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<title>"Neue Rheinische Zeitung" - Die Junirevolution</title>
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<p align="center"><a href="me05_128.htm"><font size="2">Der 25. Juni</font></a> <font size=
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"2">|</font> <a href="../me_nrz48.htm"><font size="2">Inhalt</font></a> <font size="2">|</font>
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<a href="me05_138.htm"><font size="2">Die "Kölnische Zeitung" über die
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Junirevolution</font></a></p>
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<small>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 5, S. 133-137<br>
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Dietz Verlag, Berlin/DDR 1971</small> <br>
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<h1>Die Junirevolution</font></p>
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<p><font size="2">["Neue Rheinische Zeitung" Nr. 29 vom 29. Juni 1848]</font></p>
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<p><b><a name="S133"><133></a></b> ** Die Pariser Arbeiter sind <i>erdrückt</i>
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worden von der Übermacht, sie sind ihr nicht <i>erlegen</i>. Sie sind <i>geschlagen,</i>
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aber ihre Gegner sind <i>besiegt</i>. Der augenblickliche Triumph der brutalen Gewalt ist
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erkauft mit der Vernichtung aller der Täuschungen und Einbildungen der Februarrevolution,
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mit der Auflösung der ganzen alt-republikanischen Partei, mit der Zerklüftung der
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französischen Nation in zwei Nationen, die Nation der Besitzer und die Nation der
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Arbeiter. Die trikolore Republik trägt nur mehr <i>eine Farbe</i>, die Farbe der
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Geschlagenen, die <i>Farbe des Bluts</i>. Sie ist zur <i>roten Republik</i> geworden.</p>
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<p>Keine republikanische Reputation, sei es vom "National", sei es von der "Réforme" auf
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Seite des Volks! Ohne andre Führer, ohne andre Mittel als die Empörung selbst,
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widerstand es der vereinigten Bourgeoisie und Soldateska länger, als je eine
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französische Dynastie, mit allem militärischen Apparat versehn, einer mit dem Volk
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vereinigten Fraktion der Bourgeoisie widerstand. Damit die letzte Illusion des Volks
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verschwinde, damit gänzlich mit der Vergangenheit gebrochen werde, mußte auch die
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gewohnte poetische Zutat der französischen Emeute, die enthusiastische Bourgeoisjugend,
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die Zöglinge der école polytechnique <technischen Hochschule>, die
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dreikrampigen Hüte auf der Seite der Unterdrücker stehn. Die Zöglinge der
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medizinischen Fakultät mußten den verwundeten Plebejern die Hülfe der
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Wissenschaft versagen. Die Wissenschaft existiert nicht für den Plebejer, der das
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unsagbare, das unsägliche Verbrechen beging, sich einmal für seine eigne Existenz in
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die Schanze zu schlagen, statt für Louis-Philippe oder für Herrn Marrast.</p>
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<p>Der letzte offizielle Rest der Februarrevolution, die exekutive Kommission, ist vor dem
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Ernst der Ereignisse wie ein Nebelbild zerflossen. <a name="S134"><b><134></b></a>
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Lamartines Leuchtkugeln haben sich verwandelt in die Brandraketen Cavaignacs.</p>
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<p>Die Fraternité, die Brüderlichkeit der entgegengesetzten Klassen, von denen die
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eine die andere exploitiert, diese Fraternité, im Februar proklamiert, mit großen
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Buchstaben auf die Stirne von Paris geschrieben, auf jedes Gefängnis, auf jede Kaserne -
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ihr wahrer, unverfälschter, ihr prosaischer Ausdruck, das ist der <i>-
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Bürgerkrieg</i>, der Bürgerkrieg in seiner fürchterlichsten Gestalt, der Krieg
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der Arbeit und des Kapitals. Diese Brüderlichkeit flammte vor allen Fenstern von Paris am
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Abend des 25. Juni, als das Paris der Bourgeoisie illuminierte, während das Paris des
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Proletariats verbrannte, verblutete, verächzte.</p>
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<p>Die Brüderlichkeit währte grade so lang, als das Interesse der Bourgeoisie mit dem
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Interesse des Proletariats verbrüdert war. Pedanten der alten revolutionären
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Überlieferung von 1793, sozialistische Systematiker, die bei der Bourgeoisie für das
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Volk bettelten und denen erlaubt wurde, lange Predigten zu halten und sich so lange zu
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kompromittieren, als der proletarische Löwe in Schlaf gelullt werden mußte,
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Republikaner, welche die ganze alte bürgerliche Ordnung mit Abzug des gekrönten
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Kopfes verlangten, dynastische Oppositionelle, denen der Zufall an die Stelle eines
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Ministerwechsels den Sturz einer Dynastie unterschob, Legitimisten, welche die Livrée
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nicht abwerfen, sondern ihren Schnitt verändern wollten, das waren die Bundesgenossen,
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womit das Volk seinen Februar machte. Was es in Louis-Philippe instinktmäßig
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haßte, war nicht Louis-Philippe, sondern die gekrönte Herrschaft einer Klasse, das
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Kapital auf dem Throne. Aber wie immer großmütig, wähnt es seinen Feind
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vernichtet zu haben, nachdem es den Feind seiner Feinde, den <i>gemeinschaftlichen</i> Feind
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gestürzt hat.</p>
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<p>Die <i>Februarrevolution</i> war die schöne Revolution, die Revolution der allgemeinen
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Sympathie, weil die Gegensätze, die in ihr gegen das Königtum eklatierten,
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<i>unentwickelt</i>, einträchtig nebeneinander schlummerten, weil der soziale Kampf, der
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ihren Hintergrund bildete, nur eine luftige Existenz gewonnen hatte, die Existenz der Phrase,
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des Worts. Die <i>Junirevolution</i> ist die <i>häßliche</i> Revolution, die
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abstoßende Revolution, weil an die Stelle der Phrase die Sache getreten ist, weil die
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Republik das Haupt des Ungeheuers selbst entblößte, indem sie ihm die schirmende und
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versteckende Krone abschlug.</p>
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<p><i>Ordnung</i>! war der Schlachtruf Guizots! <i>Ordnung</i>! schrie Sébastiani, der
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Guizotin, als Warschau russisch wurde. <i>Ordnung</i>! schreit Cavaignac, das brutale Echo der
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französischen Nationalversammlung und der republikanischen Bourgeoisie.</p>
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<p><b><a name="S135"><135></a></b> <i>Ordnung</i>! donnerten seine Kartätschen, als
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sie den Leib des Proletariats zerrissen.</p>
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<p>Keine der zahllosen Revolutionen der französischen Bourgeoisie seit 1789 war ein
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Attentat auf die <i>Ordnung</i>, denn sie ließ die Herrschaft der Klasse, sie ließ
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die Sklaverei der Arbeiter, sie ließ die <i>bürgerliche Ordnung</i> bestehen, sooft
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auch die politische Form dieser Herrschaft und dieser Sklaverei wechselte. Der Juni hat diese
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<i>Ordnung</i> angetastet. Wehe über den Juni!</p>
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<p>Unter der <i>provisorischen Regierung</i> war es Anstand und noch mehr, es war
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<i>Notwendigkeit,</i> den großmütigen Arbeitern, die, wie man in Tausend von
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offiziellen Plakaten abdrucken ließ, "drei <i>Monat Elend zur Verfügung der Republik
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bereitstellten</i>", es war Politik und Schwärmerei zugleich, ihnen vorzupredigen, die
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Februarrevolution sei <i>in ihrem eigenen Interesse</i> gemacht und es handle sich in der
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Februarrevolution vor allem um die <i>Interessen der Arbeiter</i>. Seit der
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<i>Eröffnung</i> der Nationalversammlung - wurde man prosaisch. Es handelte sich nur noch
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darum - <i>die Arbeit auf ihre alten Bedingungen</i>, wie der Minister Trélat sagte,
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<i>zurückzuführen</i>. Also die Arbeiter hatten sich im Februar geschlagen, um in
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eine industrielle Krise geworfen zu werden.</p>
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<p>Das Geschäft der Nationalversammlung besteht darin, den Februar ungeschehen zu machen,
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wenigstens für die Arbeiter, und sie in die alten Verhältnisse zurückzuwerfen.
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Aber selbst das geschah nicht, weil es so wenig in der Gewalt einer Versammlung wie eines
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Königs steht, einer industriellen Krise von universellem Charakter zuzurufen: <i>bis
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hierhin</i>! Die Nationalversammlung, im brutalen Eifer, zu enden mit den verdrießlichen
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Februarredensarten, ergriff selbst <i>die</i> Maßregeln nicht, die auf dem Boden der
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alten Verhältnisse möglich waren. Die Pariser Arbeiter von 17-25 Jahren preßt
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sie für die Armee oder wirft sie auf das Pflaster; die auswärtigen verweist sie aus
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Paris in die Sologne, ohne ihnen selbst die zum Laufpaß gehörigen Gelder
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auszuzahlen; den erwachsenen Parisern versichert sie provisorisch ein Gnadenbrot in
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militärisch organisierten Werkstätten, unter der Bedingung, daß sie an keiner
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Volksversammlung teilnehmen, d.h. unter der Bedingung, daß sie aufhören Republikaner
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zu sein. Nicht die sentimentale Rhetorik nach dem Februar reichte aus, nicht die brutale
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Legislatur nach dem 15. Mai. Faktisch, praktisch mußte entschieden werden. Habt ihr
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Kanaillen die Februarrevolution für <i>euch</i> gemacht oder für <i>uns</i>? Die
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Bourgeoisie stellte die Frage so, daß sie den Juni beantwortet werden mußte - mit
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Kartätschen und Barrikaden.</p>
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<p>Und dennoch schlägt, wie ein Volksrepräsentant <Ducoux> am 25. Juni sagt,
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der <a name="S136"><b><136></b></a> Stupor die ganze Nationalversammlung. Sie ist
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betäubt, als Frage und Antwort das Pflaster von Paris in Blut ertränken,
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betäubt, die einen, weil ihre Illusionen im Pulverdampf zerrinnen, die andern, weil sie
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nicht begreifen, wie das Volk es wagen kann, seine <i>allereigensten</i> Interessen
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<i>selbständig</i> zu vertreten. <i>Russisches Geld</i>, <i>englisches Geld</i>, <i>der
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bonapartische Adler</i>, <i>die Lilie</i> <Wappenzeichen des Königshauses der
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Bourbonen>, Amulette aller Art müssen dies sonderbare Ereignis ihrem Verstande
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vermitteln. <i>Beide Teile</i> der Versammlung aber fühlen, daß eine
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unermeßliche Kluft sie von dem Volke trennt. Keine wagt, sich für das Volk zu
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erheben.</p>
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<p>Sobald der Stupor vorüber ist, bricht die Raserei aus, und mit Recht zischt die
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Majorität jene elenden Utopisten und Heuchler aus, die den Anachronismus begehen, noch die
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Phrase Fraternité, Brüderlichkeit, im Mund zu führen. Es handelte sich ja eben
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um die Abschaffung dieser Phrase und der Illusionen, die ihr vieldeutiger Schoß verbirgt.
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Als <i>Larochejaquelein</i>, der Legitimist, der ritterliche Schwärmer, gegen die Infamie
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eiferte, mit der man "Vae victis! <i>Weh den Besiegten</i>!" ausruft, gerät die
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Majorität der Versammlung in Veitstänze, als wäre sie von der Tarantel
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gestochen. Sie schreit <i>Weh</i>! über die Arbeiter, um zu verbergen, daß niemand
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anders der "<i>Besiegte</i>" ist als sie selbst. Entweder sie muß jetzt untergehen oder
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die Republik. Und darum heult sie krampfhaft: Es lebe die Republik !</p>
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<p>Der tiefe Abgrund, der sich vor uns eröffnet hat, darf er die Demokraten irren, darf er
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uns wähnen lassen, die Kämpfe um die Staatsform seien inhaltlos, illusorisch,
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null?</p>
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<p>Nur schwache, feige Gemüter können die Frage aufwerfen. Die Kollisionen, welche
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aus den Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft selbst hervorgehen, sie müssen
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durchkämpft, sie können nicht wegphantasiert werden. Die beste Staatsform ist die,
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worin die gesellschaftlichen Gegensätze nicht verwischt, nicht gewaltsam, also nur
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künstlich, also nur scheinbar gefesselt werden. Die beste Staatsform ist die, worin sie
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zum freien Kampf und damit zur Lösung kommen.</p>
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<p>Man wird uns fragen, ob wir keine Träne, keinen Seufzer, kein Wort für die Opfer
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haben, welche vor der Wut des Volkes fielen, für die Nationalgarde, die Mobilgarde, die
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republikanische Garde, die Linie?</p>
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<p>Der Staat wird ihre Witwen und Waisen pflegen, Dekrete werden sie verherrlichen, feierliche
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Leichenzüge werden ihre Reste zur Erde bestatten, die offizielle Presse wird sie
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unsterblich erklären, die europäische Reaktion wird ihnen huldigen vom Osten bis zum
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Westen.</p>
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<p><b><a name="S137"><137></a></b> Aber die Plebejer, vom Hunger zerrissen, von der
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Presse geschmäht, von den Ärzten verlassen, von den Honetten Diebe gescholten,
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Brandstifter, Galeerensklaven, ihre Weiber und Kinder in noch grenzenloseres Elend
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gestürzt, ihre besten Lebenden über die See deportiert - ihnen den Lorbeer um die
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drohend finstere Stirn zu winden, das ist das <i>Vorrecht</i>, das ist das <i>Recht der
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demokratischen Presse</i>.</p>
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<p><font size="2">Geschrieben von Karl Marx.</font></p>
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