber zu
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erkennen gibt, daß der Kuckuck seine Eier in fremde Nester legt (II. Bd. p. 40), daß
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die Tränen die Bestimmung haben, die Oberfläche des Auges feucht zu erhalten (II. Bd.
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p. 73) etc., und der schließlich seinen Kindern mit heiligen Schauern Klopstocks
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Frühlingsode vordeklamiert (II. Bd. p. 23 ff.). Von der modernen Naturwissenschaft, die in
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Verbindung mit der modernen Industrie die ganze Natur revolutioniert und neben andern Kindereien
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auch dem kindischen Verhalten der Menschen zur Natur ein Ende macht, ist natürlich keine
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Rede. Dafür erhalten wir geheimnisvolle Andeutungen und erstaunte Philisterahnungen
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über Nostradamus' Prophezeiungen, das zweite Gesicht der Schotten und den animalischen
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Magnetismus. Es wäre übrigens zu wünschen, daß die träge
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Bauernwirtschaft Bayerns, der Boden, worauf die Pfaffen und die Daumers gleichmäßig
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wachsen, endlich einmal durch modernen Ackerbau und moderne Maschinen umgewühlt
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würde.</p>
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<p>Mit dem Kultus des Weibes verhält es sich gerade wie mit dem Naturkultus. Es versteht
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sich von selbst, daß Herr Daumer nicht ein Wort von der gegenwärtigen
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gesellschaftlichen Stellung der Frauen sagt, daß es sich im Gegenteil bloß um das
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Weib als solches handelt. Er sucht die Frauen über ihre bürgerliche Misere dadurch zu
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trösten, daß er ihnen einen ebenso leeren wie geheimnisvoll tuenden Phrasenkultus
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widmet. So beruhigt er sie damit, daß ihre Talente mit der Ehe aufhören, da sie dann
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mit den Kindern zu tun haben (II. Bd. p. 237), daß sie die Fähigkeit besitzen, selbst
|
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bis ins sechzigste Jahr Kinder zu stillen (II. Bd. p. 251) usw. Herr Daumer nennt dies "Hin-
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<a name="S203" id="S203"><b><203></b></a> gebung des Männlichen an das Weibliche". Um
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nun die benötigten idealen Frauengestalten für seine männliche Hingebung in seinem
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Vaterlande zu finden, ist er gezwungen, zu verschiedenen aristokratischen Damen des vorigen
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Jahrhunderts seine Zuflucht zu nehmen. Der Frauenkultus reduziert sich also wieder auf das
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gedrückte Literatenverhältnis zu verehrten Gönnerinnen - Wilhelm Meister.</p>
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<p>Die "Bildung", über deren Verfall Herr Daumer Jeremiaden anstimmt, ist die Bildung der
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Zeit, in der Nürnberg als freie Reichsstadt florierte, in der die Nürnberger Industrie,
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jenes Zwitterding zwischen Kunst und Handwerk, eine bedeutende Rolle spielte, die Bildung des
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deutschen Kleinbürgertums, die mit diesem Kleinbürgertum zugrunde geht. Wenn der
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Untergang früherer Klassen, wie des Rittertums, zu großartigen tragischen Kunstwerken
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Stoff bieten konnte, so bringt es das Spießbürgertum ganz angemessen nicht weiter als
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zu ohnmächtigen Äußerungen einer fanatischen Bosheit und zu einer Sammlung Sancho
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Panzascher Sinnsprüche und Weisheitsregeln. Herr Daumer ist die trockne, alles Humors bare
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Fortsetzung von Hans Sachs. Die deutsche Philosophie, die Hände ringend und wehklagend am
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Sterbebette ihres Nährvaters, des deutschen Spießbürgertums, das ist das
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rührende Bild, das uns die "Religion des neuen Weltalters" entrollt.</p>
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<p align="center">II</p>
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<p align="center"><i>Ludwig Simon von Trier,<br>
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|
"Ein Word des Rechts für alle Reichsverfassungskämpfer<br>
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an die deutschen Geschwornen"</i>,<br>
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Frankfurt a. M. 1849</p>
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<p><font size="2">"Wir hatten gegen die Erblichkeit des Reichsoberhaupts gestimmt; wir enthielten
|
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uns des andern Tages der Wahl. Als aber das ganze Werk, hervorgegangen aus dem Willen der
|
|
Mehrheit einer nach allgemeinem Stimmrecht gewählten Versammlung, fertig dastand,
|
|
erklärten wir, uns zu unterwerfen. Hätten wir dies nicht getan, so hätten wir
|
|
bewiesen, daß wir <i>in eine bürgerliche Gesellschaft überhaupt nicht
|
|
hineinpaßten</i>." p. 43.</font></p>
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<p>Nach Herrn L. Simon "von Trier" paßten also schon die äußersten Mitglieder
|
|
der Frankfurter Versammlung nicht mehr "in eine bürgerliche Gesellschaft überhaupt
|
|
hinein". Herr L. Simon "von Trier" scheint sich also die Grenzen der bürgerlichen
|
|
Gesellschaft überhaupt noch enger vorzustellen als die Grenzen der Paulskirche.</p>
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<p><b><a name="S204" id="S204"><204></a></b> Übrigens besaß Herr Simon den
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richtigen Takt, in seinem Selbstbekenntnis vom 11. April 1849 das Geheimnis sowohl seiner
|
|
früheren Opposition wie seiner späteren Bekehrung zu enthüllen.</p>
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<p><font size="2">"Aus den trüben Gewässern der vormärzlichen Diplomatie sind
|
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kalte Nebel aufgestiegen. Diese Nebel werden sich als Wolken zusammenziehn, und wir werden ein
|
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verderbenschwangres Gewitter haben, welches zunächst in den Turm der Kirche einzuschlagen
|
|
droht, in der wir sitzen. Wachen und sorgen Sie für einen Blitzableiter, welcher den Blitz
|
|
von Ihnen <i>ableitet!</i>"</font></p>
|
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<p>D.h., meine Herren, es handelt sich jetzt um unsre Haut!</p>
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<p>Die Bettelanträge, die jämmerlichen Kompromisse, die die Frankfurter Linke in der
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|
Kaiserfrage und nach der beschämten Rückkehr der Kaiserdeputation der Majorität
|
|
anbot, um sie nur in der Versammlung zu behalten, die schmutzigen Vereinbarungsversuche, die sie
|
|
damals nach allen Seiten hin machte, erhalten in folgenden Worten des Herrn Simon ihre
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|
höhere Weihe:</p>
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<p><font size="2">"Das Wort Vereinbarung ist durch die Ereignisse des verflossenen Jahres zum
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Gegenstand eines sehr bedenklichen Spottes geworden. Man darf davon kaum mehr sprechen, ohne
|
|
ausgelacht zu werden. Und dennoch ist von zwei Fällen nur einer möglich: Entweder die
|
|
Menschen vereinbaren sich, oder sie stürzen aufeinander los wie die wilden Tiere." p.
|
|
43.</font></p>
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<p>D.h. entweder die Parteien fechten ihren Kampf aus, oder sie schieben ihn auf durch eine
|
|
beliebigen Kompromiß. Letzteres ist jedenfalls "gebildeter" und humaner. Herr Simon
|
|
eröffnet sich übrigens durch seine obige Theorie eine unendliche Reihe von
|
|
Vereinbarungen, durch die er in jeder "bürgerlichen Gesellschaft" möglich bleiben
|
|
wird,</p>
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|
<p>Die selige Reichsverfassung wird in folgender philosophischer Deduktion gerechtfertigt:</p>
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<p><font size="2">"Die Reichsverfassung war so recht eigentlich der Ausdruck des ohne neue
|
|
Gewaltanstrengungen möglichen ... Sie war der lebendige (!) Ausdruck der demokratischen
|
|
Monarchie, somit eines prinzipiellen Widerspruchs. Aber es hat schon vieles tatsächlich
|
|
bestanden, was sich prinzipiell widersprach, und grade aus dem tatsächlichen Bestehn
|
|
prinzipieller Widersprüche entwickelt sich das fernere Leben." p. 44.</font></p>
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<p>Man sieht, die Anwendung der Hegelschen Dialektik bleibt immer noch etwas schwieriger als das
|
|
Zitieren Schillerscher Verschen. Die Reichsverfassung, wollte sie trotz ihres "prinzipiellen
|
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Widerspruchs" "tatsächlich" bestehn, hätte wenigstens den Widerspruch "prinzipiell"
|
|
aussprechen müssen, der "tatsächlich" bestand. "Tatsächlich" stand auf der einen
|
|
Seite Preußen und Östreich, der militärische Absolutismus, auf der andern Seite
|
|
das deut- <a name="S205" id="S205"><b><205></b></a> tsche Volk, geprellt um die
|
|
Früchte seiner Märzaufstände, geprellt zum großen Teil durch sein albernes
|
|
Vertrauen in die erbärmliche Frankfurter Versammlung, und auf dem Punkt, endlich einen neuen
|
|
Kampf gegen den militärischen Absolutismus zu wagen. Dieser tatsächliche Widerspruch
|
|
konnte nur durch einen tatsächlichen Kampf gelöst werden. Sprach die Reichsverfassung
|
|
diesen Widerspruch aus? Nicht im entferntesten. Sie sprach den Widerspruch aus, wie er im
|
|
März 1848 bestanden hatte, ehe Preußen und Östreich wieder zu Kräften
|
|
gekommen waren, ehe die Opposition durch partielle Niederlagen zersplittert, geschwächt,
|
|
entwaffnet war. Sie sprach weiter nichts aus als die kindische Selbsttäuschung der Herren
|
|
aus der Paulskirche, die sich einbildeten, im März 1849 noch der preußischen und
|
|
östreichischen Regierung Gesetze vorschreiben und sich für alle Zukunft die ebenso
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|
einträgliche wie gefahrlose Stellung deutscher Reichsbarrots sichern zu können.</p>
|
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|
<p>Herr Simon gratuliert sich und seinen Kollegen sodann, daß sie in ihrer interessierten
|
|
Verblendung über die Reichsverfassung durch nichts wankend zu machen waren:</p>
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|
<p><font size="2">"Gesteht es beschämt, ihr Abtrünnigen von Gotha, daß wir mitten
|
|
im Drange der Leidenschaften jeder Versuchung widerstanden, unser Wort treulich gehalten und auch
|
|
nicht ein Jota an dem gemeinsamen Werk geändert haben!" p. 67.</font></p>
|
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<p>Er weist dann hin auf ihre Heldentaten in bezug auf Württemberg und die Pfalz und auf
|
|
ihren Stuttgarter Beschluß vom 8. Juni, wo sie Baden unter den Schutz des Reichs stellten,
|
|
obwohl schon damals wesentlich das Reich unter dem Schutz Badens stand, und ihre Beschlüsse
|
|
nur bewiesen, daß sie entschlossen waren, von ihrer Feigheit "auch nicht ein Jota"
|
|
abzugehen und eine Illusion gewaltsam festzuhalten, an die sie selbst nicht mehr glaubten.</p>
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|
<p>Den Vorwurf, "die Reichsverfassung sei nur die Maske zur Republik gewesen", weist Herr Simon
|
|
höchst sinnreich zurück wie folgt:</p>
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|
<p><font size="2">"Nur wenn der Kampf gegen alle Regierungen ohne Ausnahme bis zu Ende hätte
|
|
durchgeführt werden müssen, ... und wer sagt euch denn, daß der Kampf gegen alle
|
|
Regierungen ohne Ausnahme bis zu Ende hätte durchgeführt werden müssen? Wer kann
|
|
sie alle berechnen, die möglichen Wechselfälle des Kampfes und Kriegsglücks, und
|
|
wenn einmal die feindseligen Brüder (Regierungen und Volk) nach blutigem Ringen sich
|
|
ermattet und entscheidungslos gegenübergestanden hätten und der Geist des Friedens und
|
|
der Versöhnung wäre über sie gekommen, hatten wir die Fahne der Reichsverfassung,
|
|
unter welcher sie sich die Bruderhände zur Versöhnung hätten reichen können.
|
|
auch nur im mindesten beschädigt? Schaut um euch! Hand aufs Herz! Greift aufrichtig in euer
|
|
inneres Gewissen, und ihr werdet, ihr müßt antworten: Nein, nein und abermals nein!"
|
|
p. 70.</font></p>
|
|
|
|
<p><b><a name="S206" id="S206"><206></a></b> Das ist der wahre Köcher der
|
|
Beredsamkeit, aus dem Herr Simon jene Pfeile holte, die er in der Paulskirche mit so
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erstaunlichem Effekt verschoß! - Trotz seiner Plattheit hat dieses rührende Pathos
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doch sein Interesse. Es beweist, wie die Herren Frankfurter in Stuttgart ruhig saßen und
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harrten, bis die feindlichen Parteien sich müde gekämpft hätten, um dann im
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richtigen Moment zwischen die Ermatteten hinzutreten und ihnen die Versöhnungspanazee, die
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Reichsverfassung, anzubieten. Und wie sehr Herr Simon hier seinen Kollegen aus der Seele spricht,
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geht daraus hervor, daß diese Herren noch jetzt zu Bern bei Wirt Benz in der
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Keßlergasse forttagen und nur darauf warten, daß ein neuer Kampf losbreche, damit
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sie, wenn die Parteien "ermattet und entscheidungslos gegenüberstehn", zwischen sie treten
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können und ihnen zur Vereinbarung die Reichsverfassung darbieten, diesen vollendeten
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Ausdruck der Ermattung und Entscheidungslosigkeit.</p>
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<p><font size="2">"Aber ich sage euch trotz alledem, und so wehe es tut, fern vom Vaterlande,
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fern von der Heimat, fern von bejahrten Eltern die einsamen Wege des Exils zu wandeln, ich
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tausche mein reines Gewissen nicht um die Gewissensbisse der Abtrünnigen und die schlaflosen
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Nächte der Herrscher, und wenn man mir das Übermaß aller irdischen
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Glücksgüter böte"! p. 71.</font></p>
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<p>Wenn es nur möglich wäre, diese Herren ins Exil zu schicken! Aber tragen sie nicht
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in ihren Koffern das Vaterland nach sich in der Gestalt der Frankfurter stenographischen
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Berichte, aus welchen ihnen ein Strom unverfälschtester Heimatluft und die Fülle der
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schönsten Selbstgenugtuung entgegenrauscht?</p>
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<p>Wenn übrigens Herr Simon behauptet, ein Wort für die
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Reichsverfassungs<i>kämpfer</i> einzulegen, so begeht er einen frommen Betrug. Die
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Reichsverfassungskämpfer hatten sein "Wort des Rechts" nicht nötig. Sie haben sich
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besser und energischer verteidigt. Aber Herr Simon muß sie vorschieben, um zu
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verhüllen, daß er im Interesse der nach allen Seiten hin kompromittierten Frankfurter,
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im Interesse der Reichsverfassungsmacher, im Interesse seiner selbst eine oratio pro domo
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<Rede in eigener Sache> zu halten für unumgänglich hält.</p><a name="III"
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id="III"></a>
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<p align="center">III</p>
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<p align="center"><i>Guizot, "Pourquoi la révolution d'Angleterre a-t-elle
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réussi?<br></i>Discours sur l'histoire de la révolution d'Angleterre",<br>
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<<i>Guizot, "Warum hatte die Revolution in England Erfolg?</i><br>
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Vortrag zur Geschichte der englischen Revolution">,<br>
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Paris 1850</p>
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<p><b><a name="S207" id="S207"><207></a></b> Das Pamphlet des Herrn Guizot bezweckt
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nachzuweisen, warum Louis-Philippe und die Politik Guizots am 24. Februar 1848 eigentlich nicht
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hätten gestürzt werden dürfen und wie der verwerfliche Charakter der Franzosen die
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Schuld trägt, daß die Julimonarchie von 1830 nach achtzehnjährigem mühsamen
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Bestehn schmählich zusammenbrach und nicht jene Dauer erhielt, deren sich die englische
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Monarchie seit 1688 erfreute.</p>
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<p>Man sieht aus diesem Pamphlet, wie selbst die tüchtigsten Leute des ancien régime
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<alten regimes>, wie selbst Leute, denen in ihrer Weise historisches Talent keineswegs
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abzusprechen ist, durch das fatale Februarereignis so vollständig in Verwirrung gebracht
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worden sind, daß ihnen alles geschichtliche Verständnis, daß ihnen sogar das
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Verständnis ihrer eignen früheren Handlungsweise abhanden gekommen ist. Statt durch die
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Februarrevolution zur Einsicht der gänzlich verschiedenen historischen Verhältnisse,
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der gänzlich verschiedenen Stellung der Klassen der Gesellschaft in der französischen
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Monarchie von 1830 und der englischen von 1688 getrieben zu werden, löst Herr Guizot den
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ganzen Unterschied auf in einige moralische Phrasen und beteuert am Schluß, daß die
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am 24. Februar gestürzte Politik, "wie sie die Staaten erhalte, so allein die Revolutionen
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bewältige".</p>
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<p>Bestimmt formuliert lautet die Frage, die Herr Guizot beantworten will: Warum hat sich die
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bürgerliche Gesellschaft in England länger in der Form der konstitutionellen Monarchie
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entwickelt als in Frankreich?</p>
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<p>Zur Charakteristik der Bekanntschaft des Herrn Guizot mit dem Gang der bürgerlichen
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Entwicklung in England kann folgende Stelle dienen:</p>
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<p><font size="2">"Unter der Regierung Georgs I. und Georgs II. nahm der öffentliche Geist
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eine andere Richtung: Die auswärtige Politik hörte auf, ihre Hauptangelegenheit zu
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sein; die innere Administration, die Aufrechterhaltung des Friedens, die Fragen der Finanzen, der
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Kolonien, des Handels, die Entwicklung und die Kämpfe des parlamentarischen Regimes wurden
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zur vorherrschenden Beschäftigung der Regierung und des Publikums." p. 168.</font></p>
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<p>Herr Guizot findet in der Regierung Wilhelms III. nur zwei erwähnenswerte Momente: die
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Erhaltung des Gleichgewichts zwischen Parlament und <a name="S208" id=
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"S208"><b><208></b></a> Krone und die Erhaltung des europäischen Gleichgewichts durch
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den Kampf gegen Ludwig XIV. Unter der hannoverschen Dynastie nimmt dann plötzlich "der
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öffentliche Geist eine andre Richtung", man weiß nicht wie und warum. Man sieht hier,
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wie Herr Guizot die allergewöhnlichsten Phrasen der französischen parlamentarischen
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Debatte auf die englische Geschichte überträgt und sie damit erklärt zu haben
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glaubt. Gerade so bildete sich Herr Guizot als Minister ebenfalls ein, das Gleichgewicht zwischen
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Parlament und Krone und das europäische Gleichgewicht auf seinen Schultern zu balancieren,
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während er in Wirklichkeit nichts anderes tat, als den ganzen französischen Staat und
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die ganze französische Gesellschaft Stück für Stück an die Finanzjuden der
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Pariser Börse zu verschachern.</p>
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<p>Davon, daß die Kriege gegen Ludwig XIV. reine Konkurrenzkriege zur Vernichtung des
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französischen Handels und der französischen Seemacht waren, daß unter Wilhelm
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III. die Herrschaft der Finanzbourgeoisie durch die Errichtung der Bank und die Einführung
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der Staatsschuld ihre erste Sanktion erhielt, daß der Manufakturbourgeoisie durch die
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konsequente Durchführung des Schutzzollsystems ein neuer Aufschwung gegeben wurde, davon
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hält Herr Guizot zu sprechen nicht der Mühe wert. Für ihn haben nur die
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politischen Phrasen Bedeutung. Er erwähnt nicht einmal, daß unter der Königin
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Anna die herrschenden Parteien nur dadurch sich und die konstitutionelle Monarchie erhalten
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konnten, daß sie durch einen Gewaltstreich die Dauer der Parlamente auf sieben Jahre
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verlängerten und so den Einfluß des Volks auf die Regierung fast ganz
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vernichteten.</p>
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<p>Unter der hannoverschen Dynastie war England bereits so weit, daß es den Konkurrenzkrieg
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gegen Frankreich in der modernen Form führen konnte. England selbst bekämpfte
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Frankreich nur noch in Amerika und Ostindien, während es auf dem Kontinent sich damit
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begnügte, fremde Fürsten wie Friedrich II. zum Kriege gegen Frankreich zu besolden. Und
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wenn so der auswärtige Krieg eine andere Form annimmt, so sagt Herr Guizot: "Die
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auswärtige Politik hört auf, Hauptangelegenheit zu sein", und an ihre Stelle tritt "die
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Aufrechterhaltung des Friedens". Inwiefern "die Entwicklung und die Kämpfe des
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parlamentarischen Regimes zur vorherrschenden Beschäftigung der Regierung und des Publikums
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wurden", darüber vergleiche man die Bestechungsgeschichten unter dem Ministerium Walpole,
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die allerdings den unter Herrn Guizot an die Tagesordnung gekommenen Skandalen auf ein Haar
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ähnlich sehn.</p>
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<p>Warum die englische Revolution einen gedeihlicheren Fortgang nahm als die französische,
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das erklärt sich Herr Guizot besonders aus zwei Ursachen: zuerst daraus, daß die
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englische Revolution einen durchaus religiösen Charak- <a name="S209" id=
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"S209"><b><209></b></a> ter hatte, also keineswegs mit allen Traditionen der Vergangenheit
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brach, und zweitens daraus, daß sie von vornherein nicht zerstörend, sondern
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konservativ auftrat, daß das Parlament die alten bestehenden Gesetze gegen die
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Übergriffe der Krone verteidigte.</p>
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<p>Was den ersten Punkt angeht, so vergißt Herr Guizot, daß die Freigeisterei, die
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ihn bei der französischen Revolution so gewaltig schaudern macht, aus keinem andern Lande
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nach Frankreich importiert wurde als grade aus England. Locke war ihr Vater, und in Shaftesbury
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und Bolingbroke nahm sie schon jene geistreiche Form an, die später in Frankreich eine so
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glänzende Entwicklung fand. Wir kommen so zu dem seltsamen Resultat, daß dieselbe
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Freigeisterei, an der die französische Revolution nach Herrn Guizot scheiterte, eins der
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wesentlichsten Produkte der religiösen englischen Revolution war.</p>
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<p>In Beziehung auf den zweiten Punkt vergißt Herr Guizot gänzlich, daß die
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französische Revolution ebenso konservativ, noch viel konservativer anfing als die
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englische. Der Absolutismus, besonders wie er zuletzt in Frankreich auftrat, war auch hier eine
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Neuerung, und gegen diese Neuerung erhoben sich die Parlamente und verteidigten die alten
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Gesetze, die us et coutumes <Sitten und Bräuche> der alten ständischen Monarchie.
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Und wenn der erste Schritt der französischen Revolution die Wiederbelebung der seit Heinrich
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IV. und Ludwig XIII. entschlafenen Generalstände war, so hat die englische Revolution
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dagegen kein Faktum von gleich klassischem Konservatismus aufzuweisen.</p>
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<p>Nach Herrn Guizot war das Hauptresultat der englischen Revolution dies, daß der
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König in die Unmöglichkeit versetzt wurde, gegen den Willen des Parlaments und des
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Hauses der Gemeinen im Parlament zu regieren. Die ganze Revolution besteht nun darin, daß
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im Anfang beide Seiten, Krone und Parlament, ihre Schranken überschreiten und zu weit gehn,
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bis sie dann endlich unter Wilhelm III. das richtige Gleichgewicht finden und sich
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neutralisieren, Daß die Unterwerfung des Königtums unter das Parlament seine
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Unterwerfung unter die Herrschaft einer Klasse ist, findet Herr Guizot überflüssig zu
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erwähnen. Er braucht darum auch nicht weiter darauf einzugehn, wie diese Klasse sich die
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nötige Macht erwarb, um endlich die Krone zu ihrer Dienerin zu machen. Es handelt sich bei
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ihm in dem ganzen Kampf zwischen Karl I. und dem Parlament nur um rein politische Vorrechte. Wozu
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das Parlament und die in ihm vertreten Klasse diese Vorrechte brauchte, davon erfährt man
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kein Wort. Ebensowenig spricht Herr Guizot von den direkten Eingriffen Karls I. in die freie
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Konkurrenz, die den Handel und die Industrie Englands mehr und mehr unmöglich machten, oder
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von der Abhängigkeit vom Parlament, in die Karl I. <a name="S210" id=
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"S210"><b><210></b></a> durch seine fortwährende Finanznot um so tiefer geriet, je
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mehr er dem Parlament zu trotzen versuchte. Die ganze Revolution ist ihm daher nur
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erklärlich durch den bösen Willen und den religiösen Fanatismus einzelner
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Ruhestörer, die sich nicht mit einer gemäßigten Freiheit begnügen konnten.
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Über den Zusammenhang der religiösen Bewegung mit der Entwicklung der bürgerlichen
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Gesellschaft weiß Herr Guizot ebensowenig Aufklärung zu geben. Die Republik ist
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natürlich ebenfalls das bloße Werk einiger Ehrgeiziger, Fanatiker und
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Böswilliger. Daß um dieselbe Zeit in Lissabon, in Neapel und Messina ebenfalls
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Versuche zur Einführung der Republik, und zwar, wie in England, ebenfalls im Hinblick auf
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Holland gemacht wurden, ist eine Tatsache, die gar nicht erwähnt wird. Obwohl Herr Guizot
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die französische Revolution nie aus den Augen verliert, kommt er nicht einmal zu dem
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einfachen Schluß, daß der Übergang von der absoluten zur konstitutionellen
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Monarchie überall erst nach heftigen Kämpfen und nach dem Durchgang durch die Republik
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zustande kommt und daß selbst dann die alte Dynastie als unbrauchbar einer usurpatorischen
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Seitenlinie Platz machen muß. Über den Sturz der englischen Restaurationsmonarchie
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weiß er daher nur die trivialsten Gemeinplätze zu sagen. Er führt nicht einmal
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die nächsten Ursachen an: die Furcht der durch die Reformation geschaffenen neuen
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großen Grundbesitzer vor der Herstellung des Katholizismus, bei der sie natürlich ihre
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sämtlichen geraubten ehemaligen Kirchengüter hätten wieder herausgeben
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müssen, d.h., bei der sieben Zehntel der gesamten Bodenfläche von England den Besitzer
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gewechselt hätten; die Scheu der handeltreibenden und industriellen Bourgeoisie vor dem
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Katholizismus, der keineswegs in ihren Commerce paßte; die Nonchalance, mit der die Stuarts
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zu ihrem eignen und ihres Hofadels Vorteil die ganze englische Industrie, nebst dem Handel an die
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Regierung Frankreichs, d.h. des einzigen Landes verkaufte, das damals den Engländern eine
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gefährliche und in vieler Beziehung siegreiche Konkurrenz machte, usw. Da Herr Guizot also
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überall die wichtigsten Momente ausläßt, so bleibt ihm nichts übrig als eine
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höchst ungenügende und banale Erzählung der bloß politischen Ereignisse.</p>
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<p>Das große Rätsel für Herrn Guizot, das er sich nur durch den überlegenen
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Verstand der Engländer zu entziffern weiß, das Rätsel des konservativen
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Charakters der englischen Revolution, es ist die fortwährende Allianz, worin sich die
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Bourgeoisie mit dem größten Teil der großen Grundbesitzer befindet, eine
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Allianz, welche die englische Revolution wesentlich von der französischen unterscheidet, die
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den großen Grundbesitz durch die Parzellierung vernichtete. Diese mit der Bourgeoisie
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verbundene Klasse großer Grundbesitzer, die übrigens schon unter Heinrich VIII.
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entstanden war, befand sich nicht, wie der französische feudale Grundbesitz 1789, im
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Widerspruch, sondern viel- <a name="S211" id="S211"><b><211></b></a> mehr in
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vollständigem Einklang mit den Lebensbedingungen der Bourgeoisie. Ihr Grundbesitz war in der
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Tat kein feudales, sondern bürgerliches Eigentum. Sie stellten einerseits der industriellen
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Bourgeoisie die zum Betrieb der Manufaktur nötige Bevölkerung zur Verfügung, und
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waren andrerseits imstande, dem Ackerbau diejenige Entwicklung zu geben, die dem Stande der
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Industrie und des Handels entsprach. Daher ihre gemeinsamen Interessen mit der Bourgeoisie, daher
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ihre Allianz mit ihr.</p>
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<p>Mit der Konsolidierung der konstitutionellen Monarchie in England hört für Herrn
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Guizot die englische Geschichte auf. Alles Folgende beschränkt sich für ihn auf ein
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angenehmes Wechselspiel zwischen Tories und Whigs, d.h. für ihn auf die große Debatte
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zwischen Herrn Guizot und Herrn Thiers. In der Wirklichkeit dagegen beginnt erst mit der
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Konsolidierung der konstitutionellen Monarchie die großartige Entwicklung und
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Umwälzung der bürgerlichen Gesellschaft in England. Wo Herr Guizot nur sanfte Ruhe und
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idyllischen Frieden sieht, entwickelten sich in der Wirklichkeit die gewaltigsten Konflikte, die
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einschneidendsten Revolutionen. Zuerst bildete sich unter der konstitutionellen Monarchie die
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Manufaktur zu einer bisher unbekannten Ausdehnung fort, um dann der großen Industrie, der
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Dampfmaschine und den riesenmäßigen Fabriken Platz zu machen. Ganze Klassen der
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Bevölkerung verschwinden, neue treten an ihre Stelle, mit neuen Lebensbedingungen und neuen
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Bedürfnissen. Eine neue, kolossalere Bourgeoisie entsteht; während die alte Bourgeoisie
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mit der französischen Revolution kämpft, erobert sich die neue den Weltmarkt. Sie wird
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so allmächtig, daß sie schon, ehe die Reformbill ihr direkt politische Macht in die
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Hand gibt, ihre Gegner zwingt, fast nur in <i>ihrem</i> Interesse und nach <i>ihren</i>
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Bedürfnissen Gesetze zu erlassen. Sie erobert sich direkte Vertretung im Parlament und
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benutzt sie zur Vernichtung der letzten Reste reeller Macht, die dem Grundbesitz geblieben sind.
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Sie ist, endlich, in diesem Augenblick damit beschäftigt, das schöne Gebäude der
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englischen Verfassung, vor dem Herr Guizot bewundernd stehnbleibt, von Grund aus zu
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demolieren.</p>
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<p>Und während Herr Guizot den Engländern sein Kompliment darüber macht, daß
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bei ihnen die verwerflichen Auswüchse des französischen gesellschaftlichen Lebens, der
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Republikanismus und Sozialismus, die Grundsäulen der alleinseligmachenden Monarchie nicht
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erschüttert haben, währenddem sind in England die Klassengegensätze in der
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Gesellschaft zu einer Höhe entwickelt wie in keinem andern Lande, steht hier einer
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Bourgeoisie mit Reichtum und Produktivkräften ohnegleichen ein Proletariat gegenüber,
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das an Macht und Konzentration ebenfalls ohnegleichen ist. Die Anerkennung, die Herr Guizot
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England zollt, läuft also schließlich darauf hinaus, daß hier unter <a name=
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"S212" id="S212"><b><212></b></a> dem Schutz der konstitutionellen Monarchie sich bei
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weitem mehr und bei weitem radikalere Elemente einer gesellschaftlichen Revolution entwickelt
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haben als in allen andern Ländern der Welt zusammengenommen.</p>
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<p>Wo die Fäden der englischen Entwicklung in einen Knotenpunkt zusammenlaufen, den er
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selbst zum Schein nicht mehr durch die bloß politische Phrase durchhauen kann, nimmt Herr
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Guizot seine Zuflucht zur religiösen Phrase, zur bewaffneten Intervention Gottes. So kommt
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z.B. der Geist Gottes plötzlich über die Armee und verhindert Cromwell, sich zum
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Könige auszurufen etc. etc. Vor seinem Gewissen rettet sich Guizot durch Gott, vor dem
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profanen Publikum durch den Stil.</p>
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<p>In der Tat, nicht bloß les rois s'en vont <die Könige verschwinden> sondern
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auch les capacités de la bourgeoisie s'en vont <die Kapazitäten der Bourgeoisie
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gehen unter>.</p>
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</body>
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</html>
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