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<TITLE>Lenin: Über das Genossenschaftswesen</TITLE>
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<H2>Wladimir I. Lenin</H2>
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<H1>Über das Genossenschaftswesen</H1>
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<P>Januar 1923
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</P>
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Gedruckt nachzulesen in: Lenin Werke, Dietz Verlag Berlin, 1973, Band 33, Seite 453 bis 461
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<A NAME="Sekt1">I</A>
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<P>
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Dem Genossenschaftswesen wird bei uns, wie mir scheint, nicht genügend
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Aufmerksamkeit geschenkt. Wohl kaum alle begreifen, daß das
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Genossenschaftswesen jetzt, seit der Oktoberrevolution und unabhängig
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von der NÖP (1) (umgekehrt, in dieser Beziehung muß man sagen:
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gerade dank der NÖP), bei uns eine ganz außerordentliche Bedeutung
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gewinnt. In den Träumereien der alten Genossenschaftler ist vieles
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phantastisch. Sie wirken wegen ihrer Phantasterei oft lächerlich. Aber
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worin besteht ihre Phantasterei? Darin, daß diese Leute die wesentliche,
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grundlegende Bedeutung des politischen Kampfes der Arbeiterklasse zum Sturz
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der Ausbeuterherrschaft nicht verstehen. Dieser Sturz ist jetzt bei uns Tatsache
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geworden, und nun wird vieles von dem, was an den Träumereien der alten
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Genossenschaftler phantastisch, sogar romantisch, ja abgeschmackt war, zur
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ungeschminkten Wirklichkeit.
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<P>
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Bei uns ist wirklich, da die Staatsmacht in den Händen der Arbeiterklasse
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liegt, da alle Produktionsmittel dieser Staatsmacht gehören - bei uns
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ist wirklich nur die Aufgabe übriggeblieben, die Bevölkerung
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genossenschaftlich zusammenzuschließen. Unter der Voraussetzung des
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maximalen genossenschaftlichen Zusammenschlusses der Bevölkerung erreicht
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jener Sozialismus, der früher berechtigten Spott, mitleidiges Lächeln,
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geringschätziges Verhalten seitens derjenigen hervorrief, die mit Recht
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von der Notwendigkeit des Klassenkampfes, des Kampfes um die politische Macht
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usw. überzeugt waren, von selbst das Ziel. Nun geben sich aber nicht
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alle Genossen Rechenschaft darüber, welche gigantische, unermeßliche
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Bedeutung der genossenschaftliche Zusammenschluß Rußlands jetzt
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für uns gewinnt. Mit der NÖP haben wir dem Bauern als Händler,
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dem Prinzip des privaten Handels ein Zugeständnis gemacht; gerade daraus
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folgt (entgegen der landläufigen Meinung) die gigantische Bedeutung
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des Genossenschaftswesens. Unter der Herrschaft der NÖP ist ein
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genügend breiter und tiefer genossenschaftlicher Zusammenschluß
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der russischen Bevölkerung im Grunde genommen alles, was wir brauchen,
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weil wir jetzt jenen Grad der Vereinigung der Privatinteressen, der privaten
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Handelsinteressen, ihrer Überwachung und Kontrolle durch den Staat,
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den Grad ihrer Unterordnung unter die allgemeinen Interessen gefunden haben,
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der früher für viele, viele Sozialisten den Stein des Anstoßes
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bildete. In der Tat, die Verfügungsgewalt des Staates über alle
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großen Produktionsmittel, die Staatsmacht in den Händen des
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Proletariats, das Bündnis dieses Proletariats mit den vielen Millionen
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Klein- und Zwergbauern, die Sicherung der Führerstellung dieses Proletariats
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gegenüber der Bauernschaft usw. - ist das nicht alles, was notwendig
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ist, um aus den Genossenschaften, allein aus den Genossenschaften, die wir
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früher geringschätzig als krämerhaft behandelt haben und die
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wir in gewisser Hinsicht jetzt, unter der NÖP, ebenso zu behandeln
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berechtigt sind, ist das nicht alles, was notwendig ist, um die vollendete
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sozialistische Gesellschaft zu errichten? Das ist noch nicht die Errichtung
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der sozialistischen Gesellschaft, aber es ist alles, was zu dieser Errichtung
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notwendig und hinreichend ist.
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<P>
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Eben dieser Umstand wird von vielen unserer Praktiker unterschätzt.
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Man blickt bei uns auf die Genossenschaften von oben herab und begreift nicht,
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welche außerordentliche Bedeutung diese Genossenschaften haben, erstens
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von der prinzipiellen Seite her gesehen (das Eigentum an den Produktionsmitteln
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in den Händen des Staates), zweitens unter dem Gesichtspunkt des
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Übergangs zu neuen Zuständen auf einem Wege, der möglichst
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EINFACH, LEICHT UND ZUGÄNGLICH FÜR DEN BAUERN ist.
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<P>
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Und das ist ja doch wiederum die Hauptsache. Es ist eine Sache, über
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alle möglichen Arbeitervereinigungen zum Aufbau des Sozialismus zu
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phantasieren, und eine andere Sache, diesen Sozialismus praktisch so aufbauen
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zu lernen, daß JEDER Kleinbauer an diesem Aufbau teilnehmen kann. Gerade
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diese Stufe haben wir jetzt erreicht. Und es steht außer Zweifel, daß
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wir, nachdem wir diese Stufe erreicht haben, sie uns zuwenig zunutze machen.
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<P>
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Wir haben beim Übergang zur NÖP den Bogen überspannt, nicht
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in der Beziehung, daß wir dem Prinzip der Gewerbe- und Handelsfreiheit
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zuviel Platz eingeräumt hätten, sondern wir haben beim Übergang
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zur NÖP den Bogen in der Beziehung überspannt, daß wir vergessen
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haben, an die Genossenschaften zu denken, daß wir jetzt die
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Genossenschaften unterschätzen, daß wir schon begonnen haben,
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die riesige Bedeutung der Genossenschaften in dem oben angedeuteten zweifachen
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Sinn dieser Bedeutung zu vergessen.
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<P>
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Ich habe die Absicht, mich nun mit dem Leser darüber zu unterhalten,
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was man, von diesem "Genossenschafts"prinzip ausgehend, praktisch sofort
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tun kann und muß. Mit welchen Mitteln kann und muß man sofort
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beginnen, dieses "Genossenschafts"prinzip so zu entwickeln, daß seine
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sozialistische Bedeutung allen und jedem einleuchtet?
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<P>
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Man muß für die Genossenschaften eine solche politische Lage schaffen,
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daß nicht nur die Genossenschaften überhaupt und immer eine gewisse
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Vergünstigung genießen, sondern daß diese Vergünstigung
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rein materieller Natur ist (Höhe der Bankzinsen usw.). Man muß
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den Genossenschaften aus staatlichen Mitteln Darlehn geben, die, wenn auch
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nur um ein geringes, die Mittel übersteigen, die wir den Privatbetrieben,
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selbst den Betrieben der Schwerindustrie usw., als Darlehn gewähren.
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<P>
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Jede Gesellschaftsordnung entsteht nur, wenn sie durch eine bestimmte Klasse
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finanziell unterstützt wird. Man braucht nicht an jene Hunderte und
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aber Hunderte Millionen Rubel zu erinnern, die die Geburt des "freien"
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Kapitalismus kostete. Jetzt müssen wir erkennen, daß gegenwärtig
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diejenige Gesellschaftsordnung, die wir über das gewöhnliche Maß
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hinaus unterstützen müssen, die genossenschaftliche Ordnung ist,
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und diese Erkenntnis in die Tat umsetzen. Aber unterstützen müssen
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wir sie im wahren Sinne dieses Wortes, d.h., es genügt nicht, unter
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dieser Unterstützung die Förderung eines beliebigen
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genossenschaftlichen Umsatzes zu verstehen, unter dieser Unterstützung
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muß man die Unterstützung eines solchen genossenschaftlichen Umsatzes
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verstehen, an dem WIRKLICHE MASSEN DER BEVÖLKERUNG WIRKLICH TEILNEHMEN.
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Dem Bauern, der sich am Genossenschaftsumsatz beteiligt, eine Prämie
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zu gewähren, das ist unbedingt eine richtige Form, doch es gilt hierbei,
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diese Beteiligung zu kontrollieren und zu prüfen, ob es eine bewußte
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und qualitativ einwandfreie Beteiligung ist - das ist der Kernpunkt der Frage.
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Wenn der Genossenschaftler in ein Dorf kommt und dort einen Genossenschaftsladen
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einrichtet, so ist die Bevölkerung, strenggenommen, daran nicht beteiligt,
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gleichzeitig aber wird sie, vom eigenen Vorteil geleitet, schleunigst versuchen,
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sich daran zu beteiligen.
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<P>
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Diese Sache hat auch noch eine andere Seite. Vom Standpunkt des "zivilisierten"
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(vor allem des lese- und schreibkundigen) Europäers müssen wir
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nur noch sehr wenig tun, um ausnahmslos alle zu veranlassen, sich an den
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Transaktionen der Genossenschaften zu beteiligen, und zwar nicht passiv,
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sondern aktiv. Eigentlich bleibt uns "nur" eines zu tun: unsere Bevölkerung
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so "zivilisiert" zu machen, daß sie alle aus der allgemeinen Beteiligung
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an den Genossenschaften entspringenden Vorteile einsieht und diese Beteiligung
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organisiert. "Nur" das. Wir brauchen jetzt keine anderen Weisheiten, um zum
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Sozialismus überzugehen. Um aber dieses "Nur" zu vollbringen, bedarf
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es einer ganzen Umwälzung, einer ganzen Periode kultureller Entwicklung
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der gesamten Volksmasse. Deshalb müssen wir uns zur Regel machen:
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möglichst wenig Klügeleien und möglichst wenig Floskeln. Die
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NÖP bedeutet in dieser Hinsicht insofern einen Fortschritt, als sie
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sich dem Niveau des allergewöhnlichsten Bauern anpaßt, als sie
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von ihm nichts Höheres verlangt. Um aber durch die NÖP die Beteiligung
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ausnahmslos der gesamten Bevölkerung an den Genossenschaften
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herbeizuführen, dazu bedarf es einer ganzen geschichtlichen Epoche.
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Wir können im günstigsten Fall diese Epoche in ein, zwei Jahrzehnten
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durchschreiten. Aber dennoch wird das eine besondere geschichtliche Epoche
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sein, und ohne diese geschichtliche Epoche, ohne allgemeine Elementarbildung
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der gesamten Bevölkerung, ohne einen genügend hohen Grad von
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Aufgewecktheit, ohne die Bevölkerung in ausreichendem Grade daran
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gewöhnt zu haben, Bücher zu gebrauchen, und ohne die materielle
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Grundlage dafür, ohne eine gewisse Sicherung, sagen wir, gegen
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Mißernte, gegen Hungersnot usw. - ohne das können wir unser Ziel
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nicht erreichen. Alles kommt jetzt darauf an, daß wir es verstehen,
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den revolutionären Schwung, den revolutionären Enthusiasmus, den
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wir schon gezeigt, und zwar hinreichend gezeigt und mit vollem Erfolg
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gekrönt haben, mit der (hier möchte ich fast sagen) Fähigkeit
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zu vereinigen, ein aufgeweckter und des Schreibens und Rechnens kundiger
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Händler zu sein, was für einen guten Genossenschaftler durchaus
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genügt. Unter der Fähigkeit, ein Händler zu sein, verstehe
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ich die Fähigkeit, ein Händler zu sein, der Kulturansprüchen
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genügt. Das mögen sich die russischen Menschen oder einfach die
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Bauern hinter die Ohren schreiben, die meinen: Wenn einer Handel treibt,
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dann versteht er auch Händler zu sein. Das ist ganz falsch. Wohl treibt
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er Handel, aber von da bis zu der Fähigkeit, ein Händler zu sein,
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der Kulturansprüchen genügt, ist es noch sehr weit. Er treibt heute
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Handel auf asiatische Manier; um aber zu verstehen, ein Händler zu sein,
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muß man auf europäische Manier Handel treiben. Davon trennt ihn
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eine ganze Epoche.
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<P>
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Ich komme zum Schluß. Eine Reihe von ökonomischen, finanziellen
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und Bankprivilegien für die Genossenschaften - darin muß die
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Unterstützung bestehen, die unser sozialistischer Staat dem neuen Prinzip
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der Organisierung der Bevölkerung erweist. Damit ist jedoch die Aufgabe
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erst in allgemeinen Zügen umrissen, weil der ganze Inhalt der Aufgabe
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praktisch noch unbestimmt bleibt, noch nicht im Detail geschildert ist, d.h.,
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man muß verstehen, jene Form der "Prämien" (und jene Bedingungen
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für ihre Gewährung) ausfindig zu machen, die wir für den
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genossenschaftlichen Zusammenschluß geben, jene Form der Prämien,
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durch die wir die Genossenschaften genügend fördern, jene Form
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der Prämien, durch die wir zu einem zivilisierten Genossenschaftler
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gelangen. Aber ein System zivilisierter Genossenschaftler bei gesellschaftlichem
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Eigentum an den Produktionsmitteln, beim Klassensieg des Proletariats über
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die Bourgeoisie - das ist das System des Sozialismus.
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<P ALIGN=Right>
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4. Januar 1923
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<P>
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<HR>
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<H4 ALIGN=Center>
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<A NAME="Sekt2">II</A>
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</H1>
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<P>
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Immer, wenn ich über die Neue Ökonomische Politik schrieb, zitierte
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ich meinen Artikel über den Staatskapitalismus aus dem Jahre 1918 (2).
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Das erregte des öfteren Zweifel bei manchen jungen Genossen. Aber ihre
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Zweifel betrafen vorwiegend die abstrakt politische Seite.
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<P>
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Es schien ihnen, daß eine Gesellschaftsordnung, unter der die
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Produktionsmittel der Arbeiterklasse gehören und dieser Arbeiterklasse
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die Staatsmacht gehört, nicht als Staatskapitalismus bezeichnet werden
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dürfe. Sie merkten jedoch nicht, daß die Bezeichnung
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"Staatskapitalismus" bei mir gebraucht wurde: ERSTENS, um den historischen
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Zusammenhang unserer gegenwärtigen Position mit der Position in meiner
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Polemik gegen die sogenannten linken Kommunisten herzustellen, und auch damals
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schon suchte ich zu beweisen, daß der Staatskapitalismus höher
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stehen würde als unsere heutige Wirtschaftsweise; mir lag daran, den
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kontinuierlichen Zusammenhang des gewöhnlichen Staatskapitalismus mit
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jenem ungewöhnlichen, sogar ganz und gar ungewöhnlichen
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Staatskapitalismus festzustellen, von dem ich sprach, als ich den Leser in
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die Neue Ökonomische Politik einführte. ZWEITENS war für mich
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stets der praktische Zweck wichtig. Und der praktische Zweck unserer Neuen
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Ökonomischen Politik bestand darin, zu Konzessionen zu gelangen;
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Konzessionen aber wären unter unseren Verhältnissen zweifellos
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schon ein Staatskapitalismus von reinem Typus gewesen. Aus dieser Sicht stelle
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ich meine Erwägungen über den Staatskapitalismus an.
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<P>
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Die Sache hat jedoch noch eine andere Seite, bei der uns der Staatskapitalismus
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oder wenigstens ein Vergleich damit nötig sein kann. Das ist die Frage
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der Genossenschaften. Es ist unzweifelhaft, daß die Genossenschaften
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in einem kapitalistischen Staat eine kapitalistische Kollektiveinrichtung
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sind. Unzweifelhaft ist auch, daß in unserer jetzigen ökonomischen
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Wirklichkeit, wo wir privatkapitalistische Betriebe - jedoch nur auf
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gesellschaftlichem Grund und Boden und nur unter der Kontrolle der Staatsmacht,
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die in den Händen der Arbeiterklasse liegt - mit Betrieben von konsequent
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sozialistischem Typus (sowohl die Produktionsmittel als auch der Grund und
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Boden, auf dem der Betrieb steht, wie der Betrieb als Ganzes gehören
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dem Staat) vereinigen, noch die Frage nach einer dritten Art von Betrieben
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auftaucht, denen früher vom Standpunkt der prinzipiellen Bedeutung aus
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keine Selbständigkeit zukam, nämlich den genossenschaftlichen
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Betrieben. Unter dem Privatkapitalismus unterscheiden sich genossenschaftliche
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Betriebe von kapitalistischen als kollektive Betriebe von privaten. Unter
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dem Staatskapitalismus unterscheiden sich genossenschaftliche Betriebe von
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staatskapitalistischen dadurch, daß sie erstens private, zweitens
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kollektive Betriebe sind. In der bei uns bestehenden Gesellschaftsordnung
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unterscheiden sich genossenschaftliche Betriebe von privatkapitalistischen
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als kollektive Betriebe, aber sie unterscheiden sich nicht von sozialistischen
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Betrieben, wenn sie auf dem Grund und Boden errichtet und mit Produktionsmitteln
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ausgerüstet sind, die dem Staat, d.h. der Arbeiterklasse gehören.
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<P>
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Eben dieser Umstand wird bei uns nicht genügend berücksichtigt,
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wenn man von den Genossenschaften spricht. Man vergißt, daß die
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Genossenschaften bei uns dank der Besonderheit unserer Staatsordnung eine
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ganz außerordentliche Bedeutung gewinnen. Sondert man die Konzessionen
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aus, die bei uns, nebenbei bemerkt, keine irgendwie beträchtliche
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Entwicklung erfahren haben, so decken sich die Genossenschaften unter unseren
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Verhältnissen in der Regel völlig mit dem Sozialismus.
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<P>
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Ich will meinen Gedanken näher ausführen. Worin bestand das
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Phantastische an den Plänen der alten Genossenschaftler, angefangen
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mit Robert Owen? Darin,daß sie von einer friedlichen Umgestaltung der
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modernen Gesellschaft durch den Sozialismus träumten, ohne eine so
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grundlegende Frage wie die des Klassenkampfes, der Eroberung der politischen
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Macht durch die Arbeiterklasse, des Sturzes der Herrschaft der Ausbeuterklasse
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zu beachten. Und deshalb sind wir im Recht, wenn wir in diesem
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"Genossenschafts"sozialismus pure Phantasterei sehen, wenn wir etwas
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Romantisches, ja sogar Abgeschmacktes in den Träumereien erblicken,
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daß man durch den bloßen genossenschaftlichen Zusammenschluß
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der Bevölkerung die Klassenfeinde in Klassenfreunde und den Klassenkrieg
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in den Klassenfrieden (den sogenannten Burgfrieden) verwandeln könne.
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<P>
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Es besteht kein Zweifel, daß wir vom Standpunkt der Grundaufgabe der
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Gegenwart aus gesehen recht hatten, denn ohne den Klassenkampf um die politische
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|
Macht im Staat kann der Sozialismus nicht verwirklicht werden.
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|
<P>
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|
Man betrachte aber, wie sich die Sache jetzt geändert hat, da ja die
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|
Staatsmacht bereits in den Händen der Arbeiterklasse liegt, da die
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politische Macht der Ausbeuter gestürzt ist und alle Produktionsmittel
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(mit Ausnahme derer, die der Arbeiterstaat freiwillig, zeitweilig und bedingt
|
|
den Ausbeutern als Konzession überläßt) sich in den Händen
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|
der Arbeiterklasse befinden.
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|
<P>
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|
Jetzt haben wir das Recht zu sagen, daß das einfache Wachstum der
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|
Genossenschaften für uns (mit der oben erwähnten `kleinen' Ausnahme)
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|
mit dem Wachstum des Sozialismus identisch ist, und zugleich müssen
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|
wir zugeben, daß sich unsere ganze Auffassung vom Sozialismus grundlegend
|
|
geändert hat. Diese grundlegende Änderung besteht darin, daß
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|
wir früher das Schwergewicht auf den politischen Kampf, die Revolution,
|
|
der Eroberung der Macht usw. legten und auch legen mußten. Heute dagegen
|
|
ändert sich das Schwergewicht so weit, daß es auf die friedliche
|
|
organisatorische "Kultur"arbeit verlegt wird. Ich würde sagen, daß
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|
sich das Schwergewicht für uns auf bloße Kulturarbeit verschiebt,
|
|
gäbe es nicht die internationalen Beziehungen, hätten wir nicht
|
|
die Pflicht, für unsere Position in internationalem Maßstab zu
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|
kämpfen. Wenn man aber davon absieht und sich auf die inneren
|
|
ökonomischen Verhältnisse beschränkt, so reduziert sich bei
|
|
uns jetzt das Schwergewicht der Arbeit tatsächlich auf bloße
|
|
Kulturarbeit.
|
|
<P>
|
|
Vor uns stehen zwei Hauptaufgaben, die eine Epoche ausmachen. Das ist einmal
|
|
die Aufgabe, unseren Apparat umzugestalten, der absolut nichts taugt und
|
|
den wir gänzlich von der früheren Epoche übernommen haben.
|
|
Hier ist ernstlich etwas umzugestalten, das haben wir in fünf Jahren
|
|
Kampf nicht fertiggebracht und konnten es auch nicht fertigbringen. Unsere
|
|
zweite Aufgabe besteht in der kulturellen Arbeit für die Bauernschaft.
|
|
Und diese kulturelle Arbeit unter der Bauernschaft verfolgt als
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ökonomisches Ziel eben den genossenschaftlichen Zusammenschluß.
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Bei einem vollständigen genossenschaftlichen Zusammenschluß
|
|
stünden wir bereits mit beiden Füßen auf sozialistischem
|
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Boden. Aber diese Voraussetzung, der vollständige genossenschaftliche
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|
Zusammenschluß, schließt ein derartiges Kulturniveau der Bauernschaft
|
|
(eben der Bauernschaft als der übergroßen Masse) in sich ein,
|
|
daß dieser vollständige genossenschaftliche Zusammenschluß
|
|
ohne eine ganze Kulturrevolution unmöglich ist.
|
|
<P>
|
|
Unsere Gegner hielten uns oft entgegen, es sei ein sinnloses Beginnen von
|
|
uns, in einem Lande mit ungenügender Kultur den Sozialismus einführen
|
|
zu wollen. Aber sie irrten sich, und zwar deshalb, weil wir nicht an dem
|
|
Ende anfingen, an dem es nach der Theorie (von allerlei Pedanten) hätte
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|
geschehen sollen, und weil bei uns die politische und soziale Umwälzung
|
|
jener kulturellen Umwälzung, jener Kulturrevolution vorausging, der
|
|
wir jetzt dennoch gegenüberstehen.
|
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<P>
|
|
Uns genügt nun diese Kulturrevolution, um ein vollständig
|
|
sozialistisches Land zu werden, aber für uns bietet diese Kulturrevolution
|
|
ungeheure Schwierigkeiten sowohl rein kultureller (denn wir sind Analphabeten)
|
|
als auch materieller Natur (denn um Kultur zu haben, braucht man eine bestimmte
|
|
Entwicklung der materiellen Produktionsmittel, braucht man eine bestimmte
|
|
materielle Basis).
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|
<P ALIGN=Right>
|
|
6. Januar 1923
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|
<P>
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|
<HR>
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|
<P>
|
|
Zuerst veröffentlicht am 26. und 27. Mai 1923 in der "Prawda" Nr. 115
|
|
und 116. Nach dem Text der "Prawda", verglichen mit der stenographischen
|
|
Niederschrift. Unterschrift: N. Lenin.
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|
<P>
|
|
<HR>
|
|
<H3>
|
|
Fußnoten:
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</H3>
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<P>
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|
1. NÖP: Neue Ökonomische Politik - Wirtschaftsmodell der Sowjetunion
|
|
in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre, das den "Kriegskommunismus"
|
|
der Bürgerkriegsphase ablöste. Neben dem zentralisierten Sektor
|
|
verstaatlichter Industrie und Banken bestand ein großer
|
|
privatkapitalistischer Sektor von Kleinunternehmen, der insbesondere
|
|
Landwirtschaft und Handwerk umfaßte.
|
|
<P>
|
|
2. "Über `linke' Kinderei und über Kleinbürgerlichkeit" (Lenin
|
|
Werke Bd. 27, Seite 315 - 347.)
|
|
<P>
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<HR size="1">
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<TABLE width="100%" border="0" align="center" cellspacing=0 cellpadding=0>
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<TR>
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</TR>
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