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2022-08-25 20:29:11 +02:00

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<TITLE>Friedrich Engels - Die Kriegsfrage in Europa</TITLE>
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<FONT SIZE=2><P>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 10, S. 72-76<BR>
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961</FONT> </P>
<H2>Friedrich Engels</H2>
<H1>Die Kriegsfrage in Europa</H1>
<FONT SIZE=2><P>Geschrieben am 13. Februar 1854.<BR>
Aus dem Englischen.</P>
</FONT><P><HR></P>
<FONT SIZE=2><P>["New-York Daily Tribune" Nr. 4019 vom 6. M&auml;rz 1854, Leitartikel]</P>
</FONT><B><P><A NAME="S72">&lt;72&gt;</A></B> Obwohl uns die Ankunft der "Nashville" nicht in den Besitz wesentlich neuer Nachrichten vom Kriegsschauplatz bringt, setzt sie uns doch von einer Tatsache in Kenntnis, die f&uuml;r den gegenw&auml;rtigen Stand der Dinge von gro&szlig;er Bedeutung ist. Jetzt n&auml;mlich, in letzter Stunde, da die russischen Gesandten Paris und London verlassen haben, da der britische und der franz&ouml;sische Botschafter aus St. Petersburg abberufen wurden, da die See- und Landstreitmacht Frankreichs und Englands bereits f&uuml;r direkte Kriegshandlungen zusammengezogen wird - in diesem letzten Augenblick unterbreiten die beiden westlichen Regierungen neue Verhandlungsvorschl&auml;ge, in denen sie beinahe allem zustimmen, was Ru&szlig;land will. Man wird sich erinnern, da&szlig; die Hauptforderung Ru&szlig;lands war, man solle ihm das Recht zuerkennen, den Streit, der, wie es behauptete, nur Ru&szlig;land und die T&uuml;rkei etwas angehe, mit der Pforte unmittelbar, ohne die Einmischung anderer M&auml;chte, beizulegen. Dieses Recht wurde jetzt den Russen zugestanden. Die Vorschl&auml;ge, die der Brief Napoleons, den wir an anderer Stelle wiedergeben, enth&auml;lt, besagen, da&szlig; Ru&szlig;land direkt mit der T&uuml;rkei verhandeln, der zwischen beiden Parteien abzuschlie&szlig;ende Vertrag jedoch von den vier M&auml;chten garantiert werden soll. Diese Garantie ist die Kehrseite der Konzession, da sie den Westm&auml;chten einen bequemen Vorwand bietet, sich in jeden zuk&uuml;nftigen Streit gleicher Art einzumischen. Aber dadurch kann Ru&szlig;lands Lage nicht schlimmer werden, als sie jetzt ist, da Kaiser Nikolaus einsehen mu&szlig;, da&szlig; er keinen Versuch zur Zerst&uuml;ckelung der T&uuml;rkei unternehmen kann, ohne einen Krieg mit England und Frankreich zu riskieren. Und au&szlig;erdem wird der tats&auml;chliche Gewinn Ru&szlig;lands vom Charakter des Vertrages abh&auml;ngen, der noch nicht abgeschlossen ist; Ru&szlig;land, das nun gesehen hat, wie feige die West- <A NAME="S73"><B>&lt;73&gt;</A></B> m&auml;chte vor einem Krieg zur&uuml;ckweichen, braucht seine Armeen nur weiter in Bereitschaft zu halten und sein System der Einsch&uuml;chterung fortzuf&uuml;hren, um jeden Punkt der Verhandlungen zu gewinnen. Au&szlig;erdem braucht die russische Diplomatie kaum den Kampf mit den vortrefflichen Gesandten zu f&uuml;rchten, die die ber&uuml;hmte erste Wiener Note zusammenschusterten.</P>
<P>Ob jedoch der Zar diesen Vorschlag annehmen oder sich auf seine Armee verlassen wird, bleibt noch abzuwarten. Er kann es sich nicht leisten, alle f&uuml;nf Jahre einmal solche R&uuml;stungen und Truppenverschiebungen in seinem gewaltigen Reich durchzuf&uuml;hren. Die Vorbereitungen sind in so gro&szlig;em Ma&szlig;stab getroffen worden, da&szlig; nur ein sehr wesentlicher materieller Gewinn die Kosten decken kann. Die russische Bev&ouml;lkerung ist gr&uuml;ndlich in Kriegsbegeisterung versetzt worden. Wir haben die Kopie eines Briefes gesehen, den ein russischer Kaufmann geschrieben hat - nicht einer der vielen deutschen, englischen oder franz&ouml;sischen H&auml;ndler, die sich in Moskau niedergelassen haben, sondern wirklich ein alter Moskauer, ein echter Sohn der Swjataja Rus &lt;Heiligen Rus&gt;, der einige Waren f&uuml;r englische Rechnung in Kommission hat und gefragt worden war, ob im Falle eines Krieges die Gefahr best&uuml;nde, da&szlig; diese Waren konfisziert werden. Der alte Russe, ganz entr&uuml;stet dar&uuml;ber, da&szlig; seiner Regierung so etwas zugetraut werde, und mit der offiziellen Phraseologie sehr gut vertraut, wonach Ru&szlig;land, im Gegensatz zu den revolution&auml;ren sozialistischen L&auml;ndern des Westens, der gro&szlig;e Verfechter von "Ordnung, Eigentum, Familie und Religion" ist, erwidert, da&szlig;</P>
<FONT SIZE=2><P>"hier in Ru&szlig;land, Gott sei gelobt, die Unterscheidung zwischen <I>mein </I>und <I>dein </I>noch in voller Kraft und Ihr Besitz hier sicher ist, wie sonst nirgendwo. Ich w&uuml;rde Ihnen sogar raten, soviel wie m&ouml;glich von Ihrem Eigentum hierherzusenden, denn hier wird es vielleicht sicherer sein als da, wo es sich jetzt befindet. <I>Sie k&ouml;nnten vielleicht Grund zu Bef&uuml;rchtungen f&uuml;r Ihre Landsleute haben</I></FONT><FONT SIZE=1>, a</FONT><FONT SIZE=2>ber keineswegs f&uuml;r Ihr Eigentum."</P>
</FONT><P>Mittlerweile haben die Kriegsvorbereitungen in England und Frankreich ein &auml;u&szlig;erst gro&szlig;es Ausma&szlig; erreicht. Das franz&ouml;sische Ozeangeschwader wurde von Brest nach Toulon beordert, um Truppen nach der Levante zu transportieren. Unterschiedlichen Berichten zufolge sollen vierzig- oder sechzigtausend Mann abtransportiert werden, von denen ein gro&szlig;er Teil aus der afrikanischen Armee kommt. Die Expedition wird besonders starke Sch&uuml;tzenregimenter haben und entweder von Baraguay d'Hilliers oder Saint-Arnaud befehligt werden. Die britische Regierung wird ungef&auml;hr 18.000 Mann entsenden (22 Regimenter zu je 850 Mann), und an dem Tag, da wir unsere letzten Nachrichten erhielten, war ein Teil davon bereits nach Malta ein- <A NAME="S74"><B>&lt;74&gt;</A></B> geschifft worden, wo der allgemeine Sammelplatz sein soll. Die Infanterie wird mit Dampfschiffen transportiert, und f&uuml;r den Transport der Kavallerie sind Segelschiffe eingesetzt. Die Ostseeflotte, die am 6. M&auml;rz auf der Themse, in der N&auml;he von Sheerness, konzentriert werden soll, wird aus f&uuml;nfzehn Linienschiffen, acht Fregatten und siebzehn kleineren Schiffen bestehen. Das ist die gr&ouml;&szlig;te Flotte, die die Briten seit dem letzten Kriege zusammengebracht haben, und da die H&auml;lfte davon aus Rad- oder Schraubendampfern bestehen wird und deren Einsatzkraft und Wasserverdr&auml;ngung gegenw&auml;rtig ungef&auml;hr um 50 Prozent h&ouml;her liegen als vor f&uuml;nfzig Jahren, ist die Ostseeflotte wom&ouml;glich die st&auml;rkste Seestreitmacht, die je ein Land geschaffen hat. Sir Charles Napier soll sie befehligen; sollte es Krieg geben, ist er der Mann, der seine Kanonen sofort auf den entscheidenden Punkt richten wird.</P>
<P>An der Donau hat die Schlacht von Cetate offensichtlich eine Verz&ouml;gerung des russischen Angriffs auf Kalafat bewirkt. Dieser f&uuml;nft&auml;gige Kampf hat die Russen davon &uuml;berzeugt, da&szlig; es nicht leicht sein wird, ein befestigtes Lager zu nehmen, das solche Ausf&auml;lle unternehmen kann. Sogar der ausdr&uuml;ckliche Befehl des Autokraten selber scheint nicht zu gen&uuml;gen, um seine Truppen nach solch einem Vorgeschmack zu einem &uuml;bereilten Angriff zu zwingen. Die Anwesenheit General Schilders, des Chefs der Genietruppe, der eigens aus Warschau geschickt wurde, scheint sogar ein dem kaiserlichen Befehl entgegengesetztes Ergebnis erbracht zu haben, denn statt den Angriff zu beschleunigen, gen&uuml;gte ihm die. Inspizierung der Befestigungen aus einiger Entfernung, um sich zu &uuml;berzeugen, da&szlig; mehr Truppen und schwere Gesch&uuml;tze ben&ouml;tigt w&uuml;rden, als sofort zusammengebracht werden k&ouml;nnten. Deshalb ziehen die Russen seit einiger Zeit soviel Truppen wie m&ouml;glich um Kalafat zusammen und schaffen ihre Belagerungsgesch&uuml;tze heran, von denen sie zweiundsiebzig St&uuml;ck in die Walachei gebracht haben sollen. Die "London Times" sch&auml;tzt ihre Truppen auf 65.000 Mann, was etwas hoch ist, wenn wir die St&auml;rke der gesamten russischen Armee in den F&uuml;rstent&uuml;mern in Betracht ziehen. Diese Armee besteht jetzt aus sechs Divisionen Infanterie, drei Divisionen Kavallerie und ungef&auml;hr dreihundert Feldgesch&uuml;tzen neben Kosaken, Sch&uuml;tzen und anderen Spezialtruppen in einer vor Beginn des Krieges mit 120.000 Mann angegebenen Gesamtst&auml;rke. Angenommen, ihre Verluste durch Krankheit und auf dem Schlachtfeld betragen 30.000 Mann, dann bleiben ungef&auml;hr 90.000 Kampff&auml;hige. Davon werden mindestens 35.000 gebraucht, um die Donaulinie zu sch&uuml;tzen, die wichtigsten St&auml;dte besetzt zu halten und die Kommunikationen zu sichern. F&uuml;r einen Angriff auf Kalafat blieben also allerh&ouml;chstens 55.000 Mann &uuml;brig.</P>
<B><P><A NAME="S75">&lt;75&gt;</A></B> Betrachten Sie nun die Positionen der beiden Armeen. Die Russen vernachl&auml;ssigen die ganze Donaulinie, lassen die Stellung Omer Paschas bei Schumla au&szlig;er acht und lenken ihre Hauptkr&auml;fte und selbst ihre schwere Artillerie auf einen Punkt an ihrem &auml;u&szlig;ersten rechten Fl&uuml;gel, wo sie weiter von Bukarest, ihrer unmittelbaren Operationsbasis, entfernt sind als die T&uuml;rken. Ihr R&uuml;cken ist deshalb so sehr, wie nur denkbar, entbl&ouml;&szlig;t. Noch schlimmer ist, da&szlig; sie, um &uuml;berhaupt etwas R&uuml;ckendeckung zu haben, gezwungen sind, ihre Kr&auml;fte zu teilen und mit einer Streitmacht vor Kalafat zu erscheinen, die in keiner Weise so offensichtlich &uuml;berlegen ist, da&szlig; sie einen Sieg garantieren und damit ein solches Man&ouml;ver rechtfertigen k&ouml;nnte. Sie lassen an drei&szlig;ig bis vierzig Prozent ihrer Armee verstreut hinter den Hauptkr&auml;ften, und diese Truppen sind gewi&szlig; nicht in der Lage, einen entschlossenen Angriff zur&uuml;ckzuschlagen. Folglich ist weder die Eroberung Kalafats gesichert, noch sind die Kommunikationen der Belagerungsarmee au&szlig;erhalb des Gefahrenbereichs. Der Schnitzer ist so offenkundig, so kolossal, da&szlig; nur die absolute Gewi&szlig;heit der Tatsache einen Milit&auml;r zwingen kann, zu glauben, da&szlig; er begangen wurde.</P>
<P>Wenn Omer Pascha, der immer noch &uuml;ber die st&auml;rkeren Kr&auml;fte verf&uuml;gt, die Donau an einem Punkt zwischen Rustschuk und Hirsowa mit, sagen wir, siebzigtausend Mann &uuml;berschreitet, so mu&szlig; die russische Armee entweder bis zum letzten Mann vernichtet werden oder in &Ouml;sterreich Zuflucht suchen. Er hatte einen vollen Monat Zeit, solch eine Masse zu konzentrieren. Warum geht er nicht &uuml;ber einen Flu&szlig;, der nicht mehr durch Treibeis unpassierbar gemacht wird? Warum nimmt er nicht einmal seinen Br&uuml;ckenkopf bei Oltenitza wieder ein, um sich von hier aus jederzeit in Marsch setzen zu k&ouml;nnen? Es ist unm&ouml;glich, da&szlig; Omer Pascha die M&ouml;glichkeiten nicht erkennt, die die Russen ihm durch ihren beispiellosen Schnitzer geboten haben. Wie es scheint, m&uuml;ssen ihm die H&auml;nde durch die Diplomatie gebunden sein. Seine Unt&auml;tigkeit mu&szlig; als Gegenleistung angesehen werden f&uuml;r die Spazierfahrt der vereinigten Flotten im Schwarzen Meer. Die russische Armee darf nicht vernichtet oder gezwungen werden, Zuflucht in &Ouml;sterreich zu suchen, weil sonst ein Frieden durch neue Komplikationen gef&auml;hrdet w&uuml;rde. Und um dieser Intrigen und gewissenlosen T&auml;tigkeit diplomatischer Spekulanten willen mu&szlig; es Omer Pascha zulassen, da&szlig; die Russen Kalafat bombardieren, da&szlig; sie ihre ganze Armee, ihre gesamte Belagerungsartillerie seiner Gnade ausliefern, w&auml;hrend ihm nicht erlaubt ist, diese Gelegenheit auszunutzen. In der Tat, der russische Befehlshaber h&auml;tte wohl niemals versucht, auf Kalafat zu marschieren, wenn er nicht wirklich die bestimmte Garantie daf&uuml;r gehabt h&auml;tte, da&szlig; er in den Flanken und im R&uuml;cken nicht angegriffen wird. Andern- <A NAME="S76"><B>&lt;76&gt;</A></B> falls h&auml;tte er es trotz aller strengen Anweisungen verdient, auf der Stelle verurteilt und erschossen zu werden. Und wenn wir nicht durch den jetzt hier f&auml;lligen Dampfer oder sp&auml;testens in einigen Tage erfahren, da&szlig; Omer Pascha die Donau &uuml;berschritten hat und auf Bukarest marschiert, erscheint die Schlu&szlig;folgerung kaum vermeidlich, da&szlig; die Westm&auml;chte ein regelrechtes &Uuml;bereinkommen getroffen haben, Kalafat zu opfern, um den milit&auml;rischen Ehrgeiz der Russen zu befriedigen, ohne den T&uuml;rken zu erlauben, es auf die einzig wirksame Weise zu verteidigen - durch eine Offensivbewegung weiter unten an der Donau.</P>
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