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2022-08-25 20:29:11 +02:00

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<TITLE>Karl Marx - Rede auf dem Polenmeeting in London am 22. Januar 1867</TITLE>
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<P ALIGN="CENTER"><A HREF="../me_ak67.htm"><FONT SIZE=2>Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1867</FONT></A></P>
<FONT SIZE=2><P>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 16, 6. Auflage 1975, unver&auml;nderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 200-204.</P>
<P>1. Korrektur.<BR>
Erstellt am .</P>
</FONT><H2>Karl Marx </H2>
<H1>[Rede auf dem Polenmeeting in London am 22. Januar 1867] </H1>
<FONT SIZE=2><P>Geschrieben um den 22. Januar 1867.<BR>
Aus dem Polnischen.</P>
</FONT><P><HR></P>
<FONT SIZE=2><P>["Glos Wolny" Nr. 130 vom 10. Februar 1867] </P>
</FONT><B><P><A NAME="S200">|200|</A></B> Meine Damen und Herren! </P>
<P>Vor mehr als drei&szlig;ig Jahren brach in Frankreich eine Revolution aus. Das war ein von der St. Petersburger Vorsehung nicht vorausgesehenes Ereignis, hatte diese doch kurz zuvor erst einen Geheimvertrag mit Karl X. abgeschlossen, um die Verwaltung und geographische Ordnung Europas zu verbessern. Nach Eingang dieser Nachricht, die alle Pl&auml;ne durchkreuzte, rief Zar Nikolaus die Offiziere seiner Garde zusammen und hielt eine kurze kriegerische Ansprache an sie, die mit den Worten endete: Zu Pferd, meine Herren! Das war keine leere Drohung. Paskewitsch wurde nach Berlin geschickt, um dort den Plan f&uuml;r den Einfall in Frankreich vorzubereiten. Innerhalb weniger Monate war alles bereit. Die Preu&szlig;en sollten sich am Rhein konzentrieren, die polnische Armee sollte in Preu&szlig;en einmarschieren, und die Moskowiter sollten ihnen folgen. Aber dann "wandte sich die Vorhut gegen die Hauptarmee", wie Lafayette in der franz&ouml;sischen Deputiertenkammer sagte. Der Aufstand in Warschau rettete Europa vor einem zweiten Antijakobinerkrieg. </P>
<P>Achtzehn Jahre sp&auml;ter erfolgte ein neuer revolution&auml;rer Vulkanausbruch oder vielmehr ein Erdbeben, das den ganzen Kontinent ersch&uuml;tterte. Selbst Deutschland begann sich zu r&uuml;hren, obwohl es von Ru&szlig;land seit dem sogenannten Unabh&auml;ngigkeitskriege st&auml;ndig an der m&uuml;tterlichen Leine gehalten wurde. Noch erstaunlicher aber ist, da&szlig; von allen deutschen St&auml;dten Wien als erste den Versuch unternahm, Barrikaden zu errichten, und das <A NAME="S201"><B>|201|</A></B> mit Erfolg. Diesmal, und wohl zum erstenmal in der Geschichte, verlor Ru&szlig;land die Fassung. Zar Nikolaus wandte sich nicht mehr an die Garde, sondern ver&ouml;ffentlichte ein Manifest an sein Volk, worin er beklagte, da&szlig; die franz&ouml;sische Pest sogar Deutschland angesteckt habe, da&szlig; sie sich den Grenzen des Kaiserreichs n&auml;here und da&szlig; die Revolution in ihrem Wahnsinn ihre Fieberblicke auf die Heilige Rus richte. Kein Wunder! rief er. Ist doch dieses gleiche Deutschland seit Jahren der Hort des Unglaubens. Das Krebsgeschw&uuml;r einer sch&auml;ndlichen Philosophie hat die lebenskr&auml;ftigen Teile dieses dem Scheine nach so gesunden Volkes befallen. Und er beendete seinen Aufruf mit folgendem Appell an die Deutschen: </P>
<FONT SIZE=2><P>"Gott ist mit uns! Bedenkt das wohl, ihr Heiden, und unterwerft euch, denn Gott ist mit uns!"</P>
</FONT><P>Kurz darauf lie&szlig; er durch seinen treuen Diener Nesselrode den Deutschen eine weitere Botschaft zukommen, die von Z&auml;rtlichkeit f&uuml;r dieses heidnische Volk triefte. Weshalb diese Wendung? Nun, die Berliner hatten nicht allein eine Revolution gemacht, sondern auch die Wiederherstellung Polens proklamiert, und die preu&szlig;ischen Polen, von der Begeisterung des Volkes geblendet, begannen, in Posen Milit&auml;rlager zu er richten. Daher die Schmeicheleien des Zaren. Wieder war es das polnische Volk, der unsterbliche Ritter Europas, das den Mongolen zum R&uuml;ckzug gezwungen hatte! Erst nach dem Verrat der Deutschen, besonders der Frankfurter Nationalversammlung, an den Polen, kam Ru&szlig;land wieder zu Atem und sammelte gen&uuml;gend Kraft, um der Revolution von 1848 in ihrem letzten Zufluchtsort, in Ungarn, einen Schlag zu versetzen. Und selbst dort war der letzte Ritter, der sich ihm entgegenstellte, ein Pole - General Bem. </P>
<P>Es gibt heute noch gen&uuml;gend naive Menschen, die glauben, da&szlig; sich alles ge&auml;ndert habe, da&szlig; Polen aufgeh&ouml;rt habe, "eine notwendige Nation" zu sein, wie es ein franz&ouml;sischer Schriftsteller ausdr&uuml;ckte, ja, da&szlig; Polen nur noch eine sentimentale Erinnerung sei. Sie wissen aber, da&szlig; weder Gef&uuml;hle noch Erinnerungen an der B&ouml;rse gehandelt werden. Als in England die letzten russischen Ukase &uuml;ber die Aufhebung des K&ouml;nigreichs Polen bekannt wurden, riet das Organ der f&uuml;hrenden Gelds&auml;cke den Polen, Moskowiter zu werden. Warum sollten sie auch nicht, und sei es nur, um die Auszahlung der Zinsen f&uuml;r die sechs Millionen Pfd.St. zu sichern, die die englischen Kapitalisten dem Zaren gerade erst bewilligt hatten! Soll Ru&szlig;land schlimmstenfalls doch Konstantinopel nehmen, schrieb die "Times", wenn es England nur erlaubt, sich &Auml;gyptens zu bem&auml;chtigen und den Weg <A NAME="S202"><B>|202|</A></B> zu seinem gro&szlig;en indischen Markt zu sichern! Mit anderen Worten: M&ouml;ge England Ru&szlig;land doch Konstantinopel &uuml;berlassen, wenn es nur von Ru&szlig;land die Erlaubnis erhalte, Frankreich &Auml;gypten streitig zu machen. Der Moskowit, schreibt die "Times", nimmt gern Anleihen bei England auf und zahlt gut. Er liebt englisches Geld. Er liebt es in der Tat. Wie sehr er jedoch die Engl&auml;nder selbst liebt, schildert Ihnen am besten die "Gazette de Moscou" vom Dezember 1851: </P>
<FONT SIZE=2><P>"Nein, das perfide Albion mu&szlig; endlich an die Reihe kommen, und in einiger Zeit werden wir mit diesem Volk einen Vertrag nur noch in Kalkutta abschlie&szlig;en." </P>
</FONT><P>Ich frage Sie, was hat sich ge&auml;ndert? Ist die Gefahr von seiten Ru&szlig;lands geringer geworden? Nein. Nur die Verblendung der herrschenden Klassen in Europa hat den Gipfel erreicht. Vor allem hat sich in Ru&szlig;lands Politik, wie sein offizieller Historiker Karamsin eingesteht, nichts ge&auml;ndert. Ihre Methoden, ihre Taktik, ihre Man&ouml;ver k&ouml;nnen sich &auml;ndern, doch der Leitstern dieser Politik - die Weltherrschaft - ist unver&auml;nderlich. Nur eine durchtriebene Regierung, die &uuml;ber eine Masse von Barbaren herrscht, kann in der heutigen Zeit einen solchen Plan aushecken. Pozzo di Borgo, der gr&ouml;&szlig;te russische Diplomat der Neuzeit, schrieb Alexander I. w&auml;hrend des Wiener Kongresses, Polen sei das wichtigste Werkzeug zur Ausf&uuml;hrung der russischen Absichten auf die Weltherrschaft; es ist aber zugleich ein un&uuml;berwindliches Hindernis, solange der Pole nicht, erm&uuml;det von dem nicht endenden Verrat Europas, zu einer furchtbaren Peitsche in der Hand des Moskowiters wird. Nun, ohne von der Stimmung des polnischen Volkes zu sprechen, frage ich: Ist etwas geschehen, das Ru&szlig;lands Pl&auml;ne durchkreuzt oder seine Handlungen paralysiert h&auml;tte? </P>
<P>Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, da&szlig; seine Eroberungen in Asien st&auml;ndig Fortschritte machen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, da&szlig; der sogenannte englisch-franz&ouml;sische Krieg gegen Ru&szlig;land diesem die Bergfestungen des Kaukasus ausgeliefert hat, ihm die Herrschaft &uuml;ber das Schwarze Meer und die Seerechte gebracht hat, die Katharina II., Paul und Alexander I. England vergeblich zu entrei&szlig;en versucht hatten. Eisenbahnen vereinigen und konzentrieren seine &uuml;ber ein weites Gebiet zerstreuten Kr&auml;fte. Seine materiellen Ressourcen in Kongre&szlig;polen, das sein befestigtes Lager in Europa bildet, haben sich kolossal vermehrt. Die Festungen Warschau, Modlin, Iwangorod, von Napoleon I. ausgew&auml;hlte Punkte, beherrschen den ganzen Lauf der Weichsel und bilden eine furchtbare Angriffsbasis gegen Norden, Westen und S&uuml;den. Die panslawistische Propaganda macht in dem gleichen Ma&szlig;e Fortschritte, wie &Ouml;sterreich und <A NAME="S203"><B>|203|</A></B> die T&uuml;rkei geschw&auml;cht werden. Und was die panslawistische Propaganda bedeutet, konnten Sie 1848/49 sehen, als Ungarn &uuml;berfallen, Wien verheert und Italien zermalmt wurde von den Slawen, die unter den Fahnen von Jellachich, Windischgr&auml;tz und Radetzky k&auml;mpften. Und damit nicht genug, haben Englands Verbrechen an Irland Ru&szlig;land einen neuen m&auml;chtigen Verb&uuml;ndeten jenseits des Atlantik geschaffen. </P>
<P>Peter I. sagte einmal, da&szlig;, um die Welt zu erobern, den Moskowitern nichts fehle als Seelen.<A HREF="me16_200.htm#T1"><A name="ZT1">{1}</A></A> Den belebenden Geist, den Moskau braucht, wird es erst nach dem Verschlingen der Polen empfangen. Was werden dann Sie in die Waagschale zu werfen haben? Auf diese Frage antwortet man von verschiedenen Gesichtspunkten aus. Die einen sagen, da&szlig; Ru&szlig;land durch die Bauernbefreiung nun zur Familie der zivilisierten V&ouml;lker geh&ouml;re. Die deutsche Macht, k&uuml;rzlich in den H&auml;nden der Preu&szlig;en konzentriert, k&ouml;nne, so behaupten die anderen, allen asiatischen Angriffen trotzen. Einige andere, Radikalere, setzen ihre Hoffnung auf die inneren sozialen Umgestaltungen Westeuropas.<A NAME="ZT2"><A HREF="me16_200.htm#T2">{2}</A></A> </P>
<P>Was nun das erstere betrifft, d.h. die Befreiung der leibeigenen Bauern in Ru&szlig;land, so hat diese die oberste Regierungsgewalt von den Hindernissen befreit, die der Adel ihrer zentralisierenden T&auml;tigkeit in den Weg legen konnte. Sie schuf ein weites Feld f&uuml;r die Rekrutierung ihrer Armee, l&ouml;ste das Gemeineigentum der russischen Bauern auf, trennte sie und festigte ihren Glauben an V&auml;terchen Zar. Sie hat sie nicht von der asiatischen Barbarei frei gemacht, denn Zivilisation bildet sich in Jahrhunderten heraus. Jeder Versuch, das moralische Niveau der Bauern zu heben, gilt als Verbrechen und wird bestraft. Ich erinnere Sie nur an die offiziellen Verfolgungen der M&auml;&szlig;igkeitsvereine, die den Moskowiter von dem zu erretten trachteten, was Feuerbach die materielle Substanz seiner Religion nennt, d.h. vom Branntwein. Was immer man von der Bauernbefreiung f&uuml;r die <A NAME="S204"><B>|204|</A></B> Zukunft erwarten mag, vorl&auml;ufig ist jedenfalls deutlich, da&szlig; sie die verf&uuml;gbaren Kr&auml;fte des Zaren vergr&ouml;&szlig;ert hat. </P>
<P>Kommen wir zu Preu&szlig;en. Einst Vasall Polens, ist es unter dem Schutz Ru&szlig;lands und durch die Teilung Polens zu einer Macht ersten Ranges geworden. Verl&ouml;re es morgen seine polnische Beute, so w&uuml;rde es in Deutschland aufgehen, statt dieses zu verschlucken. Um sich als gesonderte Macht in Deutschland behaupten zu k&ouml;nnen, mu&szlig; es sich auf den Moskowiter st&uuml;tzen. Die j&uuml;ngste Ausdehnung seiner Herrschaft hat diese Bande nicht etwa gelockert, sondern unl&ouml;sbar gemacht und den Antagonismus gegen Frankreich und &Ouml;sterreich verst&auml;rkt. Gleichzeitig ist Ru&szlig;land der Pfeiler, auf dem die unumschrankte Herrschaft der Hohenzollerndynastie und ihrer feudalen Vasallen ruht. Es ist ihr Schild gegen den Unwillen des Volkes. Preu&szlig;en ist also kein Wall gegen Ru&szlig;land, sondern dessen Werkzeug, das bestimmt ist f&uuml;r den Einfall in Frankreich und f&uuml;r die Eroberung Deutschlands. </P>
<P>Und die soziale Revolution - was bedeutet sie anderes als Klassenkampf? Es ist m&ouml;glich, da&szlig; der Kampf zwischen den Arbeitern und Kapitalisten weniger grausam und blutig sein wird als einst der Kampf zwischen den Feudalherren und den Kapitalisten in England und Frankreich Wir wollen es hoffen. Jedenfalls aber wird eine solche soziale Krise, wenngleich sie die Energien der V&ouml;lker des Westens steigern kann, wie jeder innere Konflikt auch eine Aggression von au&szlig;en hervorrufen. Sie wird Ru&szlig;land erneut jene Rolle spielen lassen, die es w&auml;hrend des Antijakobinerkrieges und seit der Heiligen Allianz gespielt hat - die Rolle eines von der Vorsehung auserw&auml;hlten Retters der Ordnung. Es wird alle privilegierten Klassen Europas f&uuml;r seine Reihen anwerben. Bereits w&auml;hrend der Februarrevolution war es nicht allein der Graf Montalembert, der sein Ohr an die Erde legte, um zu h&ouml;ren, ob sich der Hufschlag der Kosakenpferde n&auml;here. Nicht allein die preu&szlig;ischen Krautjunker in den repr&auml;sentativen K&ouml;rperschaften Deutschlands proklamierten den Zaren zum "Vater und Besch&uuml;tzer". An allen europ&auml;ischen B&ouml;rsen stiegen die Kurse bei jedem russischen Sieg und fielen bei jeder russischen Niederlage. </P>
<P>So steht vor Europa nur eine Alternative: Entweder wird die asiatische Barbarei unter F&uuml;hrung der Moskowiter wie eine Lawine &uuml;ber Europa hereinbrechen, oder Europa mu&szlig; Polen wiederherstellen und sch&uuml;tzt sich so durch einen Wall von zwanzig Millionen Helden vor Asien, um Zeit zu gewinnen f&uuml;r die Vollendung seiner sozialen Umgestaltung. </P>
<P><HR></P>
<P>Textvarianten</P>
<P><A name="T1">{1}</A> In "Le Socialisme" lautet dieser Satz: "Der Plan der russischen Politik bleibt unver&auml;nderlich; ihre Aktionsmittel sind seit 1848 betr&auml;chtlich gewachsen, nur eines blieb bis jetzt au&szlig;erhalb ihrer Reichweite, und Peter der Gro&szlig;e ber&uuml;hrte diesen schwachen Punkt, als er sagte, da&szlig;, um die Welt zu erobern, den Moskowitern nichts fehle als Seelen." <A HREF="me16_200.htm#ZT1">&lt;=</A></P>
<P><A name="T2">{2}</A> In "Le Socialisme" lautet der Schlu&szlig; dieses Absatzes: "Ein kontinentaler Europ&auml;er wird mir vielleicht antworten. da&szlig; Ru&szlig;land durch die Befreiung der Leibeigenen nun zur Familie der zivilisierten Volker geh&ouml;re, da&szlig; die deutsche Macht, k&uuml;rzlich in den H&auml;nden der Preu&szlig;en konzentriert, allen asiatischen Angriffen trotzen k&ouml;nne und da&szlig; schlie&szlig;lich die soziale Revolution in Westeuropa der Gefahr 'internationaler Konflikte' ein Ende bereiten werde. Ein Engl&auml;nder aber, der nur die 'Times' liest, k&ouml;nnte mir erwidern, da&szlig; im schlimmsten Falle, wenn Ru&szlig;land Konstantinopel erobere, England &Auml;gypten annektieren und sich so den Weg zu seinem gro&szlig;en indischen Markt sichern werde." <A HREF="me16_200.htm#ZT2">&lt;=</A></P>
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