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<!DOCTYPE HTML PUBLIC "-//W3C//DTD HTML 3.2//EN">
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<meta name="generator" content="HTML Tidy for Windows (vers 1st August 2002), see www.w3.org">
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<title>"Neue Rheinische Zeitung" - Vereinbarungssitzung vom 4. Juli (Zweiter Artikel)</title>
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</head>
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<p align="center"><a href="me05_189.htm"><font size="2">Die Ministerkrisis</font></a> <font
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size="2">|</font> <a href="../me_nrz48.htm"><font size="2">Inhalt</font></a> <font size=
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"2">|</font> <a href="me05_198.htm"><font size="2">Gerichtliche Untersuchung gegen die "Neue
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Rheinische Zeitung"</font></a></p>
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<small>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 5, S. 190-197<br>
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Dietz Verlag, Berlin/DDR 1971</small> <br>
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<br>
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<h1>Vereinbarungssitzung vom 4. Juli<br>
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</font> (Zweiter Artikel)</p>
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<p><font size="2">["Neue Rheinische Zeitung" Nr. 41 vom 11. Juli 1848]</font></p>
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<p><b><a name="S190"><190></a></b> **<i>Köln</i>, 9. Juli. Welch ein dringend
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notwendiger Akt der Gerechtigkeit gegen die Polen die Ernennung einer Untersuchungskommission
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mit unbedingter Vollmacht ist, geht aus dem Bericht hervor, den wir seit drei Tagen angefangen
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haben, nach authentischen Aktenstücken zu geben.</p>
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<p>Die altpreußischen Beamten, schon von vornherein in einer feindlichen Stellung gegen
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die Polen, sahen sich durch die Reorganisationsverheißungen in ihrer Existenz bedroht.
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Der kleinste Akt der Gerechtigkeit gegen die Polen brachte ihnen Gefahr. Daher die fanatische
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Wut, womit sie, unterstützt von der losgelassenen Soldateska, über die Polen
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herfielen, die Konventionen brachen, die harmlosesten Leute mißhandelten, die
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größten Schändlichkeiten durchgehen ließen oder sanktionierten, nur um
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die Polen zu einem Kampfe zu zwingen, in dem ihre Erdrückung durch die kolossalste
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Übermacht gewiß war.</p>
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<p>Das Ministerium Camphausen, nicht nur schwach, ratlos, schlecht berichtet, sondern sogar
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<i>absichtlich</i>, aus Prinzip untätig, ließ alles gehen, wie es ging. Die
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schauderhaftesten Barbareien geschahen, und Herr Camphausen rührte sich nicht.</p>
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<p>Welche Berichte liegen jetzt vor über den posenschen Bürgerkrieg?</p>
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<p>Hier die parteiischen, interessierten Berichte der Urheber des Kriegs, der Beamten, der
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Offiziere, und die auf beide gestützten Data, die das Ministerium geben kann. Das
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Ministerium ist ebenfalls <i>selbst</i> Partei, solange Herr Hansemann darin sitzt. Diese
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Aktenstücke sind parteiisch, aber sie sind <i>offiziell</i>.</p>
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<p>Dort die von den Polen gesammelten Tatsachen, ihre Klagschriften ans Ministerium, namentlich
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die Briefe des Erzbischofs Przyluski an die Minister. Diese Aktenstücke haben meist keinen
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offiziellen Charakter, ihre Verfasser erbieten sich aber zum Beweise der Wahrheit.</p>
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<p><b><a name="S191"><191></a></b> Die beiden Klassen von Berichten widersprechen
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einander total, und die Kommission soll untersuchen, welche Seite recht hat.</p>
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<p>Sie kann - wenige Ausnahmsfälle abgerechnet - dies nur dadurch tun, daß sie sich
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an Ort und Stelle begibt und durch Zeugenverhör wenigstens die wichtigsten Punkte ins
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klare bringt. Wird ihr dies untersagt, so ist ihre ganze Tätigkeit illusorisch, so mag sie
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eine gewisse historisch-philologische Kritik üben, den einen oder den andern Bericht
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für glaubwürdiger erklären, aber entscheiden kann sie nicht.</p>
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<p>Die ganze Bedeutung der Kommission hängt also von der Befugnis ab, Zeugen zu
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verhören, und daher der Eifer sämtlicher Polenfresser in der Versammlung, sie durch
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allerlei tiefsinnige und spitzfindige Gründe zu beseitigen, daher der Staatsstreich am
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Schluß der Sitzung.</p>
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<p>Der Abgeordnete <i>Bloem</i> sagte in der Debatte des 4. [Juli]:</p>
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<p><font size="2">"Heißt es Wahrheit erforschen, wenn man, wie einige Amendements wollen,
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aus den Regierungsvorlagen die Wahrheit schöpfen will? Wahrlich mitnichten! Woraus sind
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die Regierungsvorlagen entstanden? Aus den Berichten der Beamten größtenteils.
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Woraus sind die Beamten hervorgegangen? Aus dem alten System. Sind diese Beamten verschwunden,
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hat man aus neuer, volkstümlicher Wahl neue Landräte eingesetzt? Keineswegs. Werden
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wir von den Beamten über die wahre Stimmung unterrichtet? Die alten Beamten berichten noch
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heute wie früher. Es ist also klar, die bloße Einsicht der Ministerialakten wird uns
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zu nichts führen."</font></p>
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<p>Der Abgeordnete <i>Richter</i> geht noch weiter. Er sieht in dem Benehmen der Posener
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Beamten nur die äußerste, aber notwendige Folge der Beibehaltung des alten
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Verwaltungssystems und der alten Beamten überhaupt. Ähnliche Konflikte zwischen der
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Amtspflicht und dem Interesse der alten Beamten können alle Tage auch in andern Provinzen
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vorkommen.</p>
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<p><font size="2">"Wir haben seit der Revolution ein anderes Ministerium und sogar ein zweites
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erhalten; aber das Ministerium ist ja nur die Seele, es hat überall gleichmäßig
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zu organisieren. Dagegen in den Provinzen ist überall die alte Organisation der Verwaltung
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dieselbe geblieben. Wollen Sie ein anderes Bild haben? Man gießt nicht den neuen Wein in
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alte verrottete Schläuche. Auf diese Art haben wir im Großherzogtum die
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furchtbarsten Klagen. Sollten wir nicht schon deswegen eine Kommission niedersetzen, daß
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man sehe, wie sehr es nötig ist, in andern Provinzen ebensogut wie in Posen, die alte
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Organisation durch eine neue zu ersetzen, die für Zeit und Umstände
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paßt?"</font></p>
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<p>Der Abgeordnete <i>Richter</i> hat recht. Nach einer Revolution ist eine Erneuerung
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sämtlicher Zivil- und Militärbeamten sowie eines Teils der gerichtlichen, und
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besonders der <i>Parquets</i>, die erste Notwendigkeit. Sonst scheitern die besten
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Maßregeln der Zentralgewalt an der Widerhaarigkeit der Subalternen. Die Schwäche der
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französischen provisorischen Regierung, die <a name="S192"><b><192></b></a>
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Schwäche des Ministeriums Camphausen haben in dieser Beziehung bittere Früchte
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getragen.</p>
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<p>In Preußen aber, wo eine seit vierzig Jahren vollständig organisierte
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bürokratische Hierarchie in der Verwaltung und im Militär mit absoluter Gewalt
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geherrscht hat, in Preußen, wo gerade diese Bürokratie der Hauptfeind war, den man
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am 19. März besiegt hatte, hier war die vollständige Erneuerung der Zivil- und
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Militärbeamten noch unendlich dringender. Aber das Ministerium der Vermittlung hatte
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natürlich nicht den Beruf, revolutionäre Notwendigkeiten durchzuführen. Es hatte
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eingestandnermaßen den Beruf, gar nichts zu tun, und ließ daher seinen alten
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Gegnern, den Bürokraten, einstweilen die wirkliche Macht in den Händen. Es
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"vermittelte" die alte Bürokratie mit den neuen Zuständen; dafür "vermittelte"
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die Bürokratie ihm den posenschen Bürgerkrieg und die Verantwortlichkeit für
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Grausamkeiten, wie sie seit dem Dreißigjährigen Kriege nicht mehr vorgekommen
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waren.</p>
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<p>Das Ministerium Hansemann, Erbe des Ministeriums Camphausen, hatte sämtliche Aktiva und
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Passiva seines Erblassers übernehmen müssen, also nicht nur die Majorität in der
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Kammer, sondern auch die posenschen Ereignisse und die posenschen Beamten. Das Ministerium war
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also direkt interessiert, die Untersuchung durch die Kommission so illusorisch wie möglich
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zu machen. Die Redner der ministeriellen Majorität, und namentlich die Juristen, wandten
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ihren ganzen Vorrat von Kasuistik und Spitzfindigkeit an, um einen tiefsinnigen, prinzipiellen
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Grund zu entdecken, weshalb die Kommission keine Zeugen verhören dürfe. Es würde
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zu weit führen, wollten wir uns hier auf die Bewunderung der Jurisprudenz eines
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Reichensperger usw. einlassen. Wir müssen uns darauf beschränken, die gründliche
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Erörterung des Herrn Ministers <i>Kühlwetter</i> ans Tageslicht hervorzuziehen.</p>
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<p>Herr <i>Kühlwetter</i>, die materielle Frage gänzlich beiseite lassend, beginnt
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mit der Erklärung, wie äußerst angenehm es dem Ministerium sein werde, wenn
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solche Kommissionen ihm in Erfüllung seiner schweren Aufgabe durch Aufklärungen etc.
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zur Hand gingen. Ja, hätte Herr Reuter nicht den glücklichen Einfall gehabt, eine
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solche Kommission vorzuschlagen <Siehe <a href=
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"me05_048.htm">"Vereinbarungsdebatten"</a>>, so würde Herr Kühlwetter unbedingt
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selbst darauf gedrungen haben. Man möge der Kommission nur recht weitläuftige
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Aufträge geben (damit sie nie fertig werde), er sei damit einverstanden, daß eine
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ängstliche Abwägung durchaus nicht erforderlich sei. Sie möge die ganze
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Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Provinz Posen in den Bereich ihrer Wirksamkeit ziehen;
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sofern es sich nur um Aufklärungen handle, werde das Ministerium die Kompetenz der <a
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name="S193">Kommis<b><193></b></a> sion nicht ängstlich prüfen. Freilich
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könne man zu weit gehen, doch überlasse er es der Weisheit der Kommission, ob sie
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z.B. auch die Frage wegen Absetzung der posenschen Beamten in ihren Bereich ziehen wolle.</p>
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<p>Soweit die einleitenden Konzessionen des Herrn Ministers, die, mit einigen
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biedermännischen Deklamationen verbrämt, sich mehrerer lebhaften Bravos zu erfreuen
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hatten. Jetzt folgen die <i>Aber</i>.</p>
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<p><font size="2">"Wenn <i>aber</i> bemerkt worden ist, daß die Berichte über Posen
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unmöglich ein richtiges Licht verbreiten könnten, weil es nur Beamte seien, und zwar
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Beamte aus der alten Zeit, halte ich es für meine Pflicht, einen ehrenwerten Stand in
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Schutz zu nehmen. Ist es wahr, daß einzelne Beamte ihrer Pflicht nicht getreu gewesen
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sind, so ahnde man dies an den einzelnen Pflichtvergessenen, aber der <i>Stand</i> der Beamten
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darf niemals herabgewürdigt werden, weil einzelne Glieder desselben ihre Pflicht verletzt
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haben."</font></p>
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<p>Wie kühn Herr Kühlwetter auftritt! Allerdings haben einzelne Pflichtverletzungen
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stattgefunden, aber im ganzen haben die Beamten ihre Pflicht in ehrenwerter Weise getan.</p>
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<p>Und in der Tat, die Masse der posenschen Beamten <i>hat</i> ihre "Pflicht" getan, ihre
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"Pflicht gegen ihren Diensteid", gegen das ganze altpreußische System der
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Bürokratie, gegen ihr eignes, mit dieser Pflicht zusammenfallendes Interesse. Sie haben
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ihre Pflicht erfüllt, indem ihnen jedes Mittel gut war, um den 19. März in Posen zu
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vernichten. Und gerade deswegen, Herr Kühlwetter, ist es Ihre "Pflicht", diese Beamten in
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Masse abzusetzen!</p>
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<p>Aber Herr Kühlwetter spricht von der durch die vorrevolutionären Gesetze
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bestimmten Pflicht, da wo es sich von einer ganz andern Pflicht handelt, die nach jeder
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Revolution eintritt und die darin besteht, die veränderten Verhältnisse richtig
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aufzufassen und ihre Entwicklung zu befördern. Und den Beamten zumuten, sie sollen den
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bürokratischen Standpunkt mit dem konstitutionellen vertauschen, sie sollen sich ebensogut
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wie die neuen Minister auf den Boden der Revolution stellen, das heißt nach Herrn
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Kühlwetter einen ehrenwerten Stand herabwürdigen!</p>
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<p>Auch den Vorwurf, es seien Parteihäupter begünstigt und Verbrechen ungestraft
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geblieben, weist Herr Kühlwetter in dieser Allgemeinheit zurück. Man soll einzelne
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Fälle angeben.</p>
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<p>Behauptet Herr Kühlwetter etwa alles Ernstes, auch nur ein kleiner Teil der
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Brutalitäten und Grausamkeiten sei bestraft worden, die die preußische Soldateska
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verübt, die die Beamten zugelassen und unterstützt, denen die Deutschpolen und Juden
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Beifall zugejubelt haben? Herr Kühlwetter sagt, er habe bisher das kolossale Material noch
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nicht von allen Seiten prüfen können. In der Tat, er scheint es höchstens nach
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einer Seite hin geprüft zu haben.</p>
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<p><b><a name="S194"><194></a></b> Jetzt aber kommt Herr Kühlwetter zu der
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"schwierigsten und bedenklichsten Frage", nämlich der, in welchen <i>Formen</i> die
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Kommission verhandeln solle. Herr Kühlwetter hätte diese Frage gründlicher
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diskutiert gewünscht, denn "es liegt in dieser Frage, wie mit Recht bemerkt worden, eine
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Prinzipienfrage, die Frage des droit d'enquete <Rechts der Untersuchung>".</p>
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<p>Herr Kühlwetter beglückt uns nun mit einer längeren Entwicklung über die
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Teilung der Gewalten im Staat, die gewiß manches Neue für die oberschlesischen und
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pommerschen Bauern in der Versammlung enthielt. Es macht einen merkwürdigen Eindruck, im
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Jahre des Heils 1848 einen preußischen Minister, und noch dazu einen "Minister der Tat",
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auf der Tribüne mit feierlichem Ernst den Montesquieu auslegen zu hören.</p>
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<p>Die Teilung der Gewalten, die Herr Kühlwetter und andre große Staatsphilosophen
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als ein heiliges und unverletzliches Prinzip mit der tiefsten Ehrfurcht betrachten, ist im
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Grunde nichts anders als die profane industrielle Teilung der Arbeit, zur Vereinfachung und
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Kontrolle angewandt auf den Staatsmechanismus. Sie wird wie alle andern heiligen, ewigen und
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unverletzlichen Prinzipien nur soweit angewandt, als sie gerade den bestehenden
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Verhältnissen zusagt. So laufen in der konstitutionellen Monarchie z.B. die gesetzgebende
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und vollziehende Gewalt in der Person des Fürsten durcheinander; ferner in den Kammern die
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gesetzgebende Gewalt mit der Kontrolle über die vollziehende usw. Diese unentbehrlichen
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Beschränkungen der Teilung der Arbeit im Staat drücken nun Staatsweise von der Force
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eines "Ministers der Tat" folgendermaßen aus:</p>
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<p><font size="2">"Die gesetzgebende Gewalt, soweit dieselbe durch die Volksrepräsentation
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ausgeübt wird, hat ihre eigenen Organe; die vollziehende Gewalt hat ihre eignen Organe und
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nicht minder die richterliche Gewalt. Es ist <i>daher</i> (!) nicht zulässig, daß
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die eine Gewalt direkt die Organe der andern Gewalt in Anspruch nehme, es sei denn, daß
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es ihr <i>durch ein besonderes Gesetz</i> übertragen werde."</font></p>
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<p>Die Abweichung von der Teilung der Gewalten ist nicht zulässig, "es sei denn, daß
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sie durch ein besondres Gesetz" vorgeschrieben sei! Und umgekehrt, die Anwendung der
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vorgeschriebenen Teilung der Gewalten ist ebenfalls nicht zulässig, "es sei denn,
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daß sie durch besondere Gesetze" vorgeschrieben sei! Welcher Tiefsinn! Welche
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Aufschlüsse!</p>
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<p>Von dem Fall einer Revolution, wo die Teilung der Gewalten ohne "ein besonderes Gesetz"
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aufhört, spricht Herr Kühlwetter gar nicht.</p>
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<p>Herr Kühlwetter ergeht sich nun in eine Erörterung darüber, daß die
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Vollmacht für die Kommission, Zeugen eidlich zu vernehmen, Beamte zu <a name=
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"S195"><b><195></b></a> requirieren usw., kurz, mit <i>eignen Augen</i> zu sehen, ein
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Eingriff in die Teilung der Gewalten sei und durch ein besonderes Gesetz festgestellt werden
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müsse. Als Beispiel wird die belgische Konstitution beigebracht, deren Artikel 40 das
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droit d'enquete den Kammern ausdrücklich gibt.</p>
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<p>Aber, Herr Kühlwetter, besteht denn in Preußen gesetzlich und tatsächlich
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eine Teilung der Gewalten in dem Sinn, in welchem Sie das Wort verstehen, in konstitutionellem
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Sinn? Ist die existierende Teilung der Gewalten nicht die beschränkte, zugestutzte, die
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der <i>absoluten</i>, der bürokratischen Monarchie entspricht? Wie kann man also
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konstitutionelle Phrasen auf sie anwenden, ehe sie konstitutionell reformiert ist? Wie
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können die Preußen einen Artikel 40 der Konstitution haben, solange diese
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Konstitution selbst noch gar nicht existiert?</p>
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<p>Resümieren wir. Nach Herrn Kühlwetter ist die Ernennung einer Kommission mit
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unbeschränkter Vollmacht ein Eingriff in die konstitutionelle Teilung der Gewalten. Die
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konstitutionelle Teilung der Gewalten besteht in Preußen noch gar nicht; man kann also
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auch keinen Eingriff in sie tun.</p>
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<p>Aber sie soll eingeführt werden, und während des revolutionären Provisoriums,
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in dem wir leben, muß sie nach der Ansicht des Herrn Kühlwetter als <i>schon
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bestehend</i> vorausgesetzt werden. Hätte Herr Kühlwetter recht, so müßten
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doch wahrlich auch die konstitutionellen <i>Ausnahmen</i> als bestehend vorausgesetzt werden!
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Und zu diesen konstitutionellen Ausnahmen gehört ja gerade das Untersuchungsrecht der
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gesetzgebenden Körper!</p>
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<p>Aber Herr Kühlwetter hat keineswegs recht. Im Gegenteil: Das revolutionäre
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Provisorium besteht gerade darin, daß die Teilung der Gewalten provisorisch
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<i>aufgehoben</i> ist, daß die gesetzgebende Behörde die Exekutivgewalt oder die
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Exekutivbehörde die gesetzgebende Gewalt momentan an sich reißt. Ob die
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revolutionäre Diktatur (sie ist eine Diktatur, mag sie noch so schlaff geübt werden)
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sich in den Händen der Krone oder einer Versammlung oder beider zusammen befindet, ist
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ganz gleichgültig. Will Herr Kühlwetter Beispiele aller drei Fälle, die
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französische Geschichte seit 1789 liefert die Menge.</p>
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<p>Das Provisorium, an das Herr Kühlwetter appelliert, beweist gerade gegen ihn. Es gibt
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der Versammlung noch ganz andere Attribute als das bloße Untersuchungsrecht - es gibt ihr
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sogar das Recht, sich nötigenfalls in einen <i>Gerichtshof</i> zu verwandeln und ohne
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Gesetze zu verurteilen!</p>
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<p>Hätte Herr Kühlwetter diese Konsequenzen vorausgesehen, er wäre vielleicht
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etwas vorsichtiger mit der "Anerkennung der Revolution" umgegangen.</p>
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<p><b><a name="S196"><196></a></b> Aber er beruhige sich:</p>
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<div style="margin-left: 12em">
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<p><font size="2">Deutschland, die fromme Kinderstube,<br>
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Ist keine römische Mördergrube,<br>
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<H. Heine, "Zur Beruhigung"></font></p>
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</div>
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<p>und die Herren Vereinbarer mögen sitzen, solange sie wollen, sie werden nie ein "langes
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Parlament" werden.</p>
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<p>Wenn wir übrigens den Amtsdoktrinär des Ministeriums der Tat mit seinem
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Vorgänger in der Doktrin, Herrn Camphausen, vergleichen, so finden wir doch einen
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bedeutenden Abstand. Herr Camphausen besaß jedenfalls unendlich mehr Originalität;
|
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er streifte an Guizot, aber Herr Kühlwetter erreicht nicht einmal den winzigen Lord John
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Russell.</p>
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<p>Wir haben die staatsphilosophische Fülle der Kühlwetterschen Rede genugsam
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bewundert. Betrachten wir jetzt den Zweck, den eigentlichen praktischen Grund dieser bemoosten
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Weisheit, dieser ganzen Montesquieuschen Teilungstheorie.</p>
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<p>Herr Kühlwetter kommt nämlich jetzt zu den Konsequenzen seiner Theorie. Das
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Ministerium ist ausnahmsweise geneigt, die Behörden anzuweisen, dasjenige
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auszuführen, was die Kommission für nötig findet. Nur dagegen muß es sich
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erklären, daß Aufträge an die Behörden direkt von der Kommission ausgehen;
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|
d.h. die Kommission, ohne direkte Verbindung mit den Behörden, ohne Macht über sie,
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kann sie nicht zwingen, ihr andere Auskunft zu schaffen, als die die Behörden zu geben
|
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für gut finden. Und dazu noch der schleppende Geschäftsgang, der endlose
|
|
Instanzenzug! Ein hübsches Mittel, unter dem Vorwande der Teilung der Gewalten die
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|
Kommission illusorisch zu machen!</p>
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<p><font size="2">"Es kann die Absicht nicht sein, der Kommission die ganze Aufgabe zu
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|
übertragen, welche die Regierung hat."</font></p>
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<p>Als ob jemand daran dächte, der Kommission das Recht zum <i>Regieren</i> zu geben!</p>
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<p><font size="2">"Die Regierung würde <i>neben</i> der Kommission zu ermitteln fortfahren
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müssen, welche Ursachen der Entzweiung in Posen zu Grunde gelegen" (eben daß sie
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schon so lange "ermittelt" und noch nichts ausgemittelt hat, ist Grund genug, sie jetzt ganz
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außer Frage zu lassen), "und dadurch, daß auf doppeltem Weg dieser Zweck verfolgt
|
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wird, dürfte Zeit und Mühe oft unnütz verwendet und dürften Kollisionen
|
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kaum zu vermeiden sein."</font></p>
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<p>Nach den bisherigen Antezedentien würde die Kommission gewiß sehr viel "Zeit und
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Mühe unnütz verwenden", wenn sie sich auf Herrn Kühlwetters Vorschlag mit dem
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langwierigen Instanzenzuge einließ. Die Kollisionen sind auf diesem Wege ebenfalls viel
|
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leichter, als wenn die Kommission direkt <a name="S197"><b><197></b></a> mit den
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|
Behörden verkehrt und sofort Mißverständnisse aufklären,
|
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bürokratische Trotzgelüste niederschlagen kann.</p>
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<p><font size="2">"Es scheint <i>daher</i> (!) in der Natur der Sache zu liegen, daß die
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|
Kommission im <i>Einverständnis</i> mit dem Ministerium und unter <i>steter Mitwirkung</i>
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desselben den Zweck zu erreichen suche."</font></p>
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<p>Immer besser! Eine Kommission, die das Ministerium kontrollieren soll, im
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Einverständnis mit ihm und unter seiner steten Mitwirkung! Herr Kühlwetter geniert
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sich nicht, merken zu lassen, wie er es für wünschenswert hält, daß die
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|
Kommission unter seiner Kontrolle, nicht er unter der ihrigen stehe.</p>
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<p><font size="2">"Wollte dagegen die Kommission eine isolierte Stellung einnehmen, so
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|
müßte die Frage entstehen, ob da die Kommission die Verantwortlichkeit
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übernehmen will und kann, welche dem Ministerium obliegt. Mit ebensoviel Wahrheit als
|
|
Geist ist bereits die Bemerkung gemacht worden, daß die Unverletzlichkeit der Deputierten
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|
mit dieser Verantwortlichkeit nicht vereinbarlich ist."</font></p>
|
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<p>Es handelt sich nicht um Verwaltung, sondern bloß um Feststellung von Tatsachen. Die
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|
Kommission soll die Vollmacht erhalten, die dazu nötigen Mittel anzuwenden. Das ist alles.
|
|
Daß sie sowohl wegen nachlässiger, wie wegen übertriebener Anwendung dieser
|
|
Mittel der Versammlung verantwortlich ist, versteht sich von selbst.</p>
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<p>Die ganze Sache hat mit ministerieller Verantwortlichkeit und
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|
Deputiertenunverantwortlichkeit ebensowenig [zu] tun wie mit "Wahrheit" und "Geist".</p>
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<p>Genug, Herr Kühlwetter legte diese Vorschläge zur Lösung der Kollision unter
|
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dem Vorwand der Teilung der Gewalten den Vereinbarern ans Herz, ohne indes einen bestimmten
|
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Vorschlag zu machen. Das Ministerium der Tat fühlt sich auf unsicherm Boden.</p>
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<p>Wir können auf die weitere Diskussion nicht eingehen. Die Abstimmungen sind bekannt:
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die Niederlage der Regierung bei der namentlichen Abstimmung, der Staatsstreich der Rechten,
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die eine bereits verworfene Frage nachträglich noch annahm. Wir haben dies alles schon
|
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gegeben. Wir fügen nur hinzu, daß unter den Rheinländern, die <i>gegen</i> die
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|
unbedingte Vollmacht der Kommission stimmten, uns folgende Namen auffallen:</p>
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<p>Arntz, Dr. jur. Bauerband, Frencken, Lensing, v. Loe, Reichensperger II, Simons und der
|
|
letzte, aber nicht der geringste, unser Oberprokurator <i>Zweiffel</i>.</p>
|
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<p><font size="2">Geschrieben von Friedrich Engels.</font></p>
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</body>
|
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</html>
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