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<TITLE>Friedrich Engels - Savoyen und Nizza</TITLE>
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<P ALIGN="CENTER"><A HREF="../me_ak60.htm"><FONT SIZE=2>Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen von Januar bis Dezember 1860</FONT></A></P>
<FONT SIZE=2><P>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unver&auml;nderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 560-563.</P>
<P>1. Korrektur.<BR>
Erstellt am 04.08.1998</P>
</FONT><H2>Friedrich Engels</H2>
<H1>Savoyen und Nizza</H1>
<FONT SIZE=2><P>Geschrieben um den 30. Januar 1860.<BR>
Aus dem Englischen.</P>
</FONT><P><HR></P>
<FONT SIZE=2><P>["New-York Daily Tribune" Nr. 5874 vom 21. Februar 1860, Leitartikel]</P>
</FONT><B><P><A NAME="S560">&lt;560&gt;</A></B> Gleichzeitig mit der bestimmten Versicherung des Gouverneurs von Chamb&eacute;ry, da&szlig; der K&ouml;nig von Sardinien niemals die Abtretung Savoyens an Frankreich erwogen habe, erhalten wir die vom Au&szlig;enminister Englands am 2. d.M. im Unterhaus abgegebene Erkl&auml;rung, da&szlig; das Projekt im letzten Sommer vom Grafen Walewski im Namen des Kaisers der Franzosen abgelehnt worden sei. Diese Erkl&auml;rungen von Lord John Russell beziehen sich jedoch auf eine etliche Monate zur&uuml;ckliegende Zeit, und was damals noch dementiert wurde, kann in allern&auml;chster Zeit Tatsache werden. Sicherlich ist es schwierig oder beinahe unm&ouml;glich zu glauben, da&szlig; die k&uuml;rzlich unter der Bev&ouml;lkerung von Savoyen ausgel&ouml;ste Bewegung f&uuml;r einen Anschlu&szlig; an Frankreich allein einheimischen Ursprungs ist. Sie mu&szlig; durch franz&ouml;sische Agenten gesch&uuml;rt und durch die Regierung K&ouml;nig Viktor Emanuels sanktioniert oder mindestens geduldet worden sein.</P>
<P>In der Provinz Savoyen herrscht ebenso durchweg und eindeutig die franz&ouml;sische Nationalit&auml;t vor wie in den westlichen Kantonen der Schweiz. Die Bev&ouml;lkerung spricht einen s&uuml;dfranz&ouml;sischen Dialekt (Provenzalisch oder Limousinisch). Die Schritt- und Amtssprache ist jedoch &uuml;berall Franz&ouml;sisch. Das ist aber noch lange kein Beweis daf&uuml;r, da&szlig; die Savoyarden w&uuml;nschen, von Frankreich, und obendrein von einem bonapartistischen Frankreich, annektiert zu werden. Nach den Feststellungen eines deutschen Offiziers, der im Januar 1859 eine milit&auml;rische Besichtigungsfahrt durch das Land unternahm, besitzt die franz&ouml;sische Partei nirgends nennenswerten Einflu&szlig;, au&szlig;er in Chamb&eacute;ry und den anderen St&auml;dten Niedersavoyens, w&auml;hrend Obersavoyen, Maurienne und Tarentaise lieber den gegenw&auml;rtigen Zustand beibehalten und Chablais, Faucigny und Gen&eacute;vois, die drei Nord- <A NAME="S561"><B>&lt;561&gt;</A></B> distrikte, es vorziehen w&uuml;rden, ein neuer Kanton des Schweizer Bundes zu werden. Savoyen, das durchweg franz&ouml;sisch ist, wird sich jedoch zweifellos mehr und mehr dem gro&szlig;en Zentrum der franz&ouml;sischen Nationalit&auml;t zuneigen und schlie&szlig;lich mit ihm vereinigt werden; das ist nur eine Frage der Zeit.</P>
<P>Anders ist es mit Nizza. Die Bev&ouml;lkerung der Grafschaft Nizza spricht auch einen provenzalischen Dialekt, aber hier sind Schriftsprache, Erziehung, Nationalcharakter, &uuml;berhaupt alles italienisch. Die Verwandtschaft zwischen dem oberitalienischen und dem s&uuml;dfranz&ouml;sischen Patois ist so eng, da&szlig; es fast unm&ouml;glich ist zu sagen, wo das eine aufh&ouml;rt und das andere beginnt. Auch das Patois von Piemont und der Lombardei ist in seiner Flexion durchweg provenzalisch, w&auml;hrend die Art, in der die W&ouml;rter vom Lateinischen her gebildet werden, im wesentlichen italienisch ist. Auf Grund dieses Patois auf Nizza Anspruch zu erheben ist unm&ouml;glich; infolgedessen wird es jetzt auf Grund angeblicher Sympathien f&uuml;r Frankreich gefordert, deren Vorhandensein jedoch mehr als zweifelhaft ist. Da&szlig; Nizza trotz dieser Sympathien und seines Patois durch und durch italienisch ist, daf&uuml;r gibt es keinen besseren Beweis als die Tatsache da&szlig; es den italienischen Soldaten par excellence Giuseppe Garibaldi hervorgebracht hat. Die Idee, Garibaldi zum Franzosen zu machen, ist mehr als l&auml;cherlich.</P>
<P>Rein finanziell w&uuml;rde die Abtretung dieser beiden Provinzen Piemont nicht sehr schw&auml;chen. Savoyen ist ein armes Land, das zwar die besten Soldaten in der sardinischgn Armee hervorbringt, aber niemals die Kosten seiner eigenen Verwaltung aufzubringen vermag. Nizza ist nicht viel besser dran und &uuml;berdies nur ein schmaler Landstreifen. Offensichtlich w&uuml;rde der Verlust nicht gro&szlig; sein. Nizza k&ouml;nnte, obwohl es italienisch ist, zugunsten der Vereinigung von Ober und Mittelitalien geopfert werden; und der Verlust einer fremden Provinz wie Savoyen k&ouml;nnte sogar noch als vorteilhaft angesehen werden, wen hierdurch die Chancen f&uuml;r die Einigung Italiens gef&ouml;rdert w&uuml;rden. Aber die Dinge gewinnen einen ganz anderen Aspekt, wenn man sie vom milit&auml;rischen Gesichtspunkt aus betrachtet.</P>
<P>Von Genf nach Nizza bildet die gegenw&auml;rtige Grenze zwischen Frankreich und Sardinien eine beinahe gerade Linie. Im S&uuml;den unterbricht das Meer und im Norden die neutrale Schweiz jede Verbindung. Insofern scheinen im Falle eines Krieges zwischen Italien und Frankreich die Positionen beider Parteien gleichwertig zu sein. Aber sowohl Savoyen wie Nizza liegen jenseits des Hauptkamms der Alpen, die das eigentliche Piemont in einem weiten Bogen umfassen, und beide sind gegen Frankreich hin offen. W&auml;hrend daher an der Grenze von Piemont und Frankreich jede Partei <A NAME="S562"><B>&lt;562&gt;</A></B> jeweils eine der beiden Seiten der Alpenkette h&auml;lt, besitzt Italien an den n&ouml;rdlichen und s&uuml;dlichen Grenzabschnitten beide Seiten und beherrscht dadurch die P&auml;sse vollst&auml;ndig.</P>
<P>Dazu kommt, da&szlig; alle Stra&szlig;en, die von Piemont &uuml;ber die Alpen nach Frankreich f&uuml;hren, infolge mangelnden Verkehrs v&ouml;llig vernachl&auml;ssigt wurden, w&auml;hrend die Stra&szlig;en &uuml;ber den Mont Cenis von Piemont nach Savoyen und &uuml;ber den Col di Tenda von Piemont nach Nizza Hauptstra&szlig;en des europ&auml;ischen Verkehrs sind und sich in einem ausgezeichneten Zustand befinden. Die Folge ist, da&szlig; in allen Kriegen zwischen Frankreich und Italien, wenn der Angriff von italienischer Seite erfolgte, sowohl Nizza als auch Savoyen eine nat&uuml;rliche Operationsbasis f&uuml;r einen Einfall nach Frankreich bildete, und wenn Frankreich angriff, so mu&szlig;te es erst diese beiden Provinzen erobern, ehe es das transalpine Italien &uuml;berfallen konnte. Und obwohl weder Nizza noch Savoyen von den Italienern gegen eine &uuml;berlegene Armee gehalten werden konnten, erm&ouml;glichte der Besitz dieser Gebiete doch, f&uuml;r eine Konzentration der italienischen Kr&auml;fte in den Ebenen von Piemont Zeit zu gewinnen, und diente auf diese Weise als Schutz vor &Uuml;berraschungen.</P>
<P>W&auml;re es nur die Preisgabe der milit&auml;rischen Vorteile, die sich aus dem Besitz von Savoyen und Nizza f&uuml;r Italien ergeben, so k&ouml;nnten beide Provinzen ohne irgendwelche ernsten Folgen geopfert werden. Aber die Nachteile sind weit bedeutender. Stellen wir uns einmal vor, der Mont Blanc, Mont Iseran und Mont Cenis sowie der Col di Tenda w&auml;ren gigantische steinerne Pfeiler, die die Grenze Frankreichs kennzeichnen. Die Grenze w&uuml;rde dann, statt wie jetzt eine gerade Linie zu bilden, in einem riesigen Bogen um Piemont herum verlaufen. Chamb&eacute;ry, Albertville, Moutiers, die Punkte, wo die Hauptstra&szlig;en zusammentreffen, w&uuml;rden in franz&ouml;sische Depots verwandelt. Der Nordhang des Mont Cenis w&uuml;rde von den Franzosen besetzt und befestigt, und die Vorposten der beiden Nationen st&auml;nden sich auf seinem Gipfel, zwei Tagesm&auml;rsche von Turin entfernt, gegen&uuml;ber. Im S&uuml;den w&uuml;rde Nizza das Zentrum der franz&ouml;sischen Depots bilden, und die Vorposten bef&auml;nden sich bei Oneglia, vier Tagesm&auml;rsche von Genua entfernt. So w&uuml;rden die Franzosen selbst in Friedenszeiten unmittelbar vor den Toren der beiden gr&ouml;&szlig;ten St&auml;dte Nordwestitaliens stehen und k&ouml;nnten, da ihr Territorium Piemont beinahe von drei Seiten umg&auml;be, die Konzentration einer italienischen Armee in der oberen Po-Ebene unm&ouml;glich machen. Jeder Versuch zur Konzentration der italienischen Kr&auml;fte westlich von Alessandria w&auml;re vor seinem Abschlu&szlig; einem Angriff ausgesetzt - mit anderen Worten: eine Niederlage w&uuml;rde der anderen folgen. Das Zentrum <A NAME="S563"><B>&lt;563&gt;</A></B> f&uuml;r die Verteidigung Piemonts w&uuml;rde dadurch sofort von Turin nach Alessandria verlegt; das hei&szlig;t, das eigentliche Piemont w&auml;re au&szlig;erstande, sich ernsthaft zu verteidigen, und der Gnade der Franzosen ausgeliefert. Das ist es, was Louis-Napoleon ein "freies und dankbares Italien" nennt, "das allein Frankreich seine Unabh&auml;ngigkeit verdanken wird".</P>
<P>Im Norden w&uuml;rde das, was f&uuml;r Italien eine st&auml;ndige Bedrohung bedeutet, f&uuml;r die Schweiz ein t&ouml;dlicher Schlag sein. W&uuml;rde Savoyen franz&ouml;sisch, so w&auml;re die ganze westliche Schweiz von Basel bis zum Gro&szlig;en Sankt Bernhard von franz&ouml;sischem Territorium umgeben und im Kriegsfalle nicht einen Tag zu halten. Das ist so augenscheinlich, da&szlig; der Wiener Kongre&szlig; beschlo&szlig;, Nordsavoyen ebenso wie die Schweiz zu neutralisieren und im Falle eines Krieges der Schweiz das Recht zuzubilligen, dieses Gebiet zu besetzen und zu verteidigen. Sardinien, ein armseliger Staat von vier Millionen Einwohnern, konnte gegen eine solche Regelung nichts einwenden; aber k&ouml;nnte oder w&uuml;rde Frankreich zugeben, da&szlig; ein Teil seines Territoriums auf diese Weise in milit&auml;rische Abh&auml;ngigkeit von einem anderen, noch dazu kleinerem Staat ger&auml;t? K&ouml;nnte die Schweiz im Falle eines Krieges den Versuch wagen, eine franz&ouml;sische Provinz zu besetzen und unter milit&auml;rische Kontrolle zu nehmen? Sicherlich nicht. Und dann k&ouml;nnte, wann immer es Frankreich beliebt, die ganze franz&ouml;sische Schweiz, der Bernische Jura, Neuch&acirc;tel, Waadt, Genf und so viel von Freiburg und Wallis, wie f&uuml;r ratsam gehalten w&uuml;rde, so leicht und bequem annektiert werden wie Savoyen und Nizza; und bis dahin st&uuml;nde die Schweiz genauso unter der Kontrolle und dem Einflu&szlig; Frankreichs, als ob sie ein blo&szlig;er Satellit w&auml;re. Was die Schweizer Neutralit&auml;t bei Ausbruch eines Krieges anbelangt, so w&auml;re sie im gleichen Augenblick zu Ende. Wo eine gro&szlig;e und kriegerische Macht jederzeit imstande ist, ihren neutralen Nachbarn zu zermalmen, da kann es keine Neutralit&auml;t geben.</P>
<P>Dieser so unschuldig aussehende Plan f&uuml;r die Annexion Savoyens und Nizzas bezweckt nichts anderes, als die franz&ouml;sische Hegemonie in Italien und der Schweiz herzustellen und Frankreich zum unumschr&auml;nkten Herrscher in den Alpen zu machen. Ist dieser kleine Schritt erst einmal getan, wie lange wird es dann dauern und wir konstatieren den Versuch, Frankreich auch am Rheine zum unumschr&auml;nkten Herrscher zu machen?</P>
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