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<title>Friedrich Engels - Die englische Zehnstundenbill</title>
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<body link="#0000FF" vlink="#800080" bgcolor="#FFFFAF">
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<p><font size="2">Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz
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Verlag, Berlin. Band 7, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1960,
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Berlin/DDR. S. 233-243.</font></p>
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<h2>Friedrich Engels</h2>
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<h1>Die englische Zehnstundenbill</h1>
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<hr>
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<p><font size="2"><a name="S233">"Neue Rheinische Zeitung. Politisch-ökonomische Revue",
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Viertes Heft, April 1850.</a></font></p>
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<p><font size="2"><b><233></b> Die englischen Arbeiter haben eine bedeutende Niederlage
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erlitten und von einer Seite, von der sie sie am wenigsten erwarteten. Der Court of Exchequer,
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einer der vier höchsten Gerichtshöfe Englands, hat vor einigen Wochen ein Urteil
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gefällt, wodurch die Hauptbestimmungen der im Jahre 1847 erlassenen Zehnstundenbill so gut
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wie abgeschafft werden.</font></p>
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<p><font size="2">Die Geschichte der Zehnstundenbill bietet ein frappantes Beispiel für die
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eigentümliche Entwickelungsweise der Klassengegensätze in England und verdient daher
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ein näheres Eingehen.</font></p>
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<p><font size="2">Man weiß, wie mit dem Aufkommen der großen Industrie eine ganz
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neue, grenzenlos unverschämte Exploitation der Arbeiterklasse durch die Fabrikbesitzer
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aufkam. Die neuen Maschinen machten die Arbeit erwachsener Männer überflüssig; sie
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erforderten zu ihrer Beaufsichtigung Weiber und Kinder, die zu diesem Geschäft weit
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geeigneter und zugleich wohlfeiler zu haben waren als die Männer. Die industrielle
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Exploitation bemächtigte sich also sofort der ganzen Arbeiterfamilie und sperrte sie in die
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Fabrik; Weiber und Kinder mußten Tag und Nacht unaufhörlich arbeiten, bis die
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vollständigste physische Abmattung sie niederwarf. Die Armenkinder der workhouses wurden bei
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der steigenden Nachfrage nach Kindern ein vollständiger Handelsartikel; vom vierten, ja vom
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dritten Jahre an wurden sie schockweise in der Form von Lehrkontrakten an den meistbietenden
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Fabrikanten versteigert. Die Erinnerung an die schamlos-brutale Exploitation von Kindern und
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Weibern in jener Zeit, eine Exploitation, die nicht nachließ, solange noch eine Muskel,
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eine Sehne, ein Tropfen Bluts auszubeuten war, ist noch sehr lebendig unter der älteren
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Arbeitergeneration Englands, und mancher von ihnen trägt diese Erinnerung in der Gestalt
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einer Rückenverkrümmung oder eines verstümmelten Gliedes, alle tragen sie ihre
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durch und durch ruinierte Gesundheit mit sich herum. Das Los der Sklaven in den schlimmsten
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amerikanischen Pflanzungen war golden im Vergleich mit dem der englischen Arbeiter jener
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Zeit.</font></p>
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<p><font size="2"><b><a name="S234"><234></a></b> Schon früh mußten von Staats
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wegen Maßregeln getroffen werden, um die vollständig rücksichtslose
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Exploitationswut der Fabrikanten zu zügeln, die alle Bedingungen der zivilisierten
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Gesellschaft mit Füßen trat. Diese ersten gesetzlichen Beschränkungen waren indes
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höchst unzureichend und wurden bald umgangen. Erst ein halbes Jahrhundert nach
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Einführung der großen Industrie, als der Strom der industriellen Entwicklung ein
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regelmäßiges Bett gefunden hatte, erst 1833 war es möglich, ein wirksames Gesetz
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zustande zu bringen das wenigstens den schreiendsten Exzessen einigen Einhalt tat.</font></p>
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<p><font size="2">Schon seit dem Anfang dieses Jahrhunderts hatte sich unter der Leitung einiger
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Philanthropen eine Partei gebildet, die die gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit in den
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Fabriken auf zehn Stunden täglich forderte. Diese Partei, die in den zwanziger Jahren unter
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Sadlers und nach seinem Tode unter Lord Ashleys und R. Oastlers Leitung ihre Agitation bis zur
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wirklichen Durchführung der Zehnstundenbill fortsetzte, vereinigte allmählich,
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außer den Arbeitern selbst, die Aristokratie und alle den Fabrikanten feindlichen
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Fraktionen der Bourgeoisie unter ihrer Fahne. Diese Assoziation der Arbeiter mit den
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heterogensten und reaktionärsten Elementen der englischen Gesellschaft machte es nötig,
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daß die Zehnstundenagitation ganz außerhalb der revolutionären Arbeiteragitation
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geführt wurde. Die Chartisten waren zwar bis auf den letzten Mann für die
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Zehnstundenbill; sie machten die Masse, den Chor in allen Zehnstundenmeetings; sie stellten ihre
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Presse dem Zehnstundenkomitee zur Verfügung. Aber nicht ein einziger Chartist agitierte in
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offizieller Gemeinschaft mit den aristokratischen und bürgerlichen Zehnstundenmännern
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oder saß im Zehnstundenkomitee (Short-Time-Committee) in Manchester. Dies Komitee bestand
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ausschließlich aus Arbeitern und Fabrikaufsehern. Aber diese Arbeiter waren
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vollständig gebrochene, mattgearbeitete Charaktere. stille, gottselige und ehrbare Leute,
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die vor dem Chartismus und Sozialismus einen heiligen Abscheu hatten, Thron und Altar in
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gebührendem Respekt hielten und die, zu matt, um die industrielle Bourgeoisie zu hassen, nur
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noch fähig waren zur demütigen Verehrung der Aristokratie, die wenigstens für ihr
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Elend sich zu interessieren geruhte. Der Arbeitertorysmus dieser Zehnstundenleute war der
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Nachhall jener ersten Opposition der Arbeiter gegen den industriellen Fortschritt, die den alten
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patriarchalischen Zustand wiederherzustellen suchte und deren energischste
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Lebensäußerung nicht über das Zerschlagen von Maschinen hinausging. Ebenso
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reaktionär wie diese Arbeiter waren die bürgerlichen und aristokratischen Chefs der
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Zehnstundenpartei. Sie waren ohne Ausnahme sentimentale Tories, meist schwärmerische
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Ideologen, die in der Erinnerung an die verlorene patriarchalische Winkelexploitation mit ihrem
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Gefolge von Frömmigkeit, Häuslichkeit, Tugend und <a name=
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"S235"><b><235></b></a></font> Borniertheit, mit ihren stabilen, traditionell-vererbten
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Zuständen schwelgten. Ihr enger Schädel wurde vom Schwindel erfaßt beim Anblick
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des industriellen Revolutionsstrudels. Ihr kleinbürgerliches Gemüt entsetzte sich vor
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den neuen, zauberhaft-plötzlich emporwachsenden Produktivkräften, die die
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allerehrwürdigsten, unantastbarsten, wesentlichsten Klassen der bisherigen Gesellschaft in
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wenig Jahren wegschwemmten und durch neue, bisher unbekannte Klassen ersetzten, durch Klassen,
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deren Interessen, deren Sympathien, deren ganze Lebens- und Anschauungsweise im Widerspruch
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standen mit den Institutionen der alten englischen Gesellschaft. Diese weichherzigen Ideologen
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unterließen nicht, vom Standpunkte der Moral, der Humanität und des Mitleids aus gegen
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die unbarmherzige Härte und Rücksichtslosigkeit zu Felde zu ziehen, womit dieser
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gesellschaftliche Umwälzungsprozeß sich durchsetzte, und gegenüber diesem
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Umwälzungsprozeß die Stabilität, die stille Behaglichkeit und Sittsamkeit des
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verendenden Patriarchalismus als Gesellschaftsideal aufzustellen.</p>
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<p>Diesen Elementen schlossen sich in Zeiten, wo die Zehnstundenfrage die öffentliche
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Aufmerksamkeit auf sich zog, alle Fraktionen der Gesellschaft an, die durch die industrielle
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Umwälzung in ihren Interessen verletzt, in ihrer Existenz bedroht wurden. Die Bankiers, die
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Stockjobbers <Börsenspekulaten>, die Reeder und Kaufleute, die Grundaristokratie, die
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großen westindischen Grundbesitzer, die Kleinbürgerschaft vereinigten sich in solchen
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Zeiten mehr und mehr unter der Leitung der Zehnstundenagitatoren.</p>
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<p>Die Zehnstundenbill bot ein vortreffliches Terrain für diese reaktionären Klassen
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und Fraktionen, um auf ihm sich mit dem Proletariat gegen die industrielle Bourgeoisie zu
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verbinden. Während sie die rasche Entwicklung des Reichtums, des Einflusses, der
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gesellschaftlichen und politischen Macht der Fabrikanten bedeutend hemmte, gab sie den Arbeitern
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einen bloß materiellen, ja ausschließlich physischen Vorteil. Sie schützte sie
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vor dem zu schnellen Ruin ihrer Gesundheit. Sie gab ihnen aber nichts, wodurch sie ihren
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reaktionären Bundesgenossen gefährlich werden konnten; sie gab ihnen weder politische
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Macht, noch änderte sie ihre gesellschaftliche Stellung als Lohnarbeiter. Im Gegenteil hielt
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die Zehnstundenagitation die Arbeiter fortwährend unter dem Einfluß und teilweise
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selbst der Leitung dieser ihrer besitzenden Bundesgenossen, der sie sich seit der Reformbill und
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dem Aufkommen der Chartistenagitation mehr und mehr zu entziehen trachteten. Es war ganz
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natürlich, besonders im Anfang der industriellen Umwälzung, daß die Arbeiter, in
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direktem Kampf nur mit den industriellen Bourgeois, sich an <a name="S236"><b><236></b></a>
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die Aristokratie und die übrigen Fraktionen der Bourgeoisie anschlossen, von denen sie nicht
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direkt exploitiert wurden und die ebenfalls gegen die industriellen Bourgeois ankämpften.
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Aber diese Allianz verfälschte die Arbeiterbewegung mit einer starken reaktionären
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Beimischung, die sich erst nach und nach verliert; sie gab dem reaktionären Element in der
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Arbeiterbewegung - denjenigen Arbeitern, deren Arbeitszweig noch der Manufaktur angehört und
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daher vom industriellen Fortschritt selbst bedroht ist, wie z.B. den Handwebern - eine bedeutende
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Verstärkung.</p>
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<p>Ein Glück für die Arbeiter war es daher, daß in jener konfusen Epoche von
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1847, wo alle alten parlamentarischen Parteien aufgelöst und die neuen noch gar nicht
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formiert waren, die Zehnstundenbill endlich durchging. Sie passierte in einer Reihe der
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verworrensten, scheinbar nur vom Zufall beherrschten Abstimmungen, bei denen mit Ausnahme der
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entschieden freihändlerischen Fabrikanten auf der einen und der
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enragiert-protektionistischen Grundbesitzer auf der andern Seite keine Partei geschlossen und
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konsequent stimmte. Sie passierte als eine Schikane, die die Aristokratie, ein Teil der Peeliten
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und der Whigs den Fabrikanten anhingen, um für den großen Sieg, den diese in der
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Abschaffung der Korngesetze errungen, Revanche zu nehmen.</p>
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<p>Die Zehnstundenbill gab den Arbeitern nicht nur die Befriedigung eines unumgänglichen
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physischen Bedürfnisses, indem sie ihre Gesundheit einigermaßen vor der
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Exploitationswut der Fabrikanten schützte, sie befreite die Arbeiter auch von der
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Genossenschaft der sentimentalen Schwärmer, von der Solidarität mit sämtlichen
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reaktionären Klassen Englands. Die patriarchalischen Faseleien eines Oastler, die
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rührenden Teilnahmeversicherungen eines Lord Ashley fanden keine Zuhörer mehr, seitdem
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die Zehnstundenbill nicht mehr die Pointe dieser Tiraden bildete. Die Arbeiterbewegung
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konzentrierte sich erst jetzt ganz auf die Durchführung der politischen Herrschaft des
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Proletariats als erstes Mittel der Umwälzung der ganzen bestehenden Gesellschaft. Und hier
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standen ihr die Aristokratie und die reaktionären Fraktionen der Bourgeoisie, soeben noch
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die Bundesgenossen der Arbeiter, als ebensoviel wütende Feinde, als ebensoviel
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Bundesgenossen der industriellen Bourgeoisie entgegen.</p>
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<p>Durch die industrielle Revolution war die Industrie, kraft deren England den Weltmarkt erobert
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hatte und unterjocht hielt, zum entscheidenden Produktionszweig für England geworden.
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England stand und fiel mit der Industrie, hob sich und sank mit ihren Fluktuationen. Mit dem
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entscheidenden Einfluß der Industrie wurden die industriellen Bourgeois, die Fabrikanten,
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die entscheidende Klasse in der englischen Gesellschaft, wurde die politische <a name=
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"S237"><b><237></b></a> Herrschaft der Industriellen, die Entfernung aller
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gesellschaftlichen und politischen Institutionen, die der Entwicklung der großen Industrie
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im Wege standen, eine Notwendigkeit. Die industrielle Bourgeoisie gab sich ans Werk. Die
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Geschichte Englands von 1830 bis jetzt ist die Geschichte der Siege, die sie nacheinander
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über ihre vereinigten reaktionären Gegner errungen hat.</p>
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<p>Während die Julirevolution in Frankreich die Finanzaristokratie zur Herrschaft brachte,
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war die Reformbill in England, die gleich nachher, 1832 durchging, grade der Sturz der
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Finanzaristokratie. Die Bank, die Nationalgläubiger und Börsenspekulanten, mit einem
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Wort die Geldhändler, denen die Aristokratie tief verschuldet war, hatten unter dem
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buntscheckigen Deckmantel des Wahlmonopols bisher fast ausschließlich England beherrscht.
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Je weiter sich die große Industrie und der Welthandel entwickelten, desto
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unerträglicher wurde, trotz einzelner Konzessionen, ihre Herrschaft. Die Allianz
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sämtlicher übrigen Fraktionen der Bourgeoisie mit dem englischen Proletariat und mit
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den irischen Bauern stürzte sie. Das Volk drohte mit einer Revolution, die Bourgeoisie gab
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der Bank ihre Noten in Massen zurück und brachte sie an den Rand des Bankerotts. Die
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Finanzaristokratie gab zur rechten Zeit nach; ihre Nachgiebigkeit ersparte England eine
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Februarrevolution.</p>
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<p>Die Reformbill gab allen besitzenden Klassen des Landes bis zum kleinsten Krämer herab
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Anteil an der politischen Macht. Allen Fraktionen der Bourgeoisie war damit ein gesetzliches
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Terrain gegeben, auf dem sie ihre Ansprüche und ihre Macht geltend machen konnten. Dieselben
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Kämpfe der einzelnen Fraktionen der Bourgeoisie unter sich, die in Frankreich unter der
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Republik seit dem Junisieg von 1848 geführt werden, sind in England seit der Reformbill im
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Parlament geführt worden. Es versteht sich, daß bei den ganz verschiedenen
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Verhältnissen auch die Resultate in beiden Ländern verschieden sind.</p>
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<p>Die industrielle Bourgeoisie, hatte sie einmal in der Reformbill sich das Terrain zum
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parlamentarischen Kampf erobert, konnte nicht anders als Sieg auf Sieg erringen. In der
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Beschränkung der Sinekuren wurde ihr der aristokratische Schwanz der Finanziers, im
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Armengesetz von 1833 die Paupers, in der Herabsetzung des Tarifs und der Einführung der
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Einkommensteuer die Steuerfreiheit der Finanziers und Grundbesitzer geopfert. Mit den Siegen der
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Industriellen mehrte sich die Zahl ihrer Vasallen. Der Groß- und Kleinhandel wurde ihr
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tributär. London und Liverpool fielen aufs Knie vor dem Freihandel, dem Messias der
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Industriellen. Aber mit ihren Siegen wuchsen ihre Bedürfnisse, ihre Ansprüche.</p>
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<p>Die moderne große Industrie kann nur bestehn unter der Bedingung, sich fortwährend
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auszudehnen, fortwährend neue Märkte zu erobern. Die unend- <a name=
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"S238"><b><238></b></a> liche Leichtigkeit der massenhaftesten Produktion, die
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unaufhörliche Fortentwicklung und Weiterbildung der Maschinerie, die dadurch bedingte
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ununterbrochene Verdrängung von Kapitalien und Arbeitskräften zwingt sie dazu. Jeder
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Stillstand ist hier nur der Anfang des Ruins. Aber die Ausdehnung der Industrie ist bedingt durch
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die Ausdehnung der Märkte. Und da die Industrie auf ihrer heutigen Höhe der Entwicklung
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ihre Produktivkräfte unverhältnismäßig rascher vermehrt, als sie ihre
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Märkte vermehren kann, so entstehen jene periodischen Krisen, in denen aus
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Überfülle an Produktionsmitteln und Produkten die Zirkulation im kommerziellen
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Körper plötzlich ins Stocken gerät und Industrie und Handel fast gänzlich
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stillstehn, bis das Übermaß von Produkten durch neue Kanäle seinen Abfluß
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gefunden hat. England ist der Brennpunkt dieser Krisen, deren lähmende Wirkung unfehlbar die
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entferntesten, verborgensten Winkel des Weltmarkts erreicht und überall einen bedeutenden
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Teil der industriellen und kommerziellen Bourgeoisie in den Ruin hinabzieht. In solchen Krisen,
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die übrigens allen Teilen der englischen Gesellschaft ihre Abhängigkeit von den
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Fabrikanten aufs handgreiflichste zu erkennen geben, gibt es nur ein Rettungsmittel: Ausdehnung
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der Märkte, sei es durch Eroberung neuer, sei es durch gründlichere Ausbeutung der
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alten. Abgesehn von den wenigen Ausnahmsfällen, in denen, wie 1842 China, ein bisher
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hartnäckig verschlossener Markt durch Waffengewalt gesprengt wird, gibt es nur ein Mittel,
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auf industriellem Wege sich neue Märkte zu eröffnen und die alten gründlicher
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auszubeuten: durch wohlfeilere Preise, d.h. durch Verringerung der Produktionskosten. Die
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Produktionskosten werden verringert durch neue, vollkommnere Produktionsweisen, durch
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Verminderung des Profits oder durch Verminderung des Arbeitslohns. Aber die Einführung
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vervollkommneter Produktionsweisen kann nicht aus der Krise retten, weil sie die Produktion
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vermehrt, also selbst neue Märkte nötig macht. Von Herabsetzung des Profits kann in der
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Krise keine Rede sein, wo jeder froh ist, selbst mit Verlust zu verkaufen. Ebenso mit dem
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Arbeitslohn, der zudem, wie der Profit, nach Gesetzen sich bestimmt, die von dem Wollen oder
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Meinen der Fabrikanten unabhängig sind. Und doch bildet der Arbeitslohn den Hauptbestandteil
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der Produktionskosten, und seine dauernde Herabsetzung ist das einzige Mittel zur Ausdehnung der
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Märkte und zur Rettung aus der Krise. Der Arbeitslohn wird aber fallen, wenn die
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Lebensbedürfnisse des Arbeiters wohlfeiler hergestellt werden. Die Lebensbedürfnisse
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des Arbeiters waren aber in England verteuert durch die Schutzzölle auf Getreide, englische
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Kolonialprodukte etc. und durch die indirekten Steuern.</p>
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<p>Daher die anhaltende, heftige, allgemeine Agitation der Industriellen für den Freihandel
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und namentlich für die Aufhebung der Kornzölle. Daher das <a name=
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"S239"><b><239></b></a> bezeichnende Faktum, daß von 1842 an jede Handels- und
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Industriekrisis ihnen einen neuen Sieg brachte. In der Aufhebung der Kornzölle wurden ihnen
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die englischen Grundbesitzer, in der Aufhebung der Differentialzölle auf Zucker etc. die
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Grundbesitzer der Kolonien, in der Aufhebung der Navigationsgesetze die Reeder geopfert. In
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diesem Augenblick agitieren sie für Beschränkung der Staatsausgaben und Vermindrung der
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Steuern sowie für Zulassung des Teils der Arbeiter zum Wahlrecht, der am meisten Garantien
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bietet. Sie wollen neue Bundesgenossen ins Parlament ziehn, um desto schneller die direkte
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politische Herrschaft sich zu erobern, durch die allein sie mit den sinnlos gewordenen, aber sehr
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kostbaren traditionellen Anhängseln der englischen Staatsmaschine, mit der Aristokratie, der
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Kirche, den Sinekuren, der halbfeudalen Jurisprudenz, fertig werden können. Es ist
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unzweifelhaft, daß die gerade jetzt sehr nahe bevorstehende neue Handelskrisis, die allem
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Anschein nach mit neuen und großartigen Kollisionen auf dem Kontinent zusammenfällt,
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mindestens diesen Fortschritt in der englischen Entwicklung herbeiführen wird.</p>
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<p>Mitten unter diesen ununterbrochenen Siegen der industriellen Bourgeoisie gelang es den
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reaktionären Fraktionen, ihr die Fessel der Zehnstundenbill anzuschmieden. Die
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Zehnstundenbill ging durch in einem Moment, der weder der der Prosperität noch der der Krise
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war, in einer jener Zwischenepochen, in denen die Industrie noch hinreichend an den Folgen der
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Überproduktion laboriert, um nur einen Teil ihrer Ressourcen in Bewegung setzen zu
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können, in denen die Fabrikanten also selbst nicht die volle Zeit arbeiten lassen. In einem
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solchen Moment, wo die Zehnstundenbill die Konkurrenz unter den Fabrikanten selbst
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beschränkte, in einem solchen Moment allein war sie erträglich. Aber dieser Moment
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machte bald einer erneuerten Prosperität Platz. Die leergekauften Märkte verlangten
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neue Zufuhren; die Spekulation erhob sich wieder und verdoppelte die Nachfrage; die Fabrikanten
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konnten nicht genug arbeiten. Jetzt wurde die Zehnstundenbill für die mehr als je der
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vollsten Unabhängigkeit der uneingeschränktesten Verfügung über all ihre
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Ressourcen bedürftige Industrie eine unerträgliche Fessel. Was sollte aus den
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Industriellen während der nächsten Krisis werden, wenn man ihnen nicht gestattete, die
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kurze Periode der Prosperität mit allen Kräften zu exploitieren? Die Zehnstundenbill
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mußte fallen. War man noch nicht stark genug, sie im Parlament widerrufen zu lassen, so
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mußte man suchen, sie zu umgehn.</p>
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<p>Die Zehnstundenbill beschränkte die Arbeitszeit der jungen Leute unter 18 Jahren und
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aller weiblichen Arbeiter auf zehn Stunden täglich. Da diese und die Kinder die
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entscheidende Klasse von Arbeitern in den Fabriken sind, <a name="S240"><b><240></b></a> so
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war die notwendige Folge, daß die Fabriken überhaupt nur zehn Stunden täglich
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arbeiten konnten. Die Fabrikanten jedoch, als die Prosperität ihnen eine Vermehrung der
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Arbeitsstunden zum Bedürfnis machte, fanden einen Ausweg. Wie bisher bei den Kindern unter
|
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14 Jahren, deren Arbeitszeit noch mehr beschränkt ist, engagierten sie einige Weiber und
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junge Leute mehr als bisher zur Aushülfe und Ablösung. So konnten sie ihre Fabriken und
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ihre erwachsenen Arbeiter dreizehn, vierzehn, fünfzehn Stunden arbeiten lassen, ohne
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daß ein einziges der unter die Zehnstundenbill fallenden Individuen mehr als zehn Stunden
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|
täglich gearbeitet hätte. Dies war teilweise dem Buchstaben, noch mehr aber dem ganzen
|
|
Geist des Gesetzes und der Absicht der Gesetzgeber entgegen; die Fabrikinspektoren klagten, die
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Friedensrichter waren uneinig und urteilten verschieden. Je höher die Prosperität
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stieg, desto lauter reklamierten die Industriellen gegen die Zehnstundenbill und gegen die
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Eingriffe der Fabrikinspektoren. Der Minister des Innern, Sir G. Grey, gab den Inspektoren
|
|
Befehl, das Ablösungssystem (relay oder shift system <Schichtsystem>) zu tolerieren.
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Aber viele von ihnen, auf das Gesetz gestützt, ließen sich dadurch nicht stören.
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Endlich wurde ein eklatanter Fall bis vor den Court of Exchequer gebracht, und dieser sprach sich
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zugunsten der Fabrikanten aus. Mit dieser Entscheidung ist die Zehnstundenbill faktisch
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abgeschafft, und die Fabrikanten sind wieder vollständig die Herren ihrer Fabriken geworden;
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sie können in der Krise zwei, drei oder sechs Stunden, in der Prosperität dreizehn bis
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fünfzehn Stunden arbeiten, und der Fabrikinspektor darf sich nicht mehr einmischen.</p>
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<p>War die Zehnstundenbill hauptsächlich von Reaktionären vertreten und
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ausschließlich von reaktionären Klassen durchgesetzt worden, so sehen wir hier,
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daß sie in der Weise, wie sie durchgesetzt wurde, eine durchaus reaktionäre
|
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Maßregel war. Die ganze gesellschaftliche Entwicklung Englands ist gebunden an die
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Entwicklung, an den Fortschritt der Industrie. Alle Institutionen, die diesen Fortschritt hemmen,
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die ihn beschränken oder nach außer ihm liegenden Maßstäben regeln und
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beherrschen wollen, sind reaktionär, sind unhaltbar und müssen ihm erliegen. Die
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|
revolutionäre Kraft, die so spielend mit der ganzen patriarchalischen Gesellschaft des alten
|
|
Englands, mit der Aristokratie und der Finanzbourgeoisie fertig geworden ist, wird sich wahrlich
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nicht in das gemäßigte Bett der Zehnstundenbill eindämmen lassen. Alle Versuche
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|
Lord Ashleys und seiner Genossen, die gefallene Bill durch eine authentische Erklärung
|
|
wiederherzustellen, werden fruchtlos sein oder im günstigsten Fall nur ein ephemeres
|
|
Scheinresultat erlangen.</p>
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<p><b><a name="S241"><241></a></b> Und dennoch ist für die Arbeiter die
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Zehnstundenbill unentbehrlich. Sie ist eine physische Notwendigkeit für sie. Ohne die
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Zehnstundenbill geht die ganze englische Arbeitergeneration physisch zugrunde. Aber zwischen der
|
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Zehnstundenbill, die die Arbeiter heute verlangen, und der Zehnstundenbill, die von Sadler,
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|
Oastler und Ashley propagiert und von der reaktionären Koalition 1847 durchgesetzt worden
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ist, besteht ein ungeheurer Unterschied. Die Arbeiter haben durch die kurze Lebensdauer der Bill,
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|
durch ihre leichte Vernichtung - ein einfacher Gerichtsbeschluß, nicht einmal eine
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Parlamentsakte, reichte hin, sie zu annullieren -, durch das spätere Auftreten ihrer
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reaktionären ehemaligen Bundesgenossen erfahren, welchen Wert eine Allianz mit der Reaktion
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hat. Sie haben erfahren, was es ihnen hilft, einzelne Detailmaßregeln gegen die
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industriellen Bourgeois durchzusetzen. Sie haben erfahren, daß die industriellen Bourgeois
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zunächst noch die Klasse sind, die allein imstande ist, im gegenwärtigen Augenblick an
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die Spitze der Bewegung zu treten, daß es vergeblich wäre, ihnen in dieser
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progressiven Mission entgegenzuarbeiten. Trotz ihrer direkten und nicht im mindesten
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eingeschlafenen Feindschaft gegen die Industriellen sind die Arbeiter daher jetzt viel geneigter,
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|
sie in ihrer Agitation für vollständige Durchführung des Freihandels, Finanzreform
|
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und Ausdehnung des Wahlrechts zu unterstützen, als sich abermals durch philanthropische
|
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Vorspiegelungen unter die Fahne der vereinigten Reaktionäre locken zu lassen. Sie
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fühlen, daß ihre Zeit erst kommen kann, wenn die Industriellen sich abgenutzt haben,
|
|
und deshalb haben sie den richtigen Instinkt, den Entwicklungsprozeß, der diesen die
|
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Herrschaft geben und damit ihren Sturz vorbereiten muß, zu beschleunigen. Aber darum
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vergessen sie nicht, daß sie in den Industriellen ihre eigensten, direktesten Feinde zur
|
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Herrschaft bringen und daß sie nur durch den Sturz der Industriellen, durch die Eroberung
|
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der politischen Macht für sich selbst zu ihrer eignen Befreiung gelangen können. Die
|
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Annullierung der Zehnstundenbill hat ihnen auch dies abermals aufs schlagendste bewiesen. Die
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|
Wiederherstellung dieser Bill hat jetzt nur noch Sinn unter der Herrschaft des allgemeinen
|
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Stimmrechts, und das allgemeine Stimmrecht in dem zu zwei Dritteln von industriellen Proletariern
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bewohnten England ist die ausschließliche politische Herrschaft der Arbeiterklasse mit
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allen den revolutionären Veränderungen der gesellschaftlichen Zustände, die davon
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unzertrennlich sind. Die Zehnstundenbill, die die Arbeiter heute verlangen, ist daher eine ganz
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andre als die soeben vom Court of Exchequer umgestoßene. Sie ist nicht mehr ein
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vereinzelter Versuch, die industrielle Entwicklung zu lähmen, sie ist ein Glied in einer
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langen Verkettung von Maßregeln, die die ganze gegenwärtige Gestalt der Gesellschaft
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umwälzen und die bisherigen Klassengegensätze nach <a name=
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"S242"><b><242></b></a> und nach vernichten; sie ist keine reaktionäre, sondern eine
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revolutionäre Maßregel.</p>
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<p>Die faktische Aufhebung der Zehnstundenbill, zunächst durch die Fabrikanten auf eigne
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Faust, dann durch den Court of Exchequer, hat vor allem dazu beigetragen, die Zeit der
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Prosperität zu verkürzen und die Krisis zu beschleunigen. Was aber die Krisen
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beschleunigt, das beschleunigt zugleich den Gang der englischen Entwicklung und ihr nächstes
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Ziel, den Sturz der industriellen Bourgeoisie durch das industrielle Proletariat. Die Mittel, die
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den Industriellen zur Ausdehnung der Märkte und zur Beseitigung der Krisen zu Gebote stehn,
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sind sehr beschränkt. Die Cobdensche Reduktion der Staatsausgaben ist entweder eine
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bloße Whigsprache oder sie kommt, wenn sie auch nur momentan helfen soll, einer
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vollständigen Revolution gleich. Und wird sie in der ausgedehntesten, revolutionärsten
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Weise - soweit die englischen Industriellen revolutionär sein können -
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durchgeführt, wie soll der nächsten Krise begegnet werden? Es ist evident, die
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englischen Industriellen, deren Produktionsmittel eine ungleich höhere Expansivkraft
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besitzen als ihre Debouchés, gehen mit raschen Schritten dem Punkt entgegen, wo ihre
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Hülfsmittel erschöpft sind, wo die Periode der Prosperität, die jetzt noch jede
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Krise von der folgenden trennt, unter dem Gewicht der nachdrückenden,
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übermäßig angewachsenen Produktivkräfte gänzlich verschwindet, wo die
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Krisen nur noch durch kurze Perioden einer matten, halbschlummernden industriellen
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Lebenstätigkeit getrennt sind und wo die Industrie, der Handel, die ganze moderne
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Gesellschaft an Überfülle unverwendbarer Lebenskraft auf der einen Seite und an
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gänzlicher Abzehrung auf der andern zugrunde gehn müßte, trüge nicht dieser
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abnorme Zustand sein eignes Heilmittel in sich und hätte nicht die industrielle Entwicklung
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zugleich die Klasse erzeugt, die dann allein die Leitung der Gesellschaft übernehmen kann:
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das Proletariat. Die proletarische Revolution ist dann unvermeidlich, und ihr Sieg ist
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gewiß.</p>
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<p>Das ist der regelmäßige normale Lauf der Ereignisse, wie er mit unabwendbarer
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Notwendigkeit aus den ganzen gegenwärtigen Gesellschaftszuständen Englands hervorgeht.
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Inwieweit dieser normale Verlauf durch kontinentale Kollisionen und revolutionäre
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Überstürzungen in England abgekürzt werden kann, wird sich bald zeigen.</p>
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<p>Und die Zehnstundenhill?</p>
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<p>Von dem Augenblick an, wo die Grenzen des Weltmarkts selbst für die volle Entfaltung
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aller Ressourcen der modernen Industrie zu eng werden, wo sie eine gesellschaftliche Revolution
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nötig hat, um für ihre Kräfte wieder freien Spielraum zu gewinnen - von diesem
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Augenblick an ist die Beschränkung der Arbeitszeit nicht mehr reaktionär, ist sie kein
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Hemmnis der Industrie <a name="S243"><b><243></b></a> mehr. Sie stellt sich im Gegenteil
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ganz von selbst ein. Die erste Folge der proletarischen Revolution in England wird die
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Zentralisation der großen Industrie in den Händen des Staats, d.h. des herrschenden
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Proletariats sein, und mit der Zentralisation der Industrie fallen alle jene
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Konkurrenzverhältnisse weg, die heutzutage die Regulierung der Arbeitszeit mit dem
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Fortschritt der Industrie in Konflikt bringen. Und so liegt die einzige Losung der
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Zehnstundenfrage wie aller Fragen, die auf dem Gegensatz von Kapital und Lohnarbeit beruhen, in
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der <i>proletarischen Revolution</i>.</p>
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<p align="right"><i>Friedrich Engels</i></p>
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</html>
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