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<TITLE>Rosa Luxemburg - Die Krise der Sozialdemokratie - III</TITLE>
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<!--Hier war ein unzureichend terminierter Kommentar -->
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<H2>Rosa Luxemburg - Die Krise der Sozialdemokratie</H2>
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<H1><!-- #BeginEditable "%DCberschrift" -->III.<BR>
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Das Aufkommen des Imperialismus<!-- #EndEditable --></H1>
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<HR size="1">
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<P>Allein noch tiefere Zusammenhänge und gründlichere Einsichten
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bereiteten unsere Partei darauf vor, das wahre Wesen, die wirklichen Ziele
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dieses Krieges zu durchschauen und sich von ihm in keiner Hinsicht überraschen
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zu lassen. Die Vorgänge und Triebkräfte, die zum 4. August 1914
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führten, waren keine Geheimnisse. Der Weltkrieg wurde seit Jahrzehnten
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vorbereitet, in breitester Öffentlichkeit, im hellichten Tage, Schritt
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für Schritt und Stunde um Stunde. Und wenn heute verschiedene Sozialisten
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der »Geheimdiplomatie«, die diese Teufelei hinter den Kulissen
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zusammengebraut hätte, grimmig die Vernichtung ansagen, so schreiben
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sie den armen Schelmen unverdient geheime Zauberkraft zu, wie der Botokude,
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der seinen Fetisch für den Ausbruch des Gewitters peitscht. Die sogenannten
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Lenker der Staatsgeschicke waren diesmal, wie stets, nur Schachfiguren,
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von übermächtigen historischen Vorgängen und Verlagerungen
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in der Erdrinde der bürgerlichen Gesellschaft geschoben. Und wenn
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jemand diese Vorgänge und Verlagerungen die ganze Zeit über mit
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klarem Auge zu erfassen bestrebt und fähig war, so war es die deutsche
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Sozialdemokratie.</P>
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<P>Zwei Linien der Entwicklung in der jüngsten Geschichte führen
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schnurgerade zu dem heutigen Kriege. Eine leitet noch von der Periode der
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Konstituierung der sogenannten Nationalstaaten, das heißt der modernen
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kapitalistischen Staaten, vom Bismarckschen Kriege gegen Frankreich her.
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Der Krieg von 1870, der durch die Annexion Elsaß-Lothringens die
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französische Republik in die Arme Rußlands geworfen, die Spaltung
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Europas in zwei feindliche Lager und die Ära des wahnwitzigen Wettrüstens
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eröffnet hat, schleppte den ersten Zündstoff zum heutigen Weltbrande
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herbei. Noch während Bismarcks Truppen in Frankreich standen, schrieb
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<B>Marx</B> an den Braunschweiger Ausschuß:</P>
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<P><SMALL>»Wer nicht ganz vom Geschrei des Augenblicks übertäubt
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ist, oder ein Interesse hat, das deutsche Volk zu übertäuben,
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muß einsehen, daß der Krieg von 1870 ganz so notwendig einen
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Krieg zwischen Deutschland und Rußland im Schoße trägt,
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wie der Krieg von 1866 den Krieg von 1870. Ich sage notwendig, unvermeidlich,
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außer im unwahrscheinlichen Falle eines vorherigen Ausbruchs einer
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Revolution in Rußland. Tritt dieser unwahrscheinliche Fall nicht
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ein, so muß der Krieg zwischen Deutschland und Rußland schon
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jetzt als un fait accompli [eine vollendete Tatsache] behandelt werden.
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Es hängt ganz vom jetzigen Verhalten der deutschen Sieger ab, ob dieser
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Krieg nützlich oder schädlich. Nehmen sie Elsaß und Lothringen,
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so wird Frankreich mit Rußland Deutschland bekriegen. Es ist überflüssig,
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die unheilvollen Folgen zu deuten.«</SMALL>
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</P>
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<P>Diese Prophezeiung wurde damals verlacht; man hielt das Band, das Preußen
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mit Rußland verknüpfte, für so stark, daß es als
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Wahnsinn galt, auch nur daran zu denken, das autokratische Rußland
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könnte sich mit dem republikanischen Frankreich verbünden. Die
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Vertreter dieser Auffassung wurden als reine Tollhäusler hingestellt.
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Und doch ist alles, was Marx vorausgesagt hat, bis zum letzten Buchstaben
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eingetroffen. »Das ist eben« ­ sagt Auer in seiner »Sedanfeier« ­ »sozialdemokratische Politik, die klar sieht, was ist, und sich
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darin von jener Alltagspolitik unterscheidet, welche blind vor jedem Erfolg
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sich auf den Bauch wirft.« </P>
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<P>Allerdings darf der Zusammenhang nicht in der Weise aufgefaßt
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werden, als ob die seit 1870 fällige Vergeltung für den Bismarckschen
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Raub nunmehr Frankreich wie ein unabwendbares Schicksal zur Kraftprobe
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mit dem Deutschen Reich getrieben hätte, als ob der heutige Weltkrieg
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in seinem Kern die viel verschriene »Revanche« für Elsaß-Lothringen
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wäre. Dies die bequeme nationalistische Legende der deutschen Kriegshetzer,
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die von dem finsteren rachebrütenden Frankreich fabeln, das seine
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Niederlage »nicht vergessen konnte«, wie die Bismarckschen Preßtrabanten
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im Jahre 1866 von der entthronten Prinzessin Österreich fabelten,
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die ihren ehemaligen Vorrang vor dem reizenden Aschenbrödel Preußen »nicht vergessen konnte«. In Wirklichkeit war die Rache für
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Elsaß-Lothringen nur noch theatralisches Requisit einiger patriotischer
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Hanswürste, der »Lion de Belfort« ein altes Wappentier geworden.</P>
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<P>In der Politik Frankreichs war die Annexion längst überwunden,
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von neuen Sorgen überholt, und weder die Regierung noch irgendeine
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ernste Partei in Frankreich dachte an einen Krieg mit Deutschland wegen
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der Reichslande. Wenn das Bismarcksche Vermächtnis der erste Schritt
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zu dem heutigen Weltbrand wurde, so vielmehr in dem Sinne, daß es
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einerseits Deutschland wie Frankreich und damit ganz Europa auf die abschüssige
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Bahn des militärischen Wettrüstens gestoßen, andererseits
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das Bündnis Frankreichs mit Rußland und Deutschlands mit Österreich
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als unabwendbare Konsequenz herbeigeführt hat. Damit war dort eine
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außerordentliche Stärkung des russischen Zarismus als Machtfaktor
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der europäischen Politik gegeben ­ begann doch gerade seitdem
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das systematische Wettkriechen zwischen Preußen-Deutschland und der
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französischen Republik um die Gunst Rußlands ­, hier war
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die politische Zusammenkoppelung des Deutschen Reichs mit Österreich-Ungarn
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bewirkt; dessen Krönung, wie die angeführten Worte des deutschen
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||
Weißbuchs zeigen, die »Waffenbrüderschaft« im heutigen
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Krieg ist.
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<P></P>
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<P>So hat der Krieg von 1870 in seinem Gefolge die äußere politische
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Gruppierung Europas um die Achse des deutsch-französischen Gegensatzes
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wie die formale Herrschaft des Militarismus im Leben der europäischen
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Völker eingeleitet. Diese Herrschaft und jene Gruppierung hat die
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geschichtliche Entwicklung aber seitdem mit einem ganz neuen Inhalt gefüllt.
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Die zweite Linie, die im heutigen Weltkrieg mündet und die Marxens
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Prophezeiung so glänzend bestätigt, rührt von Vorgängen
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internationaler Natur her, die Marx nicht mehr erlebt hat: von der imperialistischen
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Entwicklung der letzten 25 Jahre.</P>
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<P>Der kapitalistische Aufschwung, der nach der Kriegsperiode der sechziger
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und siebziger Jahre in dem neukonstituierten Europa Platz gegriffen und
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der namentlich nach Überwindung der langen Depression, die dem Gründerfieber
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und dem Krach des Jahres 1873 gefolgt war, in der Hochkonjunktur der neunziger
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Jahre einen nie dagewesenen Höhepunkt erreicht hatte, eröffnete
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bekanntlich eine neue Sturm- und Drangperiode der europäischen Staaten:
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ihre Expansion um die Wette nach den nichtkapitalistischen Ländern
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und Zonen der Welt. Schon seit den achtziger Jahren macht sich ein neuer
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besonders energischer Drang nach Kolonialeroberungen geltend. England bemächtigt
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sich Ägyptens und schafft sich in Südafrika ein gewaltiges Kolonialreich,
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Frankreich besetzt Tunis in Nordafrika und Tonkin in Ostasien, Italien
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faßt Fuß in Abessinien, Rußland bringt in Zentralasien
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seine Eroberungen zum Abschluß und dringt in der Mandschurei vor,
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||
Deutschland erwirbt in Afrika und der Südsee die ersten Kolonien,
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endlich treten auch die Vereinigten Staaten in den Reigen und erwerben
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mit den Philippinen »Interessen« in Ostasien. Diese Periode der
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fieberhaften Zerpflückung Afrikas und Asiens, die, von dem chinesisch-japanischen
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Krieg im Jahre 1895 an, fast eine ununterbrochene Kette blutiger Kriege
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entfesselte, gipfelt in dem großen Chinafeldzug und schließt
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mit dem russisch-japanischen Kriege des Jahres 1904 ab.</P>
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<P>Alle diese Schlag auf Schlag erfolgten Vorgänge schufen neue außereuropäische
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Gegensätze nach allen Seiten: zwischen Italien und Frankreich in Nordafrika,
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zwischen Frankreich und England in Ägypten, zwischen England und Rußland
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in Zentralasien, zwischen Rußland und Japan in Ostasien, zwischen
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Japan und England in China, zwischen den Vereinigten Staaten und Japan
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im Stillen Ozean ­ ein bewegliches Meer, ein Hin- und Herwogen von
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scharfen Gegensätzen und vorübergehenden Allianzen, von Spannungen
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und Entspannungen, bei denen alle paar Jahre ein partieller Krieg zwischen
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den europäischen
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Mächten auszubrechen drohte, aber immer wieder
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hinausgeschoben wurde. Es war daraus für jedermann klar: 1. daß
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der heimliche, im stillen arbeitende Krieg aller kapitalistischen Staaten
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gegen alle auf dem Rücken asiatischer und afrikanischer Völker
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früher oder später zu einer Generalabrechnung führen, daß
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der in Afrika und Asien gesäte Wind einmal nach Europa als fürchterlicher
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Sturm zurückschlagen mußte, um so mehr, als der ständige
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Niederschlag der asiatischen und afrikanischen Vorgänge die steigenden
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Rüstungen in Europa waren, 2. daß der europäische Weltkrieg
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zur Entladung kommen würde, sobald die partiellen und abwechselnden
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||
Gegensätze zwischen den imperialistischen Staaten eine Zentralisationsachse,
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<B>einen</B> überwiegenden starken Gegensatz finden würden, um
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den sie sich zeitweilig gruppieren können. Diese Lage wurde geschaffen
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mit dem Auftreten des deutschen Imperialismus.
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<P></P>
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<P>In Deutschland kann das Aufkommen des Imperialismus, das auf die kürzeste
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Zeitspanne zusammengedrängt ist, in Reinkultur beobachtet werden.
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Der beispiellose Aufschwung der Großindustrie und des Handels seit
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der Reichsgründung hat hier in den achtziger Jahren zwei charakteristische
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eigenartige Formen der Kapitalakkumulation hervorgebracht: die stärkste
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Kartellentwicklung Europas und die größte Ausbildung sowie Konzentration
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des Bankwesens in der ganzen Welt. Jene hat die Schwerindustrie, das heißt
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gerade den an Staatslieferungen, an militärischen Rüstungen wie
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an imperialistischen Unternehmungen (Eisenbahnbau, Ausbeutung von Erzlagern
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usw.) unmittelbar interessierten Kapitalzweig zum einflußreichsten
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Faktor im Staate organisiert. Dieses hat das Finanzkapital zu einer geschlossenen
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||
Macht von größter, stets gespannter Energie zusammengepreßt,
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zu einer Macht, die gebieterisch schaltend und waltend in Industrie, Handel
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und Kredit des Landes, gleich ausschlaggebend in Privat- wie in Staatswirtschaft,
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schrankenlos und sprunghaft ausdehnungsfähig, immer nach Profit und
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Betätigung hungernd, unpersönlich, daher großzügig,
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wagemutig und rücksichtslos, international von Hause aus, ihrer ganzen
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||
Anlage nach auf die Weltbühne als den Schauplatz ihrer Taten zugeschnitten
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war.</P>
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<P>Fügt man hierzu das stärkste, in seinen politischen Initiativen
|
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sprunghafteste persönliche Regiment und den schwächsten, jeder
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||
Opposition unfähigen Parlamentarismus, dazu alle bürgerlichen
|
||
Schichten im schroffen Gegensatz zur Arbeiterklasse zusammengeschlossen
|
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und hinter der Regierung verschanzt, so konnte man voraussehen, daß
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dieser junge, kraftstrotzende, von keinerlei Hemmungen beschwerte Imperialismus,
|
||
der auf die Weltbühne mit ungeheuren Appetiten trat, als die Welt
|
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bereits so gut wie verteilt war, sehr rasch zum unberechenbaren Faktor
|
||
der allgemeinen Beunruhigung werden mußte.</P>
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<P>Dies kündigte sich bereits durch den radikalen Umschwung in der
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||
militärischen Politik des Reiches Ende der neunziger Jahre an, mit
|
||
den beiden einander überstürzenden Flottenvorlagen der Jahre
|
||
1898 und 1899, die in beispielloser Weise auf plötzliche Verdoppelung
|
||
der Schlachtflotte, einen gewaltigen, nahezu auf zwei Jahrzehnte berechneten
|
||
Bauplan der Seerüstungen bedeuteten. Dies war nicht bloß eine
|
||
weitgreifende Umgestaltung der Finanzpolitik und der Handelspolitik des
|
||
Reiches ­ der Zolltarif des Jahres 1902 war nur der Schatten, der den
|
||
beiden Flottenvorlagen folgte ­ in weiterer logischer Konsequenz der
|
||
Sozialpolitik und der ganzen inneren Klassen- und Parteiverhältnisse.
|
||
Die Flottenvorlagen bedeuteten vor allem einen demonstrativen Wechsel im
|
||
Kurs der auswärtigen Politik des Reiches, wie sie seit der Reichsgründung
|
||
maßgebend war. Während die Bismarcksche Politik auf dem Grundsatz
|
||
basierte, daß das Reich eine Landmacht sei und bleiben müsse,
|
||
die deutsche Flotte aber höchstens als überflüssiges Requisit
|
||
der Küstenverteidigung gedacht war ­ erklärte doch der Staatssekretär
|
||
Hollmann selbst im März 1897 in der Budgetkommission des Reichstags: »Für den Küstenschutz brauchen wir gar keine Marine; die
|
||
Küsten schützen sich von selbst« -, wurde jetzt ein ganz
|
||
neues Programm aufgestellt: Deutschland sollte zu Lande und zur See die
|
||
erste Macht werden. Damit war die Wendung von der Bismarckschen kontinentalen
|
||
Politik zur Weltpolitik, von der Verteidigung zum Angriff als Ziel der
|
||
Rüstungen gegeben. Die Sprache der Tatsachen war so klar, daß
|
||
im Deutschen Reichstag selbst der nötige Kommentar geliefert wurde.
|
||
Der damalige Führer des Zentrums, Lieber, sprach schon am 11. März
|
||
1896, nach der bekannten Rede des Kaisers beim fünfundzwanzigsten
|
||
Jubiläum des Deutschen Reiches, die als Vorbote der Flottenvorlagen
|
||
das neue Programm entwickelt hatte, von uferlosen Flottenplänen«,
|
||
gegen die man sich entschieden verwahren müsse. Ein anderer Zentrumsführer,
|
||
Schädler, rief im Reichstag am 23. März 1898 bei der ersten Flottenvorlage: »Das Volk hat die Anschauung, wir können nicht die erste Macht
|
||
zu Lande und die erste Macht zur See sein. Wenn mir soeben zugerufen wird,
|
||
das wollen wir gar nicht ­ ja, meine Herren, Sie sind am Anfange davon;
|
||
und zwar an einem sehr dicken Anfang.« Und als die zweite Vorlage
|
||
kam, erklärte derselbe Schädler im Reichstag am 8. Februar 1900,
|
||
nachdem er auf all die früheren Erklärungen, daß man an
|
||
keine neue Flottenvorlage denke, hingewiesen hatte: »Und heute diese
|
||
Novelle, <B>die nichts mehr und nichts weniger inauguriert, als die Schaffung
|
||
der Weltflotte, als Unterlage der Weltpolitik</B>, durch Verdoppelung unserer
|
||
Flotte unter Bindung auf fast zwei Jahrzehnte hinaus.« Übrigens
|
||
sprach die Regierung selbst das politische Programm des neuen Kurses offen
|
||
aus: am 11. Dezember 1899 sagte von Bülow, damals Staatssekretär
|
||
des Auswärtigen Amtes, bei der Begründung der zweiten Flottenvorlage:
|
||
Wenn die Engländer von einem greater Britain [größeren
|
||
Britannien], wenn die Franzosen von einer nouvelle France [neuen Frankreich]
|
||
reden, wenn die Russen sich Asien erschließen, haben auch wir Anspruch
|
||
auf <B>ein größeres Deutschland</B>... Wenn wir uns nicht eine
|
||
Flotte schaffen, die ausreicht, unseren Handel und unsere Landsleute in
|
||
der Fremde, unsere Missionen und
|
||
die Sicherheit unserer Küsten zu
|
||
schützen, so gefährden wir die vitalsten Interessen des Landes ...
|
||
In dem kommenden Jahrhundert wird das deutsche Volk <B>Hammer oder Amboß
|
||
sein</B>.« Streifte man die Redefloskeln von dem Küstenschutz,
|
||
den Missionen und dem Handel ab, so bleibt das lapidare Programm: Größeres
|
||
Deutschland, Politik des Hammers für andere Völker.
|
||
<P></P>
|
||
<P>Gegen wen sich diese Provokationen in erster Linie richteten, war allen
|
||
klar: die neue aggressive Flottenpolitik sollte Deutschland zum Konkurrenten
|
||
der ersten Seemacht, Englands, machen. Und sie ist auch nicht anders in
|
||
England verstanden worden. Die Flottenreform und die Programmreden, die
|
||
sie begleiteten, riefen in England die größte Beunruhigung hervor,
|
||
die seitdem nicht nachgelassen hat. Im März 1910 sagte im englischen
|
||
Unterhause Lord Robert Cecil bei der Flottendebatte wieder: er fordere
|
||
jedermann heraus, irgendeinen denkbaren Grund dafür anzugeben, daß
|
||
Deutschland eine riesige Flotte baue, es sei denn, daß damit beabsichtigt
|
||
werde, einen Kampf mit England aufzunehmen. Der Wettkampf zur See, der
|
||
auf beiden Seiten seit anderthalb Jahrzehnten dauerte, zuletzt der fieberhafte
|
||
Bau von Dreadnoughts und Überdreadnoughts, das war bereits der Krieg
|
||
zwischen Deutschland und England. Die Flottenvorlage vom 11. Dezember 1899
|
||
war eine Kriegserklärung Deutschlands, die England am 4. August 1914
|
||
quittierte.</P>
|
||
<P>Wohlgemerkt hatte dieser Kampf zur See nicht das geringste gemein mit
|
||
einem wirtschaftlichen Konkurrenzkampf um den Weltmarkt. »Das englische
|
||
Monopol« auf dem Weltmarkt, das angeblich die kapitalistische Entwicklung
|
||
Deutschlands einschnürte und von dem heute so viel gefaselt wird,
|
||
gehört in das Reich der patriotischen Kriegslegenden, die auch auf
|
||
die immergrimmige französische »Revanche« nicht verzichten
|
||
können. Jenes »Monopol« war schon seit den achtziger Jahren
|
||
zum Schmerz englischer Kapitalisten ein Märchen aus alten Zeiten geworden.
|
||
Die industrielle Entwicklung Frankreichs, Belgiens, Italiens, Rußlands,
|
||
Indiens, Japans, vor allem aber Deutschlands und der Vereinigten Staaten
|
||
hatte jenem Monopol aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und
|
||
bis in die sechziger Jahre ein Ende bereitet. Neben England trat in den
|
||
letzten Jahrzehnten ein Land nach dem anderen auf den Weltmarkt, der Kapitalismus
|
||
entwickelte sich naturgemäß und mit Sturmschritt zur kapitalistischen
|
||
Weltwirtschaft.</P>
|
||
<P>Die englische Seeherrschaft aber, die heute sogar manchen deutschen
|
||
Sozialdemokraten den ruhigen Schlaf raubt und deren Zertrümmerung
|
||
nach diesen Braven für das Wohlergehen des internationalen Sozialismus
|
||
dringend notwendig erscheint, diese Seeherrschaft ­ eine Folge der
|
||
Ausdehnung des britischen Reichs auf fünf Weltteile - störte
|
||
den deutschen Kapitalismus bisher so wenig, daß dieser vielmehr unter
|
||
ihrem »Joch« mit unheimlicher Schnelligkeit zu einem ganz robusten
|
||
Burschen mit drallen Backen aufgewachsen ist. Ja, gerade England selbst
|
||
und seine Kolonien sind der wichtigste Eckstein des deutschen großindustriellen
|
||
Aufschwungs, wie auch umgekehrt Deutschland für das britische Reich
|
||
der wichtigste und unentbehrliche Abnehmer geworden ist. Weit entfernt,
|
||
einander im Wege zu stehen, sind die britische und die deutsche großkapitalistische
|
||
Entwicklung aufs höchste aufeinander angewiesen und in einer weitgehenden
|
||
Arbeitsteilung aneinander gekettet, was namentlich durch den englischen
|
||
Freihandel in weitestem Maße begünstigt wird. Der deutsche Warenhandel
|
||
und dessen Interessen auf dem Weltmarkt hatten also mit dem Frontwechsel
|
||
in der deutschen Politik und mit dem Flottenbau gar nichts zu tun.
|
||
<P></P>
|
||
<P>Ebensowenig führte der bisherige deutsche Kolonialbesitz an sich
|
||
zu einem gefährlichen Weltgegensatz und zur Seekonkurrenz mit England.
|
||
Die deutschen Kolonien bedurften keiner ersten Seemacht zu ihrem Schutze,
|
||
weil sie bei ihrer Beschaffenheit kaum jemand, England am wenigsten, dem
|
||
Deutschen Reich neidete. Daß sie jetzt im Kriege von England und
|
||
Japan weggenommen worden sind, daß der Raub den Besitzer wechselt,
|
||
ist eine übliche Maßnahme und Wirkung des Krieges, so gut wie
|
||
jetzt der Appetit der deutschen Imperialisten ungestüm nach Belgien
|
||
schreit, ohne daß vorher, im Frieden, ein Mensch, der nicht ins Irrenhaus
|
||
gesperrt werden wollte, den Plan hätte entwickeln dürfen, Belgien
|
||
zu schlucken. Um Südost- und Südwestafrika, um das Wilhelmsland
|
||
oder um Tsingtau wäre es nie zu einem Krieg zu Lande oder zur See
|
||
zwischen Deutschland und England gekommen, war doch knapp vor dem Ausbruch
|
||
des heutigen Krieges zwischen Deutschland und England sogar ein Abkommen
|
||
fix und fertig, das eine gütliche Verteilung der portugiesischen Kolonien
|
||
in Afrika zwischen den beiden Mächten einleiten sollte.</P>
|
||
<P>Die Entfaltung der Seemacht und des weltpolitischen Paniers auf deutscher
|
||
Seite kündigte also neue und großartige Streifzüge des
|
||
deutschen Imperialismus in der Welt an. Es wurde mit der erstklassigen aggressiven
|
||
Flotte und mit den parallel zu ihrem Ausbau einander überstürzenden
|
||
Heeresvergrößerungen erst ein Apparat für künftige
|
||
Politik geschaffen, deren Richtung und Ziele unberechenbaren Möglichkeiten
|
||
Tür und Tor öffneten. Der Flottenbau und die Rüstungen wurden
|
||
an sich zum grandiosen Geschäft der deutschen Großindustrie,
|
||
sie eröffneten zugleich unbegrenzte Perspektiven für die weitere
|
||
Operationslust des Kartell- und Bankkapitals in der weiten Welt. Damit
|
||
war das Einschwenken sämtlicher bürgerlicher Parteien unter die
|
||
Fahne des Imperialismus gesichert. Dem Beispiel der Nationalliberalen als
|
||
des Kerntrupps der imperialistischen Schwerindustrie folgte das Zentrum,
|
||
das gerade mit der Annahme der von ihm so laut denunzierten weltpolitischen
|
||
Flottenvorlage im Jahre 1900 definitiv zur Regierungspartei wurde; dem
|
||
Zentrum trabte bei dem Nachzügler des Flottengesetzes - dem Hungerzolltarif
|
||
­ der Freisinn nach; die Kolonne schloß das Junkertum, das sich
|
||
aus einem trutzigen Gegner der »gräßlichen Flotte« und des Kanalbaus zum eifrigen
|
||
Krippenreiter und Parasiten des Wassermilitarismus,
|
||
des Kolonialraubs und der mit ihnen verbundenen Zollpolitik bekehrt hatte.
|
||
Die Reichstagswahlen von 1907, die sogenannten Hottentottenwahlen,
|
||
enthüllten das ganze bürgerliche Deutschland in einem Paroxismus
|
||
der imperialistischen Begeisterung unter einer Fahne fest zusammengeschlossen,
|
||
das Deutschland von Bülows, das sich berufen fühlt, als Hammer
|
||
der Welt aufzutreten. Und auch diese Wahlen - mit ihrer geistigen Pogromatmosphäre
|
||
­ ein Vorspiel zu dem Deutschland des 4. August ­ waren eine Herausforderung
|
||
nicht bloß an die deutsche Arbeiterklasse, sondern an die übrigen
|
||
kapitalistischen Staaten, eine gegen niemand im besonderen, aber gegen
|
||
alle insgesamt ausgestreckte geballte Faust.
|
||
<P></P>
|
||
<!-- #EndEditable -->
|
||
<HR size="1" align="left" width="200">
|
||
<P><SMALL>Quelle: »die nicht mehr existierende Website "Unser Kampf" auf fr<66>her "http://felix2.2y.net/deutsch/index.html"«<BR>
|
||
Pfad: »../lu/«<BR>
|
||
Verknüpfte Dateien: »<A href="http://www.mlwerke.de/css/format.css">../css/format.css</A>«</SMALL>
|
||
<HR size="1">
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|
||
<TR>
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