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2022-08-25 20:29:11 +02:00

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Raw Blame History

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<TITLE>Rosa Luxemburg - Sozialreform oder Revolution?</TITLE>
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<TD ALIGN="center" width="49%" height=20 valign=middle><A HREF="default.htm"><SMALL>Rosa Luxemburg</SMALL></A></TD>
</TR>
</TABLE>
<HR size="1">
<H2>Rosa Luxemburg</H2>
<H1> Sozialreform oder Revolution?</H1>
<p>Berlin 1899</p>
<p>Inhalt:</p>
<p><a href="lue.htm#Vorwort">Vorwort </a></p>
<p><B>Erster Teil </B></p>
<p><a href="lue.htm#1_1">1. Die opportunistische Methode</a><BR>
<a href="lue.htm#1_2">2. Anpassung des
Kapitalismus</a><BR>
<a href="lue.htm#1_3">3.
Einf&uuml;hrung des Sozialismus durch soziale Reformen</a><BR>
<a href="lue.htm#1_4">4. Zollpolitik und Militarismus</a><BR>
<a href="lue.htm#1_5">5. Praktische Konsequenzen und allgemeiner Charakter des Revisionismus</a></p>
<p><B>Zweiter Teil</B></p>
<p><a href="lue.htm#2_1">1. Die &ouml;konomische
Entwicklung und der Sozialismus</a><BR>
<a href="lue.htm#2_2">2. Gewerkschaften, Genossenschaften und politische Demokratie</a><BR>
<a href="lue.htm#2_3">3. Die Eroberung der
politischen Macht</a><BR>
<a href="lue.htm#2_4">4. Der Zusammenbruch</a><BR>
<a href="lue.htm#2_5">5. Der Opportunismus in Theorie
und Praxis </a></p>
<HR size="1">
<H3 align="center"><A name="Vorwort">Vorwort</A></H3>
<p>Der Titel der vorliegenden Schrift kann auf den ersten Blick &uuml;berraschen. Sozialreform
oder Revolution? Kann denn die Sozialdemokratie gegen die Sozialreform sein? Oder kann sie
die soziale Revolution, die Umw&auml;lzung der bestehenden Ordnung, die ihr Endziel bildet,
der Sozialreform entgegenstellen? Allerdings nicht. F&uuml;r die Sozialdemokratie bildet der
allt&auml;gliche praktische Kampf um soziale Reformen, um die Besserung der Lage des
arbeitenden Volkes noch auf dem Boden des Bestehenden, um die demokratischen Einrichtungen
vielmehr den einzigen Weg, den proletarischen Klassenkampf zu leiten und auf das Endziel,
auf die Ergreifung der politischen Macht und Aufhebung des Lohnsystems hinzuarbeiten. F&uuml;r
die Sozialdemokratie besteht zwischen der Sozialreform und der sozialen Revolution ein
unzertrennlicher Zusammenhang, indem ihr der Kampf um die Sozialreform das Mittel, die
soziale Umw&auml;lzung aber der Zweck ist.</p>
<p>Eine Entgegenstellung dieser beiden Momente der Arbeiterbewegung finden wir erst in der
Theorie von Ed. Bernstein, wie er sie in seinen Aufs&auml;tzen: &raquo;Probleme des
Sozialismus&laquo;, in der 'Neuen Zeit' 1897/98 und namentlich in seinem Buche: &raquo;Voraussetzungen des Sozialismus&laquo; dargelegt hat. Diese ganze Theorie l&auml;uft
praktisch auf nichts anderes als auf den Rat hinaus, die soziale Umw&auml;lzung, das Endziel
der Sozialdemokratie, aufzugeben und die Sozialreform umgekehrt aus einem Mittel des
Klassenkampfes zu seinem Zwecke zu machen. Bernstein selbst hat am treffendsten und am
sch&auml;rfsten seine Ansichten formuliert, indem er schrieb: &raquo;Das Endziel, was es immer sei,
ist mir Nichts, die Bewegung Alles&laquo;.</p>
<p>Da aber das sozialistische Endziel das einzige entscheidende Moment ist, das die
sozialdemokratische Bewegung von der b&uuml;rgerlichen Demokratie und dem b&uuml;rgerlichen
Radikalismus unterscheidet, das die ganze Arbeiterbewegung aus einer m&uuml;&szlig;igen Flickarbeit
zur Rettung der kapitalistischen Ordnung in einen Klassenkampf gegen diese Ordnung, um die
Aufhebung dieser Ordnung verwandelt, so ist die Frage &raquo;Sozialreform oder
Revolution?&laquo; im Bernsteinschen Sinne f&uuml;r die Sozialdemokratie zugleich die Frage:
Sein oder Nichtsein? In der Auseinandersetzung mit Bernstein und seinen Anh&auml;ngern,
dar&uuml;ber mu&szlig; sich jedermann in der Partei klar werden, handelt es sich nicht um diese
oder jene Kampfweise, nicht um diese oder jene Taktik, sondern um die ganze Existenz der
sozialdemokratischen Bewegung.</p>
<p>(Bei fl&uuml;chtiger Betrachtung der Bernsteinschen Theorie kann dies als eine
&Uuml;bertreibung erscheinen. Spricht denn Bernstein nicht auf Schritt und Tritt von der
Sozialdemokratie und ihren Zielen, wiederholt er nicht selbst mehrmals und ausdr&uuml;cklich,
da&szlig; auch er das sozialistische Endziel, nur in einer anderen Form, anstrebe, betont er
nicht mit Nachdruck, da&szlig; er die heutige Praxis der Sozialdemokratie fast g&auml;nzlich
anerkenne? Freilich ist das alles wahr. Ebenso wahr ist es aber, da&szlig; seit jeher in der
Entwicklung der Theorie und in der Politik jede neue Richtung in ihren Anf&auml;ngen an die
alte, auch wenn sie im inneren Kern zu ihr in direktem Gegensatz steht, sich anlehnt, da&szlig;
sie sich zuerst den Formen anpa&szlig;t, die sie vorfindet, die Sprache spricht, die vor ihr
gesprochen wurde. Mit der Zeit erst tritt der neue Kern aus der alten H&uuml;lle hervor, und
die neue Richtung findet eigene Formen, eigene Sprache.</p>
<p>Von einer Opposition gegen den wissenschaftlichen Sozialismus erwarten, da&szlig; sie von
Anfang an ihr inneres Wesen selbst klar und deutlich bis zur letzten Konsequenz
ausspricht, da&szlig; sie die theoretische Grundlage der Sozialdemokratie offen und schroff
ableugnet, hie&szlig;e die Macht des wissenschaftlichen Sozialismus untersch&auml;tzen. Wer heute
als Sozialist gelten, zugleich aber der Marxschen Lehre, dem riesenhaftesten Produkte des
menschlichen Geistes in diesem Jahrhundert, den Krieg erkl&auml;ren will, mu&szlig; mit einer
unbewu&szlig;ten Huldigung an sie beginnen, indem er sich vor allem selbst zum Anh&auml;nger dieser
Lehre bekennt und in ihr selbst St&uuml;tzpunkte f&uuml;r ihre Bek&auml;mpfung sucht, die letztere
blo&szlig; als ihre Fortentwicklung hinstellt. Unbeirrt durch diese &auml;u&szlig;eren Formen mu&szlig; man
deshalb den in der Bernsteinschen Theorie steckenden Kern heraussch&auml;len, und dies ist
gerade eine dringende Notwendigkeit f&uuml;r die breiten Schichten der industriellen
Proletarier in unserer Partei.</p>
<p>Es kann keine gr&ouml;bere Beleidigung, keine &auml;rgere Schm&auml;hung gegen die Arbeiterschaft
ausgesprochen werden, als die Behauptung: theoretische Auseinandersetzungen seien
lediglich Sache der &raquo;Akademiker&laquo;. Schon Lassalle hat einst gesagt: Erst, wenn
Wissenschaft und Arbeiter, diese entgegengesetzten Pole der Gesellschaft, sich vereinigen,
werden sie alle Kulturhindernisse in ihren ehernen Armen erdr&uuml;cken. Die ganze Macht der
modernen Arbeiterbewegung beruht auf der theoretischen Erkenntnis.)A</p>
<p>Doppelt wichtig ist aber diese Erkenntnis f&uuml;r die Arbeiter im gegebenen Falle, weil es
sich hier gerade um sie und ihren Einflu&szlig; in der Bewegung handelt, weil es ihre eigene
Haut ist, die hier zu Markte getragen wird. Die durch Bernstein theoretisch formulierte
opportunistische Str&ouml;mung in der Partei ist nichts anderes, als eine unbewu&szlig;te
Bestrebung, den zur Partei her&uuml;bergekommenen kleinb&uuml;rgerlichen Elementen die Oberhand zu
sichern, in ihrem Geiste die Praxis und die Ziele der Partei umzumodeln. Die Frage von der
Sozialreform und der Revolution, vom Endziel und der Bewegung ist von anderer Seite die
Frage vom kleinb&uuml;rgerlichen oder proletarischen Charakter der Arbeiterbewegung.</p>
<p>(Deshalb liegt es gerade im Interesse der proletarischen Masse der Partei, sich mit der
gegenw&auml;rtigen theoretischen Auseinandersetzung mit dem Opportunismus aufs lebhafteste und
aufs eingehendste zu befassen. Solange die theoretische Erkenntnis blo&szlig; das Privilegium
einer Handvoll &raquo;Akademiker&laquo; in der Partei bleibt, droht ihr immer die Gefahr,
auf Abwege zu geraten. Erst wenn die gro&szlig;e Arbeitermasse selbst die scharfe zuverl&auml;ssige
Waffe des wissenschaftlichen Sozialismus in die Hand genommen hat, dann werden alle
kleinb&uuml;rgerlichen Anwandlungen, alle opportunistischen Str&ouml;mungen im Sande verlaufen.
Dann ist auch die Bewegung auf sicheren, festen Boden gestellt. &raquo;Die Menge tut es.&laquo;)A
Berlin, 18. April 1899 - Rosa Luxemburg</p>
<p>Von der Schrift &raquo;Sozialreform oder Revolution?&laquo; liegen zwei verschiedene
Ausgaben vor, die von der Verfasserin selbst bearbeitet wurden, eine aus dem Jahre 1900,
die andere aus dem Jahre 1908. Sie weichen in Einzelheiten voneinander ab. Haupts&auml;chlich
handelt es sich dabei um zwei Dinge. In der zweiten Auflage wurden verschiedene
&Auml;nderungen vorgenommen, die sich aus neuen praktischen Erfahrungen ergaben, so z.B. in
der Frage der Wirtschaftskrise. Ausgelassen wurden in der zweiten Auflage alle die
Stellen, in denen der Ausschlu&szlig; der Reformisten gefordert oder auf ihn angespielt wurde.
Als Rosa Luxemburg ein Jahrzehnt nach Beginn der Bernsteindebatte und nach der Eroberung
wichtigster Parteipositionen durch die Opportunisten die Brosch&uuml;re wieder herausgab,
hatte die Auschlu&szlig;forderung jeden Sinn verloren. </p>
<p>Hier ist die 1. Auflage zugrunde gelegt. Die sp&auml;teren Auslassungen sind durch Klammern
( ) angedeutet. Die Erg&auml;nzungen der 2. Auflage sind in Anmerkungen beigef&uuml;gt.
Stilistische Verbesserungen und kleine &Uuml;berarbeitungen wurden aus der zweiten Auflage
ohne weiteres &uuml;bernommen. </p>
<H3 align="center"><A name="1_1"><B>Erster Teil</B></A><BR>
1. Die opportunistische Methode</H3>
<p>Wenn Theorien Spiegelbilder der Erscheinungen der Au&szlig;enwelt im menschlichen Hirn sind,
so mu&szlig; man angesichts der Theorie von Eduard Bernstein hinzuf&uuml;gen - manchmal auf den
Kopf gestellte Spiegelbilder. Eine Theorie von der Einf&uuml;hrung des Sozialismus durch
Sozialreformen - nach dem endg&uuml;ltigen Einschlafen der deutschen Sozialreform, von der
Kontrolle der Gewerkschaften &uuml;ber den Produktionsproze&szlig; - nach der Niederlage der
englischen Maschinenbauer, von der sozialdemokratischen Parlamentsmehrheit - nach der
s&auml;chsischen Verfassungsrevision und den Attentaten auf das allgemeine
Reichstagswahlrecht! Allein der Schwerpunkt der Bernsteinschen Ausf&uuml;hrungen liegt unseres
Erachtens nicht in seinen Ansichten &uuml;ber die praktischen Aufgaben der Sozialdemokratie,
sondern in dem, was er &uuml;ber den Gang der objektiven Entwicklung der kapitalistischen
Gesellschaft sagt, womit jene Ansichten freilich im engsten Zusammenhange stehen.</p>
<p>Nach Bernstein wird ein allgemeiner Zusammenbruch des Kapitalismus mit dessen
Entwicklung immer unwahrscheinlicher, weil das kapitalistische System einerseits immer
mehr Anpassungsf&auml;higkeit zeigt, andererseits die Produktion sich immer mehr
differenziert. Die Anpassungsf&auml;higkeit des Kapitalismus &auml;u&szlig;ert sich nach Bernstein
erstens in dem Verschwinden der allgemeinen Krisen, dank der Entwicklung des
Kreditsystems, der Unternehmerorganisationen und des Verkehrs sowie des
Nachrichtendienstes, zweitens in der Z&auml;higkeit des Mittelstandes infolge der best&auml;ndigen
Differenzierung der Produktionszweige sowie der Hebung gro&szlig;er Schichten des Proletariats
in den Mittelstand, drittens endlich in der &ouml;konomischen und politischen Hebung der Lage
des Proletariats infolge des Gewerkschaftskampfes.</p>
<p>F&uuml;r den praktischen Kampf der Sozialdemokratie ergibt sich daraus die allgemeine
Weisung, da&szlig; sie ihre T&auml;tigkeit nicht auf die Besitzergreifung der politischen
Staatsmacht, sondern auf die Hebung der Lage der Arbeiterklasse und auf die Einf&uuml;hrung
des Sozialismus, nicht durch eine soziale und politische Krise, sondern durch eine
schrittweise Erweiterung der gesellschaftlichen Kontrolle und eine stufenweise
Durchf&uuml;hrung des Genossenschaftlichkeitsprinzips zu richten habe.</p>
<p>Bernstein selbst sieht in seinen Ausf&uuml;hrungen nichts Neues, er meint vielmehr, da&szlig;
sie ebenso mit einzelnen &Auml;u&szlig;erungen von Marx und Engels, wie mit der allgemeinen
bisherigen Richtung der Sozialdemokratie &uuml;bereinstimmen. Es l&auml;&szlig;t sich indes unseres
Erachtens schwerlich leugnen, da&szlig; die Auffassung Bernsteins tats&auml;chlich mit dem
Gedankengang des wissenschaftlichen Sozialismus in grunds&auml;tzlichem Widerspruche steht.</p>
<p>W&uuml;rde sich die ganze Bernsteinsche Revision dahin zusammenfassen, da&szlig; der Gang der
kapitalistischen Entwicklung ein viel langsamerer ist, als man anzunehmen sich gew&ouml;hnt
hat, so bedeutete dies in der Tat blo&szlig; eine Aufschiebung der bis jetzt angenommenen
politischen Machtergreifung seitens des Proletariats, woraus praktisch h&ouml;chstens etwa ein
ruhigeres Tempo des Kampfes gefolgert werden k&ouml;nnte.</p>
<p>Dies ist aber nicht der Fall. Was Bernstein in Frage gestellt hat, ist nicht die
Rapidit&auml;t der Entwicklung, sondern der Entwicklungsgang selbst der kapitalistischen
Gesellschaft und im Zusammenhang damit der &Uuml;bergang zur sozialistischen Ordnung.</p>
<p>Wenn die bisherige sozialistische Theorie annahm, der Ausgangspunkt der sozialistischen
Umw&auml;lzung w&uuml;rde eine allgemeine und vernichtende Krise sein, so mu&szlig; man, unseres
Erachtens, dabei zweierlei unterscheiden: den darin verborgenen Grundgedanken und dessen
&auml;u&szlig;ere Form.</p>
<p>Der Gedanke besteht in der Annahme, die kapitalistische Ordnung w&uuml;rde von sich aus,
kraft eigener Widerspr&uuml;che den Moment zeitigen, wo sie aus den Fugen geht, wo sie einfach
unm&ouml;glich wird. Da&szlig; man sich diesen Moment in der Form einer allgemeinen und
ersch&uuml;tternden Handelskrise dachte, hatte gewi&szlig; seine guten Gr&uuml;nde, bleibt aber
nichtsdestoweniger f&uuml;r den Grundgedanken unwesentlich und nebens&auml;chlich.</p>
<p>Die wissenschaftliche Begr&uuml;ndung des Sozialismus st&uuml;tzt sich n&auml;mlich bekannterma&szlig;en
auf drei Ergebnisse der kapitalistischen EntwickIung: vor allem auf die wachsende Anarchie
der kapitalistischen Wirtschaft, die ihren Untergang zu unvermeidlichem Ergebnis macht,
zweitens auf die fortschreitende Vergesellschaftung des Produktionsprozesses, die die
positiven Ans&auml;tze der k&uuml;nftigen sozialen Ordnung schafft, und drittens auf die wachsende
Organisation und Klassenerkenntnis des Proletariats, das den aktiven Faktor der
bevorstehenden Umw&auml;lzung bildet.</p>
<p>Es ist der erste der genannten Grundpfeiler des wissenschaftlchen Sozialismus, den
Bernstein beseitigt. Er behauptet n&auml;mlich, die kapitalistische Entwicklung gehe nicht
einem allgemeinen wirtschaftlichen Krach entgegen.</p>
<p>Er verwirft aber damit nicht blo&szlig; die bestimmte Form des kapitalistischen Untergangs,
sondern diesen Untergang selbst. Er sagt ausdr&uuml;cklich: &raquo;Es k&ouml;nnte nun erwidert werden,
da&szlig;, wenn man von dem Zusammenbruch der gegenw&auml;rtigen Gesellschaft spricht, man dabei
mehr im Auge hat, als eine verallgemeinerte und gegen fr&uuml;her verst&auml;rkte
Gesch&auml;ftskrisis, n&auml;mlich einen totalen Zusammenbruch des kapitalistischen Systems an
seinen eigenen Widerspr&uuml;chen.&laquo; Und darauf antwortet er: &raquo;Ein ann&auml;hernd gleichzeitiger
v&ouml;lliger Zusammenbruch des gegenw&auml;rtigen Produktionssysems wird mit der fortschreitenden
Entwicklung der Geselllschaft nicht wahrscheinlicher, sondern unwahrscheinlicher, weil
dieselbe auf der einen Seite die Anpassungsf&auml;higkeit, auf der anderen - bzw. zugleich
damit - die Differenzierung der Industrie steigert.&laquo;1</p>
<p>Dann entsteht aber die gro&szlig;e Frage: Warum und wie gelangen wir &uuml;berhaupt noch zum
Endziel unserer Bestrebungen? Vom Standpunkte des wissenschaftlichen Sozialismus &auml;u&szlig;ert
sich die historische Notwendigkeit der sozialistischen Umw&auml;lzung vor allem in der
wachsenden Anarchie des kapitalistischen Systems, die es auch in eine ausweglose Sackgasse
dr&auml;ngt. Nimmt man jedoch mit Bernstein an, die kapitalistische Entwicklung gehe nicht in
der Richtung zum eigenen Untergang, dann h&ouml;rt der Sozialismus auf, objektiv notwendig zu
sein. Von den Grundsteinen seiner wissenschaftlichen Begr&uuml;ndung bleiben dann nur noch die
beiden anderen Ergebnisse der kapitalistischen Ordnung: der vergesellschaftete
Produktionsproze&szlig; und das Klassenbewu&szlig;tsein des Proletariats. Dies hat auch Bernstein im
Auge, als er sagt: &raquo;Die sozialistische Gedankenwelt verliert (mit der Beseitigung der
Zusammenbruchstheorie) durchaus nichts an &uuml;berzeugender Kraft. Denn genauer zugesehen,
was sind denn alle die von uns aufgez&auml;hlten Faktoren der Beseitigung oder Modifizierung
der alten Krisen? Alles Dinge, die gleichzeitig Voraussetzungen und zum Teil sogar
Ans&auml;tze der Vergesellschaftung von Produktion und Austausch darstellen.&laquo;2</p>
<p>Indes gen&uuml;gt eine kurze Betrachtung, um auch dies als einen Trugschlu&szlig; zu erweisen.
Worin besteht die Bedeutung der von Bernstein als kapitalistisches Anpassungsmittel
bezeichneten Erscheinungen: der Kartelle, des Kredits, der vervollkommneten
Verkehrsmittel, der Hebung der Arbeiterklasse usw. Offenbar darin, da&szlig; sie die inneren
Widerspr&uuml;che der kapitalistischen Wirtschaft beseitigen oder wenigstens abstumpfen, ihre
Entfaltung und Versch&auml;rfung verhindern. So bedeutet die Beseitigung der Krisen die
Aufhebung des Widerspruchs zwischen Produktion und Austausch auf kapitalistischer Basis,
so bedeutet die Hebung der Lage der Arbeiterklasse teils als solcher, teils in den
Mittelstand, die Abstumpfung des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit. Indem somit die
Kartelle, das Kreditwesen, die Gewerkschaften usw. die kapitalistischen Widerspr&uuml;che
aufheben, also das kapitalistische System vom Untergang retten, den Kapitalismus
konservieren - deshalb nennt sie ja Bernstein &raquo;Anpassungsmittel&laquo; - wie k&ouml;nnen sie zu
gleicher Zeit ebensoviele &raquo;Voraussetzungen und zum Teil sogar Ans&auml;tze&laquo; zum Sozialismus
darstellen? Offenbar nur in dem Sinne, da&szlig; sie den gesellschaftlichen Charakter der
Produktion st&auml;rker zum Ausdruck bringen. Aber indem sie ihn in seiner kapitalistischen
Form konservieren, machen sie umgekehrt den &Uuml;bergang dieser vergesellschafteten
Produktion in die sozialistische Form in demselben Ma&szlig;e &uuml;berfl&uuml;ssig. Sie k&ouml;nnen daher
Ans&auml;tze und Voraussetzungen der sozialistischen Ordnung blo&szlig; in begrifflichem und nicht
in historischem Sinne darstellen, d.h. Erscheinungen, von denen wir auf Grund unserer
Vorstellung vom Sozialismus wissen, da&szlig; sie mit ihm verwandt sind, die aber tats&auml;chlich
die sozialistische Umw&auml;lzung nicht nur nicht herbeif&uuml;hren, sondern sie vielmehr
&uuml;berfl&uuml;ssig machen. Bleibt dann als Begr&uuml;ndung des Sozialismus blo&szlig; das
Klassenbewu&szlig;tsein des Proletariats. Aber auch dieses ist gegebenenfalls nicht der
einfache geistige Widerschein der sich immer mehr zuspitzenden Widerspr&uuml;che des
Kapitalismus und seines bevorstehenden Untergangs - dieser ist ja verh&uuml;tet durch die
Anpassungsrnittel - sondern ein blo&szlig;es Ideal, dessen &Uuml;berzeugungskraft auf seinen
eigenen ihm zugedachten Vollkommenheiten beruht.</p>
<p>Mit einem Wort, was wir auf diesem Wege erhalten, ist eine Begr&uuml;ndung des
sozialistischen Programms durch &raquo;reine Erkenntnis&laquo;, das hei&szlig;t, einfach gesagt, eine
idealistische Begr&uuml;ndung, w&auml;hrend die objektive Notwendigkeit, das hei&szlig;t die
Begr&uuml;ndung durch den Gang der materiellen gesellschaftlichen Entwicklung, dahinf&auml;llt.
Die revisionistische Theorie steht vor einem Entweder-Oder. Entweder folgt die
sozialistische Umgestaltung nach wie vor aus den inneren Widerspr&uuml;chen der
kapitalistischen Ordnung, dann entwickeln sich mit dieser Ordnung auch ihre Widerspr&uuml;che
und ein Zusammenbruch in dieser oder jener Form ist in irgendeinem Zeitpunkt das
unvermeidliche Ergebnis, dann sind aber auch die &raquo;Anpassungsmittel&laquo; unwirksam, und die
Zusammenbruchstheorie richtig. Oder die &raquo;Anpassungsmittel&laquo; sind wirklich imstande, einem
Zusammenbruch des kapitalistischen Systems vorzubeugen, also den Kapitalisrnus
existenzf&auml;hig zu machen, also seine Widerspr&uuml;che aufzuheben, dann h&ouml;rt aber der
Sozialismus auf, eine historische Notwendigkeit zu sein, und er ist dann alles, was man
will, nur nicht ein Ergebnis der materiellen Entwicklung der Gesellschaft. Dieses Dilemma
l&auml;uft auf ein anderes hinaus: entweder hat der Revisionismus in Bezug auf den Gang der
kapitalistischen Entwicklung recht, dann verwandelt sich die sozialistische Umgestaltung
der Gesellschaft in eine Utopie, oder der Sozialismus ist keine Utopie, dann mu&szlig; aber die
Theorie der &raquo;Anpassungsmittel&laquo; nicht stichhaltig sein. That is the question, das ist die
Frage.</p>
<H3 align="center"><a name="1_2">2. Anpassung des Kapitalismus</a></H3>
<p>Die wichtigsten Mittel, die nach Bernstein die Anpassung der kapitalistischen
Wirtschaft herbeif&uuml;hren, sind das Kreditwesen, die verbesserten Verkehrsmittel und die
Unternehmerorganisationen.</p>
<p>Um beim Kredit anzufangen, so hat er in der kapitalistischen Wirtschaft mannigfaltige
Funktionen, seine wichtigste besteht aber bekanntlich in der Vergr&ouml;&szlig;erung der
Ausdehnungsf&auml;higkeit der Produktion und in der Vermittlung und Erleichterung des
Austausches. Da, wo die innere Tendenz der kapitalistischen Produktion zur grenzenlosen
Ausdehnung auf die Schranken des Privateigentums, den beschr&auml;nkten Umfang des
Privatkapitals st&ouml;&szlig;t, da stellt sich der Kredit als das Mittel ein, in kapitalistischer
Weise diese Schranken zu &uuml;berwinden, viele Privatkapitale zu einem zu verschmelzen -
Aktiengesellschaften - und einem Kapitalisten die Verf&uuml;gung &uuml;ber fremdes Kapital zu
gew&auml;hren - industrieller Kredit. Andererseits beschleunigt er als kommerzieller Kredit
den Austausch der Waren, also den R&uuml;ckflu&szlig; des Kapitals zur Produktion, also den ganzen
Kreislauf des Produktionsprozesses. Die Wirkung, die diese beiden wichtigsten Funktionen
des Kredits auf die Krisenbildung haben, ist leicht zu &uuml;bersehen. Wenn die Krisen, wie
bekannt, aus dem Widerspruch zwischen der Ausdehnungsf&auml;higkeit, Ausdehnungstendenz der
Produktion und der beschr&auml;nkten Konsumtionsf&auml;higkeit entstehen, so ist der Kredit nach
dem obigen so recht das spezielle Mittel, diesen Widerspruch so oft als m&ouml;glich zum
Ausbruch zu bringen. Vor allem steigert er die Ausdehnungsf&auml;higkeit der Produktion ins
Ungeheure und bildet die innere Triebkraft, sie best&auml;ndig &uuml;ber die Schranken des Marktes
hinauszutreiben. Aber er schl&auml;gt auf zwei Seiten. Hat er einmal als Faktor des
Produktionsprozesses die &Uuml;berproduktion mit heraufbeschworen, so schl&auml;gt er w&auml;hrend der
Krise in seiner Eigenschaft als Vermittler des Warenaustausches die von ihm selbst
wachgerufenen Produktivkr&auml;fte um so gr&uuml;ndlicher zu Boden. Bei den ersten Anzeichen der
Stockung schrumpft der Kredit zusammen, l&auml;&szlig;t den Austausch im Stich da, wo er notwendig
w&auml;re, erweist sich als wirkungs- und zwecklos da, wo er sich noch bietet, und verringert
so w&auml;hrend der Krise die Konsumtionsf&auml;higkeit auf das Mindestma&szlig;.</p>
<p>Au&szlig;er diesen beiden wichtigsten Ergebnissen wirkt der Kredit in bezug auf die
Krisenbildung noch mannigfach. Er bietet nicht nur das technische Mittel, einem
Kapitalisten die Verf&uuml;gung &uuml;ber fremde Kapitale in die Hand zu geben, sondern bildet
f&uuml;r ihn zugleich den Sporn zu einer k&uuml;hnen und r&uuml;cksichtslosen Verwendung des fremden
Eigentums, also zu waghalsigen Spekulationen. Er versch&auml;rft nicht nur als heimt&uuml;ckisches
Mittel des Warenaustausches die Krise, sondern erleichtert ihr Eintreten und ihre
Verbreitung, indem er den ganzen Austausch in eine &auml;u&szlig;erst zusammengesetzte und
k&uuml;nstliche Maschinerie mit einem Mindestma&szlig; Metallgeld als reeller Grundlage verwandelt
und so ihre St&ouml;rung bei geringstem Anla&szlig; herbeif&uuml;hrt.</p>
<p>So ist der Kredit, weit entfernt, ein Mittel zur Beseitigung oder auch nur zur
Linderung der Krisen zu sein, ganz im Gegenteil ein besonderer m&auml;chtiger Faktor der
Krisenbildung. Und das ist auch gar nicht anders m&ouml;glich. Die spezifische Funktion des
Kredits ist - ganz allgemein ausgedr&uuml;ckt - doch nichts anderes, als den Rest von
Standfestigkeit aus allen kapitalistischen Verh&auml;ltnissen zu verbannen und &uuml;berall die
gr&ouml;&szlig;tm&ouml;gliche Elastizit&auml;t hineinzubringen, alle kapitalistischen Kr&auml;fte in h&ouml;chstem
Ma&szlig;e dehnbar, relativ und empfindlich zu machen. Da&szlig; damit die Krisen, die nichts
anderes als der periodische Zusammensto&szlig; der einander widerstrebenden Kr&auml;fte der
kapitalistischen Wirtschaft sind, nur erleichtert und versch&auml;rft werden k&ouml;nnen, liegt
auf der Hand.</p>
<p>Dies f&uuml;hrt uns aber zugleich auf die andere Frage, wie der Kredit &uuml;berhaupt als ein
&raquo;Anpassungsmittel&laquo; des Kapitalismus erscheinen kann. In welcher Beziehung und in welcher
Gestalt immer die &raquo;Anpassung&laquo; mit Hilfe des Kredits gedacht wird, ihr Wesen kann
offenbar nur darin bestehen, da&szlig; irgendein gegens&auml;tzliches Verh&auml;ltnis der
kapitalistischen Wirtschaft ausgeglichen, irgendeiner ihrer Widerspr&uuml;che aufgehoben oder
abgestumpft und so den eingeklemmten Kr&auml;ften auf irgendeinem Punkte freier Spielraum
gew&auml;hrt wird. Wenn es indes ein Mittel in der heutigen kapitalistischen Wirtschaft gibt,
alle ihre Widerspr&uuml;che aufs h&ouml;chste zu steigern, so ist es gerade der Kredit. Er
steigert den Widerspruch zwischen Produktionsweise und Austauschweise, indem er die
Produktion aufs h&ouml;chste anspannt, den Austausch aber bei geringstem Anla&szlig; lahmlegt. Er
steigert den Widerspruch zwischen Produktions- und Aneignungsweise, indem er die
Produktion vom Eigentum trennt, indem er das Kapital in der Produktion in ein
gesellschaftliches, einen Teil des Profits aber in die Form des Kapitalzinses, also in
einen reinen Eigentumstitel verwandelt. Er steigert den Widerspruch zwischen den
Eigentums- und Produktionsverh&auml;ltnissen, indem er durch Enteignung vieler kleiner
Kapitalisten in wenigen H&auml;nden ungeheuere Produktivkr&auml;fte vereinigt. Er steigert den
Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und dem
kapitalistischen Privateigentum, indem er die Einmischung des Staates in die Produktion
(Aktiengesellschaft) notwendig macht.</p>
<p>Mit einem Wort, der Kredit reproduziert alle kardinalen Widerspr&uuml;che der
kapitalistischen Welt, er treibt sie auf die Spitze, er beschleunigt den Gang, in dem sie
ihrer eigenen Vernichtung - dem Zusammenbruch - entgegeneilt. Das erste Anpassungsmittel
f&uuml;r den Kapitalismus in bezug auf den Kredit m&uuml;&szlig;te also darin bestehen, den Kredit
abzuschaffen, ihn r&uuml;ckg&auml;ngig zu machen. So wie er ist, bildet er nicht ein Anpassungs-,
sondern ein Vernichtungsmittel von h&ouml;chst revolution&auml;rer Wirkung. Hat doch eben dieser
revolution&auml;re, &uuml;ber den Kapitalismus selbst hinausf&uuml;hrende Charakter des Kredits sogar
zu sozialistisch angehauchten Reformpl&auml;nen verleitet, und gro&szlig;e Vertreter des Kredits,
wie den Isaac P&eacute;reire in Frankreich, wie Marx sagt, halb als Propheten, halb als Lumpen
erscheinen lassen.</p>
<p>Ebenso hinf&auml;llig erweist sich nach n&auml;herer Betrachtung das zweite
&raquo;Anpassungsmittel&laquo; der kapitalistischen Produktion - die Unternehmerverb&auml;nde. Nach
Bernstein sollen sie durch die Regulierung der Produktion der Anarchie Einhalt tun und
Krisen vorbeugen. Die Entwicklung der Kartelle und Trusts ist freilich eine in ihren
vielseitigen &ouml;konomischen Wirkungen noch nicht erforschte Erscheinung. Sie bildet erst
ein Problem, das nur an der Hand der Marxschen Lehre gel&ouml;st werden kann. Allein, soviel
ist auf jeden Fall klar: von einer Eind&auml;mmung der kapitalistischen Anarchie durch die
Unternehmerkartelle k&ouml;nnte nur in dem Ma&szlig;e die Rede sein, als die Kartelle, Trusts usw.
ann&auml;hernd zu einer allgemeinen, herrschenden Produktionsform werden sollten. Allein
gerade dies ist durch die Natur der Kartelle selbst ausgeschlossen. Der schlie&szlig;liche
&ouml;konomische Zweck und die Wirkung der Unternehmerverb&auml;nde bestehen darin, durch den
Ausschlu&szlig; der Konkurrenz innerhalb einer Branche auf die Verteilung der auf dem
Warenmarkt erzielten Profitmasse so einzuwirken, da&szlig; sie den Anteil dieses
Industriezweiges an ihr steigern. Die Organisation kann in einem Industriezweig nur auf
Kosten der anderen die Profitrate heben, und deshalb kann sie eben unm&ouml;glich allgemein
werden. Ausgedehnt auf alle wichtigeren Produktionszweige hebt sie ihre Wirkung selbst
auf.</p>
<p>Aber auch in den Grenzen ihrer praktischen Anwendung wirken die Unternehmerverb&auml;nde
gerade entgegengesetzt der Beseitigung der industriellen Anarchie. Die bezeichnete
Steigerung der Profitrate erzielen die Kartelle auf dem inneren Markte in der Regel
dadurch, da&szlig; sie die zusch&uuml;ssigen Kapitalportionen, die sie f&uuml;r den inneren Bedarf
nicht verwenden k&ouml;nnen, f&uuml;r das Ausland mit einer viel niedrigeren Profitrate
produzieren lassen, d.h. ihre Waren im Auslande viel billiger verkaufen als im eigenen
Lande. Das Ergebnis ist die versch&auml;rfte Konkurrenz im Auslande, die vergr&ouml;&szlig;erte
Anarchie auf dem Weltmarkt, d. h. gerade das Umgekehrte von dem, was erzielt werden will.
Ein Beispiel davon bietet die Geschichte der internationalen Zuckerindustrie.</p>
<p>Endlich im ganzen als Erscheinungsform der kapitalistischen Produktionsweise d&uuml;rfen
die Unternehmerverb&auml;nde wohl nur als ein &Uuml;bergangsstadium, als eine bestimmte Phase der
kapitalistischen Entwicklung aufgefa&szlig;t werden. In der Tat! In letzter Linie betrachtet,
sind die Kartelle eigentlich ein Mittel der kapitalistischen Produktionsweise, den fatalen
Fall der Profitrate in einzelnen Produktionszweigen aufzuhalten. Welches ist aber die
Methode, der sich die Kartelle zu diesem Zwecke bedienen? Im Grunde genommen ist es nichts
anderes als die Brachlegung eines Teils des akkumulierten Kapitals, d.h. dieselbe Methode,
die in einer anderen Form, in den Krisen zur Anwendung kommt. Ein solches Heilmittel
gleicht aber der Krankheit wie ein Ei dem anderen, und kann nur bis zu einem gewissen
Zeitpunkt als das kleinere &Uuml;bel gelten. Beginnt der Absatzmarkt sich zu verringern, indem
der Weltmarkt bis aufs &auml;u&szlig;erste ausgebildet und durch die konkurrierenden
kapitalistischen L&auml;nder ersch&ouml;pft wird - und der fr&uuml;here oder sp&auml;tere Eintritt eines
solchen Moments kann offenbar nicht geleugnet werden -, dann nimmt auch die erzwungene
teilweise Brachlegung des Kapitals einen solchen Umfang an, da&szlig; die Arznei selbst in
Krankheit umschl&auml;gt und das bereits durch die Organisation stark vergesellschaftete
Kapital sich in privates r&uuml;ckverwandelt. Bei dem verringerten Verm&ouml;gen, auf dem
Absatzmarkt ein Pl&auml;tzchen f&uuml;r sich zu finden, zieht jede private Kapitalportion vor, auf
eigene Faust das Gl&uuml;ck zu probieren. Die Organisationen m&uuml;ssen dann wie Seifenblasen
platzen und wieder einer freien Konkurrenz, in potenzierter Form, Platz machen.</p>
<p>Im ganzen erscheinen also auch die Kartelle, ebenso wie der Kredit, als bestimmte
Entwicklungsphasen, die in letzter Linie die Anarchie der kapitalistischen Welt nur noch
vergr&ouml;&szlig;ern und alle ihre inneren Widerspr&uuml;che zum Ausdruck und zur Reife bringen. Sie
versch&auml;rfen den Widerspruch zwischen der Produktionsweise und der Austauschweise, indem
sie den Kampf zwischen den Produzenten und den Konsumenten auf die Spitze treiben, wie wir
dies besonders in den Vereinigten Staaten Amerikas erleben. Sie versch&auml;rfen ferner den
Widerspruch zwischen der Produktions- und der Aneignungsweise, indem sie der
Arbeiterschaft die &Uuml;bermacht des organisierten Kapitals in brutalster Form
entgegenstellen und so den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit aufs &auml;u&szlig;erste steigern.</p>
<p>Sie versch&auml;rfen endlich den Widerspruch zwischen dem internationalen Charakter der
kapitalistischen Weltwirtschaft und dem nationalen Charakter des kapitalistischen Staates,
indem sie zur Begleiterscheinung einen allgemeinen Zollkrieg haben und so die Gegens&auml;tze
zwischen den einzelnen kapitalistischen Staaten auf die Spitze treiben. Dazu kommt die
direkte, h&ouml;chst revolution&auml;re Wirkung der Kartelle auf die Konzentration der Produktion,
technische Vervollkommnung usw.</p>
<p>So erscheinen die Kartelle und Trusts in ihrer endg&uuml;ltigen Wirkung auf die
kapitalistische Wirtschaft nicht nur als kein &raquo;Anpassungsmittel&laquo;, das ihre Widerspr&uuml;che
verwischt, sondern geradezu als eines der Mittel, die sie selbst zur Vergr&ouml;&szlig;erung der
eigenen Anarchie, zur Austragung der in ihr enthaltenen Widerspr&uuml;che, zur Beschleunigung
des eigenen Unterganges geschaffen hat.</p>
<p>Allein, wenn das Kreditwesen, die Kartelle und dergleichen die Anarchie der
kapitalistischen Wirtschaft nicht beseitigen, wie kommt es, da&szlig; wir zwei Jahrzente lang -
seit 1873 - keine allgemeine Handelskrise hatten? Ist das nicht ein Zeichen, da&szlig; sich die
kapitalistische Produktionsweise wenigstens in der Hauptsache an die Bed&uuml;rfnisse der
Gesellschaft tats&auml;chlich &raquo;angepa&szlig;t&laquo; hat und die von Marx gegebene Analyse &uuml;berholt
ist?</p>
<p>(Wlr glauben, da&szlig; die jetzige Windstille auf dem Weltmarkt sich auf eine andere Weise
erkl&auml;ren l&auml;&szlig;t.</p>
<p>Man hat sich gew&ouml;hnt, die bisherigen gro&szlig;en periodischen Handelskrisen als die von
Marx in seiner Analyse schematisierten Alterskrisen des Kapitalismus zu betrachten. Die
ungef&auml;hr zehnj&auml;hrige Periodizit&auml;t des Produktionszyklus schien die beste Best&auml;tigung
dieses Schemas zu sein. Diese Auffassung beruht jedoch unseres Erachtens auf einem
Mi&szlig;verst&auml;ndnis. Fa&szlig;t man n&auml;her ins Auge die jedesmaligen Ursachen aller bisherigen
gro&szlig;en internationalen Krisen, so mu&szlig; man zu der &Uuml;berzeugung gelangen, da&szlig; sie
s&auml;mtlich nicht der Ausdruck der Altersschw&auml;che der kapitalistischen Wirtschaft, sondern
vielmehr ihres Kindheitsalters waren. Schon eine kurze Besinnung gen&uuml;gt, um von
vornherein darzutun, da&szlig; der Kapitalismus in den Jahren 1825, I836, I847 unm&ouml;glich jenen
periodischen, aus voller Reife entspringenden unvermeidlichen Anprall der Produktivkr&auml;fte
an die Marktschranken erzeugen konnte, wie es im Marxschen Schema aufgezeichnet ist, da er
damals in den meisten L&auml;ndern erst in den Windeln lag.)</p>
<p>In der Tat, die Krise von 1825 war ein Resultat der gro&szlig;en Anlagen bei Stra&szlig;enbauten,
Kan&auml;len und Gaswerken, die in dem vorhergehenden Jahrzehnt, vorz&uuml;glich in England, wie
auch die Krise selbst, stattgefunden haben. Die folgende Krise 1836-1839 war gleichfalls
ein Ergebnis kolossaler Gr&uuml;ndungen bei der Anlage neuer Transportmittel. Die Krise von
1847 ist bekanntlich durch die fieberhaften englischen Eisenbahngr&uuml;ndungen
heraufbeschworen worden (1844-1847, d.h. in drei Jahren allein wurden vom Parlament neue
Eisenbahnen f&uuml;r etwa 1&frac12; Milliarden Taler konzessioniert!). In allen drei F&auml;llen sind es
also verschiedene Formen der Neukonstruierung der Wirtschaft des Kapitals, der Grundlegung
neuer Fundamente unter die kapitalistische Entwicklung, die die Krisen im Gefolge hatten.
Im Jahre 1857 sind es die pl&ouml;tzliche Er&ouml;ffnung neuer Absatzm&auml;rkte f&uuml;r die europ&auml;ische
Industrie in Amerika und Australien infolge der Entdekkung von Goldminen, in Frankreich
speziell die Eisenbahngr&uuml;ndungen, in denen es in Englands Fu&szlig;stapfen trat (1852-56
wurden f&uuml;r 1&frac14; Milliarden Franken neue Eisenbahnen in Frankreich gegr&uuml;ndet). Endlich die
gro&szlig;e Krise von 1873 ist bekanntlich eine direkte Folge der Neukonstituierung, des ersten
Sturmlaufs der Gro&szlig;industrie in Deutschland und in &Ouml;sterreich, die den politischen
Ereignissen von 1866 und 1871 folgte.</p>
<p>Es war also jedesmal die pl&ouml;tzliche Erweiterung des Gebiets der kapitalistischen
Wirtschaft und nicht die Einengung ihres Spielraums, nicht ihre Ersch&ouml;pfung, die bisher
den Anla&szlig; zu Handelskrisen gab. Da&szlig; jene internationalen Krisen sich gerade alle zehn
Jahre wiederholten, ist an sich eine rein &auml;u&szlig;erliche, zuf&auml;llige Erscheinung. Das
Marxsche Schema der Krisenbildung, wie Engels es in dem Anti-D&uuml;hring und Marx im 1. und
3. Band des &raquo;Kapital&laquo; gegeben haben, trifft auf alle Krisen insofern zu, als es
ihren inneren Mechanismus und ihre tiefliegenden allgemeinen Ursachen aufdeckt.</p>
<p>(ln seinem Ganzen pa&szlig;t aber dieses Schema vielmehr auf eine vollkommen entwikkelte
kapitalistische Wirtschaft, wo der Weltmarkt als etwas bereits Gegebenes vorausgesetzt
wird. Nur dann k&ouml;nnen sich die Krisen aus der inneren eigenen Bewegung des Produktions-
und Austauschprozesses auf jene mechanische Weise, ohne den &auml;u&szlig;eren Anla&szlig; einer
pl&ouml;tzlichen Ersch&uuml;tterung in den Produktions- und Marktverh&auml;ltnissen wiederholen, wie
es von der Marxschen Analyse angenommen wird. Wenn wir uns nun die heutige &ouml;konomische
Lage vergegenw&auml;rtigen, so m&uuml;ssen wir jedenfalls zugeben, da&szlig; wir noch nicht in jene
Phase vollkommener kapitalistischer Reife getreten sind, die bei dem Marxschen Schema der
Krisenperiodizit&auml;t vorausgesetzt wird. Der Weltmarkt ist immer noch in der Ausbildung
begriffen. Deutschland und &Ouml;sterreich traten erst in den 70er Jahren in die Phase der
eigentlichen gro&szlig;industriellen Produktion, Ru&szlig;land erst in den 80er Jahren, Frankreich
ist bis jetzt noch zum gro&szlig;en Teil kleingewerblich, die Balkanstaaten haben noch zum
betr&auml;chtlichen Teil nicht einmal die Fesseln der Naturalwirtschaft abgestreift, erst in
den 80er Jahren sind Amerika, Australien und Afrika in einen regen und regelm&auml;&szlig;igen
Warenverkehr mit Europa getreten. Wenn wir deshalb einerseits die pl&ouml;tzlichen
sprungweisen Erschlie&szlig;ungen neuer Gebiete der kapitalistischen Wirtschaft, wie sie bis zu
den 70er Jahren periodisch auftraten, und die bisherigen Krisen, sozusagen die
Jugendkrisen, im Gefolge hatten, bereits hinter uns haben, so sind wir andererseits noch
nicht bis zu jenem Grade der Ausbildung und der Ersch&ouml;pfung des Weltmarkts
vorgeschritten, die einen fatalen, periodischen Anprall der Produktivkr&auml;fte an die
Marktschranken, die wirklichen kapitalistischen Alterskrisen, erzeugen w&uuml;rde. Wir
befinden uns in einer Phase, wo die Krisen nicht mehr das Aufkommen des Kapitalismus und
noch nicht seinen Untergang begleiten. Diese &Uuml;bergangsperiode charakterisiert sich auch
durch den seit etwa zwei Jahrzehnten anhaltenden, durchschnittlich matten Gesch&auml;ftsgang,
wo kurze Perioden des Aufschwungs mit langen Perioden der Depression abwechseln.</p>
<p>Da&szlig; wir uns aber unaufhaltsam dem Anfang vom Ende, der Periode der kapitalistischen
Schlu&szlig;krisen n&auml;hern, das folgt eben aus denselben Erscheinungen, die vorl&auml;ufig das
Ausbleiben der Krisen bedingen. Ist einmal der Weltmarkt im gro&szlig;en und ganzen ausgebildet
und kann er durch keine pl&ouml;tzlichen Erweiterungen mehr vergr&ouml;&szlig;ert werden, schreitet
zugleich die Produktivit&auml;t der Arbeit unaufhaltsam fort, dann beginnt &uuml;ber kurz oder
lang der periodische Widerstreit der Produktivkr&auml;fte mit den Austauschschranken, der von
selbst durch seine Wiederholung immer schroffer und st&uuml;rmischer wird. Und wenn etwas
speziell dazu geeignet ist, uns dieser Periode zu n&auml;hern, den Weltmarkt rasch
herzustellen und ihn rasch zu ersch&ouml;pfen, so sind es eben diejenigen Erscheinungen - das
Kreditwesen und die Unternehmerorganisationen -, auf die Bernstein als auf
&raquo;Anpassungsmittel&laquo; des Kapitalismus baut.)</p>
<p>Die Annahme, die kapitalistische Produktion k&ouml;nnte sich dem Austausch &raquo;anpassen&laquo;,
setzt eins von beiden voraus: entweder, da&szlig; der WeltIrmarkt unumschr&auml;nkt und ins
Unendliche w&auml;chst, oder umgekehrt, da&szlig; die Produktivkr&auml;fte in ihrem Wachsturn gehemmt
werden, damit sie nicht &uuml;ber die Marktschranken hinauseilen. Ersteres ist eine physische
Unm&ouml;glichkeit, letzterem steht die Tatsache entgegen, da&szlig; auf Schritt und Tritt
technische Umw&auml;lzungen auf allen Gebieten der Produktion vor sich gehen und jeden Tag
neue Produktivkr&auml;fte wachrufen.</p>
<p>Noch eine Erscheinung widerspricht nach Bernstein dem bezeichneten Gang der
kapitalistischen Dinge: die &raquo;schier unersch&uuml;tterliche Phalanx&laquo; der Mittelbetriebe, auf
die er uns hinweist. Er sieht darin ein Zeichen, da&szlig; die gro&szlig;industrielle Entwicklung
nicht so revolutionierend und konzentrierend wirkt, wie es nach der
&raquo;Zusammenbruchstheorie&laquo; h&auml;tte erwartet werden m&uuml;ssen. Allein er wird auch hier zum
Opfer des eigenen Mi&szlig;verst&auml;ndnisses. Es hie&szlig;e in der Tat die Entwicklung der
Gro&szlig;industrie ganz falsch auffassen, wenn man erwarten w&uuml;rde, es sollten dabei die
Mittelbetriebe stufenweise von der Oberfl&auml;che verschwinden.</p>
<p>In dem allgemeinen Gange der kapitalistischen Entwicklung spielen gerade nach der
Annahme von Marx die Kleinkapitale die Rolle der Pioniere der technischen Revolution, und
zwar in doppelter Hinsicht, ebenso in bezug auf neue Produktionsmethoden in alten und
befestigten, fest eingewurzelten Branchen, wie auch in bezug auf Schaffung neuer, von
gro&szlig;en Kapitalien noch gar nicht exploitierter Produktionszweige. Vollkommen falsch ist
die Auffassung, als ginge die Geschichte des kapitalistischen Mittelbetriebes in gerader
Linie abw&auml;rts zum stufenweisen Untergang. Der tats&auml;chliche Verlauf der Entwicklung ist
vielmehr auch hier rein dialektisch und bewegt sich best&auml;ndig zwischen Gegens&auml;tzen. Der
kapitalistische Mittelstand befindet sich ganz wie die Arbeiterklasse unter dem Einflu&szlig;
zweier entgegengesetzter Tendenzen, einer ihn erhebenden und einer ihn herabdr&uuml;ckenden
Tendenz. Die herabdr&uuml;kckende Tendenz ist gegebenenfalls das best&auml;ndige Steigen der
Stufenleiter der Produktion, welche den Umfang der Mittelkapitale periodisch &uuml;berholt und
sie so immer wieder aus dem Wettkampf herausschleudert. Die hebende Tendenz ist die
periodische Entwertung des vorhandenen Kapitals, die die Stufenleiter der Produktion - dem
Werte des notwendigen Kapitalminimums nach - immer wieder f&uuml;r eine Zeitlang senkt, sowie
das Eindringen der kapitalistischen Produktion in neuen Sph&auml;ren. Der Kampf des
Mittelbetriebes mit dem Gro&szlig;kapital ist nicht als eine regelm&auml;&szlig;ige Schlacht zu denken,
wo der Trupp des schw&auml;cheren Teiles direkt und quantitativ immer mehr zusammenschmilzt,
sondern vielmehr als ein periodisches Abm&auml;hen der Kleinkapitale, die dann immer wieder
rasch aufkommen, um von neuem durch die Sense der Gro&szlig;industrie abgem&auml;ht zu werden. Von
den beiden Tendenzen, die mit dem kapitalistischen Mittelstand Fangball spielen, siegt in
letzter Linie - im Gegensatz zu der Entwicklung der Arbeiterklasse - die herabdr&uuml;ckende
Tendenz. Dies braucht sich aber durchaus nicht in der absoluten zahlenm&auml;&szlig;igen Abnahme
der Mittelbetriebe zu &auml;u&szlig;ern, sondern erstens in dem allm&auml;hlich steigenden
Kapitalminimum, das zum existenzf&auml;higen Betriebe in den alten Branchen n&ouml;tig ist,
zweitens in der immer k&uuml;rzeren Zeitspanne, w&auml;hrend der sich Kleinkapitale der
Exploitation neuer Branchen auf eigene Hand erfreuen. Daraus folgt f&uuml;r das individuelle
Kleinkapital eine immer k&uuml;rzere Lebensfrist und ein immer rascherer Wechsel der
Produktionsmethoden wie der Anlagearten, und f&uuml;r die Klasse im ganzen ein immer rascherer
sozialer Stoffwechsel.</p>
<p>Letzteres wei&szlig; Bernstein sehr gut, und er stellt es selbst fest. Was er aber zu
vergessen scheint, ist, da&szlig; damit das Gesetz selbst der Bewegung der kapitalistischen
Mittelbetriebe gegeben ist. Sind die Kleinkapitale einmal die Vork&auml;rnpfer des technischen
Fortschrittes, und ist der technische Fortschritt der Lebenspulsschlag der
kapitalistischen Wirtschaft, so bilden offenbar die Kleinkapitale eine unzertrennliche
Begleiterscheinung der kapitalistischen Entwicklung, die erst mit ihr zusammen
verschwinden kann. Das stufenweise Verschwinden der Mittelbetriebe - im Sinne der
absoluten summarischen Statistik, um die es sich bei Bernstein handelt - w&uuml;rde bedeuten,
nicht wie Bemstein meint, den revolution&auml;ren Entwicklungsgang des Kapitalismus, sondern
gerade umgekehrt eine Stockung, Einschlummerung des letzteren. &raquo;Die Profitrate, d.h. der
verh&auml;ltnism&auml;&szlig;ige Kapitalzuwachs ist vor allem wichtig f&uuml;r alle neuen, sich
selbst&auml;ndig gruppierenden Kapitalableger. Und sobald die Kapitalbildung ausschlie&szlig;lich
in die H&auml;nde einiger wenigen fertigen Gro&szlig;kapitale fiele,... w&auml;re &uuml;berhaupt das
belebende Feuer der Produktion erloschen. Sie w&uuml;rde einschlummern.&laquo;</p>
<p>(Die Bernsteinschen Anpassungsmittel erweisen sich somit als unwirksam, und die
Erscheinungen, die er als Symptome der Anpassung erkl&auml;rt, m&uuml;ssen auf ganz andere
Ursachen zur&uuml;ckgef&uuml;hrt werden.)</p>
<H3 align="center"><A name="1_3">3. Einf&uuml;hrung des Sozialismus durch soziale Reformen</a></H3>
<p>Bernstein verwirft die &raquo;Zusammenbruchstheorie&laquo; als den historischen Weg zur
Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaft. Welches ist der Weg, der vom Standpunkte
der &raquo;Anpassungstheorie des Kapitalismus&laquo; dazu f&uuml;hrt? Bernstein hat diese Frage
nur andeutungsweise beantwortet, den Versuch, sie ausf&uuml;hrlicher im Sinne Bernsteins
darzustellen, hat Konrad Schmidt gemacht.4 Nach ihm wird &raquo;der gewerkschaftliche Kampf und
der politische Kampf um soziale Reformen eine immer weiter erstreckte gesellschaftliche
Kontrolle &uuml;ber die Produktionsbedingungen&laquo; herbeif&uuml;hren und durch die Gesetzgebung
&raquo;den Kapitaleigent&uuml;mer durch Beschr&auml;nkung seiner Rechte mehr und mehr in die Rolle
eines Verwalters herabdr&uuml;cken&laquo;, bis schlie&szlig;lich &raquo;dem m&uuml;rbe gemachten Kapitalisten,
der seinen Besitz immer wertloser f&uuml;r sich selbst werden sieht, die Leitung und
Verwaltung des Betriebes abgenommen&laquo; und so endg&uuml;ltig der gesellschaftliche Betrieb
eingef&uuml;hrt wird.</p>
<p>Also Gewerkschaften, soziale Reformen und noch, wie Bernstein hinzuf&uuml;gt, die
politische Demokratisierung des Staates, das sind Mittel der allm&auml;hlichen Einf&uuml;hrung des
Sozialismus.</p>
<p>Um bei den Gewerkschaften anzufangen, so besteht ihre wichtigste Funktion - und niemand
hat es besser dargetan als Bernstein selbst im Jahre 1891 in der 'Neuen Zeit' - darin,
da&szlig; sie auf seiten der Arbeiter das Mittel sind, das kapitalistische Lohngesetz, d.h. den
Verkauf der Arbeitskraft nach ihrem jeweiligen Marktpreis, zu verwirklichen. Worin die
Gewerkschaften dem Proletariat dienen, ist, die in jedem Zeitpunkte gegebenen Konjunkturen
des Marktes f&uuml;r sich auszunutzen. Diese Konjunkturen selbst aber, d.h. einerseits die von
dem Produktionsstand bedingte Nachfrage nach Arbeitskraft, andererseits das durch
Proletarisierung der Mittelschichten und nat&uuml;rliche Fortpflanzung der Arbeiterklasse
geschaffene Angebot der Arbeitskraft, endlich auch der jeweilige Grad der Produktivit&auml;t
der Arbeit, liegen au&szlig;erhalb der Einwirkungssph&auml;re der Gewerkschaften. Sie k&ouml;nnen
deshalb das Lohngesetz nicht umst&uuml;rzen; sie k&ouml;nnen im besten Falle die kapitalistische
Ausbeutung in die jeweilig &raquo;normalen&laquo; Schranken weisen, keineswegs aber die
Ausbeutung selbst stufenweise aufheben.</p>
<p>Konrad Schmidt nennt freilich die jetzige gewerkschaftliche Bewegung &raquo;schw&auml;chliche
Anfangsstadien&laquo; und verspricht sich von der Zukunft, da&szlig; &raquo;das Gewerkschaftswesen auf
die Regulierung der Produktion selbst einen immer steigenden Einflu&szlig; gewinnt&laquo;. Unter der
Regulierung der Produktion kann man aber nur zweierlei verstehen: die Einmischung in die
technische Seite des Produktionsprozesses und die Bestimmung des Umfangs der Produktion
selbst. Welcher Natur kann in diesen beiden Fragen die Einwirkung der Gewerkschaften sein?
Es ist klar, da&szlig;, was die Technik der Produktion betrifft, das Interesse des Kapitalisten
mit dem Fortschritt und der Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft in gewissen
Grenzen zusammenf&auml;llt. Es ist die eigene Not, die ihn zu technischen Verbesserungen
anspomt. Die Stellung des einzelnen Arbeiters hingegen ist gerade entgegengesetzt: jede
technische Umw&auml;lzung widerstreitet den Interessen der direkt dadurch ber&uuml;hrten Arbeiter
und verschlechtert ihre unmittelbare Lage, indem sie die Arbeitskraft entwertet, die
Arbeit intensiver, eint&ouml;niger, qualvoller macht. Insofern sich die Gewerkschaft in die
technische Seite der Produktion einmischen kann, kann sie offenbar nur im letzteren Sinne,
d.h. im Sinne der direkt interessierten einzelnen Arbeitergruppe handeln, also sich
Neuerungen widersetzen. In diesem Falle handelt sie aber nicht im Interesse der
Arbeiterklasse im ganzen und ihrer Emanzipation, die vielmehr mit dem technischen
Fortschritt, d.h. mit dem Interesse des einzelnen Kapitalisten &uuml;bereinstimmen, sondern
gerade entgegengesetzt, im Sinne der Reaktion. Und in der Tat, wir finden das Bestreben,
auf die technische Seite der Produktion einzuwirken, nicht in der Zukunft, wo Konrad
Schmidt sie sucht, sondern in der Vergangenheit der Gewerkschaftsbewegung. Sie bezeichnet
die &auml;ltere Phase des englischen Trade Unionismus (bis in die 6oer Jahre), wo er noch an
mittelalterlich-z&uuml;nftlerische &Uuml;berlieferungen ankn&uuml;pfte und charakteristischerweise von
dem veralteten Grundsatz des &raquo;erworbenen Rechts auf angemessene Arbeit&laquo; getragen war.5
Die Bestrebung der Gewerkschaften, den Umfang der Produktion und die Warenpreise zu
bestimmen, ist hingegen eine Erscheinung ganz neuen Datums. Erst in der allerletzten Zeit
sehen wir - wiederum nur in England - dahingehende Versuche auftauchen.6 Dem Charakter und
der Tendenz nach sind aber auch diese Bestrebungen jenen ganz gleichwertig. Denn worauf
reduziert sich notwendigerweise die aktive Teilnahme der Gewerkschaft an der Bestimmung
des Umfangs und der Preise der Warenproduktion? Auf ein Kartell der Arbeiter mit den
Unternehmern gegen den Konsumenten, und zwar unter Gebrauch von Zwangsma&szlig;regeln gegen
konkurrierende Unternehmer, die den Methoden der regelrechten Unternehmerverb&auml;nde in
nichts nachstehen. Es ist dies im Grunde genommen kein Kampf zwischen Arbeit und Kapital
mehr, sondern ein solidarischer Kampf des Kapitals und der Arbeitskraft gegen die
konsumierende Gesellschaft. Seinem sozialen Werte nach ist das ein reaktion&auml;res Beginnen,
das schon deshalb keine Etappe in dem Emanzipationskampfe des Proletariats bilden kann,
weil es vielmehr das gerade Gegenteil von einem Klassenkampf darstellt. Seinem praktischen
Werte nach ist das eine Utopie, die sich, wie eine kurze Besinnung dartut, nie auf
gr&ouml;&szlig;ere und f&uuml;r den Weltmarkt produzierende Branchen erstrecken kann.</p>
<p>Die T&auml;tigkeit der Gewerkschaften beschr&auml;nkt sich also in der Hauptsache auf den
Lohnkampf und die Verk&uuml;rzung der Arbeitszeit, d.h. blo&szlig; auf die Regulierung der
kapitalistischen Ausbeutung je nach den Marktverh&auml;ltnissen; die Einwirkung auf den
Produktionsproze&szlig; bleibt ihnen der Natur der Dinge nach verschlossen. Ja, noch mehr, der
ganze Zug der gewerkschaftlichen Entwicklung richtet sich gerade umgekehrt, wie es Konrad
Schmidt annimmt, auf die v&ouml;llige Abl&ouml;sung des Arbeitsmarktes von jeder unmittelbaren
Beziehung zu dem &uuml;brigen Warenmarkt. Am bezeichnenfsten hierf&uuml;r ist die Tatsache, da&szlig;
sogar die Bestrebung, den Arbeitskontrakt wenigstens passiv mit der allgemeinen
Produktionslage in unmittelbare Beziehung zu bringen, durch das System der gleitenden
Lohnlisten nunmehr von der Entwicklung &uuml;berholt ist, und da&szlig; sich die englischen Trade
Unions von ihnen immer mehr abwenden.7</p>
<p>Aber auch in den tats&auml;chlichen Schranken ihrer Einwirkung geht die gewerkschaftliche
Bewegung, nicht wie es die Theorie der Anpassung des Kapitals voraussetzt, einer
unumschr&auml;nkten Ausdehnung entgegen. Ganz umgekehrt! Fa&szlig;t man gr&ouml;&szlig;ere Strecken der
sozialen Entwicklung ins Auge, so kann man sich der Tatsache nicht verschlie&szlig;en, da&szlig; wir
im gro&szlig;en und ganzen nicht Zeiten einer siegreichen Machtentfaltung, sondern wachsenden
Schwierigkeiten der gewerkschaftlichen Bewegung entgegengehen. Hat die Entwicklung der
Industrie ihren H&ouml;hepunkt erreicht und beginnt f&uuml;r das Kapital auf dem Weltmarkt der
&raquo;absteigende Ast&laquo;, dann wird der gewerkschaftliche Kampf doppelt schwierig: erstens
verschlimmern sich die objektiven Konjunkturen des Marktes f&uuml;r die Arbeitskraft, indem
die Nachfrage langsamer, das Angebot aber rascher steigt, als es jetzt der Fall ist,
zweitens greift das Kapital selbst, urn sich f&uuml;r die Verluste auf dem Weltmarkt zu
entsch&auml;digen, um so hartn&auml;ckiger auf die dem Arbeiter zukommende Portion des Produktes
zur&uuml;ck. Ist doch die Reduzierung des Arbeitslohnes eines der wichtigsten Mittel, den Fall
der Profitrate aufzuhalten. England bietet uns bereits das Bild des beginnenden zweiten
Stadiums in der gewerkschaftlichen Bewegung. Sie reduzirt sich dabei notgedrungen immer
mehr auf die blo&szlig;e Verteidigung des bereits Errungenen, und auch diese wird immer
schwieriger. Der bezeichnete allgemeine Gang der Dinge ist es, dessen Gegenst&uuml;ck der
Aufschwung des politischen und sozialistischen Klassenkampfes sein mu&szlig;.</p>
<p>Den gleichen Fehler der umgekehrten geschichtlichen Perspektive begeht Konrad Schmidt
in bezug auf die Sozialreform, von der er sich verspricht, da&szlig; sie &raquo;Hand in Hand mit den
gewerkschaftlichen Arbeiterkoalitionen der Kapitalistenklasse die Bedingungen, unter denen
sie allein Arbeitskr&auml;fte verwenden darf, aufoktroyiert&laquo;. Im Sinne der so aufgefa&szlig;ten
Sozialreform nennt Bernstein die Fabrikgesetze ein St&uuml;ck &raquo;gesellschaftliche Kontrolle&laquo;
und als solche - ein St&uuml;ck Sozialismus. Auch Konrad Schmidt sagt &uuml;berall, wo er vom
staatlichen Arbeiterschutz spricht, &raquo;gesellschaftliche Kontrolle&laquo;, und hat er so
gl&uuml;cklich den Staat in Gesellschaft verwandelt, dann setzt er schon getrost hinzu: &raquo;d.h.
die aufstrebende Arbeiterklasse&laquo;, und durch diese Operation verwandeln sich die harmlosen
Arbeiterschutzbestimmungen des deutschen Bundesrates in sozialistische
&Uuml;bergangsma&szlig;regeln des deutschen Proletariats.</p>
<p>Die Mystifikation liegt hier auf der Hand. Der heutige Staat ist eben keine
&raquo;Gesellschaft&laquo; im Sinne der &raquo;aufstrebenden Arbeiterklasse&laquo;, sondern Vertreter der
kapitalistischen Gesellschaft, d.h. Klassenstaat. Deshalb ist auch die von ihm gehandhabte
Sozialreform nicht eine Bet&auml;tigung der &raquo;gesellschaftlichen Kontrolle&laquo;, d.h. der
Kontrolle der freien arbeitenden Gesellschaft &uuml;ber den eigenen Arbeitsproze&szlig;, sondern
eine Kontrolle der Klassenorganisation des Kapitals &uuml;ber den Produktionsproze&szlig; des
Kapitals. Darin, d.h. in den Interessen des Kapitals, findet denn auch die Sozialreform
ihre nat&uuml;rlichen Schranken. Freilich, Bernstein und Konrad Schmidt sehen auch in dieser
Beziehung in der Gegenwart blo&szlig; &raquo;schw&auml;chliche Anfangsstadien&laquo; und versprechen sich von
der Zukunft eine ins Unendliche steigende Sozialreform zugunsten der Arbeiterklasse.
Allein sie begehen dabei den gleichen Fehler, wie in der Annahme einer unumschr&auml;nkten
Machtentfaltung der Gewerkschaftsbewegung.</p>
<p>Die Theorie der allm&auml;hlichen Einf&uuml;hrung des Sozialismus durch soziale Reformen setzt
als Bedingung, und hier liegt ihr Schwerpunkt, eine bestimmte objektive Entwicklung ebenso
des kapitalistischen Eigentums wie des Staates, voraus. In bezug auf das erstere geht das
Schema der k&uuml;nftigen Entwicklung, wie es Konrad Schmidt voraussetzt, dahin, &raquo;den
Kapitaleigent&uuml;mer durch Beschr&auml;nkung seiner Rechte mehr und mehr in die Rolle eines
Verwalters herabzudr&uuml;cken&laquo;. Angesichts der angeblichen Unm&ouml;glichkeit der einmaligen
pl&ouml;tzlichen Expropriation der Produktionsmittel macht sich Konrad Schmidt eine Theorie
der stufenweisen Enteignung zurecht. Hierf&uuml;r konstruiert er sich als notwendige
Voraussetzung eine Zersplitterung des Eigentumsrechts in ein &raquo;Obereigentum&laquo;, das er der
&raquo;Gesellschaft&laquo; zuweist, und das er immer mehr ausgedehnt wissen will, und ein
Nutznie&szlig;recht, das in den H&auml;nden des Kapitalisten immer mehr zur blo&szlig;en Verwaltung
seines Betriebes zusammenschrumpft. Nun ist diese Konstruktion entweder ein harmloses
Wortspiel, bei dem nichts Wichtiges weiter gedacht wurde. Dann bleibt die Theorie der
allm&auml;hlichen Expropriation ohne alle Deckung. Oder es ist ein ernst gemeintes Schema der
rechtlichen Entwicklung. Dann ist es aber v&ouml;llig verkehrt. Die Zersplitterung der im
Eigentumsrecht liegenden verschiedenen Befugnisse, zu der Konrad Schmidt f&uuml;r seine
&raquo;stufenweise Expropriation&laquo; des Kapitals Zuflucht nimmt, ist charakteristisch f&uuml;r die
feudal-naturalwirtschaftliche Gesellschaft, in der die Verteilung des Produktes unter die
verschiedenen Gesellschaftsklassen in natura und auf Grund pers&ouml;nlicher Beziehungen
zwischen den Feudalherren und ihren Untergebenen vor sich ging. Der Zerfall des Eigentums
in verschiedene Teilrechte war hier die im voraus gegebene Organisation der Verteilung des
gesellschaftlichen Reichtums. Mit dem &Uuml;bergang zur Warenproduktion und der Aufl&ouml;sung
aller pers&ouml;nlichen Bande zwischen den einzelnen Teilnehmern des Produktionsprozesses
befestigte sich umgekehrt das Verh&auml;ltnis zwischen Mensch und Sache - das Privateigentum.
Indem die Verteilung sich nicht mehr durch pers&ouml;nliche Beziehungen, sondern durch den
Austausch vollzieht, messen sich verschiedene Anteilanspr&uuml;che an dem gesellschaftlichen
Reichtum nicht in Splittern des Eigentumsrechts an einem gemeinsamen Objekt, sondern in
dem von jedermann zu Markte gebrachten Wert. Der erste Umschwung in rechtlichen
Beziehungen, der das Aufkommen der Warenproduktion in den st&auml;dtischen Kommunen des
Mittelalters begleitete, war auch die Ausbildung des absoluten geschlossenen
Privateigentums im Scho&szlig;e der feudalen Rechtsverh&auml;ltnisse mit geteiltem Eigentum. In der
kapitalistischen Produktion setzt sich aber diese Entwicklung weiter fort. Je mehr der
Produktionsproze&szlig; vergesellschaftet wird, um so mehr beruht der Verteilungsproze&szlig; auf
reinem Austausch und um so unantastbarer und geschlossener wird das kapitalistische
Privateigentum, um so mehr schl&auml;gt das Kapitaleigentum aus einem Recht auf das Produkt
der eigenen Arbeit in ein reines Aneignungsrecht gegen&uuml;ber fremder Arbeit um. So lange
der Kapitalist selbst die Fabrik leitet, ist die Verteilung noch bis zu einem gewissen
Grade an pers&ouml;nliche Teilnahme an dem Produktionsproze&szlig; gekn&uuml;pft. In dem Ma&szlig;e, wie die
pers&ouml;nliche Leitung des Fabrikanten &uuml;berfl&uuml;ssig wird, und vollends in den
Aktiengesellschaften, sondert sich das Eigentum an Kapital als Anspruchstitel bei der
Verteilung g&auml;nzlich von pers&ouml;nlichen Beziehungen zur Produktion und erscheint in seiner
reinsten, geschlossenen Form. In dem Aktienkapital und dem industriellen Kreditkapital
gelangt das kapitalistische Eigentumsrecht erst zu seiner vollen Ausbildung.</p>
<p>Das geschichtliche Schema der Entwicklung des Kapitalisten, wie es Konrad Schmidt
zeichnet: &raquo;vom Eigent&uuml;mer zum blo&szlig;en Verwalter&laquo;, erscheint somit als die auf den Kopf
gestellte tats&auml;chliche Entwicklung, die umgekehrt vom Eigent&uuml;mer und Verwalter zum
blo&szlig;en Eigent&uuml;mer f&uuml;hrt. Es geht hier Konrad Schmidt wie Goethe:</p>
<p>Was er besitzt, das sieht er wie im Weiten, Und was verschwand, wird ihm zu
Wirklichkeiten.</p>
<p>Und wie sein historisches Schema &ouml;konomisch von der modernen Aktiengesellschaft auf
die Manufakturfabrik oder gar auf die Handwerker-Werkstatt zur&uuml;ckgeht, so will es
rechtlich die kapitalistische Welt in die feudal-naturalwirtschaftlichen Eierschalen
zur&uuml;ckstecken.</p>
<p>Von diesem Standpunkte erscheint auch die &raquo;gesellschaftliche Kontrolle&laquo; in einem
anderen Lichte, als sie Konrad Schmidt sieht. Das, was heute als &raquo;gesellschaftliche
Kontrolle&laquo; funktioniert - der Arbeiterschutz, die Aufsicht &uuml;ber Aktiengesellschaften
usw. - hat tats&auml;chlich mit einem Anteil am Eigentumsrecht, mit &raquo;Obereigentum&laquo; nicht das
geringste zu tun. Sie bet&auml;tigt sich nicht als Beschr&auml;nkung des kapitalistischen
Eigentums, sondern umgekehrt als dessen Schutz. Oder &ouml;konomisch gesprochen, sie bildet
nicht einen Eingriff in die kapitalistische Ausbeutung, sondern eine Normierung. Ordnung
dieser Ausbeutung. Und wenn Bernstein die Frage stellt, ob in einem Fabrikgesetz viel oder
wenig Sozialismus steckt, so k&ouml;nnen wir ihm versichern, da&szlig; in dem allerbesten
Fabrikgesetz genau so viel &raquo;Sozialismus&laquo; steckt wie in den Magistratsbestimmungen &uuml;ber
die Stra&szlig;enreinigung und das Anz&uuml;nden der Gaslaternen, was ja auch &raquo;gesellschaftliche
Kontrolle&laquo; ist.</p>
<H3 align="center"><A name="1_4">4. Zollpolitik und
Militarismus</a></H3>
<p>Die zweite Voraussetzung der allm&auml;hlichen Einf&uuml;hrung des Sozialismus bei Ed.
Bernstein ist die Entwicklung des Staates zur Gesellschaft. Es ist dies bereits zum
Gemeinplatz geworden, da&szlig; der heutige Staat ein Klassenstaat ist. Indes m&uuml;&szlig;te unseres
Erachtens auch dieser Satz, wie alles, was auf die kapitalistische Gesellschaft Bezug hat,
nicht in einer starren, absoluten G&uuml;ltigkeit, sondern in der flie&szlig;enden Entwicklung
aufgefa&szlig;t werden.</p>
<p>Mit dem politischen Sieg der Bourgeoisie ist der Staat zum kapitalistischen Staat
geworden. Freilich, die kapitalistische Entwicklung selbst ver&auml;ndert die Natur des
Staates wesentlich, indem sie die Sph&auml;re seiner Wirkung immer mehr erweitert, ihm immer
neue Funktionen zuweist, namentlich in bezug auf das &ouml;konomische Leben seine Einmischung
und Kontrolle dar&uuml;ber immer notwendiger macht. Insofern bereitet sich allm&auml;hlich die
k&uuml;nftige Verschmelzung des Staates mit der Gesellschaft vor, sozusagen der R&uuml;ckfall der
Funktionen des Staates an die Gesellschaft. Nach dieser Richtung hin kann man auch von
einer Entwicklung des kapitalistischen Staats zur Gesellschaft sprechen, und in diesem
Sinne zweifellos, sagt Marx, der Arbeiterschutz sei die erste bewu&szlig;te Einmischung &raquo;der
Gesellschaft&laquo; in ihren sozialen Lebensproze&szlig;, ein Satz, auf den sich Bernstein beruft.</p>
<p>Aber auf der anderen Seite vollzieht sich im Wesen des Staates durch dieselbe
kapitalistische Entwicklung eine andere Wandlung. Zun&auml;chst ist der heutige Staat - eine
Organisation der herrschenden Kapitalistenklasse. Wenn er im Interesse der
gesellschaftlichen Entwicklung verschiedene Funktionen von allgemeinem Interesse
&uuml;bernimmt, so nur, weil und insofern diese Interessen und die gesellschaftliche
Entwicklung mit den Interessen der herrschenden Klasse im allgemeinen zusammenfallen. Der
Arbeiterschutz z.B. liegt ebenso sehr im unmittelbaren Interesse der Kapitalisten als
Klasse, wie der Gesellschaft im ganzen. Aber diese Harmonie dauert nur bis zu einem
gewissen Zeitpunkt der kapitalistischen Entwicklung. Hat die Entwicklung einen bestimmten
H&ouml;hepunkt erreicht, dann fangen die Interessen der Bourgeoisie als Klasse und die des
&ouml;konomischen Fortschritts an, auch im kapitalistischen Sinne auseinanderzugehen. Wir
glauben, da&szlig; diese Phase bereits herangebrochen ist, und dies &auml;u&szlig;ert sich in den zwei
wichtigsten Erscheinungen des heutigen sozialen Lebens: in der Zollpolitik und im
Militarismus. Beides - Zollpolitik wie Militarismus - haben in der Geschichte des
Kapitalismus ihre unentbehrliche und insofern fortschrittliche, revolution&auml;re Rolle
gespielt. Ohne den Zollschutz w&auml;re das Aufkommen der Gro&szlig;industrie in den einzelnen
L&auml;ndern kaum m&ouml;glich gewesen. Heute liegen aber die Dinge anders (ln allen wichtigsten
L&auml;ndern und zwar gerade in denen, die am meisten Zollpolitik treiben, ist die
kapitalistische Produktion so ziemlich zum gleichen Durchschnitt gelangt.)</p>
<p>Vom Standpunkte der kapitalistischen Entwicklung, d.h. vom Standpunkte der
Weltwirtschaft, ist es heute ganz gleichg&uuml;ltig, ob Deutschland nach England mehr Waren
ausf&uuml;hrt oder England nach Deutschland. Vom Standpunkt derselben Entwicklung hat also der
Mohr seine Arbeit getan und k&ouml;nnte gehen. Ja, er m&uuml;&szlig;te gehen. Bei der heutigen
gegenseitigen Abh&auml;ngigkeit verschiedener Industriezweige m&uuml;ssen Schutzz&ouml;lle auf
irgendwelche Waren die Produktion anderer Waren im Inlande verteuern, d.h. die Industrie
wieder unterbinden. Nicht aber so vom Standpunkte der Interessen der Kapitalistenklasse.
Die Industrie bedarf zu ihrer Entwicklung des Zollschutzes nicht, wohl aber die
Unternehmer zum Schutze ihres Absatzes. Das hei&szlig;t die Z&ouml;lle dienen heute nicht mehr als
Schutzmittel einer aufstrebenden kapitalistischen Produktion gegen eine reifere, sondern
als Kampfrnittel einer nationalen Kapitalistengruppe gegen eine andere. Die Z&ouml;lle sind
ferner nicht mehr n&ouml;tig als Schutzmittel der Industrie, um einen inl&auml;ndischen Markt zu
bilden und zu erobern, wohl aber als unentbehrliches Mittel zur Kartellierung der
Industrie, d.h. zum Kampfe der kapitalistischen Produzenten mit der konsumierenden
Gesellschaft. Endlich, was am grellsten den spezifischen Charakter der heutigen
Zollpolitik markiert, ist die Tatsache, da&szlig; jetzt &uuml;berall die ausschlaggebende Rolle
darin &uuml;berhaupt nicht die Industrie, sondern die Landwirtschaft spielt, d.h. da&szlig; die
Zollpolitik eigentlich zu einem Mittel geworden ist, feudale Interessen in kapitalistische
Form zu gie&szlig;en und zum Ausdruck zu bringen.</p>
<p>Die gleiche Wandlung ist mit dem Militarismus vorgegangen. Wenn wir die Geschichte
betrachten, nicht wie sie h&auml;tte sein k&ouml;nnen oder sollen, sondern wie sie tats&auml;chlich
war, so m&uuml;ssen wir konstatieren, da&szlig; der Krieg den unentbehrlichen Faktor der
kapitalistischen Entwicklung bildete. Die Vereinigten Staaten Nordamerikas und
Deutschland, Italien und die Balkanstaaten, Ru&szlig;land und Polen, sie alle verdanken die
Bedingungen oder den Ansto&szlig; zur kapitalistischen Entwicklung den Kriegen, gleichviel ob
dem Sieg oder der Niederlage. Solange als es L&auml;nder gab, deren innere Zersplitterung oder
deren naturalwirtschaftliche Abgeschlossenheit zu &uuml;berwinden war, spielte auch der
Militarismus eine revolution&auml;re Rolle im kapitalistischen Sinne. Heute liegen auch hier
die Dinge anders. (Der Militarismus hat keine L&auml;nder mehr dem Kapitalismus zu
erschlie&szlig;en.) (I) Wenn die Weltpolitik zum Theater drohender Konflikte geworden ist, so
handelt es sich nicht sowohl um die Erschlie&szlig;ung neuer L&auml;nder f&uuml;r den Kapitalismus, als
um fertige europ&auml;ische Gegens&auml;tze, die sich nach den anderen Weltteilen verpflanzt haben
und dort zum Durchbruch kommen. Was heute gegeneinander mit der Waffe in der Hand
auftritt, gleichviel ob in Europa oder in anderen Weltteilen, sind nicht einerseits
kapitalistische, andererseits naturalwirtschaftliche L&auml;nder, sondern Staaten, die gerade
durch die Gleichartigkeit ihrer hohen kapitalistischen Entwicklung zum Konflikt getrieben
werden. F&uuml;r diese Entwicklung selbst kann freilich unter diesen Umst&auml;nden der Konflikt,
wenn er zum Durchbruch kommt, nur von fataler Bedeutung sein, indem er die tiefste
Ersch&uuml;tterung und Umw&auml;lzung des wirtschaftlichen Lebens in allen kapitalistischen
L&auml;ndern herbeif&uuml;hren wird. Anders sieht aber die Sache aus vom Standpunkte der
Kapitalistenklasse. F&uuml;r sie ist heute der Militarismus in dreifacher Beziehung
unentbehrlich geworden: erstens als Kampfmittel f&uuml;r konkurrierende &raquo;nationale&laquo;
Interessen gegen andere nationale Gruppen, zweitens als wichtigste Anlageart ebenso f&uuml;r
das finanzielle wie f&uuml;r das industrielle Kapital, und drittens als Werkzeug der
Klassenherrschaft im Inlande gegen&uuml;ber dem arbeitenden Volke - alles Interessen, die mit
dem Fortschritt der kapitalistischen Produktionsweise an sich nichts gemein haben. Und was
am besten wiederum diesen spezifischen Charakter des heutigen Militarismus verr&auml;t, ist
erstens sein allgemeines Wachstum in allen L&auml;ndern um die Wette, sozusagen durch eigene,
innere, mechanische Triebkraft, eine Erscheinung, die noch vor ein paar Jahrzehnten ganz
unbekannt war, ferner die Unvermeidlichkeit, das Fatale der herannahenden Explosion bei
gleichzeitiger v&ouml;lliger Unbestimmtheit des Anlasses, der zun&auml;chst interessierten
Staaten, des Streitgegenstandes und aller n&auml;heren Umst&auml;nde. Aus einer Triebkraft der
kapitalistischen Entwicklung ist auch der Militarismus zur kapitalistischen Krankheit
geworden.</p>
<p>Bei dem dargelegten Zwiespalt zwischen der gesellschaftlichen Entwicklung und den
herrschenden Klasseninteressen stellt sich der Staat auf die Seite der letzteren. Er tritt
in seiner Politik, ebenso wie die Bourgeoisie, in Gegensatz zu der gesellschaftlichen
Entwicklung, er verliert somit immer mehr seinen Charakter des Vertreters der gesamten
Gesellschaft und wird in gleichem Ma&szlig;e immer mehr zum reinen Klassenstaate. Oder,
richtiger ausgesprochen, diese seine beiden Eigenschaften trennen sich voneinander und
spitzen sich zu einem Widerspruche innerhalb des Wesens des Staates zu. Und zwar wird der
bezeichnete Widerspruch mit jedem Tage sch&auml;rfer. Denn einerseits wachsen die Funktionen
des Staates von allgemeinem Charakter, seine Einmischung in das gesellschaftliche Leben,
seine &raquo;Kontrolle&laquo; dar&uuml;ber. Andererseits aber zwingt ihn sein Klassencharakter immer
mehr, den Schwerpunkt seiner T&auml;tigkeit und seine Machtmittel auf Gebiete zu verlegen, die
nur f&uuml;r das Klasseninteresse der Bourgeoisie von Nutzen, f&uuml;r die Gesellschaft nur von
negativer Bedeutung sind, den Militarismus, die Zoll- und Kolonialpolitik. Zweitens wird
dadurch auch seine &raquo;gesellschaftliche Kontrolle&laquo; immer mehr vom Klassencharakter
durchdrungen und beherrscht (siehe die Handhabung des Arbeiterschutzes in allen L&auml;ndern).</p>
<p>Der bezeichneten Wandlung im Wesen des Staates widerspricht nicht, entspricht vielmehr
vollkommen die Ausbildung der Demokratie, in der Bernstein ebenfalls das Mittel der
stufenweisen Einf&uuml;hrung des Sozialismus sieht.</p>
<p>Wie Konrad Schmidt erl&auml;utert, soll die Erlangung einer sozialdemokratischen Mehrheit
im Parlament sogar der direkte Weg dieser stufenweisen Sozialisierung der Gesellschaft
sein. Die demokratischen Formen des politischen Lebens sind nun zweifellos eine
Erscheinung, die am st&auml;rksten die Entwicklung des Staates zur Gesellschaft zum Ausdruck
bringt und insofern eine Etappe zur sozialistischen Umw&auml;lzung bildet. Allein der
Zwiespalt irn Wesen des kapitalistischen Staates, den wir charakterisiert haben, tritt in
dem modernen Parlamentarismus um so greller zutage. Zwar der Form nach dient der
Parlamentarismus dazu, in der staatlichen Organisation die Interessen der gesamten
Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen. Andererseits aber ist es doch nur die
kapitalistische Gesellschaft, d.h. eine Gesellschaft, in der die kapitalistischen
Interessen ma&szlig;gebend sind, die er zum Ausdruck bringt. Die der Form nach demokratischen
Einrichtungen werden somit dem Inhalt nach zum Werkzeuge der herrschenden
Klasseninteressen. Dies tritt in greifbarer Weise in der Tatsache zutage, da&szlig;, sobald die
Demokratie die Tendenz hat, ihren Klassencharakter zu verleugnen und in ein Werkzeug der
tats&auml;chlichen Volksinteressen umzuschlagen, die demokratischen Formen selbst von der
Bourgeoisie und ihrer staatlichen Vertretung geopfert werden. Die Idee von einer
sozialdemokratischen Parlamentsmehrheit erscheint angesichts dessen als eine Kalkulation,
die ganz im Geiste des b&uuml;rgerlichen Liberalismus blo&szlig; mit der einen, formellen Seite der
Demokratie rechnet, die andere Seite aber, ihren reellen Inhalt, v&ouml;llig au&szlig;er acht
l&auml;&szlig;t. Und der Parlamentarismus im ganzen erscheint nicht als ein unmittelbar
sozialistisches Element, das die kapitalistische Gesellschaft allm&auml;hlich durchtr&auml;nkt,
wie Bernstein annimmt, sondern umgekehrt als ein spezifisches Mittel des b&uuml;rgerlichen
Klassenstaates, die kapitalistischen Gegens&auml;tze zur Reife und zur Ausbildung zu bringen.</p>
<p>Angesichts dieser objektiven Entwicklung des Staates verwandelt sich der Satz
Bernsteins und Konrad Schmidts von der direkt den Sozialismus herbeif&uuml;hrenden, wachsenden &raquo;gesellschaftlichen Kontrolle&laquo; in eine Phrase, die mit jedem Tage mehr der
Wirklichkeit widerspricht.</p>
<p>Die Theorie von der stufenweisen Einf&uuml;hrung des Sozialismus l&auml;uft hinaus auf eine
allm&auml;hliche Reform des kapitalistischen Eigentums und des kapitalistischen Staates irn
sozialistischen Sinne. Beide entwickeln sich jedoch kraft objektiver Vorg&auml;nge der
gegenw&auml;rtigen Gesellschaft nach einer gerade entgegengesetzten Richtung. Der
Produktionsproze&szlig; wird immer mehr vergesellschaftet, und die Einmischung, die Kontrolle
des Staates &uuml;ber diesen Produktionsproze&szlig; wird immer breiter. Aber gleichzeitig wird das
Privateigentum immer mehr zur Form der nackten kapitalistischen Ausbeutung fremder Arbeit,
und die staatliche Kontrolle wird immer mehr von ausschlie&szlig;lichen Klasseninteressen
durchdrungen. Indem somit der Staat, d.h. die poIitische Organisation, und die
Eigentumsverh&auml;ltnisse, d.h. die rechtliche Organisation des Kapitalismus, mit der
Entwicklung immer kapitalistischer und nicht immer sozialistischer werden, setzen sie der
Theorie von der allm&auml;hlichen Einf&uuml;hrung des Sozialismus zwei un&uuml;berwindliche
Schwierigkeiten entgegen.</p>
<p>Die Idee Fouriers, durch das Phalanstere-System das s&auml;mtliche Meerwasser der Erde in
Limonade zu verwandeln, war sehr phantastisch. Allein die Idee Bernsteins, das Meer der
kapitalistischen Bitternis durch flaschenweises Hinzuf&uuml;gen der sozialreformerischen
Limonade in ein Meer sozialistischer S&uuml;&szlig;igkeit zu verwandeln, ist nur abgeschmackter,
aber nicht um ein Haar weniger phantastisch.</p>
<p>Die Produktionsverh&auml;ltnisse der kapitalistischen Gesellschaft n&auml;hern sich der
sozialistischen immer mehr, ihre politischen und rechtlichen Verh&auml;ltnisse dagegen
errichten zwischen der kapitalistischen und der sozialistischen Gesellschaft eine immer
h&ouml;here Wand. Diese Wand wird durch die Entwicklung der Sozialreformen wie der Demokratie
nicht durchl&ouml;chert, sondern umgekehrt fester, starrer gemacht. Wodurch sie also
niedergerissen werden kann, ist einzig der Hammerschlag der Revolution, d.h. die Eroberung
der politischen Macht durch das Proletariat.</p>
<H3 align="center"><A name="1_5">5.Praktische
Konsequenzen und allgemeiner Charakter des Revisionismus</a></H3>
<p>Wir haben im ersten Kapitel darzutun gesucht, da&szlig; die Bernsteinsche Theorie das
sozialistische Programm vom materiellen Boden aufhebt und auf eine idealistische Basis
versetzt. Dies bezieht sich auf die theoretische Begr&uuml;ndung. Wie sieht nun aber die
Theorie - in die Praxis &uuml;bersetzt aus? Zun&auml;chst und formell unterscheidet sie sich gar
nicht von der bisher &uuml;blichen Praxis des sozialdemokratischen Kampfes. Gewerkschaften,
der Kampf um die Sozialreform und um die Demokratisierung der politischen Einrichtungen,
das ist das n&auml;mliche, was auch sonst den formellen Inhalt der sozialdemokratischen
Parteit&auml;tigkeit ausmacht. Der Unterschied liegt also nicht in dem Was, wohl aber in dem
Wie. Wie die Dinge jetzt liegen, werden der gewerkschaftliche und der parlamentarische
Kampf als Mittel aufgefa&szlig;t, das Proletariat allm&auml;hlich zur Besitzergreifung der
politischen Gewalt zu f&uuml;hren und zu erziehen. Nach der revisionistischen Auffassung
sollen sie, angesichts der Unm&ouml;glichkeit und Zwecklosigkeit dieser Besitzergreifung,
blo&szlig; im Hinblick auf unmittelbare Resultate, d. h. die Hebung der materiellen Lage der
Arbeiter, und auf die stufenweise Einschr&auml;nkung der kapitalistischen Ausbeutung und die
Erweiterung der gesellschaftlichen Kontrolle gef&uuml;hrt werden. Wenn wir von dem Zwecke der
unmittelbaren Hebung der Lage der Arbeiter absehen, da er beiden Auffassungen, der bisher
in der Partei &uuml;blichen, wie der revisionistischen, gemeinsam ist, so liegt der ganze
Unterschied kurz gefa&szlig;t darin: nach der landl&auml;ufigen Auffassung besteht die
sozialistische Bedeutung des gewerkschaftlichen und politischen Kampfes darin, da&szlig; er das
Proletariat, d.h. den subjektiven Faktor der sozialistischen Umw&auml;lzung zu deren
Durchf&uuml;hrung vorbereitet. Nach Bernstein besteht sie darin, da&szlig; der gewerkschaftliche
und politische Kampf die kapitalistische Ausbeutung selbst stufenweise einschr&auml;nken, der
kapitalistischen Gesellschaft immer mehr ihren kapitalistischen Charakter nehmen und den
sozialistischen aufpr&auml;gen, mit einem Worte, die sozialistische Umw&auml;lzung in objektivem
Sinne herbeif&uuml;hren soll. Sieht man die Sache n&auml;her an, so sind beide Auffassungen sogar
gerade entgegengesetzt. In der partei&uuml;blichen Auffassung gelangt das Proletariat durch
den gewerkschaftlichen und politischen Kampf zu der &uuml;berzeugung von der Unm&ouml;glichkeit,
seine Lage von Grund aus durch diesen Kampf umzugestalten, und von der Unvermeidlichkeit
einer endg&uuml;ltigen Besitzergreifung der politischen Machtmittel. In der Bernsteinschen
Auffassung geht man von der Unm&ouml;glichkeit der politischen Machtergreifung als
Voraussetzung aus, um durch blo&szlig;en gewerkschaftlichen und politischen Kampf die
sozialistische Ordnung einzuf&uuml;hren.</p>
<p>Der sozialistische Charakter des gewerkschaftlichen und parlamentarischen Kampfes liegt
also bei der Bernsteinschen Auffassung in dem Glauben an dessen stufenweise
sozialisierende Einwirkung auf die kapitalistische Wirtschaft. Eine solche Einwirkung ist
aber tats&auml;chlich wie wir darzutun suchten - blo&szlig;e Einbildung. Die kapitalistischen
Eigentums- und Staatseinrichtungen entwickeln sich nach einer entgegengesetzten Richtung.
Damit aber verliert der praktische Tageskampf der Sozialdemokratie in letzter Linie
&uuml;berhaupt jede Beziehung zum Sozialismus. Die gro&szlig;e sozialistische Bedeutung des
gewerkschaftlichen und politischen Kampfes besteht darin, da&szlig; sie die Erkenntnis, das
Bewu&szlig;tsein des Proletariats sozialisieren, es als Klasse organisieren. Indem man sie als
Mittel der unmittelbaren Sozialisierung der kapitalistischen Wirtschaft auffa&szlig;t, versagen
sie nicht nur diese ihnen angedichtete Wirkung, sondern b&uuml;&szlig;en zugleich auch die andere
Bedeutung ein: sie h&ouml;ren auf, Erziehungsmittel der Arbeiterklasse zur proletarischen
Machtergreifung zu sein.</p>
<p>Es beruht deshalb auf einem g&auml;nzlichen Mi&szlig;verst&auml;ndnis, wenn Eduard Bernstein und
Konrad Schmidt sich beruhigen, das Endziel gehe der Arbeiterbewegung bei der
Einschr&auml;nkung des ganzen Kampfes auf Sozialreform und Gewerkschaften doch nicht verloren,
weil jeder Schritt auf dieser Bahn &uuml;ber sich hinausf&uuml;hre und das sozialistische Ziel so
der Bewegung selbst als Tendenz innewohne. Dies ist allerdings in vollem Ma&szlig;e bei der
jetzigen Taktik der deutschen Sozialdemokratie der Fall, d.h. wenn die bewu&szlig;te und feste
Bestrebung zur Eroberung der politischen Macht dem gewerkschaftlichen und
sozialreformerischen Kampfe als Leitstern vorausgeht. L&ouml;st man jedoch diese im voraus
gegebene Bestrebung von der Bewegung ab und stellt man die Sozialreform zun&auml;chst als
Selbstzweck auf, so f&uuml;hrt sie nicht nur nicht zur Verwirklichung des sozialistischen
Endzieles, sondern eher umgekehrt. Konrad Schmidt verl&auml;&szlig;t sich einfach auf die sozusagen
mechanische Bewegung, die, einmal in Flu&szlig; gebracht, von selbst nicht wieder aufh&ouml;ren
kann, und zwar auf Grund des einfachen Satzes, da&szlig; beim Essen der Appetit kommt und die
Arbeiterklasse sich nie mit Reformen zufrieden geben kann, solange nicht die
sozialistische Umw&auml;lzung vollendet ist. Die letzte Voraussetzung ist zwar richtig und
daf&uuml;r b&uuml;rgt uns die Unzul&auml;nglichkeit der kapitalistischen Sozialreform selbst. Aber die
daraus gezogene Folgerung k&ouml;nnte nur dann wahr sein, wenn sich eine ununterbrochene Kette
fortlaufender und stets wachsender Sozialreformen von der heutigen Gesellschaftsordnung
unmittelbar zur sozialistischen konstruieren lie&szlig;e. Das ist aber eine Phantasie, die
Kette bricht vielmehr nach der Natur der Dinge sehr bald ab, und die Wege, die die
Bewegung von diesem Punkte an einschlagen kann, sind mannigfaltig.</p>
<p>Am n&auml;chsten und wahrscheinlichsten erfolgt dann eine Verschiebung in der Taktik nach
der Richtung, um durch alle Mittel die praktischen Resultate des Kampfes, die
Sozialreformen zu erm&ouml;glichen. Der unvers&ouml;hnliche, schroffe Klassenstandpunkt, der nur
im Hinblick auf eine angestrebte politische Machteroberung Sinn hat, wird immer mehr zu
einem blo&szlig;en Hindernis, sobald unmittelbare praktische Erfolge den Hauptzweck bilden. Der
n&auml;chste Schritt ist also eine &raquo;Kompensationspolitik&laquo; - auf gut deutsch - eine
Kuhhandelspolitik - und eine vers&ouml;hnliche, staatsm&auml;nnisch kluge Haltung. Die Bewegung
kann aber auch nicht lange stehen bleiben. Denn da die Sozialreform einmal in der
kapitalistischen Welt eine hohle Nu&szlig; ist und allezeit bleibt, mag man eine Taktik
anwenden, welche man will, so ist der n&auml;chste logische Schritt die Entt&auml;uschung auch in
der Sozialreform, d.h. der ruhige Hafen, wo nun die Professoren Schmoller u. Co. vor Anker
gegangen sind, die ja auch auf sozialreformerischen Gew&auml;ssern durchstudierten die gro&szlig;'
und kleine Welt, um schlie&szlig;lich alles gehen zu lassen, wie's Gott gef&auml;llt.9 Der
Sozialismus erfolgt also aus dem allt&auml;glichen Kampfe der Arbeiterklasse durchaus nicht
von selbst und unter allen Umst&auml;nden. Er ergibt sich nur aus den immer mehr sich
zuspitzenden Widerspr&uuml;chen der kapitalistischen Wirtschaft und aus der Erkenntnis der
Arbeiterklasse von der Unerl&auml;&szlig;lichkeit ihrer Aufhebung durch eine soziale Umw&auml;lzung.
Leugnet man das eine und verwirft man das andere, wie es der Revisionismus tut, dann
reduziert sich die Arbeiterbewegung zun&auml;chst auf simple Gewerkvereinlerei und
Sozialreformerei und f&uuml;hrt durch eigene Schwerkraft in letzter Linie zum Verlassen des
Klassenstandpunktes.</p>
<p>Diese Konsequenzen werden auch klar, wenn man die revisionistische Theorie noch von
einer anderen Seite betrachtet und sich die Frage stellt: was ist der allgemeine Charakter
dieser Auffassung? Es ist klar, da&szlig; der Revisionismus nicht auf dem Boden der
kapitalistischen Verh&auml;ltnisse steht und nicht mit b&uuml;rgerlichen &Ouml;konomen ihre
Widerspr&uuml;che leugnet. Er geht vielmehr in seiner Theorie auch wie die Marxsche Auffassung
von der Existenz dieser Widerspr&uuml;che als Voraussetzung aus. Andererseits aber - und dies
ist sowohl der Kernpunkt seiner Auffassung &uuml;berhaupt wie seine Grunddifferenz mit der
bisher &uuml;blichen sozialdemokratischen Auffassung - st&uuml;tzt er sich nicht in seiner Theorie
auf die Aufhebung dieser Widerspr&uuml;che durch ihre eigene konsequente Entwicklung.</p>
<p>Seine Theorie steht in der Mitte zwischen den beiden Extremen, er will nicht die
kapitalistischen Widerspr&uuml;che zur vollen Reife gelangen und durch einen revolution&auml;ren
Umschlag auf der Spitze aufheben, sondern ihnen die Spitze abbrechen, sie abstumpfen. So
soll das Ausbleiben der Krisen und die Unternehmerorganisation den Widerspruch zwischen
der Produktion und dem Austausch, die Hebung der Lage des Proletariats und die
Fortexistenz des Mittelstandes den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, die wachsende
Kontrolle und Demokratie den Widerspruch zwischen Klassenstaat und Gesellschaft
abstumpfen.</p>
<p>Freilich besteht auch die landl&auml;ufige sozialdemokratische Taktik nicht darin, da&szlig; man
die Entwicklung der kapitalistischen Widerspr&uuml;che bis zur &auml;u&szlig;ersten Spitze und dann
erst ihren Umschlag abwartet. Umgekehrt, wir st&uuml;tzen uns blo&szlig; auf die einmal erkannte
Richtung der Entwicklung, treiben aber dann im politischen Kampfe ihre Konsequenzen auf
die Spitze, worin das Wesen jeder revolution&auml;ren Taktik &uuml;berhaupt besteht. So bek&auml;mpft
die Sozialdemokratie z.B. die Z&ouml;lle und den Militarismus zu allen Zeiten, nicht erst, als
ihr reaktion&auml;rer Charakter v&ouml;llig zum Durchbruch gelangt ist. Bernstein st&uuml;tzt sich
aber in seiner Taktik &uuml;berhaupt nicht auf die Weiterentwicklung und Versch&auml;rfung,
sondern auf die Abstumpfung der kapitalistischen Widerspr&uuml;che. Er selbst hat es am
treffendsten gekennzeichnet, indem er von einer &raquo;Anpassung&laquo; der kapitalistischen
Wirtschaft spricht. Wann h&auml;tte eine solche Auffassung ihre Richtigkeit? Alle
Widerspr&uuml;che der heutigen Gesellschaft sind einfache Ergebnisse der kapitalistischen
Produktionsweise. Setzen wir voraus, da&szlig; diese Produktionsweise sich weiter in der bis
jetzt gegebenen Richtung entwickelt, so m&uuml;ssen sich mit ihr unzertrennlich auch alle ihre
Konsequenzen weiter entwickeln, die Widerspr&uuml;che zuspitzen und versch&auml;rfen, statt sich
abzustumpfen.</p>
<p>Letzteres setzt also umgekehrt als Bedingung voraus, da&szlig; die kapitalistische
Produktionsweise selbst in ihrer Entwicklung gehemmt wird. Mit einem Worte, die
allgemeinste Voraussetzung der Bernsteinschen Theorie, das ist ein Stillstand in der
kapitalistischen Entwicklung.</p>
<p>Damit richtet sich aber die Theorie von selbst, und zwar doppelt. Denn erstens legt sie
ihren utopischen Charakter in bezug auf das sozialistische Endziel blo&szlig; - es ist von
vornherein klar, da&szlig; eine versumpfte kapitalistische Entwicklung nicht zur
sozialistischen Umw&auml;lzung f&uuml;hren kann und hier haben wir die Best&auml;tigung unserer
Darstellung der praktischen Konsequenz der Theorie. Zweitens enth&uuml;llt sie ihren
reaktion&auml;ren Charakter in bezug auf die tats&auml;chlich sich vollziehende rapide
kapitalistische Entwicklung. Nun dr&auml;ngt sich die Frage auf: wie kann die Bernsteinsche
Auffassungsweise angesichts dieser tats&auml;chlichen kapitalistischen Entwicklung erkl&auml;rt
oder vielmehr charakterisiert werden?</p>
<p>Da&szlig; die &ouml;konomischen Voraussetzungen, von denen Bernstein in seiner Analyse der
heutigen sozialen Verh&auml;ltnisse ausgeht - seine Theorie der kapitalistischen &raquo;Anpassung&laquo;
- unstichhaltig sind, glauben wir im ersten Abschnitt gezeigt zu haben. Wir sahen, da&szlig;
weder das Kreditwesen noch die Kartelle als &raquo;Anpassungsmittel&laquo; der kapitalistischen
Wirtschaft, weder das zeitweilige Ausbleiben der Krisen, noch die Fortdauer des
Mittelstandes als Symptom der kapitalistischen Anpassung aufgefa&szlig;t werden k&ouml;nnen. Allen
genannten Details der Anpassungstheorie liegt aber abgesehen von ihrer direkten
Irrt&uuml;mlichkeit - noch ein gemeinsamer charakteristischer Zug zugrunde. Diese Theorie
fa&szlig;t alle behandelten Erscheinungen des &ouml;konomischen Lebens nicht in ihrer organischen
Angliederung an die kapitalistische Entwicklung im ganzen und in ihrem Zusammenhange mit
dem ganzen Wirtschaftsmechanismus auf, sondern aus diesem Zusammenhange gerissen, im
selbst&auml;ndigen Dasein, als disjecta membra (zerstreute Teile) einer leblosen Maschine. So
z.B. die Auffassung von der Anpassungswirkung des Kredits. Fa&szlig;t man ins Auge den Kredit
als eine naturw&uuml;chsige h&ouml;here Stufe des Austausches und im Zusammenhang mit allen dem
kapitalistischen Austausch innewohnenden Widerspr&uuml;chen, so kann man unm&ouml;glich in ihm
irgendein gleichsam au&szlig;erhalb des Austauschprozesses stehendes, mechanisches
&raquo;Anpassungsmittel&laquo; sehen, ebenso wenig wie man das Geld selbst, die Ware, das Kapital
als &raquo;Anpassungsmittel&laquo; des Kapitalismus ansehen kann. Der Kredit ist aber nicht um ein
Haar weniger als Geld, Ware und Kapital ein organisches Glied der kapitalistischen
Wirtschaft auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung und bildet auf dieser Stufe, wieder
ganz wie jene, ebenso ein unentbehrliches Mittelglied ihres R&auml;derwerkes, wie auch ein
Zerst&ouml;rungswerkzeug, indem es ihre inneren Widerspr&uuml;che steigert.</p>
<p>Ganz dasselbe gilt von den Kartellen und den vervollkommneten Verkehrsmitteln.</p>
<p>Die gleiche mechanische und undialektische Auffassung liegt ferner in der Weise, wie
Bernstein das Ausbleiben der Krisen als ein Symptom der &raquo;Anpassung&laquo; der kapitalistischen
Wirtschaft hinnimmt. F&uuml;r ihn sind die Krisen einfach St&ouml;rungen im wirtschaftlichen
Mechanismus, und bleiben sie aus, dann kann offenbar der Mechanismus glatt funktionieren.
Die Krisen sind aber tats&auml;chlich keine &raquo;St&ouml;rungen&laquo; im eigentlichen Sinne, oder
vielmehr, sie sind St&ouml;rungen, ohne die aber die kapitalistische Wirtschaft im ganzen gar
nicht auskommen kann. Ist es einmal Tatsache, da&szlig; die Krisen, ganz kurz ausgedr&uuml;ckt, die
auf kapitalistischer Basis einzig m&ouml;gliche, deshalb ganz normale Methode der periodischen
L&ouml;sung des Zwiespaltes zwischen der unbeschr&auml;nkten Ausdehnungsf&auml;higkeit der Produktion
und den engen Schranken des Absatzmarktes bilden, dann sind auch die Krisen
unzertrennliche organische Erscheinungen der kapitalistischen Gesamtwirtschaft.</p>
<p>In einem &raquo;st&ouml;rungslosen&laquo; Fortgang der kapitalistischen Produktion liegen vielmehr
f&uuml;r sie Gefahren, die gr&ouml;&szlig;er sind als die Krisen selbst. Es ist dies n&auml;mlich das,
nicht aus dem Widerspruch zwischen Produktion und Austausch, sondern aus der Entwicklung
der Produktivit&auml;t der Arbeit selbst sich ergebende stete Sinken der Profitrate, das die
h&ouml;chst gef&auml;hrliche Tendenz hat, die Produktion allen kleineren und mittleren Kapitalien
unm&ouml;glich zu machen, und so der Neubildung, damit dem Fortschritt der Kapitalanlagen
Schranken entgegenzusetzen. Gerade die Krisen, die sich aus demselben Proze&szlig; als die
andere Konsequenz ergeben, bewirken durch die periodische Entwertung des Kapitals, durch
Verbilligung der Produktionsmittel und Lahmlegung eines Teils des t&auml;tigen Kapitals
zugleich die Hebung der Profite und schaffen so f&uuml;r Neuanlagen und damit neue
Fortschritte in der Produktion Raum. So erscheinen sie als Mittel, das Feuer der
kapitalistischen Entwicklung immer wieder zu sch&uuml;ren und zu entfachen, und ihr
Ausbleiben, nicht f&uuml;r bestimmte Momente der Ausbildung des Weltmarktes, wie wir es
annehmen, sondern schlechthin, w&uuml;rde bald die kapitalistische Wirtschaft, nicht wie
Bernstein meint, auf einen gr&uuml;nen Zweig, sondern direkt in den Sumpf gebracht haben. Bei
der mechanischen Auffassungsweise, die die ganze Anpassungstheorie kennzeichnet, l&auml;&szlig;t
Bernstein ebenso die Unentbehrlichkeit der Krisen, wie die Unentbehrlichkeit der
periodisch immer wieder aufschie&szlig;enden Neuanlagen von kleinen und mittleren Kapitalen
au&szlig;er acht, weshalb ihm u.a. auch die stete Wiedergeburt des Kleinkapitals als ein
Zeichen des kapitalistischen Stillstandes, statt, wie tats&auml;chlich, der normalen
kapitalistischen Entwicklung, erscheint.</p>
<p>Es gibt nun freilich einen Standpunkt, von dem alle behandelten Erscheinungen sich auch
wirklich so darstellen, wie sie die &raquo;Anpassungstheorie&laquo; zusammenfa&szlig;t, n&auml;mlich den
Standpunkt des einzelnen Kapitalisten, wie ihm die Tatsachen des wirtschaftlichen Lebens,
verunstaltet durch die Gesetze der Konkurrenz, zum Bewu&szlig;tsein kommen. Der einzelne
Kapitalist sieht vor allem tats&auml;chlich jedes organische Glied des Wirtschaftsganzen als
ein Ganzes, Selbst&auml;ndiges f&uuml;r sich, er sieht sie auch ferner nur von der Seite, wie sie
auf ihn, den einzelnen Kapitalisten, einwirken, deshalb als blo&szlig;e &raquo;St&ouml;rungen&laquo; oder
blo&szlig;e &raquo;Anpassungsmittel&laquo;. F&uuml;r den einzelnen Kapitalisten sind die Krisen tats&auml;chlich
blo&szlig;e St&ouml;rungen, und ihr Ausbleiben gew&auml;hrt ihm eine l&auml;ngere Lebensfrist, f&uuml;r ihn ist
der Kredit gleichfalls ein Mittel, seine unzureichenden Produktivkr&auml;fte den Anforderungen
des Marktes &raquo;anzupassen&laquo;, f&uuml;r ihn hebt ein Kartell, in das er eintritt, auch wirklich
die Anarchie der Produktion auf.</p>
<p>Mit einem Worte, die Bernsteinsche Anpassungstheorie ist nichts als eine theoretische
Verallgemeinerung der Auffassungsweise des einzelnen Kapitalisten. Was ist aber diese
Auffassungsweise im theoretischen Ausdruck anderes, als das Wesentliche und
Charakteristische der b&uuml;rgerlichen Vulg&auml;r&ouml;konomie? Alle &ouml;konomischen Irrt&uuml;mer dieser
Schule beruhen eben auf dem Mi&szlig;verst&auml;ndnis, da&szlig; die Erscheinungen der Konkurrenz,
gesehen durch die Augen des Einzelkapitals, f&uuml;r Erscheinungen der kapitalistischen
Wirtschaft im ganzen genommen werden. Und wie Bernstein den Kredit, so fa&szlig;t die
Vulg&auml;r&ouml;konomie auch noch z.B. das Geld als ein geistreiches &raquo;Anpassungsmittel&laquo; zu den
Bed&uuml;rfnissen des Austausches auf, sie sucht auch in den kapitalistischen Erscheinungen
selbst die Gegengifte gegen die kapitalistischen &Uuml;bel, sie glaubt, in &Uuml;bereinstimmung
mit Bernstein, an die M&ouml;glichkeit, die kapitalistische Wirtschaft zu regulieren, sie
l&auml;uft endlich auch immer wie die Bernsteinsche Theorie in letzter Linie auf eine
Abstumpfung der kapitalistischen Widerspr&uuml;che und Verkleisterung der kapitalistischen
Wunden, d.h. mit anderen Worten auf ein reaktion&auml;res statt dem revolution&auml;ren Verfahren,
und damit auf eine Utopie hinaus.</p>
<p>Die revisionistische Theorie im ganzen genommen l&auml;&szlig;t sich also folgenderma&szlig;en
charakterisieren: es ist dies eine Theorie der sozialistischen Versumpfung,
vulg&auml;r&ouml;konomisch begr&uuml;ndet durch eine Theorie der kapitalistischen Versumpfung.</p>
<H3 align="center"><B>&nbsp;Zweiter Teil</B><BR>
<A name="2_1">1. Die &ouml;konomische Entwicklung und der Sozialismus</a></H3>
<p>Die gr&ouml;&szlig;te Errungenschaft des proletarischen Klassenkampfes in seiner Entwicklung war
die Entdeckung der Ansatzpunkte f&uuml;r die Verwirklichung des Sozialismus in den
&ouml;konomischen Verh&auml;ltnissen der kapitalistischen Gesellschaft. Dadurch ist der
Sozialismus aus einem &raquo;Ideal&laquo;, das jahrtausendelang der Menschheit vorschwebte,
zur geschichtlichen Notwendigkeit geworden.</p>
<p>Bernstein bestreitet die Existenz dieser &ouml;konomischen Voraussetzungen des Sozialismus
in der gegenw&auml;rtigen Gesellschaft. Dabei macht er selbst in seiner Beweisf&uuml;hrung eine
interessante Entwicklung durch. Anfangs, in der &raquo;Neuen Zeit&laquo;, bestritt er blo&szlig; die
Raschheit der Konzentration in der Industrie und st&uuml;tzte dies auf einen Vergleich der
Ergebnisse der Gewerbestatistik in Deutschland von 1895 und 1882. Dabei mu&szlig;te er, um
diese Ergebnisse f&uuml;r seine Zwecke zu benutzen, zu ganz summarischem und mechanischem
Verfahren seine Zuflucht nehmen. Aber auch im g&uuml;nstigsten Falle konnte Bernstein mit
seinem Hinweise auf die Z&auml;higkeit der Mittelbetriebe die Marxsche Analyse nicht im
mindesten treffen. Denn diese setzt weder ein bestimmtes Tempo der Konzentration der
Industrie, das hei&szlig;t eine bestimmte Frist f&uuml;r die Verwirklichung des sozialistischen
Endzieles, noch auch, wie wir gezeigt haben, ein absolutes Verschwinden der Kleinkapitale,
bzw. das Verschwinden des Kleinb&uuml;rgertums als Bedingung der Realisierbarkeit des
Sozialismus voraus.</p>
<p>In weiterer Entwicklung seiner Ansichten gibt nun Bernstein in seinem Buche neues
Beweismaterial, und zwar: die Statistik der Aktiengesellscbaflen, die dartun soll, da&szlig;
die Zahl der Aktion&auml;re sich stets vergr&ouml;&szlig;ert, die Kapitalistenklasse also nicht
zusammenschmilzt, sondern im Gegenteil immer gr&ouml;&szlig;er wird. Es ist erstaunlich, wie wenig
Bernstein das vorhandene Material kennt und wie wenig er es zu seinen Gunsten zu
gebrauchen wei&szlig;!</p>
<p>Wollte er durch Aktiengesellschaften etwas gegen das Marxsche Gesetz der industriellen
Entwicklung beweisen, dann h&auml;tte er ganz andere Zahlen bringen sollen. N&auml;mlich
jedermann, der die Geschichte der Aktiengr&uuml;ndung in Deutschland kennt, wei&szlig;, das ihr
durchschnittliches, auf eine Unternehmung fallendes Gr&uuml;ndungskapital in fast
regelm&auml;&szlig;iger Abnahme begriffen ist. So betrug dieses Kapital vor 1871 etwa 10,8
Millionen Mark, 1871 nur noch 4,01 Millionen Mark, 1873: 3,8 Millionen Mark, 1883 bis 1887
weniger als 1 Millionen Mark, 1891 nur 0,56 Millionen Mark, 1892: 0,62 Millionen Mark.
Seitdem schwanken die Betr&auml;ge um 1 Million Mark, und zwar sind sie wieder von I,78
Millionen Mark im Jahre 1895 auf 1,19 Millionen Mark im 1. Semester 1897 gefallen.10</p>
<p>Erstaunliche Zahlen! Bernstein w&uuml;rde wahrscheinlich damit gar eine ganze
contra-Marxsche Tendenz des &Uuml;berganges von Gro&szlig;betrieben zur&uuml;ck auf Kleinbetriebe
konstruieren. Allein in diesem Falle k&ouml;nnte ihm jedermann erwidern: Wenn Sie mit dieser
Statistik etwas nachweisen wollen, dann m&uuml;ssen Sie vor allem beweisen, da&szlig; sie sich auf
dieselben Industriezweige bezieht, da&szlig; die kleineren Betriebe nun an Stelle der alten
gro&szlig;en und nicht dort auftreten, wo bis jetzt das Einzelkapital oder gar Handwerk oder
Zwergbetrieb war. Diesen Beweis gelingt es Ihnen aber nicht zu erbringen, denn der
&Uuml;bergang von riesigen Aktiengr&uuml;ndungen zu mittleren und kleinen ist gerade nur dadurch
erkl&auml;rlich, da&szlig; das Aktienwesen in stets neue Zweige eindringt, und wenn es anfangs nur
f&uuml;r wenige Riesenunternehmungen taugte, es sich jetzt immer mehr dem Mittelbetriebe, hie
und da sogar dem Kleinbetriebe angepa&szlig;t hat. (Selbst Aktiengr&uuml;ndungen bis 1.000 Mark
Kapital herunter kommen vor!)</p>
<p>Was bedeutet aber volkswirtschaftlich die immer gr&ouml;&szlig;ere Verbreitung des Aktienwesens?
Sie bedeutet die fortschreitende Vergesellschaftung der Produktion in kapitalistischer
Form, die Vergesellschaftung nicht nur der Riesen-, sondern auch der Mittel- und sogar der
Kleinproduktion, also etwas, was der Marxschen Theorie nicht widerspricht, sondern sie in
denkbar gl&auml;nzendster Weise best&auml;tigt.</p>
<p>In der Tat! Worin besteht das &ouml;konomische Ph&auml;nomen der Aktiengr&uuml;ndung? Einerseits in
der Vereinigung vieler kleiner Geldverm&ouml;gen zu Einem Produktionskapital, andererseits in
der Trennung der Produktion vom Kapitaleigentum, also in einer zweifachen &Uuml;berwindung der
kapitalistischen Produktionsweise - immer auf kapitalistischer Basis. Was bedeutet
angesichts dessen die von Bemstein angef&uuml;hrte Statistik der gro&szlig;en Zahl der an einer
Unternehmung beteiligten Aktion&auml;re? Eben nichts anderes, als da&szlig; jetzt Eine
kapitalistische Unternehmung nicht Einem Kapitaleigent&uuml;mer wie ehedem, sondern einer
ganzen Anzahl, einer immer mehr anwachsenden Zahl von Kapitaleigent&uuml;mern entspricht, da&szlig;
somit der wirtschaftliche Begriff &raquo;Kapitalist&laquo; sich nicht mehr mit dem Einzelindividuum
deckt, da&szlig; der heutige industrielle Kapitalist eine Sammelperson ist, die aus Hunderten,
ja aus Tausenden von Personen besteht, da&szlig; die Kategorie &raquo;Kapitalist&laquo; selbst im Rahmen
der kapitalistischen Wirtschaft zur gesellschaftlichen, da&szlig; sie vergesellsschaftet wurde.</p>
<p>Wie erkl&auml;rt es sich aber angesichts dessen, da&szlig; Bernstein das Ph&auml;nomen der
Aktiengesellschaften gerade umgekehrt als eine Zersplitterung und nicht als eine
Zusammenfassung des Kapitals auffa&szlig;t, da&szlig; er dort Verbreitung des Kapitaleigentums, wo
Marx &raquo;Aufhebung des Kapitaleigentums&laquo; sieht? Durch einen sehr einfachen
vulg&auml;r&ouml;konomischen Schnitzer: weil Bernstein unter Kapitalist nicht eine Kategorie der
Produktion, sondern des Eigentumsrechts, nicht eine wirtschaftliche, sondern eine
steuerpolitische Einheit, unter Kapital nicht ein Produktionsganzes, sondern schlechthin
Geldverm&ouml;gen versteht. Deshalb sieht er in seinem englischen N&auml;hgarntrust nicht die
Zusammenschwei&szlig;ung von 12.300 Personen zu Einem, sondern ganze 12.300 Kapitalisten,
deshalb ist ihm auch sein Ingenieur Schulze, der als Mitgift f&uuml;r seine Frau vom Rentier
M&uuml;ller &raquo;eine gr&ouml;&szlig;ere Anzahl Aktien&laquo; bekommen hat (S.54), auch ein Kapitalist, deshalb
wimmelt ihm die ganze Welt von &raquo;Kapitalisten&laquo;.</p>
<p>Aber hier wie sonst ist der vulg&auml;r&ouml;konomische Schnitzer bei Bernstein blo&szlig; der
theoretische Boden f&uuml;r eine Vulgarisierung des Sozialismus. Indem Bernstein den Begriff
Kapitalist aus den Produktionsverh&auml;ltnissen in die Eigentumsverh&auml;ltnisse &uuml;bertr&auml;gt
und, &raquo;statt von Unternehmern von Menschen spricht&laquo; (S.53), &uuml;bertr&auml;gt er auch die Frage
des Sozialismus aus dem Gebiete der Produktion auf das Gebiet der Verm&ouml;gensverh&auml;ltnisse,
aus dem Verh&auml;ltnis von Kapital und Arbeit in das Verh&auml;ltnis von reich und arm.</p>
<p>Damit sind wir von Marx und Engels gl&uuml;cklich auf den Verfasser des &raquo;Evangeliums des
armen S&uuml;nders&laquo; zur&uuml;ckgebracht, nur mit dem Unterschiede, da&szlig; Weitling mit richtigem
proletarischem Instinkt eben in diesem Gegensatz von arm und reich in primitiver Form die
Klassengegens&auml;tze erkannte, und zum Hebel der sozialistischen Bewegung machen wollte,
w&auml;hrend Bernstein umgekehrt, in der Verwandlung der Armen in Reiche, d.h. in der
Verwischung des Klassengegensatzes, also im kleinb&uuml;rgerlichen Verfahren die Aussichten
des Sozialismus sieht.</p>
<p>Freilich beschr&auml;nkt sich Bernstein nicht auf die Einkommensstatistik. Er gibt uns auch
Betriebsstatistik, und zwar aus mehreren L&auml;ndern: aus Deutschland und aus Frankreich, aus
England und aus der Schweiz, aus &Ouml;sterreich und aus den Vereinigten Staaten. Aber was
f&uuml;r eine Statistik ist das? Es sind dies nicht etwa vergleichende Daten aus verschiedenen
Zeitpunkten in je einem Lande, sondern aus je einem Zeitpunkt in verschiedenen L&auml;ndern.
Er vergleicht also - ausgenommen Deutschland, wo er seine alte Gegen&uuml;berstellung von 1895
und 1882 wiederholt - nicht den Stand der Betriebsgliederung eines Landes in verschiedenen
Momenten, sondern nur die absoluten Zahlen f&uuml;r verschiedene L&auml;nder (f&uuml;r England vom
Jahre 1891, Frankreich 1894, Vereinigte Staaten 1890 usw.). Der Schlu&szlig;, zu dem er
gelangt, ist der, &raquo;da&szlig;, wenn der Gro&szlig;betrieb in der Industrie heute tats&auml;chlich schon
das &Uuml;bergewicht hat, er doch, die von ihm abh&auml;ngigen Betriebe eingerechnet, selbst in
einem so vorgeschrittenen Lande wie Preu&szlig;en h&ouml;chstens die H&auml;lfte der in der Produktion
t&auml;tigen Bev&ouml;lkerung vertritt&laquo;, und &auml;hnlich in ganz Deutschland, England, Belgien usw.
(S. 84).</p>
<p>Was er auf diese Weise nachweist, ist offenbar nicht diese oder jene Tendenz der
&ouml;konomischen Entwicklung, sondern blo&szlig; das absolute St&auml;rkeverh&auml;ltnis der verschiedenen
Betriebsformen bzw. verschiedenen Berufsklassen. Soll damit die Aussichtslosigkeit des
Sozialismus bewiesen werden, so liegt dieser Beweisf&uuml;hrung eine Theorie zugrunde, wonach
&uuml;ber den Ausgang sozialer Bestrebungen das zahlenm&auml;&szlig;ige, physische St&auml;rkeverh&auml;ltnis
der K&auml;mpfenden, also das blo&szlig;e Moment der Gewalt entscheidet. Hier f&auml;llt der &uuml;berall
den Blanquismus witternde Bernstein zur Abwechslung selbst in das gr&ouml;bste blanquistische
Mi&szlig;verst&auml;ndnis zur&uuml;ck. Allerdings wieder mit dem Unterschied, da&szlig; die Blanquisten als
eine sozialistische und revolution&auml;re Richtung die &ouml;konomische Durchf&uuml;hrbarkeit des
Sozialismus als selbstverst&auml;ndlich voraussetzten, und auf sie die Aussichten der
gewaltsamen Revolution sogar einer kleinen Minderheit gr&uuml;ndeten, w&auml;hrend Bernstein
umgekehrt aus der zahlenm&auml;&szlig;igen Unzul&auml;nglichkeit der Volksmehrheit die &ouml;konomische
Aussichtslosigkeit des Sozialismus folgert. Die Sozialdemokratie leitet ihr Endziel
ebensowenig von der siegreichen Gewalt der Minderheit, wie von dem zahlenm&auml;&szlig;igen
&Uuml;bergewicht der Mehrheit, sondern von der &ouml;konomischen Notwendigkeit - und der Einsicht
in diese Notwendigkeit - ab, die zur Aufhebung des Kapitalismus durch die Volksmasse
f&uuml;hrt, und die sich vor allem in der kapitalistischen Anarchie &auml;u&szlig;ert.</p>
<p>Was diese letzte entscheidende Frage der Anarchie in der kapitalistischen Wirtschaft
anbetrifft, so leugnet Bernstein selbst blo&szlig; die gro&szlig;en und die allgemeinen Krisen,
nicht aber partielle und nationale Krisen. Er stellt somit blo&szlig; sehr viel Anarchie in
Abrede und gibt gleichzeitig die Existenz von ein wenig Anarchie zu. Der kapitalistischen
Wirtschaft geht es bei Bernstein wie - um einmal auch mit Marx zu reden - jener t&ouml;richten
Jungfer mit dem Kinde, das &raquo;nur ganz klein&laquo; war. Das Fatale bei der Sache ist nun, da&szlig;
in solchen Dingen wie die Anarchie, wenig und viel gleich schlimm ist. Gibt Bernstein ein
wenig Anarchie zu, so sorgt der Mechanismus der Warenwirtschaft von selbst f&uuml;r die
Steigerung dieser Anarchie ins Ungeheure - bis zum Zusammenbruch. Hofft Bernstein aber -
unter gleichzeitiger Beibehaltung der Warenproduktion - auch das bi&szlig;chen Anarchie
allm&auml;hlich in Ordnung und Harmonie aufzul&ouml;sen, so verf&auml;llt er wiederum in einen der
fundamentalsten Fehler der b&uuml;rgerlichen Vulg&auml;r&ouml;konomie, indem er die Austauschweise von
der Produktionsweise als unabh&auml;ngig betrachtet.</p>
<p>Es ist hier nicht die entscheidende Gelegenheit, die &uuml;berraschende Verwirrung in bezug
auf die elementarsten Grunds&auml;tze der politischen &Ouml;konomie, die Bernstein in seinem Buche
an den Tag gelegt hat, in ihrem Ganzen zu zeigen. Aber ein Punkt, auf den uns die
Grundfrage der kapitalistischen Anarchie f&uuml;hrt, soll kurz beleuchtet werden.</p>
<p>Bernstein erkl&auml;rt, das Marxsche Arbeitswertgesetz sei eine blo&szlig;e Abstraktion, was
nach ihm in der politischen &Ouml;konomie offenbar ein Schimpfwort ist. Ist aber der
Arbeitswert blo&szlig; eine Abstraktion, &raquo;ein Gedankenbild&laquo; (S.44), dann hat jeder
rechtschaffene B&uuml;rger, der beim Milit&auml;r gedient und seine Steuern entrichtet hat, das
gleiche Recht wie Karl Marx, sich beliebigen Unsinn zu einem solchen &raquo;Gedankenbild&laquo;,
d.h. zum Wertgesetz, zurecht zu machen. &raquo;Von Hause aus ist es Marx ebenso erlaubt, von
den Eigenschaften der Waren soweit abzusehen, da&szlig; sie schlie&szlig;lich nur noch
Verk&ouml;rperungen von Mengen einfacher menschlicher Arbeit bleiben, wie es der
B&ouml;hm-Jevonsschen Schule freisteht, von alle Eigenschaften der Waren au&szlig;er ihrer
N&uuml;tzlichkeit zu abstrahieren&laquo;.</p>
<p>Also die Marxsche gesellschaftliche Arbeit und die Mengersche abstrakte N&uuml;tzlichkeit,
das ist ihm geh&uuml;pft wie gesprungen: alles blo&szlig; Abstraktion. Bernstein hat somit ganz
vergessen, da&szlig; die Marxsche Abstraktion nicht eine Erfindung, sondern eine Entdeckung
ist, da&szlig; sie nicht in Marxens Kopfe, sondern in der Warenwirtschaft existiert, nicht ein
eingebildetes, sondern ein reales gesellschaftliches Dasein f&uuml;hrt, ein so reales Dasein,
da&szlig; sie geschnitten und geh&auml;mmert, gewogen und gepr&auml;gt wird. Die von Marx entdeckte
abstrakt-menschliche Arbeit ist n&auml;mlich in ihrer entfalteten Form nichts anderes als -
das Geld. Und dies ist gerade eine der genialsten &ouml;konomischen Entdeckungen von Marx,
w&auml;hrend f&uuml;r die ganze b&uuml;rgerliche &Ouml;konomie, vom ersten Merkantilisten bis auf den
letzten Klassiker, das mystische Wesen des Geldes ein Buch mit sieben Siegeln geblieben
ist.</p>
<p>Hingegen ist die B&ouml;hm-Jevonssche abstrakte N&uuml;tzlichkeit tats&auml;chlich blo&szlig; ein
Gedankenbild oder vielmehr ein Bild der Gedankenlosigkeit, ein Privatbl&ouml;dsinn, f&uuml;r den
weder die kapitalistische, noch eine andere menschliche Gesellschaft, sondern einzig und
allein die b&uuml;rgerliche Vulg&auml;r&ouml;konomie verantwortlich gemacht werden kann. Mit diesem
&raquo;Gedankenbild&laquo; im Kopfe k&ouml;nnen Bernstein und B&ouml;hm und Jevons mit der ganzen
subjektiven Gemeinde vor dem Mysterium des Geldes noch zwanzig Jahre stehen, ohne da&szlig; sie
zu einer anderen L&ouml;sung kommen, als was jeder Schuster ohne sie schon wu&szlig;te: da&szlig; das
Geld auch eine &raquo;n&uuml;tzliche&laquo; Sache ist.</p>
<p>Bernstein hat somit f&uuml;r das Marxsche Wertgesetz das Verst&auml;ndnis g&auml;nzlich verloren.
F&uuml;r denjenigen aber, der mit dem Marxschen &ouml;konomischen System einigerma&szlig;en vertraut
ist, wird ohne weiteres klar sein, da&szlig; ohne das Wertgesetz das ganze System v&ouml;llig
unverst&auml;ndlich bleibt, oder, um konkreter zu sprechen, ohne Verst&auml;ndnis des Wesens der
Ware und ihres Austausches die ganze kapitalistische Wirtschaft mit ihren Zusammenh&auml;ngen
ein Geheimnis bleiben mu&szlig;.</p>
<p>Was ist aber der Marxsche Zauberschl&uuml;ssel, der ihm gerade die innersten Geheimnisse
aller kapitalistischen Erscheinungen ge&ouml;ffnet hat, der ihn mit spielender Leichtigkeit
Probleme l&ouml;sen lie&szlig;, von denen die gr&ouml;&szlig;ten Geister der b&uuml;rgerlichen klassischen
&Ouml;konomie, wie Smith und Ricardo, nicht einmal die Existenz ahnten? Nichts anderes als die
Auffassung von der ganzen kapitalistischen Wirtschaft, als von einer historischen
Erscheinung, und zwar nicht nur nach hinten, wie es im besten Falle die klassische
&Ouml;konomie verstand, sondern auch nach vorne, nicht nur im Hinblick auf die
feudalwirtschaftliche Vergangenheit, sondern namentlich auch im Hinblick auf die
sozialistische Zukunft. Das Geheimnis der Marxschen Wertlehre, seiner Geldanalyse, seiner
Kapitaltheorie, seiner Lehre von der Profitrate, und somit des ganzen &ouml;konomischen
Systems ist - die Verg&auml;nglichkeit der kapitalistischen Wirtschaft, ihr Zusammenbruch,
also - dies nur die andere Seite - das sozialistische Endziel. Gerade und nur weil Marx
von vornherein als Sozialist, d.h. unter dem geschichtlichen Gesichtspunkte die
kapitalistische Wirtschaft ins Auge fa&szlig;te, konnte er ihre Hieroglyphe entziffern, und
weil er den sozialistischen Standpunkt zum Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Analyse
der b&uuml;rgerlichen Gesellschaft machte, konnte er umgekehrt den Sozialismus
wissenschaftlich begr&uuml;nden.</p>
<p>Daran sind die Bemerkungen Bernsteins am Schlusse seines Buches zu messen, wo er &uuml;ber
den &raquo;Dualismus&laquo; (Zwiespalt) klagt, &raquo;der durch das ganze monumentale Marxsche
Werk geht&laquo;, &raquo;einen Dualismus, der darin besteht, da&szlig; das Werk wissenschaftliche
Untersuchung sein und doch eine, lange vor seiner Konzipierung (Abfassung) fertige These
beweisen will, da&szlig; ihm ein Schema zugrunde liegt, in dem das Resultat, zu dem hin die
Entwicklung f&uuml;hren sollte, schon von vornherein feststand. Das Zur&uuml;ckkommen auf das
kommunistische Manifest (d.h. auf das sozialistische Endziel! D.V.) weist hier auf einen
tats&auml;chlichen Rest von Utopismus im Marxschen System hin.&laquo;</p>
<p>Der Marxsche &raquo;Dualismus&laquo; ist aber nichts anderes als der Dualismus der
sozialistischen Zukunft und der kapitalistischen Gegenwart, des Kapitals und der Arbeit,
der Bourgeoisie und des Proletariats, er ist die monumentale wissenschaftliche
Abspiegelung des in der b&uuml;rgerlichen Gesellschaft existierenden Dualismus, der
b&uuml;rgerlichen Klassengegens&auml;tze.</p>
<p>Und wenn Bernstein in diesem theoretischen Dualismus bei Marx &raquo;einen &Uuml;berrest des
Utopismus&laquo; sieht, so ist das nur ein naives Bekenntnis, da&szlig; er den geschichtlichen
Dualismus in der b&uuml;rgerlichen Gesellschaft, die kapitalistischen Klassengegens&auml;tze
leugnet, da&szlig; f&uuml;r ihn der Sozialismus selbst zu einem &raquo;&Uuml;berrest des Utopismus&laquo;
geworden ist. Der &raquo;Monismus&laquo;, d.h. die Einheitlichkeit Bernsteins ist die
Einheitlichkeit der verewigten kapitalistischen Ordnung, die Einheitlichkeit des
Sozialisten, der sein Endziel fallen gelassen hat, um daf&uuml;r in der einen und
unwandelbaren b&uuml;rgerlichen Gesellschaft das Ende der menschlichen Entwicklung zu sehen.</p>
<p>Sieht aber Bemstein in der &ouml;konomischen Struktur des Kapitalismus selbst den
Zwiespalt, die Entwicklung zum Sozialismus nicht, so mu&szlig; er, um das sozialistische
Programm wenigstens in der Form zu retten, zu einer au&szlig;erhalb der &ouml;konomischen
Entwicklung liegenden, zu einer idealistischen Konstruktion Zuflucht nehmen und den
Sozialismus selbst aus einer bestimmten geschichtlichen Phase der gesellschaftlichen
Entwicklung in ein abstraktes &raquo;Prinzip&laquo; verwandeln.</p>
<p>Das Bernsteinsche &raquo;Prinzip der Genossenschaftlichkeit&laquo;, mit dem die kapitalistische
Wirtschaft ausgeschm&uuml;ckt werden soll, dieser d&uuml;nnste &raquo;Abkl&auml;richt&laquo; des sozialistischen
Endzieles, erscheint angesichts dessen nicht als ein Zugest&auml;ndnis seiner b&uuml;rgerlichen
Theorie an die sozialistische Zukunft der Gesellschaft, sondern an die sozialistische
Vergangenheit - Bernsteins.</p>
<H3 align="center"><A name="2_2">2.
Gewerkschaften, Genossenschaften und politische Demokratie</a></H3>
<p>Wir haben gesehen, der Bernsteinsche Sozialismus l&auml;uft auf den Plan hinaus, die
Arbeiter an dem gesellschaftlichen Reichtum teilnehmen zu lassen, die Armen in Reiche zu
verwandeln. Wie soll das bewerkstelligt werden? In seinen Aufs&auml;tzen &raquo;Probleme des
Sozialismus&laquo; in der &raquo;Neuen Zeit&laquo; lie&szlig; Bernstein nur kaum verst&auml;ndliche
Fingerzeige durchblicken, in seinem Buche gibt er &uuml;ber diese Frage vollen Aufschlu&szlig;:
sein Sozialismus soll auf zwei Wegen, durch Gewerkschaften oder, wie Bernstein es nennt,
wirtschaftliche Demokratie, und durch Genossenschaften verwirklicht werden. Durch die
ersteren will er dem industriellen, durch die letzteren dem kaufm&auml;nnischen Profit an den
Kragen. </p>
<p>Was die Genossenschaften, und zwar vor allem die Produktivgenossenschaften betrifft, so
stellen sie ihrem inneren Wesen nach inmitten der kapitalistischen Wirtschaft ein
Zwitterding dar: eine im kleinen sozialisierte Produktion bei kapitalistischem Austausche.
In der kapitalischen Wirtschaft beherrscht aber der Austausch die Produktion und macht,
angesichts der Konkurrenz, r&uuml;cksichtslose Ausbeutung, d.h. v&ouml;llige Beherrschung des
Produktionsprozesses durch die Interessen des Kapitals, zur Existenzbedingung der
Unternehmung. Praktisch &auml;u&szlig;ert sich das in der Notwendigkeit, die Arbeit m&ouml;glichst
intensiv zu machen, sie zu verk&uuml;rzen oder zu verl&auml;ngern, je nach der Marktlage, die
Arbeitskraft je nach den Anforderungen des Absatzmarktes heranzuziehen oder sie
abzusto&szlig;en und aufs Pflaster zu setzen, mit einem Worte, all die bekannten Methoden zu
praktizieren, die eine kapitalistische Unternehmung konkurrenzf&auml;hig machen. In der
Produktivgenossenschaft ergibt sich daraus die widerspruchsvolle Notwendigkeit f&uuml;r die
Arbeiter, sich selbst mit dem ganzen erforderlichen Absolutismus zu regieren, sich selbst
gegen&uuml;ber die Rolle des kapitalistischen Unternehmers zu spielen. An diesem Widerspruche
geht die Produktivgenossenschaft auch zugrunde, indem sie entweder zur kapitalistischen
Unternehmung sich r&uuml;ckentwickelt, oder, falls die Interessen der Arbeiter st&auml;rker sind,
sich aufl&ouml;st. Das sind die Tatsachen, die Bernstein selbst konstatiert, aber
mi&szlig;versteht, indem er nach Frau Potter-Webb die Ursache des Unterganges der
Produktivgenossenschaften in England in der mangelnden &raquo;Disziplin&laquo; sieht. Was hier
oberfl&auml;chlich und seicht als Disziplin bezeichnet wird, ist nichts anderes als das
nat&uuml;rliche absolute Regime des Kapitals, das die Arbeiter allerdings sich selbst
gegen&uuml;ber unm&ouml;glich aus&uuml;ben k&ouml;nnen.</p>
<p>Daraus folgt, da&szlig; die Produktivgenossenschaft sich ihre Existenz inmitten der
kapitalistischen Wirtschaft nur dann sichern kann, wenn sie auf einem Umwege den in ihr
verborgenen Widerspruch zwischen Produktionsweise und Austauschweise aufhebt, indem sie
sich k&uuml;nstlich den Gesetzen der freien Konkurrenz entzieht. Dies kann sie nur, wenn sie
sich von vornherein einen Absatzmarkt, einen festen Kreis von Konsumenten sichert. Als
solches Hilfsmittel dient ihr eben der Konsumverein. Darin wiederum, und nicht in der
Unterscheidung in Kauf- und Verkaufsgenossenschaften, oder wie der Oppenheimersche Einfall
sonst lautet, liegt das von Bernstein behandelte Geheimnis, warum selbst&auml;ndige
Produktivgenossenschaften zugrunde gehen, und erst der Konsumverein ihnen eine Existenz zu
sichern vermag.</p>
<p>Sind aber somit die Existenzbedingungen der Produktivgenossenschaften in der heutigen
Gesellschaft an die Existenzbedingungen der Konsumvereine gebunden, so folgt daraus in
weiterer Konsequenz, da&szlig; die Produktivgenossenschaften im g&uuml;nstigsten Falle auf kleinen
lokalen Absatz und auf wenige Produkte des unmittelbaren Bedarfs, vorzugsweise auf
Lebensmittel angewiesen sind. Alle wichtigsten Zweige der kapitalistischen Produktion: die
Textil-, Kohlen-, Metall-, Petroleumindustrie, sowie der Maschinen-, Lokomotiven- und
Schiffsbau sind vom Konsumverein, also auch von der Produktivgenossenschaft von vornherein
ausgeschlossen. Abgesehen also von ihrem Zwittercharakter k&ouml;nnen die
Produktivgenossenschaften als allgemeine soziale Reform schon aus dem Grunde nicht
erscheinen, weil ihre allgemeine Durchf&uuml;hrung vor allem die Abschaffung des Weltmarktes
und Aufl&ouml;sung der bestehenden Weltwirtschaft in kleine lokale Produktions- und
Austauschgruppen, also dem Wesen nach einen R&uuml;ckgang von gro&szlig;kapitalistischer auf
mittelalterliche Warenwirtschaft voraussetzt.</p>
<p>Aber auch in den Grenzen ihrer m&ouml;glichen Verwirklichung, auf dem Boden der
gegenw&auml;rtigen Gesellschaft reduzieren sich die Produktivgenossenschaften notwendigerweise
in blo&szlig;e Anh&auml;ngsel der Konsumvereine, die somit als die Haupttr&auml;ger der beabsichtigten
sozialistischen Reform in den Vordergrund treten. Die ganze sozialistische Reform durch
die Genossenschaften reduziert sich aber dadurch aus einem Kampf gegen das
Produktivkapital, d.h. gegen den Hauptstamm der kapitalistischen Wirtschaft, in einen
Kampf gegen das Handelskapital, und zwar gegen das Kleinhandels-, das
Zwischenhandelskapital, d.h. blo&szlig; gegen kleine Abzweigungen des kapitalistischen Stammes.</p>
<p>Was die Gewerkschaften betrifft, die nach Bernstein ihrerseits ein Mittel gegen die
Ausbreitung des Produktivkapitals darstellen sollen, so haben wir bereits gezeigt, da&szlig;
die Gewerkschaften nicht imstande sind, den Arbeitern einen Einflu&szlig; auf den
Produktionsproze&szlig;, weder in bezug auf den Produktionsumfang, noch in bezug auf das
technische Verfahren, zu sichern.</p>
<p>Was aber die rein &ouml;konomische Seite, &raquo;den Kampf der Lohnrate mit der Profitrate&laquo;
betrifft, wie Bernstein es nennt, so wird dieser Kampf, wie gleichfalls bereits gezeigt,
nicht in dem freien blauen Luftraum, sondern in den bestimmten Schranken des Lohngesetzes
ausgefochten, das er nicht zu durchbrechen, sondern blo&szlig; zu verwirklichen vermag. Dies
wird auch klar, wenn man die Sache von einer anderen Seite fa&szlig;t und sich die Frage nach
den eigentlichen Funktionen der Gewerkschaften stellt.</p>
<p>Die Gewerkschaften, denen Bernstein die Rolle zuweist, in dem Emanzipationskampfe der
Arbeiterklasse den eigentlichen Angriff gegen die industrielle Profitrate zu f&uuml;hren und
sie stufenweise in die Lohnrate aufzul&ouml;sen, sind n&auml;mlich gar nicht imstande, eine
&ouml;konomische Angriffspolitik gegen den Profit zu f&uuml;hren, weil sie nichts sind als die
organisierte Defensive der Arbeitskraft gegen die Angriffe des Profits, als die Abwehr der
Arbeiterklasse gegen die herabdr&uuml;ckende Tendenz der kapitalistischen Wirtschaft. Dies aus
zwei Gr&uuml;nden.</p>
<p>Erstens haben die Gewerkschaften zur Aufgabe, die Marktlage der Ware Arbeitskraft durch
ihre Organisation zu beeinflussen, die Organisation wird aber durch den Proze&szlig; der
Proletarisierung der Mittelschichten, der dem Arbeitsmarkt stets neue Ware zuf&uuml;hrt,
best&auml;ndig durchbrochen. Zweitens bezwecken die Gewerkschaften die Hebung der
Lebenshaltung, die Vergr&ouml;&szlig;erung des Anteils der Arbeiterklasse am gesellschaftlichen
Reichtum, dieser Anteil wird aber durch das Wachstum der Produktivit&auml;t der Arbeit mit der
Fatalit&auml;t eines Naturprozesses best&auml;ndig herabgedr&uuml;ckt. Um letzteres einzusehen,
braucht man durchaus nicht ein Marxist zu sein, sondern blo&szlig;: &raquo;Zur Beleuchtung der
sozialen Frage&laquo;, von Rodbertus, einmal in der Hand gehabt zu haben.</p>
<p>In beiden wirtschaftlichen Hauptfunktionen verwandelt sich also der gewerkschaftliche
Kampf kraft objektiver Vorg&auml;nge in der kapitalistischen Gesellschaft in eine Art
Sisyphusarbeit. Diese Sisyphusarbeit ist allerdings unentbehrlich, soll der Arbeiter
&uuml;berhaupt zu der ihm nach der jeweiligen Marktlage zufallenden Lohnrate kommen, soll das
kapitalistische Lohngesetz verwirklicht und die herabdr&uuml;ckende Tendenz der
wirtschaftlichen Entwicklung in ihrer Wirkung paralysiert, oder genauer, abgeschw&auml;cht
werden. Gedenkt man aber, die Gewerkschaften in ein Mittel zur stufenweisen Verk&uuml;rzung
des Profits zugunsten des Arbeitslohnes zu verwandeln, so setzt dies vor allem als soziale
Bedingung erstens einen Stillstand in der Proletarisierung der Mittelschichten und dem
Wachstum der Arbeiterklasse, zweitens einen Stillstand in dem Wachstum der Produktivit&auml;t
der Arbeit, also in beiden F&auml;llen, ganz wie die Verwirklichung der
konsumgenossenschaftlichen Wirtschaft, einen R&uuml;ckgang auf vorgro&szlig;kapitalistische
Zust&auml;nde voraus.</p>
<p>Die beiden Bernsteinschen Mittel der sozialistischen Reform: die Genossenschaften und
die Gewerkschaften erweisen sich somit als g&auml;nzlich unf&auml;hig, die kapitalistische
Produktionsweise umzugestalten. Bernstein ist sich dessen im Grunde genommen auch selbst
dunkel bewu&szlig;t und fa&szlig;t sie blo&szlig; als Mittel auf, den kapitalistischen Profit
abzuzwacken, und die Arbeiter auf diese Weise zu bereichern. Damit verzichtet er aber
selbst auf den Kampf mit der kapitalistischen Produktionsweise und richtet die
sozialdemokratische Bewegung auf den Kampf gegen die kapitalistische Verteilung. Bernstein
formuliert auch wiederholt seinen Sozialismus als das Bestreben nach einer &raquo;gerechten&laquo;,
&raquo;gerechteren&laquo; (S. 51 seines Buches), ja einer &raquo;noch gerechteren&laquo;
(&raquo;Vorw&auml;rts&laquo; vom 26. M&auml;rz 1899) Verteilung.</p>
<p>Der n&auml;chste Ansto&szlig; zur sozialdemokratischen Bewegung wenigstens bei den Volksmassen
ist freilich auch die &raquo;ungerechte&laquo; Verteilung der kapitalistischen Ordnung. Und indem
sie f&uuml;r die Vergesellschaftung der gesamten Wirtschaft k&auml;mpft, strebt die
Sozialdemokratie dadurch selbstverst&auml;ndlich auch eine &raquo;gerechte&laquo; Verteilung des
gesellschaftlichen Reichtums an. Nur richtet sie ihren Kampf, dank der von Marx gewonnenen
Einsicht, da&szlig; die jeweilige Verteilung blo&szlig; eine naturgesetzliche Folge der jeweiligen
Produktionsweise ist, nicht auf die Verteilung im Rahmen der kapitalistischen Produktion,
sondern auf die Aufhebung der Warenproduktion selbst. Mit einem Wort, die Sozialdemokratie
will die sozialistische Verteilung durch die Beseitigung der kapitalistischen
Produktionsweise herbeif&uuml;hren, w&auml;hrend das Bernsteinsche Verfahren ein direkt
umgekehrtes ist; er will die kapitalistische Verteilung bek&auml;mpfen und hofft auf diesem
Wege allm&auml;hlich die sozialistische Produktionsweise herbeizuf&uuml;hren.</p>
<p>Wie kann aber in diesem Falle die Bernsteinsche sozialistische Reform begr&uuml;ndet
werden? Durch bestimmte Tendenzen der kapitalistischen Produktion? Keineswegs, denn
erstens leugnet er ja diese Tendenzen, und zweitens ist bei ihm nach dem vorher Gesagten
die erw&uuml;nschte Gestaltung der Produktion Ergebnis und nicht Ursache der Verteilung. Die
Begr&uuml;ndung seines Sozialismus kann also keine &ouml;konomische sein. Nachdem er Zweck und
Mittel des Sozialismus und damit die &ouml;konomischen Verh&auml;ltnisse auf den Kopf gestellt
hat, kann er keine materialistische Begr&uuml;ndung f&uuml;r sein Programm geben, ist er
gezwungen, zu einer idealistischen zu greifen.</p>
<p>&raquo;Wozu die Ableitung des Sozialismus aus dem &ouml;konomischen Zwange?&laquo; h&ouml;ren wir ihn
dann sagen. &raquo;Wozu die Degradierung der Einsicht, des Rechtsbewu&szlig;tseins, des Willens der
Menschen?&laquo; (&raquo;Vorw&auml;rts&laquo; vom 26. M&auml;rz 1899). Die Bemsteinsche gerechtere
Verteilung soll also kraft des freien, nicht im Dienste der wirtschaftlichen Notwendigkeit
wirkenden Willens der Menschen, oder genauer, da der Wille selbst blo&szlig; ein Instrument
ist, kraft der Einsicht in die Gerechtigkeit, kurz, kraft der Gerechtigkeitsidee
verwirklicht werden.</p>
<p>Da sind wir gl&uuml;cklich bei dem Prinzip der Gerechtigkeit angelangt, bei diesem alten,
seit Jahrtausenden von allen Weltverbesserern in Ermangelung sicherer geschichtlicher
Bef&ouml;rderungsmittel gerittenen Renner, bei der klapprigen Rosinante, auf der alle Don
Quichottes der Geschichte zur gro&szlig;en Weltreform hinausritten, um schlie&szlig;lich nichts
andres heimzubringen als ein blaues Auge.</p>
<p>Das Verh&auml;ltnis von arm und reich als gesellschaftliche Grundlage des Sozialismus, das
&raquo;Prinzip&laquo; der Genossenschaftlichkeit als sein Inhalt, die &raquo;gerechtere Verteilung&laquo; als
sein Zweck und die Idee der Gerechtigkeit als seine einzige geschichtliche Legitimation -
mit wieviel mehr Kraft, mit wieviel mehr Geist, mit wieviel mehr Glanz vertrat doch
Weitling vor mehr als 50 Jahren diese Sorte von Sozialismus! Allerdings kannte der geniale
Schneider den wissenschaftlichen Sozialismus noch nicht. Und wenn heute, nach einem halben
Jahrhundert, seine von Marx und Engels in kleine Fetzen zerzauste Auffassung gl&uuml;cklich
wieder zusammengeflickt und dem deutschen Proletariat als letztes Wort der Wissenschaft
angeboten wird, so geh&ouml;rt dazu allenfalls auch ein Schneider ... aber kein genialer.</p>
<p>Wie die Gewerkschaften und Genossenschaften &ouml;konomische St&uuml;tzpunkte, so ist die
wichtigste politische Voraussetzung der revisionistischen Theorie eine stets
fortschreitende Entwicklung der Demokratie. Die heutigen Reaktionsausbr&uuml;che sind dem
Revisionismus nur &raquo;Zuckungen&laquo;, die er f&uuml;r zuf&auml;llig und vor&uuml;bergehend h&auml;lt, und mit
denen bei der Aufstellung der allgemeinen Richtschnur f&uuml;r den Arbeiterkampf nicht zu
rechnen sei.</p>
<p>(Es kommt aber nicht darauf an, was Bernstein auf Grund von m&uuml;ndlichen und
schriftlichen Versicherungen seiner Freunde &uuml;ber die Dauerhaftigkeit der Reaktion denkt,
sondern welcher innere, objektive Zusammenhang zwischen der Demokratie und der
tats&auml;chlichen gesellschaftlichen Entwicklung besteht.)L</p>
<p>Nach Bernstein z.B. erscheint die Demokratie als eine unvermeidliche Stufe in der
Entwicklung der modernen Gesellschaft, ja, die Demokratie ist ihm, ganz wie dem
b&uuml;rgerlichen Theoretiker der Liberalismus, das gro&szlig;e Grundgesetz der geschichtlichen
Entwicklung &uuml;berhaupt, dessen Verwirklichung alle wirkenden M&auml;chte des politischen
Lebens dienen m&uuml;ssen. Das ist aber in dieser absoluten Form grundfalsch und nichts als
eine kleinb&uuml;rgerliche, und zwar oberfl&auml;chliche Schablonisierung der Ergebnisse eines
kleinen Zipfelchens der b&uuml;rgerlichen Entwicklung, etwa der letzten 25 bis 30 Jahre. Sieht
man sich die Entwicklung der Demokratie in der Geschichte und zugleich die politische
Geschichte des Kapitalismus n&auml;her an, so kommt ein wesentlich anderes Resultat heraus.</p>
<p>Was das erstere betrifft, so finden wir die Demokratie in den verschiedensten
Gesellschaftsformationen: in den urspr&uuml;nglichen kommunistischen Gesellschaften, in den
antiken Sklavenstaaten, in den mittelalterlichen st&auml;dtischen Kommunen. Desgleichen
begegnen wir dem Absolutismus und der konstitutionellen Monarchie in den verschiedensten
wirtschaftlichen Zusammenh&auml;ngen. Andererseits ruft der Kapitalismus in seinen Anf&auml;ngen -
als Warenproduktion - eine demokratische Verfassung in den st&auml;dtischen Kommunen ins
Leben; sp&auml;ter, in seiner entwickelteren Form, als Manufaktur, findet er in der absoluten
Monarchie seine entsprechende politische Form. Endlich als entfaltete industrielle
Wirtschaft erzeugt er in Frankreich abwechselnd die demokratische Republik (1793), die
absolute Monarchie Napoleons I., die Adelsmonarchie der Restaurationszeit (1815 bis 1830),
die b&uuml;rgerliche konstitutionelle Monarchie des Louis Philippe, wieder die demokratische
Republik, wieder die Monarchie Napoleons III., endlich zum drittenmal die Republik. In
Deutschland ist die einzige wirkliche demokratische Einrichtung, das allgemeine Wahlrecht,
nicht eine Errungenschaft des b&uuml;rgerlichen Liberalismus, sondern ein Werkzeug der
politischen Zusammenschwei&szlig;ung der Kleinstaaterei und hat blo&szlig; insofern eine Bedeutung
in der Entwicklung der deutschen Bourgeoisie, die sich sonst mit einer halbfeudalen
konstitutionellen Monarchie zufrieden gibt. In Ru&szlig;land gedieh der Kapitalismus lange
unter dem orientalischen Selbstherrschertum, ohne da&szlig; die Bourgeoisie Miene machte, sich
nach der Demokratie zu sehnen. In &Ouml;sterreich ist das allgemeine Wahlrecht zum gro&szlig;en
Teil als ein Rettungsg&uuml;rtel f&uuml;r die auseinanderfallende Monarchie erschienen, (und wie
wenig es mit der eigentlichen Demokratie verbunden ist, beweist die Herrschaft des &sect;
14).M In Belgien endlich steht die demokratische Errungenschaft der Arbeiterbewegung - das
allgemeine Wahlrecht - in unzweifelhaftem Zusammenhang mit der Schw&auml;che des Militarismus,
also mit der besonderen geographisch-politischen Lage Belgiens, und vor allem ist sie eben
ein nicht durch die Bourgeoisie, sondern gegen die Bourgeoisie erk&auml;mpftes &raquo;St&uuml;ck
Demokratie&laquo;.</p>
<p>Der ununterbrochene Aufstieg der Demokratie, der unserem Revisionismus wie dem
b&uuml;rgerlichen Freisinn als das gro&szlig;e Grundgesetz der menschlichen und zum mindesten der
modernen Geschichte erscheint, ist somit nach n&auml;herer Betrachtung ein Luftgebilde.
Zwischen der kapitalistischen Entwicklung und der Demokratie l&auml;&szlig;t sich kein allgemeiner
absoluter Zusammenhang konstruieren. Die politische Form ist jedesmal das Ergebnis der
ganzen Summe politischer, innerer und &auml;u&szlig;erer, Faktoren und l&auml;&szlig;t in ihren Grenzen die
ganze Stufenleiter von der absoluten Monarchie bis zur demokratischen Republik zu.</p>
<p>Wenn wir somit von einem allgemeinen geschichtlichen Gesetz der Entwicklung der
Demokratie auch im Rahmen der modernen Gesellschaft absehen m&uuml;ssen und uns blo&szlig; an die
gegenw&auml;rtige Phase der b&uuml;rgerlichen Geschichte wenden, so sehen wir auch hier in der
politischen Lage Faktoren, die nicht zur Verwirklichung des Bernsteinschen Schemas,
sondern vielmehr gerade umgekehrt, zur Preisgabe der bisherigen Errungenschaften seitens
der b&uuml;rgerlichen Gesellschaft f&uuml;hren.</p>
<p>Einerseits haben die demokratischen Einrichtungen, was h&ouml;chst wichtig ist, f&uuml;r die
b&uuml;rgerliche Entwicklung in hohem Ma&szlig;e ihre Rolle ausgespielt. Insofern sie zur
Zusammenschwei&szlig;ung der Kleinstaaten und zur Herstellung moderner Gro&szlig;staaten notwendig
waren (Deutschland, Italien), sind sie entbehrlich geworden; die wirtschaftliche
Entwicklung hat inzwischen eine innere organische Verwachsung herbeigef&uuml;hrt, (und der
Verband der politischen Demokratie kann insofern ohne Gefahr f&uuml;r den Organismus der
b&uuml;rgerlichen Gesellschaften abgenommen werden.)</p>
<p>Dasselbe gilt in bezug auf die Umgestaltung der ganzen politisch-administrativen
Staatsmaschine aus einem halb- oder ganzfeudalen in einen kapitalistischen Mechanismus.
Diese Umgestaltung, die geschichtlich von der Demokratie unzertrenntlich war, ist heute
gleichfalls in so hohem Ma&szlig;e erreicht, da&szlig; die rein demokratischen Ingredienzien
(Zutaten) des Staatswesens, das allgemeine Wahlrecht, die republikanische Staatsform, an
sich ausscheiden k&ouml;nnten, ohne da&szlig; die Administration, das Finanzwesen, das Wehrwesen
usw. in die vorm&auml;rzlichen Formen zur&uuml;ckzufallen brauchten.</p>
<p>Ist auf diese Weise der Liberalismus f&uuml;r die b&uuml;rgerliche Gesellschaft als solche
wesentlich &uuml;berfl&uuml;ssig, so andererseits in wichtigen Beziehungen direkt ein Hindernis
geworden. Hier kommen zwei Faktoren in Betracht, die das gesamte politische Leben der
heutigen Staaten geradezu beherrschen: die Weltpolitik und die Arbeiterbewegung - beides
nur zwei verschiedene Seiten der gegenw&auml;rtigen Phase der kapitalistischen Entwicklung.</p>
<p>Die Ausbildung der Weltwirtschaft und die Versch&auml;rfung und Verallgemeinerung des
Konkurrenzkampfes auf dem Weltmarkte haben den Militarismus und Marinismus als Werkzeuge
der Weltpolitik zum tonangebenden Moment ebenso des &auml;u&szlig;eren wie des inneren Lebens der
Gro&szlig;staaten gemacht. Ist aber die Weltpolitik und der Militarismus eine aufsteigende
Tendenz der heutigen Phase, so mu&szlig; sich folgerichtig die b&uuml;rgerliche Demokratie auf
absteigender Linie bewegen. (Schlagendstes Beispiel: die nordamerikanische Union seit dem
spanischen Kriege. In Frankreich verdankt die Republik ihre Existenz haupts&auml;chlich der
internationalen politischen Lage, die einen Krieg vorl&auml;ufig unm&ouml;glich macht. K&auml;me es zu
einem solchen und w&uuml;rde sich Frankreich, wie allem Anschein nach anzunehmen ist, als f&uuml;r
die Weltpolitik nicht ger&uuml;stet erweisen, dann w&auml;re die Antwort auf die erste Niederlage
Frankreichs auf dem Kriegsschauplatz - die Proklamierung der Monarchie in Paris. In
Deutschland wurden die neue Aera der gro&szlig;en R&uuml;stungen (1893) und die mit Kiautschou
inaugurierte Weltpolitik sofort mit zwei Opfern von der b&uuml;rgerlichen Demokratie: dem
Zerfall des Freisinns und dem Umfall des Zentrums bezahlt.)O</p>
<p>Treibt somit die ausw&auml;rtige Politik die Bourgeoisie in die Arme der Reaktion, so nicht
minder die innere Politik - die aufstrebende Arbeiterklasse. Bernstein gibt dies selbst
zu, indem er die sozialdemokratische &raquo;Fre&szlig;legende&laquo;13, d.h. die sozialistischen
Bestrebungen der Arbeiterklasse f&uuml;r die Fahnenflucht der liberalen Bourgeoisie
verantwortlich macht. Er r&auml;t dem Proletariat im Anschlu&szlig; daran, um den zu Tode
erschrockenen Liberalismus wieder aus dem Mauseloch der Reaktion hervorzulocken, sein
sozialistisches Endziel fallen zu lassen. Damit beweist er aber selbst am schlagendsten,
indem er den Wegfall der sozialistischen Arbeiterbewegung zur Lebensbedingung und zur
sozialen Voraussetzung der b&uuml;rgerlichen Demokratie heute macht, da&szlig; diese Demokratie in
gleichem Ma&szlig;e der inneren Entwicklungstendenz der heutigen Gesellschaft widerspricht, wie
die sozialistische Arbeiterbewegung ein direktes Produkt dieser Tendenz ist.</p>
<p>Aber er beweist damit noch ein weiteres. Indem er den Verzicht auf das sozialistische
Endziel seitens der Arbeiterklasse zur Voraussetzung und Bedingungen des Wiederauflebens
der b&uuml;rgerlichen Demokratie macht, zeigt er selbst, wie wenig, umgekehrt die b&uuml;rgerliche
Demokratie eine notwendige Voraussetzung und Bedingung der sozialistischen Bewegung und
des sozialistischen Sieges sein kann. Hier schlie&szlig;t sich das Bernsteinsche R&auml;sonnement
zu einem fehlerhaften Kreis, wobei die letzte Schlu&szlig;folgerung seine erste Voraussetzung
&raquo;fri&szlig;t&laquo;.</p>
<p>Der Ausweg aus diesem Kreise ist ein sehr einfacher: aus der Tatsache, da&szlig; der
b&uuml;rgerliche Liberalismus vor Schreck vor der aufstrebenden Arbeiterbewegung und ihren
Endzielen seine Seele ausgehaucht hat, folgt nur, da&szlig; die sozialistische Arbeiterbewegung
eben heute die einzige St&uuml;tze der Demokratie ist und sein kann, und da&szlig; nicht die
Schicksale der sozialistischen Bewegung an die b&uuml;rgerliche Demokratie, sondern umgekehrt
die Schicksale der demokratischen Entwicklung an die sozialistische Bewegung gebunden
sind. Da&szlig; die Demokratie nicht in dem Ma&szlig;e lebensf&auml;hig wird, als die Arbeiterklasse
ihren Emanzipationskampf aufgibt, sondern umgekehrt, in dem Ma&szlig;e, als die sozialistische
Bewegung stark genug wird, gegen die reaktion&auml;ren Folgen der Weltpolitik und der
b&uuml;rgerlichen Fahnenflucht anzuk&auml;mpfen. Da&szlig;, wer die St&auml;rkung der Demokratie w&uuml;nscht,
auch St&auml;rkung und nicht Schw&auml;chung der sozialistischen Bewegung w&uuml;nschen mu&szlig;, und da&szlig;
mit dem Aufgeben der sozialistischen Bestrebungen ebenso die Arbeiterbewegung wie die
Demokratie aufgegeben wird.</p>
<p>(Bemstein erkl&auml;rt am Schlu&szlig; seiner &raquo;Antwort&laquo; an Kautsky im &raquo;Vorw&auml;rts&laquo; vom 26. M&auml;rz 1899, er sei mit dem praktischen Teil des Programms
der Sozialdemokratie im ganzen durchaus einverstanden, er h&auml;tte blo&szlig; gegen dessen
theoretischen Teil etwas einzuwenden. Dessen ungeachtet glaubt er offenbar noch mit Fug
und Recht in Reih und Glied der Partei marschieren zu k&ouml;nnen, denn welches &raquo;Gewicht&laquo;
ist darauf zu legen, &raquo;Ob im theoretischen Teil ein Satz steht, der mit seiner Auffassung
vom Gang der Entwicklung nicht mehr stimmt&laquo;? Diese Erkl&auml;rung zeigt im besten Falle, wie
vollst&auml;ndig Bernstein den Sinn f&uuml;r den Zusammenhang der praktischen T&auml;tigkeit der
Sozialdemokratie mit ihren allgemeinen Grunds&auml;tzen verloren hat, wie sehr dieselben Worte
aufgeh&ouml;rt haben, f&uuml;r die Partei und f&uuml;r Bernstein dasselbe auszudr&uuml;cken. Tats&auml;chlich
f&uuml;hren die eigenen Theorien Bernsteins, wie wir gesehen, zu der elementarsten
sozialdemokratischen Erkenntnis, da&szlig; ohne die grunds&auml;tzliche Basis auch der praktische
Kampf wertlos und zwecklos wird, da&szlig; mit dem Aufgeben des Endziels auch die Bewegung
selbst zugrunde gehen mu&szlig;.)</p>
<H3 align="center"><A name="2_3">3. Die Eroberung der
politischen Macht</a></H3>
<P align="left">Die Schicksale der Demokratie sind, wie wir gesehen, an die Schicksale der
Arbeiterbewegung gebunden. Aber macht denn die Entwicklung der Demokratie auch im besten
Falle eine proletarische Revolution im Sinne der Ergreifung der Staatsgewalt, der
Eroberung der politischen Macht &uuml;berfl&uuml;ssig oder unm&ouml;glich?</P>
<P align="left">Bernstein entscheidet diese Frage auf dem Wege einer gr&uuml;ndlichen Abw&auml;gung der guten
und schlechten Seiten der gesetzlichen Reform und der Revolution, und zwar mit einer
Behaglichkeit, die an das Abw&auml;gen von Zimt und Pfeffer in einem Konsumverein erinnert. In
dem gesetzlichen Gang der Entwicklung sieht er die Wirkung des Intellekts, in dem
revolution&auml;ren die des Gef&uuml;hls, in der Reformarbeit eine langsame, in der Revolution
eine rasche Methode des geschichtlichen Fortschritts, in der Gesetzgebung eine
planm&auml;&szlig;ige, in dem Umsturz eine elementarische Gewalt. </P>
<p>Es ist nun eine alte Geschichte, da&szlig; der kleinb&uuml;rgerliche Reformer in allen Dingen
der Welt eine &raquo;gute&laquo; und eine &raquo;schlechte&laquo; Seite sieht und da&szlig; er von allen
Blumenbeeten nascht. Eine ebenso alte Geschichte ist es aber, da&szlig; der wirkliche Gang der
Dinge sich um kleinb&uuml;rgerliche Kombinationen sehr wenig k&uuml;mmert und das sorgf&auml;ltigst
zusammengeschleppte H&auml;uflein &raquo;guter Seiten&laquo; von allen m&ouml;glichen Dingen der Welt mit
einem Nasenst&uuml;ber in die Luft sprengt. Tats&auml;chlich sehen wir in der Geschichte die
gesetzliche Reform und die Revolution nach tieferen Gr&uuml;nden als die Vorz&uuml;ge oder
Nachteile dieses oder jenes Verfahrens funktionieren.</p>
<p>In der Geschichte der b&uuml;rgerlichen Gesellschaft diente die gesetzliche Reform zur
allm&auml;hlichen Erstarkung der aufstrebenden Klasse, bis sie sich reif genug f&uuml;hlte, die
politische Macht zu erobern und das ganze bestehende Rechtsystem umzuwerfen, um ein neues
aufzubauen. Bernstein, der gegen die Eroberung der politischen Macht als eine
blanquistische Gewalttheorie wettert, passiert das Malheur, da&szlig; er das, was seit
Jahrhunderten der Angelpunkt und die Triebkraft der menschlichen Geschichte ist, f&uuml;r
einen blanquistischen Rechenfehler h&auml;lt. Seit die Klassengesellschaften existieren und
der Klassenkampf den wesentlichen Inhalt ihrer Geschichte bildet, war n&auml;mlich die
Eroberung der politischen Macht stets ebenso das Ziel aIler aufstrebenden Klassen, wie der
Ausgangs- und der Endpunkt jeder geschichtlichen Periode. Dies sehen wir in den langen
K&auml;mpfen des Bauerntums mit den Geldkapitalisten und dem Adel im alten Rom, in den
K&auml;mpfen des Patriziertums mit den Bisch&ouml;fen und des Handwerkertums mit den Patriziern
mit den mittelalterlichen St&auml;dten, in den K&auml;mpfen der Bourgeoisie mit dem Feudalismus in
der Neuzeit.</p>
<p>Die gesetzliche Reform und die Revolution sind also nicht verschiedene Methoden des
geschichtlichen Fortschritts, die man in dem Geschichtsb&uuml;fett nach Belieben wie hei&szlig;e
W&uuml;rstchen oder kalte W&uuml;rstchen ausw&auml;hlen kann, sondern verschiedene Momente in der
Entwicklung der Klassengesellschaft, die einander ebenso bedingen und erg&auml;nzen, zugleich
aber ausschlie&szlig;en, wie z.B. S&uuml;dpol und Nordpol, wie Bourgeoisie und Proletariat.</p>
<p>Und zwar ist die jeweilige gesetzliche Verfassung blo&szlig; ein Produkt der Revolution.
W&auml;hrend die Revolution der politische Sch&ouml;pfungsakt der Klassengeschichte ist, ist die
Gesetzgebung das politische Fortvegetieren der Gesellschaft. Die gesetzliche Reformarbeit
hat eben in sich keine eigene, von der Revolution unabh&auml;ngige Triebkraft, sie bewegt sich
in jeder Geschichtsperiode nur auf der Linie und solange, als in ihr der ihr durch die
letzte Umw&auml;lzung gegebene Fu&szlig;tritt nachwirkt, oder, konkret gesprochen, nur im Rahmen
der durch die letzte Umw&auml;lzung in die Welt gesetzten Gesellschaftsform. Das ist eben der
Kernpunkt der Frage.</p>
<p>Es ist grundfalsch und ganz ungeschichtlich, sich die gesetzliche Reformarbeit blo&szlig;
als die ins Breite gezogene Revolution und die Revolution als die zusammengedr&auml;ngte
Reform vorzustellen. Eine soziale Umw&auml;lzung und eine gesetzliche Reform sind nicht durch
die Zeitdauer, sondern durch das Wesen verschiedene Momente. Das ganze Geheimnis der
geschichtlichen Umw&auml;lzungen durch den Gebrauch der politischen Macht liegt ja gerade in
dem Umschlage der blo&szlig;en quantitativen Ver&auml;nderungen in eine neue Qualit&auml;t, konkret
gesprochen in dem &Uuml;bergange einer Geschichtsperiode, einer Gesellschaftsordnung in eine
andere.</p>
<p>Wer sich daher f&uuml;r den gesetzlichen Reformweg anstatt und im Gegensatz zur Eroberung
der politischen Macht und zur Umw&auml;lzung der Gesellschaft ausspricht, w&auml;hlt tats&auml;chlich
nicht einen ruhigeren, sicheren, langsameren Weg zum gleichen Ziel, sondern auch ein
anderes Ziel, n&auml;mlich statt der Herbeif&uuml;hrung einer neuen Gesellschaftsordnung blo&szlig;
unwesentliche Ver&auml;nderungen in der alten. So gelangt man von den politischen Ansichten
des Revisionismus zu demselben Schlu&szlig;, wie von seinen &ouml;konomischen Theorien: da&szlig; sie im
Grunde genommen nicht auf die Verwirklichung der sozialistischen Ordnung, sondern blo&szlig;
auf die Reformierung der kapitalistischen, nicht auf die Aufhebung des Lohnsystems,
sondern auf das Mehr oder Weniger der Ausbeutung, mit einem Worte auf die Beseitigung der
kapitalistischen Ausw&uuml;chse und nicht des Kapitalismus selbst abzielen.</p>
<p>Vielleicht behalten aber die obigen S&auml;tze &uuml;ber die Funktion der gesetzlichen Reform
und der Revolution ihre Richtigkeit blo&szlig; in bezug auf die bisherigen Klassenk&auml;mpfe?
Vielleicht ist von nun an, dank der Ausbildung des b&uuml;rgerlichen Rechtssystems, der
gesetzlichen Reform auch die &Uuml;berf&uuml;hrung der Gesellschaft aus einer geschichtlichen
Phase in eine andere zugewiesen und die Ergreifung der Staatsgewalt durch das Proletariat
&raquo;zur inhaltlosen Phrase geworden&laquo;, wie Bernstein auf Seite 183 seiner Schrift sagt?</p>
<p>Das gerade und direkte Gegenteil ist der Fall. Was zeichnet die b&uuml;rgerliche
Gesellschaft von den fr&uuml;heren Klassengesellschaften - der antiken und der
mittelalterlichen - aus? Eben der Umstand, da&szlig; die Klassenherrschaft jetzt nicht auf
&raquo;wohl erworbenen Rechten&laquo;, sondern auf tats&auml;chlichen wirtschafllichen Verh&auml;ltnissen
beruht, da&szlig; das Lohnsystem nicht ein Rechtsverh&auml;ltnis, sondern ein rein &ouml;konomisches
ist. Man wird in unserem ganzen Rechtssystem keine gesetzliche Formel der gegenw&auml;rtigen
Klassenherrschaft finden. Gibt es Spuren von einer solchen, dann sind es eben, wie die
Gesindeordnung, &Uuml;berbleibsel der feudalen Verh&auml;ltnisse.</p>
<p>Wie also die Lohnsklaverei &raquo;auf gesetzlichem Wege&laquo; stufenweise aufheben, wenn sie in
den Gesetzen gar nicht ausgedr&uuml;ckt ist? Bernstein, der sich an die gesetzliche
Reformarbeit machen will, um dem Kapitalismus auf diesem Wege ein Ende zu bereiten, ger&auml;t
in die Lage jenes russischen Schutzmannes, der bei Uspienski sein Abenteuer erz&auml;hlt:...
&raquo;Schnell packte ich den Kerl am Kragen und was stellte sich heraus? Da&szlig; der verdammte
Kerl keinen Kragen hatte!&laquo;...Da liegt eben der Hase im Pfeffer.</p>
<p>&raquo;Alle bisherige Gesellschaft beruhte auf dem Gegensatz unterdr&uuml;ckter und
unterdr&uuml;ckender Klassen&laquo; (Das Kommunistische Manifest S.17). Aber in den vorhergehenden
Phasen der modernen Gesellschaft war dieser Gegensatz in bestimmten rechtlichen
Veh&auml;ltnissen ausgedr&uuml;ckt und konnte eben deshalb bis zu einem gewissen Grad den
aufkommenden neuen Verh&auml;ltnissen noch im Rahmen der alten Raum gew&auml;hren. &raquo;Der
Leibeigene hat sich zum Mitglied der Kommune in der Leibeigenschaft herausgearbeitet&laquo;
(Kommunistisches Manifest S.17). Wieso? Durch stufenweise Aufhebung im Weichbilde der
Stadt aller jener Splitterrechte: der Fronden, Kurmeden, des Gewandrechts, Besthaupts,
Kopfzinses, Heiratszwanges, Erbteilungsrechts usw. usw., deren Gesamtheit die
Leibeigenschaft ausmachte.</p>
<p>Desgleichen arbeitete sich &raquo;der Kleinb&uuml;rger zum Bourgeois unter dem Joch des
feudalistischen Absolutismus&laquo; empor (a.a.0.S.17). Auf welchem Wege? Durch teilweise
formelle Aufhebung oder tats&auml;chliche Lockerung der Zunftfesseln, durch allm&auml;hliche
Umbildung der Verwaltung, des Finanz- und Wehrwesens in dem allernotwendigsten Umfange.</p>
<p>Will man also abstrakt, anstatt geschichtlich, die Frage behandeln, so l&auml;&szlig;t sich bei
den fr&uuml;heren Klassenverh&auml;ltnissen ein rein gesetzlich-reformlerischer &Uuml;bergang von der
feudalen zur b&uuml;rgerlichen Gesellschaft wenigstens denken. Was sehen wir aber in der Tat?
Da&szlig; auch dort die gesetzlichen Reformen nicht dazu dienten, die Ergreifung der
politischen Macht durch das B&uuml;rgertum &uuml;berfl&uuml;ssig zu machen, sondern umgekehrt, sie
vorzubereiten und herbeizuf&uuml;hren. Eine f&ouml;rmliche politisch-soziale Umw&auml;lzung war
unentbehrlich, ebenso zur Aufhebung der Leibeigenschaft, wie zur Abschaffung des
Feudalismus.</p>
<p>Ganz anders noch liegen aber die Dinge jetzt. Der Proletarier wird durch kein Gesetz
gezwungen, sich in das Joch des Kapitals zu spannen, sondern durch die Not, durch den
Mangel an Produktionsmitteln. Kein Gesetz in der Welt kann ihm aber im Rahmen der
b&uuml;rgerlichen Gesellschaft diese Mittel zu dekretieren, weil er ihrer nicht durch Gesetz,
sondern durch &ouml;konomische Entwicklung beraubt wurde.</p>
<p>Ferner beruht die Ausbeutung innerhalb des Lohnverh&auml;ltnisses gleichfalls nicht auf
Gesetzen, denn in H&ouml;he der L&ouml;hne wird nicht auf gesetzlichem Wege, sondern durch
&ouml;konomische Faktoren bestimmt. Und die Tatsache selbst der Ausbeutung beruht nicht auf
einer gesetzlichen Bestimmung, sondern auf der rein wirtschaftlichen Tatsache, da&szlig; die
Arbeitskraft als Ware auftritt, die unter anderem die angenehme Eigenschaft besitzt, Wert,
und zwar mehr Wert zu produzieren, als sie selbst in den Lebensmitteln des Arbeiters
vertilgt. Mit einem Worte, alle Grundverh&auml;ltnisse der kapitalistischen Klassenherrschaft
lassen sich durch gesetzliche Reformen auf b&uuml;rgerlicher Basis deshalb nicht umgestalten,
weil sie weder durch b&uuml;rgerliche Gesetze herbeigef&uuml;hrt, noch die Gestalt von solchen
Gesetzen erhalten haben. Bernstein wei&szlig; das nicht, wenn er eine sozialistische &raquo;Reform&laquo;
plant, aber was er nicht wei&szlig;, das sagt er, indem er auf S. 10 seines Buches schreibt,
da&szlig; &raquo;das &ouml;konomische Motiv heute frei auftritt, wo es fr&uuml;her durch
Herrschaftsverh&auml;ltnisse und Ideologien aller Art verkleidet war&laquo;.</p>
<p>Aber es kommt noch ein zweites hinzu. Es ist die andere Besonderheit der
kapitalistischen Ordnung, da&szlig; in ihr alle Elemente der k&uuml;nftigen Gesellschaft in ihrer
Entwicklung vorerst eine Form annehmen, in der sie sich dem Sozialismus nicht n&auml;hern,
sondern von ihm entfernen. In der Produktion wird immer mehr der gesellschaftliche
Charakter zum Ausdruck gebracht. Aber in welcher Form? Von Gro&szlig;betrieb,
Aktiengesellschaft, Kartell, wo die kapitalistischen Gegens&auml;tze, die Ausbeutung, die
Unterjochung der Arbeitskraft aufs h&ouml;chste gesteigert werden.</p>
<p>Im Wehrwesen f&uuml;hrt die Entwicklung die Verbreitung der allgemeinen Wehrpflicht, die
Verk&uuml;rzung der Dienstzeit, also materiell die Ann&auml;herung an das Volksheer herbei. Aber
dies in der Form von modernem Militarismus, wo die Beherrschung des Volkes durch den
Milit&auml;rstaat, der Klassencharakter des Staates zum grellsten Ausdruck kommt.</p>
<p>In den politischen Verh&auml;ltnissen f&uuml;hrt die Entwicklung der Demokratie, insofern sie
g&uuml;nstigen Boden hat, zur Beteiligung aller Volksschichten am politischen Leben, also
gewisserma&szlig;en zum &raquo;Volksstaat&laquo;. Aber dies in der Form des b&uuml;rgerlichen
Parlamentarismus, wo die Klassengegens&auml;tze, die Klassenherrschaft nicht aufgehoben sind,
sondern vielmehr entfaltet und blo&szlig;gelegt werden. Weil sich die ganze kapitalistische
Entwicklung somit in Widerspr&uuml;chen bewegt, so mu&szlig;, um den Kern der sozialistischen
Gesellschaft aus der ihm widersprechenden kapitalistischen H&uuml;lle herauszusch&auml;len, auch
aus diesem Grunde zur Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat und zur
g&auml;nzlichen Aufhebung des kapitalistischen Systems gegriffen werden.</p>
<p>Bernstein zieht freilich andere Schl&uuml;sse daraus: f&uuml;hrte die Entwicklung der
Demokratie zur Versch&auml;rfung und nicht zur Abschw&auml;chung der kapitalistischen
Widerspr&uuml;che, dann &raquo;m&uuml;&szlig;te die Sozialdemokratie&laquo;, antwortet er uns, &raquo;wenn sie sich
nicht selbst die Arbeit erschweren will, Sozialreformen und die Erweiterung der
demokratischen Einrichtungen nach M&ouml;glichkeit zu vereiteln streben&laquo; (S.71). Dies
allerdings, wenn die Sozialdemokratie nach kleinb&uuml;rgerlicher Art an dem m&uuml;&szlig;igen
Gesch&auml;ft des Ausw&auml;hlens aller guten Seiten und des Wegwerfens schlechter Seiten der
Geschichte Geschmack f&auml;nde. Nur m&uuml;&szlig;te sie dann folgerichtig auch den ganzen
Kapitalismus &uuml;berhaupt &raquo;zu vereiteln streben&laquo;, denn er ist doch unbestreitbar der
Hauptb&ouml;sewicht, der ihr alle Hindernisse auf dem Wege zum Sozialismus stellt.
Tats&auml;chlich gibt der Kapitalismus neben und zugleich mit Hindernissen auch die einzigen
M&ouml;glichkeiten, das sozialistische Programm zu verwirklichen. Dasselbe gilt aber
vollkommen auch in bezug auf die Demokratie.</p>
<p>Ist die Demokratie f&uuml;r die Bourgeoisie teils &uuml;berfl&uuml;ssig, teils hinderlich geworden,
so ist sie f&uuml;r die Arbeiterklasse daf&uuml;r notwendig und unentbehrlich. Sie ist erstens
notwendig, weil sie politische Formen (Selbstverwaltung, Wahlrecht u.dergl.) schafft, die
als Ans&auml;tze und St&uuml;tzpunkte f&uuml;r das Proletariat bei seiner Umgestaltung der
b&uuml;rgerlichen Gesellschaft dienen werden. Sie ist aber zweitens unentbehrlich, weil nur in
ihr, in dem Kampfe um die Demokratie, in der Aus&uuml;bung ihrer Rechte das Proletariat zum
Bewu&szlig;tsein seiner Klasseninteressen und seiner geschichtlichen Aufgaben kommen kann.</p>
<p>Mit einem Worte, die Demokratie ist unentbehrlich, nicht weil sie die Eroberung der
politischen Macht durch das Proletariat &uuml;berfl&uuml;ssig, sondern umgekehrt, weil sie diese
Machtergreifung ebenso notwendig, wie auch einzig m&ouml;glich macht. Wenn Engels die Taktik
der heutigen Arbeiterbewegung in seinem Vorwort zu den &raquo;Klassenk&auml;mpfen in
Frankreich&laquo; revidierte und den Barrikaden den gesetzlichen Kampf entgegenstellte, so
behandelte er - was aus jeder Zeile des Vorwortes klar ist - nicht die Frage der
endg&uuml;ltigen Eroberung der politischen Macht, sondern die des heutigen allt&auml;glichen
Kampfes, nicht das Verhalten des Proletariats gegen&uuml;ber dem kapitalistischen Staate im
Moment der Ergreifung der Staatsgewalt, sondern sein Verhalten im Rahmen des
kapitalistischen Staates. Mit einem Wort, Engels gab die Richtschnur dem beherrschten
Proletariat und nicht dem siegreichen.</p>
<p>Umgekehrt bezieht sich der bekannte Ausspruch von Marx &uuml;ber die Bodenfrage in England,
auf den sich Bernstein gleichfalls beruft: &raquo;man k&auml;me wahrscheinlich am billigsten fort,
wenn man die Landlords auskaufte&laquo;, nicht auf das Verhalten des Proletariats vor seinem
Siege, sondern nach dem Siege. Denn von &raquo;Auskaufen&laquo; der herrschenden Klassen kann
offenbar nur dann die Rede sein, wenn die Arbeiterklasse am Ruder ist. Was Marx somit hier
als m&ouml;glich in Erw&auml;gung zog, ist die friedliche Aus&uuml;bung der proletarischen Diktatur
und nicht die Ersetzung der Diktatur durch kapitalistische Sozialreformen.</p>
<p>Die Notwendigkeit selbst der Ergreifung der politischen Macht durch das Proletariat war
ebenso f&uuml;r Marx wie Engels zu allen Zeiten au&szlig;er Zweifel. Und es blieb Bernstein
vorbehalten, den H&uuml;hnerstall des b&uuml;rgerlichen Parlamentarismus f&uuml;r das berufene Organ
zu halten, wodurch die gewaltigste weltgeschichtliche Umw&auml;lzung: die &Uuml;berf&uuml;hrung der
Gesellschaft aus den kapitalistischen in sozialistische Formen vollzogen werden soll.</p>
<p>Aber Bernstein hat ja seine Theorie blo&szlig; mit der Bef&uuml;rchtung und der Warnung
angefangen, da&szlig; das Proletariat nicht zu fr&uuml;h ans Ruder komme! In diesem Falle m&uuml;&szlig;te
es n&auml;mlich nach Bernstein die b&uuml;rgerlichen Zust&auml;nde ganz so lassen, wie sie sind und
selbst eine furchtbare Niederlage erleiden. Was aus dieser Bef&uuml;rchtung vor allem
ersichtlich, ist, da&szlig; die Bernsteinsche Theorie f&uuml;r das Proletariat, falls es durch die
Verh&auml;ltnisse ans Ruder gebracht w&auml;re, nur Eine &raquo;praktische&laquo; Anweisung hat: sich
schlafen zu legen. Damit richtet sie sich aber ohne weiteres selbst, als eine Auffassung,
die das Proletariat in den wichtigsten F&auml;llen des Kampfes zur Unt&auml;tigkeit, also zum
passiven Verrate an der eigenen Sache verurteilt.</p>
<p>Tats&auml;chlich w&auml;re unser ganzes Programm ein elender Wisch Papier, wenn es uns nicht
f&uuml;r alle Eventualit&auml;ten und in allen Momenten des Kampfes zu dienen, und zwar durch
seine Aus&uuml;bung und nicht durch seine Nichtaus&uuml;bung zu dienen imstande w&auml;re. Ist unser
Programm einmal die Formulierung der geschichtlichen Entwicklung der Gesellschaft vom
Kapitalismus zum Sozialismus, dann mu&szlig; es offenbar auch alle &Uuml;bergangsphasen dieser
Entwicklung formulieren, in sich in den Grundz&uuml;gen enthalten, also auch das entsprechende
Verhalten im Sinne der Ann&auml;herung zum Sozialismus in jedem Moment dem Proletariat
anweisen k&ouml;nnen. Daraus folgt, da&szlig; es &uuml;berhaupt f&uuml;r das Proletariat keinen Augenblick
geben kann, in dem es gezwungen w&auml;re, sein Programm im Stiche zu lassen, oder wo es von
diesem Programm k&ouml;nnte im Stiche gelassen werden.</p>
<p>Praktisch &auml;u&szlig;ert sich das in der Tatsache, da&szlig; es keinen Moment geben kann, in dem
das Proletariat, durch den Gang der Dinge ans Ruder gebracht, nicht in der Lage und auch
nicht verpflichtet w&auml;re, gewisse Ma&szlig;regeln zur Verwirklichung seines Programms, gewisse
&Uuml;bergangsma&szlig;regeln im Sinne des Sozialismus zu treffen. Hinter der Behauptung, das
sozialistische Programm k&ouml;nnte in irgend einem Augenblick der politischen Herrschaft des
Proletariats v&ouml;llig versagen und gar keine Anweisungen zu seiner Verwirklichung geben,
steckt unbewu&szlig;t die andere Behauptung: das sozialistische Programm sei &uuml;berhaupt und
jederzeit unrealisierbar.</p>
<p>Und wenn die &Uuml;bergangsma&szlig;regeln verfr&uuml;ht sind? Diese Frage birgt in sich einen
ganzen Kn&auml;uel von Mi&szlig;verst&auml;ndnissen in bezug auf den wirklichen Gang sozialer
Umw&auml;lzungen.</p>
<p>Die Ergreifung der Staatsgewalt durch das Proletariat, d.h. durch eine gro&szlig;e
Volksklasse, l&auml;&szlig;t sich vor allem nicht k&uuml;nstlich herbeif&uuml;hren. Sie setzt von selbst,
abgesehen von F&auml;llen, wie die Pariser Kommune, wo die Herrschaft dem Proletariat nicht
als Ergebnis seines zielbewu&szlig;ten Kampfes, sondern ausnahmsweise als von allen verlassenes
herrenloses Gut in den Scho&szlig; fiel, einen bestimmten Reifegrad der &ouml;konomisch-politischen
Verh&auml;ltnisse voraus. Hier liegt der Hauptunterschied zwischen blanquistischen
Staatsstreichen einer &raquo;entschlossenen Minderheit&laquo;, die jederzeit wie aus der Pistole
geschossen und eben deshalb immer unzeitgem&auml;&szlig; kommen, und der Eroberung der Staatsgewalt
durch die gro&szlig;e und klassenbewu&szlig;te Volksmasse, die selbst nur das Produkt eines
beginnenden Zusammenbruches der b&uuml;rgerlichen Gesellschaft sein kann, deshalb in sich
selbst die &ouml;konomisch-politische Legitimation ihrer zeitgem&auml;&szlig;en Erscheinung tr&auml;gt.</p>
<p>Kann somit die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse vom Standpunkt
der gesellschaftlichen Voraussetzungen gar nicht &raquo;zu fr&uuml;h&laquo; geschehen, so mu&szlig; sie
andererseits vom Standpunkte des politischen Effekts: der Festhaltung der Gewalt,
notwendig &raquo;zu fr&uuml;h&laquo; stattfinden. Die verfr&uuml;hte Revolution, die Bernstein nicht
schlafen l&auml;&szlig;t, bedroht uns wie das Damoklesschwert, und dagegen hilft kein Bitten und
Beten, kein Bangen und Zagen. Und zwar aus zwei sehr einfachen Gr&uuml;nden.</p>
<p>Erstens ist eine so gewaltige Umw&auml;lzung, wie die &Uuml;berf&uuml;hrung der Gesellschaft aus
der kapitalistischen in die sozialistische Ordnung, ganz undenkbar auf einen Schlag, durch
einen siegreichen Streich des Proletariats. Dies als m&ouml;glich voraussetzen, hie&szlig;e
wiederum eine echt blanquistische Auffassung an den Tag legen. Die sozialistische
Umw&auml;lzung setzt einen langen und hartn&auml;ckigen Kampf voraus, wobei das Proletariat allem
Anscheine nach mehr als einmal zur&uuml;ckgeworfen wird, so da&szlig; es das erstemal, vom
Standpunkte des Endresultates des ganzen Kampfes gesprochen, notwendig &raquo;zu
fr&uuml;h&laquo; ans Ruder gekommen sein wird.</p>
<p>Zweitens aber l&auml;&szlig;t sich das &raquo;verfr&uuml;hte&laquo; Ergreifen der Staatsgewalt auch deshalb
nicht vermeiden, weil diese &raquo;verfr&uuml;hten&laquo; Angriffe des Proletariats eben selbst ein, und
zwar sehr wichtiger Faktor sind, der die politischen Bedingungen des endg&uuml;ltigen Sieges
schafft, indem das Proletariat erst im Laufe jener politischen Krise, die seine
Machtergreifung begleiten wird, erst im Feuer langer und hartn&auml;ckiger K&auml;mpfe den
erforderlichen Grad der politischen Reife erreichen kann, der es zur endg&uuml;ltigen gro&szlig;en
Umw&auml;lzung bef&auml;higen wird. So stellen sich denn jene &raquo;verfr&uuml;hten&laquo; Angriffe des
Proletariats auf die politische Staatsgewalt selbst als wichtige geschichtliche Momente
heraus, die auch den Zeitpunkt des endg&uuml;ltigen Sieges mitherbeif&uuml;hren und mitbestimmen.
Von diesem Standpunkte erscheint die Vorstellung einer &raquo;verfr&uuml;hten&laquo; Eroberung der
politischen Macht durch das arbeitende Volk als ein politischer Widersinn, der von einer
mechanischen Entwicklung der Gesellschaft ausgeht und einen au&szlig;erhalb und unabh&auml;ngig vom
Klassenkampf bestimmten Zeitpunkt f&uuml;r den Sieg des Klassenkampfes voraussetzt.</p>
<p>Da aber das Proletariat somit gar nicht imstande ist, die Staatsgewalt anders als &raquo;zu
fr&uuml;h&laquo; zu erobern, oder mit anderen Worten, da es sie unbedingt einmal oder mehrmals &raquo;zu
fr&uuml;h&laquo; erobern mu&szlig;, um sie schlie&szlig;lich dauernd zu erobern, so ist die Opposition gegen
die &raquo;verfr&uuml;hte&laquo; Machtergreifung nichts als die Opposition gegen die Bestrebung des
Proletariats &uuml;berhaupt, sich der Staatsgewalt zu bem&auml;chtigen.</p>
<p>Also auch von dieser Seite gelangen wir folgerichtig, wie durch alle Stra&szlig;en nach Rom,
zu dem Ergebnis, da&szlig; die revisionistische Anweisung, das sozialistische Endziel fallen zu
lassen, auf die andere hinauskommt, auch die ganze sozialistische Bewegung aufzugeben,
(da&szlig; sein Rat an die Sozialdemokratie, sich im Falle der Machteroberung &raquo;schlafen zu
legen&laquo;, mit dem anderen identisch ist: sich nun und &uuml;berhaupt schlafen zu legen, d.h.
auf den Klassenkampf zu verzichten).</p>
<H3 align="center"><A name="2_4">4. Der Zusammenbruch</a></H3>
<p>Bernstein hat seine Revision des sozialdemokratischen Programms mit dem Aufgeben der
Theorie des kapitalistischen Zusammenbruchs angefangen. Da aber der Zusammenbruch der
b&uuml;rgerlichen Gesellschaft ein Eckstein des wissenschaftlichen Sozialismus ist, so mu&szlig;te
die Entfernung dieses Ecksteins logisch zum Zusammenbruche der ganzen sozialistischen
Auffassung bei Bernstein f&uuml;hren. Im Laufe der Debatte gibt er, um seine erste Behauptung
aufrecht zu erhalten, eine Position des Sozialismus nach der anderen preis.</p>
<p>Ohne Zusammenbruch des Kapitalismus ist die Expropriation der Kapitalistenklasse
unm&ouml;glich - Bernstein verzichtet auf die Expropriation und stellt als Ziel der
Arbeiterbewegung die allm&auml;hliche Durchf&uuml;hrung des &raquo;Genossenschaftlichkeitsprinzips&laquo;
auf.</p>
<p>Aber die Genossenschaftlichkeit l&auml;&szlig;t sich inmitten der kapitalistischen Produktion
nicht durchf&uuml;hren - Bernstein verzichtet auf die Vergesellschaftung der Produktion und
kommt auf die Reform des Handels, auf den Konsumverein.</p>
<p>Aber die Umgestaltung der Gesellschaft durch die Konsumvereine, auch mit Gewerkschaften
zusammen, vertr&auml;gt sich nicht mit der tats&auml;chlichen materiellen Entwicklung der
kapitalistischen Gesellschaft - Bernstein gibt die materialistische Geschichtsauffassung
auf.</p>
<p>Aber seine Auffassung von dem Gang der &ouml;konomischen Entwicklung vertr&auml;gt sich nicht
mit dem Marxschen Mehrwertgesetz - Bernstein gibt das Mehrwert- und das Wertgesetz und
damit die ganze &ouml;konomische Theorie von Karl Marx auf.</p>
<p>Aber ohne bestimmtes Endziel und ohne &ouml;konomischen Boden in der gegenw&auml;rtigen
Gesellschaft kann der proletarische Klassenkampf nicht gef&uuml;hrt werden - Bernstein gibt
den Klassenkampf auf und verk&uuml;ndet die Auss&ouml;hnung mit dem b&uuml;rgerlichen Liberalismus.</p>
<p>Aber in einer Klassengesellschaft ist der Klassenkampf eine ganz nat&uuml;rliche,
unvermeidliche Erscheinung - Bernstein bestreitet in weiterer Konsequenz sogar das
Bestehen der Klassen in unserer Gesellschaft: die Arbeiterklasse ist ihm blo&szlig; ein Haufen
nicht nur politisch und geistig, sondern auch wirtschaftlich zersplitterter Individuen.
Und auch die Bourgeoisie wird nach ihm nicht durch innere &ouml;konomische Interessen, sondern
blo&szlig; durch &auml;u&szlig;eren Druck von oben oder von unten - politisch zusammengehalten.</p>
<p>Aber wenn es keinen &ouml;konomischen Boden f&uuml;r den Klassenkampf und im Grunde genommen
auch keine Klassen gibt, so erscheint nicht nur der k&uuml;nftige Kampf des Proletariats mit
der Bourgeoisie unm&ouml;glich, sondern auch der bisherige, so erscheint die Sozialdemokratie
selbst mit ihren Erfolgen unbegreiflich. Oder aber sie wird begreiflich gleichfalls nur
als Resultat des politischen Regierungsdruckes, nicht als gesetzm&auml;&szlig;iges Ergebnis der
geschichtlichen Entwicklung, sondern als Zufallsprodukt des hohenzollernschen Kurses,
nicht als legitimes Kind der kapitalistischen Gesellschaft, sondern als Bastard der
Reaktion. So f&uuml;hrt Bernstein mit zwingender Logik von der materialistischen
Geschichtsauffassung zu der &raquo;Frankfurter&laquo; und der &raquo;Vossischen
Zeitung&laquo;.</p>
<p>Es bleibt nur noch &uuml;brig, nachdem man die ganze sozialistische Kritik der
kapitalistischen Gesellschaft abgeschworen hat, das Bestehende wenigstens irn gro&szlig;en und
ganzen auch befriedigend zu finden. Und auch davor schreckt Bernstein nicht zur&uuml;ck: er
findet jetzt die Reaktion in Deutschland nicht so stark, &raquo;in den westeurop&auml;ischen
Staaten ist von politischer Reaktion nicht viel zu merken&laquo;, in fast allen L&auml;ndern des
Westens ist &raquo;die Haltung der b&uuml;rgerlichen Klassen der sozialistischen Bewegung
gegen&uuml;ber h&ouml;chstens eine der Defensive und keine der Unterdr&uuml;ckung&laquo; ('Vorw&auml;rts' vom
26. M&auml;rz 1899). Die Arbeiter sind nicht verelendet, sondern im Gegenteil immer
wohlhabender, die Bourgeoisie ist politisch fortschrittlich und sogar moralisch gesund,
von Reaktion und Unterdr&uuml;ckung ist nichts zu sehen, - und alles geht zum besten in dieser
besten der Welten...</p>
<p>So kommt Bernstein ganz logisch und folgerichtig von A bis herunter auf Z. Er hatte
damit angefangen, das Endziel um der Bewegung willen aufzugeben. Da es aber tats&auml;chlich
keine sozialdemokratische Bewegung ohne das sozialistische Endziel geben kann, so endet er
notwendig damit, da&szlig; er auch die Bewegung selbst aufgibt.</p>
<p>Die ganze sozialistische Auffassung Bernsteins ist somit zusammengebrochen. Aus dem
stolzen, symmetrischen, wunderbaren Bau des Marxschen Systems ist bei ihm nunmehr ein
gro&szlig;er Schutthaufen geworden, in dem Scherben aller Systeme, Gedankensplitter aller
gro&szlig;en und kleinen Geister eine gemeinsame Gruft gefunden haben. Marx und Proudhon, Leo
von Buch und Franz Oppenheimer, Friedrich Albert Lange und Kant, Herr Prokopovitsch und
Dr. Ritter von Neupauer, Herkner und Schulze-G&auml;vernitz, Lassalle und Prof. Julius Wolf -
alle haben ihr Scherflein zu dem Bernsteinschen System beigetragen, bei allen ist er in
die Lehre gegangen. Und kein Wunder! Mit dem Verlassen des Klassenstandpunktes hat er den
politischen Kompa&szlig;, mit dem Aufgeben des wissenschaftlichen Sozialismus die geistige
Kristallisationsachse verloren, um die sich einzelne Tatsachen zum organischen Ganzen
einer konsequenten Weltanschauung gruppieren.</p>
<p>Diese aus allen m&ouml;glichen Systembrocken unterschiedslos zusammengew&uuml;rfelte Theorie
scheint auf den ersten Blick ganz vorurteilslos zu sein. Bernstein will auch nichts von
einer &raquo;Parteiwissenschaft&laquo;, oder richtiger von einer Klassenwissenschaft, ebensowenig
von einem Klassenliberalismus, einer Klassenmoral h&ouml;ren. Er meint eine allgemein
menschliche, abstrakte Wissenschaft, abstrakten Liberalismus, abstrakte Moral zu
vertreten. Da aber die wirkliche Gesellschaft aus Klassen besteht, die diamentral
entgegengesetzte Interessen, Bestrebungen und Auffassungen haben, so ist eine allgemein
menschliche Wissenschaft in sozialen Fragen, ein abstrakter Liberalismus, eine abstrakte
Moral vorl&auml;ufig eine Phantasie, eine Selbstt&auml;uschung. Was Bernstein f&uuml;r seine allgemein
menschliche Wissenschaft, Demokratie und Moral h&auml;lt, ist blo&szlig; die herrschende, d.h. die
b&uuml;rgerliche Wissenschaft, die b&uuml;rgerliche Demokratie, die b&uuml;rgerliche Moral.</p>
<p>In der Tat! Wenn er das Marxsche &ouml;konomische System abschw&ouml;rt, um auf die Lehren von
Brentano, B&ouml;hm-Jevons, Say, Julius Wolf zu schw&ouml;ren, was tut er anderes, als die
wissenschaftliche Grundlage der Emanzipation der Arbeiterklasse mit dem Apologetentum
(Verherrlichung) der Bourgeoisie vertauschen? Wenn er von dem allgemein menschlichen
Charakter des Liberalismus spricht und den Sozialismus in seine Abart verwandelt, was tut
er anderes, als dem Sozialismus den Klassencharakter, also den geschichtlichen Inhalt,
also &uuml;berhaupt jeden Inhalt nehmen und damit umgekehrt die historische Tr&auml;gerin des
Liberalismus, die Bourgeoisie, zur Vertreterin der allgemein menschlichen Interessen
machen?</p>
<p>Und wenn er gegen &raquo;die Erhebung der materiellen Faktoren zu den omnipotenten
(allm&auml;chtigen) M&auml;chten der Entwicklung&laquo;, gegen die &raquo;Verachtung des Ideals&laquo; in der
Sozialdemokratie zu Felde zieht, wenn er dem Idealismus, der Moral das Wort redet,
gleichzeitig aber gegen die einzige Quelle der moralischen Wiedergeburt des Proletariats,
gegen den revolution&auml;ren Klassenkampf eifert - was tut er im Grunde genommen anderes, als
der Arbeiterklasse die Quintessenz der Moral der Bourgeoisie: die Auss&ouml;hnung mit der
bestehenden Ordnung und die &Uuml;bertragung der Hoffnung ins jenseits der sittlichen
Vorstellungswelt predigen?</p>
<p>Indem er endlich gegen die Dialektik seine sch&auml;rfsten Pfeile richtet, was tut er
anders, als gegen die spezifische Denkweise des aufstrebenden klassenbewu&szlig;ten
Proletariats ank&auml;mpfen? Gegen das Schwert ank&auml;mpfen, das dem Proletariat die Finsternis
seiner historischen Zukunft hat durchhauen helfen, gegen die geistige Waffe, womit es,
materiell noch im Joch, die Bourgeoisie besiegt, weil es sie ihrer Verg&auml;nglichkeit
&uuml;berf&uuml;hrt, ihr die Unvermeidlichkeit seines Sieges nachgewiesen, die Revolution im
Reiche des Geistes bereits vollzogen hat! Indem Bernstein von der Dialektik Abschied nimmt
und die Gedankenschaukel des Einerseits-Andererseits, Zwar-Aber, Obgleich-Dennoch,
Mehr-Weniger sich aneignet, verf&auml;llt er ganz folgerichtig in die historisch-bedingte
Denkweise der untergehenden Bourgeoisie, eine Denkweise, die das getreue geistige Abbild
ihres gesellschaftlichen Daseins und ihres politischen Tuns ist. (Caprivi-Hohenlohe,
Berlepsch-Posadowsky, Februarerlasse - Zuchthausvorlage,) das politische
Einerseits-Andererseits, Wenn und Aber der heutigen Bourgeoisie sieht genau so aus, wie
die Denkweise Bernsteins, und die Bernsteinsche Denkweise ist das feinste und sicherste
Symptom seiner b&uuml;rgerlichen Weltanschauung.</p>
<p>Aber f&uuml;r Bernstein ist nunmehr auch das Wort &raquo;b&uuml;rgerlich&laquo; kein Klassenausdruck,
sondern ein allgemein-gesellschaftlicher Begriff. Das bedeutet nur, da&szlig; er - folgerichtig
bis zum Punkt &uuml;ber dem i - mit der Wissenschaft, Politik, Moral und Denkweise auch die
geschichtliche Sprache des Proletariats mit derjenigen der Bourgeoisie vertauscht hat.
Indem Bernstein unter &raquo;B&uuml;rger&laquo; unterschiedslos den Bourgeois und den Proletarier, also
den Menschen schlechthin versteht, ist ihm tats&auml;chlich der Mensch schlechthin zum
Bourgeois, die menschliche Gesellschaft mit der b&uuml;rgerlichen identisch geworden.</p>
<p>(Wenn jemand zu Beginn der Diskussion mit Bernstein noch gehofft hat, ihn durch
Argumente aus der wissenschaftlichen R&uuml;stkammer der Sozialdemokratie &uuml;berzeugen, ihn der
Bewegung wiedergeben zu k&ouml;nnen, mu&szlig; er diese Hoffnung g&auml;nzlich fallen lassen. Denn nun
haben dieselben Worte aufgeh&ouml;rt, f&uuml;r beide Seiten dieselben Begriffe, die n&auml;mlichen
Begriffe haben aufgeh&ouml;rt, dieselben sozialen Tatsachen auszudr&uuml;cken. Die Diskussion mit
Bernstein ist zur Auseinandersetzung zweier Weltanschauungen, zweier Klassen, zweier
Gesellschaftsformen geworden. Bernstein und die Sozialdemokratie stehen jetzt auf
g&auml;nzlich verschiedenem Boden.)</p>
<H3 align="center"><A name="2_5">5. Der Opportunismus in Theorie und Praxis</a></H3>
<p>Das Bernsteinsche Buch hat f&uuml;r die deutsche und die internationale Arbeiterbewegung
eine gro&szlig;e geschichtliche Bedeutung gehabt: es war dies der erste Versuch, den
opportunistischen Str&ouml;mungen in der Sozialdemokratie eine theoretische Grundlage zu
geben. </p>
<p>Die opportunistischen Str&ouml;mungen datieren in unserer Bewegung, wenn man ihre
sporadischen &Auml;u&szlig;erungen, wie in der bekannten Dampfsubventionsfrage, in Betracht zieht,
seit l&auml;ngerer Zeit. Allein eine ausgesprochene einheitliche Str&ouml;mung in diesem Sinne
datiert erst seit Anfang der neunziger Jahre, seit dem Fall des Sozialistengesetzes und
der Wiedereroberung des gesetzlichen Bodens. Vollmars Staatssozialismus, die bayerische
Budgetabstimmung, der s&uuml;ddeutsche Agrarsozialismus, Heines Kompensationsvorschl&auml;ge,
Schippels Zoll- und Milizstandpunkt, das sind die Marksteine in der Entwicklung der
opportunistischen Praxis.</p>
<p>Was kennzeichnete sie vor allem &auml;u&szlig;erlich? Die Feindseligkeit gegen &raquo;die Theorie&laquo;.
Und dies ist ganz selbstverst&auml;ndlich, denn unsere &raquo;Theorie&laquo;, d.h. die
Grunds&auml;tze des wissenschaftlichen Sozialismus, setzen der praktischen T&auml;tigkeit ebenso
in bezug auf die angestrebten Ziele, wie auf die anzuwendenden Kampfmittel, wie endlich
selbst auf die Kampfweise sehr feste Schranken. Daher zeigt sich bei denjenigen, die nur
den praktischen Erfolgen nachjagen wollen, das nat&uuml;rliche Bestreben, sich die H&auml;nde frei
zu machen, d.h. unsere Praxis von der &raquo;Theorie&laquo; zu trennen, von ihr unabh&auml;ngig
zu machen.</p>
<p>Aber dieselbe Theorie schlug sie bei jedem praktischen Versuch auf den Kopf: der
Staatssozialismus, Agrarsozialismus, die Kompensationspolitik, die Milizfrage sind eben
soviel Niederlagen f&uuml;r den Opportunismus. Es ist klar, da&szlig; diese Str&ouml;mung, wollte sie
sich gegen unsere Grunds&auml;tze behaupten, folgerichtig dazu kommen mu&szlig;te, sich an die
Theorie selbst, an die Grunds&auml;tze heranzuwagen, statt sie zu ignorieren, sie zu
ersch&uuml;ttern suchen und eine eigene Theorie zurechtzumachen. Ein dahingehender Versuch war
eben die Bernsteinsche Theorie, und daher sahen wir auf dem Parteitag in Stuttgart alle
opportunistischen Elemente sich sofort um das Bernsteinsche Banner gruppieren. Sind
einerseits die opportunistischen Str&ouml;mungen in der Praxis eine ganz nat&uuml;rliche, aus den
Bedingungen unseres Kampfes und seinem Wachstum erkl&auml;rliche Erscheinung, so ist
andererseits die Bernsteinsche Theorie ein nicht minder selbstverst&auml;ndlicher Versuch,
diese Str&ouml;mungen in einem allgemeinen theoretischen Ausdruck zusammenzufassen, ihre
eigenen theoretischen Voraussetzungen herauszufinden und mit dem wissenschaftlichen
Sozialismus abzurechnen. Die Bernsteinsche Theorie war daher von vornherein die
theoretische Feuerprobe f&uuml;r den Opportunismus, seine erste wissenschaftliche
Legitimation.</p>
<p>Wie ist nun diese Probe ausgefallen? Wir haben es gesehen. Der Opportunismus ist nicht
imstande, eine einigerma&szlig;en die Kritik aushaltende positive Theorie aufzustellen. Alles,
was er kann, ist: die Marxsche Lehre zuerst in verschiedenen einzelnen Grunds&auml;tzen zu
bek&auml;mpfen und zuletzt, da diese Lehre ein fest zusammengef&uuml;gtes Geb&auml;ude darstellt, das
ganze System vom obersten Stockwerke bis zum Fundament zu zerst&ouml;ren. Damit ist erwiesen,
da&szlig; die opportunistische Praxis in ihrem Wesen, in ihren Grundlagen mit dem Marxschen
System unvereinbar ist.</p>
<p>Aber damit ist ferner noch erwiesen, da&szlig; der Opportunismus auch mit dem Sozialismus
&uuml;berhaupt unvereinbar ist, da&szlig; seine innere Tendenz dahin geht, die Arbeiterbewegung in
b&uuml;rgerliche Bahnen hin&uuml;berzudr&auml;ngen, d.h. den proletarischen Klassenkampf v&ouml;llig
lahmzulegen. Freilich ist proletarischer Klassenkampf mit dem Marxschen System -
geschichtlich genommen - nicht identisch. Auch vor Marx und unabh&auml;ngig von ihm hat es
eine Arbeiterbewegung und verschiedene sozialistische Systeme gegeben, die jedes in seiner
Weise ein den Zeitverh&auml;ltnissen entsprechender theoretischer Ausdruck der
Emanzipationsbestrebungen der Arbeiterklasse waren. Die Begr&uuml;ndung des Sozialismus durch
moralische Gerechtigkeitsbegriffe, der Kampf gegen die Verteilungsweise, statt gegen die
Produktionsweise, die Auffassung der Klassengegens&auml;tze als Gegensatz von arm und reich,
die Bestrebung, die &raquo;Genossenschaftlichkeit&laquo; auf die kapitalistische Wirtschaft
aufzupfropfen, alles das, was wir im Bernsteinschen System vorfinden, ist schon einmal
dagewesen. Und diese Theorien waren ihrer Zeit bei all ihrer Unzul&auml;nglichkeit wirkliche
Theorien des proletarischen Klassenkampfes, sie waren die riesenhaften Kinderschuhe, worin
das Proletariat auf der geschichtlichen B&uuml;hne marschieren lernte.</p>
<p>Aber nachdem einmal die Entwicklung des Klassenkampfes selbst und seiner
gesellschaftlichen Bedingungen zur Abstreifung dieser Theorien und zur Formulierung der
Grunds&auml;tze des wissenschaftlichen Sozialismus gef&uuml;hrt hat, kann es - wenigstens in
Deutschland - keinen Sozialismus mehr au&szlig;er dem Marxschen, keinen sozialistischen
Klassenkampf au&szlig;erhalb der Sozialdemokratie geben. Nunmehr sind Sozialismus und
Marxismus, proletarischer Emanzipationskampf und Sozialdemokratie identisch. Das
Zur&uuml;ckgreifen auf vormarxsche Theorien des Sozialismus bedeutet daher heute nicht einmal
den R&uuml;ckfall in die riesenhaften Kinderschuhe des Proletariats, nein, es ist ein
R&uuml;ckfall in die zwerghaften, ausgetretenen Hausschuhe der Bourgeoisie.</p>
<p>Die Bernsteinsche Theorie war der erste, aber zugleich auch der letzte Versuch, dem
Opportunismus eine theoretische Grundlage zu geben. Wir sagen: der letzte, weil er in dem
Bernsteinschen System ebenso negativ in der Abschw&ouml;rung des wissenschaftlichen
Sozialismus, wie positiv in der Zusammenw&uuml;rfelung aller verf&uuml;gbaren theoretitischen
Konfusion so weit gegangen ist, da&szlig; ihm nichts zu tun mehr &uuml;brig bleibt. Durch das
Bernsteinsche Buch hat der Opportunismus seine Entwicklung in der Theorie (wie durch die
Schippelsche Stellungnahme zur Frage des Militarismus in der Praxis)S vollendet, seine
letzten Konsequenzen gezogen.</p>
<p>Und die Marxsche Lehre ist nicht nur imstande, ihn theoretisch zu widerlegen, sondern
sie ist es allein, die in der Lage ist, den Opportunismus als geschichtliche Erscheinung
in dem Werdegange der Partei auch zu erkl&auml;ren. Der weltgeschichtliche Vormarsch des
Proletariats bis zu seinem Siege ist tats&auml;chlich &raquo;keine so einfache Sache&laquo;. Die ganze
Besonderheit dieser Bewegung liegt darin, da&szlig; hier zum erstenmal in der Geschichte die
Volksmassen selbst und gegen alle herrschenden Klassen ihren Willen durchsetzen, diesen
Willen aber ins jenseits der heutigen Gesellschaft, &uuml;ber sie hinaus setzen m&uuml;ssen.
Diesen Willen k&ouml;nnen sich die Massen aber wiederum nur im best&auml;ndigen Kampfe mit der
bestehenden Ordnung, nur in ihrem Rahmen ausbilden. Die Vereinigung der gro&szlig;en Volksmasse
mit einem &uuml;ber die ganze bestehende Ordnung hinausgehenden Ziele, des allt&auml;glichen
Kampfes mit der gro&szlig;en Weltreform, das ist das gro&szlig;e Problem der sozialdemokratischen
Bewegung, die sich auch folgerichtig auf dem ganzen Entwicklungsgange zwischen den beiden
Klippen: zwischen dem Aufgeben des Massencharakters und dem Aufgeben des Endziels,
zwischen dem R&uuml;ckfall in die Sekte und dem Umfall in die b&uuml;rgerliche Reformbewegung,
zwischen Anarchismus und Opportunismus vorw&auml;rts arbeiten mu&szlig;.</p>
<p>Die Marxsche Lehre hat freilich in ihrer theoretischen R&uuml;stkammer schon vor einem
halben Jahrhundert vernichtende Waffen ebenso gegen das eine wie gegen das andere Extrem
geliefert. Da aber unsere Bewegung eben eine Massenbewegung ist, und die Gefahren, die ihr
drohen, nicht aus den menschlichen K&ouml;pfen, sondern aus den gesellschaftlichen Bedingungen
entspringen, so konnten die anarchistischen und die opportunistischen Seitenspr&uuml;nge nicht
ein f&uuml;r allemal von vornherein durch die Marxsche Theorie verh&uuml;tet werden: sie m&uuml;ssen,
erst nachdem sie in der Praxis Fleisch geworden, durch die Bewegung selbst, allerdings nur
mit Hilfe der von Marx gelieferten Waffen, &uuml;berwunden werden. Die geringere Gefahr, die
anarchistischen Kindheitsmasern, hat die Sozialdemokratie bereits mit der
&raquo;Unabh&auml;ngigenbewegung&laquo; &uuml;berwunden. Die gr&ouml;&szlig;ere Gefahr - die opportunistische
Wassersucht, &uuml;berwindet sie gegenw&auml;rtig.</p>
<p>Bei dem enormen Wachstum der Bewegung in die Breite in den letzten Jahren, bei der
Kompliziertheit der Bedingungen, worin und der Aufgaben, wof&uuml;r nun der Kampf zu f&uuml;hren
ist, mu&szlig;te der Augenblick kommen, wo sich in der Bewegung Skeptizismus in bezug auf die
Erreichung der gro&szlig;en Endziele, Schwankung in bezug auf das ideelle Element der Bewegung
geltend machten. So und nicht anders kann und mu&szlig; die gro&szlig;e proletarische Bewegung
verlaufen, und die Augenblicke des Wankens, des Zagens sind weit entfernt, eine
&Uuml;berraschung f&uuml;r die Marxsche Lehre zu sein, vielmehr von Marx l&auml;ngst vorausgesehen und
vorausgesagt. &raquo;B&uuml;rgerliche Revolutionen&laquo;, schrieb Marx vor einem halben Jahrhundert in
seinem &raquo;Achtzehnten Brumaire&laquo;, &raquo;wie die des achtzehnten Jahrhunderts, st&uuml;rmen
rascher von Erfolg zu Erfolg, ihre dramatischen Effekte &uuml;berbieten sich, Menschen und
Dinge scheinen in Feuerbrillanten gefa&szlig;t, die Ekstase ist der Geist jedes Tages: aber sie
sind kurzlebig, bald haben sie ihren H&ouml;hepunkt erreicht, und ein langer Katzenjammer
erfa&szlig;t die Gesellschaft, ehe sie die Resultate ihrer Drang- und Sturmperiode n&uuml;chtern
sich aneignen lernt. Proletarische Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten
Jahrhunderts, kritisieren best&auml;ndig sich selbst, unterbrechen sich fortw&auml;hrend in ihrem
eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zur&uuml;ck, um es wieder von neuem
anzufangen, verh&ouml;hnen grausam-gr&uuml;ndlich die Halbheiten, Schw&auml;chen und Erb&auml;rmlichkeiten
ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner niederzuwerfen, damit er neue Kr&auml;fte aus der
Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegen&uuml;ber wieder aufrichte, schrecken stets von
neuem zur&uuml;ck vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die
Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unm&ouml;glich macht, und die Verh&auml;ltnisse selbst
rufen: Hic Rhodus, hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze!&laquo; </p>
<p>Dies ist wahr geblieben, auch nachdem die Lehre des wissenschaftlichen Sozialismus
aufgebaut worden ist. Die proletarische Bewegung ist damit noch nicht auf einmal, auch in
Deutschland nicht, sozialdemokratisch geworden, sie wird sozialdemokratisch mit jedem
Tage, sie wird es auch w&auml;hrend und indem sie fortw&auml;hrend die extremen Seitenspr&uuml;nge ins
Anarchistische und ins Opportunistische &uuml;berwindet, beides nur Bewegungsmomente der als
Proze&szlig; aufgefa&szlig;ten Sozialdemokratie.</p>
<p>Angesichts dieses ist nicht die Entstehung der opportunistischen Str&ouml;mung, sondern
vielmehr ihre Schw&auml;che &uuml;berraschend. Solange sie blo&szlig; in Einzelf&auml;llen der Parteipraxis
zum Durchbruch kam, konnte man noch hinter ihr eine irgendwie ernste theoretische
Grundlage vermuten. Nun sie aber in dem Bernsteinschen Buche zum vollen Ausdruck gekommen
ist, mu&szlig; jedermann verwundert ausrufen: Wie, das ist alles, was Ihr zu sagen habt? Kein
einziger Splitter von einem neuen Gedanken! Kein einziger Gedanke, der nicht schon vor
Jahrzehnten von dem Marxismus niedergetreten, zerstampft, ausgelacht, in nichts verwandelt
worden w&auml;re!</p>
<p>Es gen&uuml;gte, da&szlig; der Opportunismus sprach, um zu zeigen, da&szlig; er nichts zu sagen
hatte. Und darin liegt die eigentliche parteigeschichtliche Bedeutung des Bernsteinschen
Buches.</p>
<p>Und so kann Bernstein noch beim Abschied von der Denkweise des revolution&auml;ren
Proletariats, von der Dialektik und der materialistischen Geschichtsauffassung, sich bei
ihnen f&uuml;r die mildernden Umst&auml;nde bedanken, die sie seiner Wandlung zubilligen. Denn nur
die Dialektik und die materialistische Geschichtsauffassung, hochherzig wie sie sind,
lassen ihn als berufenes, aber unbewu&szlig;tes Werkzeug erscheinen, wodurch das
vorw&auml;rtsst&uuml;rmende Proletariat seinen augenblicklichen Wankelmut zum Ausdruck gebracht
hat, um ihn, bei Lichte besehen, hohnlachend und lockensch&uuml;ttelnd weit von sich zu
werfen.</p>
<p>[Wir haben gesagt: die Bewegung wird sozialdemokratisch, w&auml;hrend und indem sie die mit
Notwendigkeit sich aus ihrem Wachstum ergebenden Seitenspr&uuml;nge ins Anarchistische und
Opportunistische &uuml;berwindet. Aber &uuml;berwinden, hei&szlig;t nicht, in Seelenruhe alles gehen zu
lassen, wie's Gott gef&auml;llt. Die jetzige opportunistische Str&ouml;mung &uuml;berwinden, hei&szlig;t,
sie von sich weisen.</p>
<p>Bernstein l&auml;&szlig;t sein Buch in den Rat an die Partei ausklingen, sie m&ouml;ge zu scheinen
wagen, was sie sei: eine demokratisch-sozialistische Reformpartei. Die Partei, d.h. ihr
oberes Organ, der Parteitag m&uuml;&szlig;te unseres Erachtens diesen Rat quittieren, indem er
Bernstein veranla&szlig;t, seinerseits auch formell als das zu erscheinen, was er ist: ein
kleinb&uuml;rgerlich-demokratischer Fortschrittler.]</p>
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