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2022-08-25 20:29:11 +02:00

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<title>"Neue Rheinische Zeitung" - Die Antwerpener Todesurteile</title>
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<p align="center"><a href="me05_376.htm"><font size="2">Vermittlung und Intervention. Radetzky
und Cavaignac</font></a> <font size="2">|</font> <a href="../me_nrz48.htm"><font size=
"2">Inhalt</font></a> <font size="2">|</font> <a href="me05_382.htm"><font size="2">Der
Konflikt zwischen Marx und der preu&szlig;ischen Untertanenschaft</font></a></p>
<small>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 5, S. 378-381<br>
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1959</small><br>
<br>
<h1>Die Antwerpner Todesurteile</font></p>
<p><font size="2">["Neue Rheinische Zeitung" Nr. 93 vom 3. September 1848]</font></p>
<p><b><a name="S378">&lt;378&gt;</a></b> **<i>K&ouml;ln,</i> 2. September. Der konstitutionelle
Musterstaat Belgien hat einen neuen gl&auml;nzenden Beweis f&uuml;r die Vortrefflichkeit seiner
Institutionen geliefert. <i>Siebzehn Todesurteile</i> aus Veranlassung der l&auml;cherlichen
Geschichte von Risquons-Tout! Siebzehn Todesurteile, um die Schmach zu r&auml;chen, die einige
Unbesonnene, einige hoffnungsvolle Toren der pr&uuml;den belgischen Nation angetan, als sie
einen kleinen Zipfel ihres konstitutionellen Mantels zu l&uuml;ften versuchten! Siebzehn
Todesurteile - welche Brutalit&auml;t!</p>
<p>Man kennt die Geschichte von Risquons-Tout. Belgische Arbeiter taten sich in Paris zusammen,
um eine republikanische Invasion in ihr Vaterland zu versuchen. Belgische Demokraten kamen von
Br&uuml;ssel und unterst&uuml;tzten das Unternehmen. Ledru-Rollin f&ouml;rderte es, soviel er
konnte. Lamartine, der "edelherzige" Verr&auml;ter, der sch&ouml;ne Worte und erb&auml;rmliche
Taten f&uuml;r die fremden nicht minder wie f&uuml;r die franz&ouml;sischen Demokraten hatte,
Lamartine, der sich r&uuml;hmt, mit der Anarchie konspiriert zu haben wie der Blitzableiter mit
der Wetterwolke, Lamartine unterst&uuml;tzte zuerst die belgische Legion, um sie sp&auml;ter
desto sicherer zu verraten. Die Legion zog aus. Delescluze, Regierungskommissar im
Norddepartement, <i>verkaufte</i> die erste Kolonne an belgische Eisenbahnbeamte; der Zug, der
sie f&uuml;hrte, wurde durch Verrat auf belgischen Boden mitten in die belgischen Bajonette
geschleppt. Die zweite Kolonne, angef&uuml;hrt von <i>drei belgischen Spionen</i> (ein Mitglied
der Pariser provisorischen Regierung hat es uns selbst gesagt, und die Prozedur best&auml;tigt
es), wurde von ihren verr&auml;terischen Anf&uuml;hrern in einen Wald auf belgischem Gebiet
gef&uuml;hrt, wo die geladenen Kanonen in sicherm Hinterhalt ihrer warteten; sie wurde
zusammengeschossen und gr&ouml;&szlig;tenteils gefangen.</p>
<p>Diese winzige, durch die vielen Verr&auml;tereien und durch die ihr in Belgien gegebenen
Dimensionen komische Episode der Revolutionen von 1848 diente dem Br&uuml;sseler Parquet zur
Leinwand, um darauf die kolossalste Verschw&ouml;rung <a name="S379"><b>&lt;379&gt;</b></a> zu
sticken, die je stattgefunden. Der Befreier Antwerpens, der alte General Mellinet, Tedesco,
Balliu, kurz, die entschiedensten, die t&auml;tigsten Demoktaten von Br&uuml;ssel, L&uuml;ttich
und Gent wurden hineinverwickelt. Herr Bavay w&uuml;rde sogar Jottrand von Br&uuml;ssel
hineingezogen haben, wenn nicht Herr Jottrand Dinge w&uuml;&szlig;te und Papiere
bes&auml;&szlig;e, deren Ver&ouml;ffentlichung die ganze belgische Regierung, den weisen
Leopold nicht ausgeschlossen, aufs schm&auml;hlichste kompromittieren w&uuml;rde.</p>
<p>Und warum diese Verhaftungen von Demokraten, warum die monstr&ouml;seste aller Prozeduren
gegen Leute, die der ganzen Sache ebenso fremd waren wie die Geschwornen, vor die sie gestellt
wurden? Um der belgischen B&uuml;rgerschaft Furcht zu machen und unter dem Schutz dieser Furcht
die &uuml;berm&auml;&szlig;igen Steuern und Zwangsanleihen einzutreiben, die den Kitt des
glorreichen belgischen Staatsgeb&auml;udes bilden und mit deren Zahlung es sehr schlecht
aussah!</p>
<p>Genug. Man stellte die Angeklagten vor die Antwerpener Geschwornen, vor die Elite jener
fl&auml;mischen Faronaturen &lt;Biertrinkernaturen (Faro - ein billiges Braunbier)&gt;, denen
der Schwung des franz&ouml;sischen politischen Devouements ebenso fremd ist wie die ruhige
Sicherheit des gro&szlig;artigen englischen Materialismus, vor jene Stockfischh&auml;ndler, die
im kleinb&uuml;rgerlichsten N&uuml;tzlichkeitskram, in der kurzsichtigsten, schreckhaftesten
Profitmacherei lebensl&auml;nglich dahinvegetieren. Der gro&szlig;e Bavay kannte seine Leute
und appellierte an ihre Furcht.</p>
<p>In der Tat, hatte man in Antwerpen jemals einen Republikaner gesehen? Jetzt standen
zweiunddrei&szlig;ig dieser Ungeheuer vor den erschreckten Antwerpnern; und die bebenden
Geschwornen, zusammen mit dem weisen Gerichtshof, &uuml;berliefern siebzehn der Angeklagten der
Milde der Artikel 86 und folgende des Code p&eacute;nal, d.h. dem Tode.</p>
<p>Auch in der Schreckenszeit von 1793 haben Scheinprozesse stattgefunden, sind Verurteilungen
vorgekommen, denen andere Tatsachen zum Grunde lagen als die offiziell vorgebrachten; aber
einen so durch plumpe Unversch&auml;mtheit des L&uuml;gens, durch blinden Parteiha&szlig;
ausgezeichneten Proze&szlig; hat selbst der Fanatiker Fouquier-Tinville nicht gef&uuml;hrt. Und
herrscht etwa in Belgien der B&uuml;rgerkrieg, steht halb Europa an seinen Grenzen und
konspiriert mit den Rebellen, wie dies 1793 in Frankreich geschah? Ist das Vaterland in Gefahr?
Hat die Krone einen Ri&szlig; bekommen? - Im Gegenteil, niemand denkt daran, Belgien zu
unterjochen, und der weise Leopold f&auml;hrt noch t&auml;glich ohne Eskorte von Laeken nach
Br&uuml;ssel und von Br&uuml;ssel nach Laeken!</p>
<p><b><a name="S380">&lt;380&gt;</a></b> Was hatte der alte 81j&auml;hrige Mellinet getan,
da&szlig; ihn Jury und Richter zum Tode verurteilten? Der alte Soldat der franz&ouml;sischen
Republik hatte 1831 den letzten Schimmer der belgischen Ehre gerettet; er hatte Antwerpen
befreit, und daf&uuml;r verurteilt ihn Antwerpen zum Tode! Seine ganze Schuld bestand darin,
da&szlig; er einen alten Freund, Becker, vor den Verd&auml;chtigungen der belgischen
offiziellen Presse sch&uuml;tzte und ihn, auch w&auml;hrend er in Paris konspirierte, nicht aus
seinem freundlichen Andenken ausschlo&szlig;. Mit der Konspiration hatte er nicht das geringste
zu tun. Und daf&uuml;r wird er ohne weiteres zum Tode verurteilt.</p>
<p>Und Balliu! Er war ein Freund Mellinets, er hatte ihn h&auml;ufig besucht, er war mit
Tedesco in einem Estaminet &lt;kleines kaffehaus oder Restaurant&gt; gesehen worden. Grund
genug, ihn zum Tode zu verurteilen.</p>
<p>Und Tedesco vollends! Wie, war er nicht im deutschen Arbeiterverein gewesen, stand er nicht
mit Leuten in Verbindung, denen die belgische Polizei Theaterdolche untergeschoben hatte? Hatte
man ihn nicht mit Balliu in einem Estaminet gesehen? Die Sache war bewiesen, Tedesco hatte die
V&ouml;lkerschlacht von Risquons-Tout provoziert - aufs Schafott mit ihm!</p>
<p>Und so mit den andern.</p>
<p>Wir sind stolz darauf, mehr als einen dieser "Verschw&ouml;rer", die aus keinem andern
Grunde zum Tode verurteilt wurden, als weil sie Demokraten sind, unsern Freund nennen zu
d&uuml;rfen. Und wenn die feile belgische Presse sie mit Schmutz bewirft, so wollen wir
wenigstens ihre Ehre vor der deutschen Demokratie retten; wenn ihr Vaterland sie verleugnet, so
wollen wir uns zu ihnen bekennen.</p>
<p>Als der Pr&auml;sident das Todesurteil &uuml;ber sie aussprach, brachen sie in den
st&uuml;rmischen Ruf aus: "Es lebe die Republik!" Sie haben sich w&auml;hrend der ganzen
Prozedur wie bei Verk&uuml;ndigung des Urteils mit echt revolution&auml;rer
Unersch&uuml;tterlichkeit benommen.</p>
<p>Und nun h&ouml;re man dagegen die Sprache der elenden belgischen Presse:</p>
<p><font size="2">"Der Urteilsspruch", sagt das "Journal d'Anvers", "macht nicht mehr Sensation
in der Stadt als der ganze Proze&szlig;, der fast gar kein Interesse erregte. Nur in den
arbeitenden Klassen" (lies: Lumpenproletariat) "ist ein den Paladinen der Republik feindliches
Gef&uuml;hl zu entdecken; die &uuml;brige Bev&ouml;lkerung k&uuml;mmert sich kaum darum;
f&uuml;r sie scheint die L&auml;cherlichkeit des Revolutionsversuchs nicht einmal verwischt
durch ein Todesurteil, an dessen Vollstreckung ohnehin niemand glaubt."</font></p>
<p>Nat&uuml;rlich, w&uuml;rde den Antwerpnern das interessante Schauspiel gegeben, <a name=
"S381"><b>&lt;381&gt;</b></a> siebzehn Republikaner, den alten Mellinet, ihren Retter, an der
Spitze, guillotinieren zu sehen, dann w&uuml;rden sie sich schon um den Proze&szlig;
k&uuml;mmern!</p>
<p>Als ob nicht gerade darin die Brutalit&auml;t der belgischen Regierung, der belgischen
Geschwornen und Gerichtsh&ouml;fe best&auml;nde, da&szlig; sie mit Todesurteilen spielen!</p>
<p><font size="2">"Die Regierung", sagt der Lib&eacute;ral Li&eacute;geois", "hat sich
<i>stark</i> zeigen wollen, sie hat es nur bis zur <i>Brutalit&auml;t</i> gebracht."</font></p>
<p>Und das ist allerdings das Los der fl&auml;mischen Nation von jeher gewesen.</p>
<p><font size="2">Geschrieben von Friedrich Engels.</font></p>
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</html>