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2022-08-25 20:29:11 +02:00

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<title>"Neue Rheinische Zeitung" - Vereinbarungsdebatten</title>
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<p align="center"><a href="me05_044.htm"><font size="2">Berliner
Vereinbarungsdebatten</font></a> <font size="2">|</font> <a href="../me_nrz48.htm"><font size=
"2">Inhalt</font></a> <font size="2">|</font> <a href="me05_053.htm"><font size="2">Die
Adre&szlig;frage</font></a></p>
<small>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 5, S. 48-52<br>
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1971</small> <br>
<br>
<h1>Vereinbarungsdebatten</font></p>
<p><font size="2">["Neue Rheinische Zeitung" Nr. 8 vom 8. Juni 1848]</font></p>
<p><b><a name="S48">&lt;48&gt;</a></b> **<i>K&ouml;ln</i>, 6. Juni. In der <i>Berliner
Vereinbarungssitzung</i> vom 2. stellte Herr <i>Reuter</i> den Antrag, eine Kommission zur
Untersuchung der Ursachen des posenschen B&uuml;rgerkriegs zu ernennen.</p>
<p>Herr <i>Parrisius</i> verlangt, da&szlig; dieser Antrag gleich zur Debatte komme.</p>
<p>Der Pr&auml;sident will dar&uuml;ber abstimmen lassen, als Herr <i>Camphausen</i> erinnert,
da&szlig; der Antrag des Herrn <i>Parrisius</i> noch gar nicht debattiert sei:</p>
<p><font size="2">"Sowie ich meinerseits zu erinnern habe, da&szlig; mit Annahme jenes" (des
Reuterschen) "Antrags ein <i>wichtiges politisches Prinzip</i> angenommen w&auml;re, welches
doch den Anspruch zu machen hat (sic!), vorher in den Abteilungen gepr&uuml;ft zu
werden."</font></p>
<p>Wir werden gespannt auf das in dem Reuterschen Antrage enthaltene "wichtige Prinzip", das
Herr Camphausen einstweilen noch f&uuml;r sich beh&auml;lt.</p>
<p>W&auml;hrend wir uns in dieser Beziehung gedulden m&uuml;ssen, entspinnt sich eine
gem&uuml;tliche Konversation zwischen dem Vorsitzenden (Herrn <i>Esser</i>, Vizepr&auml;sident)
und mehreren "Stimmen" dar&uuml;ber, ob &uuml;ber den Parrisiusschen Antrag eine Debatte
zul&auml;ssig sei oder nicht. Herr Esser k&auml;mpft dabei mit Gr&uuml;nden wie folgenden, die
sich im Munde des Pr&auml;sidenten einer soi-disant &lt;sogenannten&gt; Nationalversammlung
merkw&uuml;rdig ausnehmen: "<i>Ich habe mir gedacht</i>, da&szlig; &uuml;ber alles, was die
Versammlung beschlie&szlig;t, eine Diskussion zul&auml;ssig ist!"</p>
<p>"Ich habe mir gedacht!" Der Mensch denkt, und Herr Camphausen lenkt - indem er Reglements
entwirft, aus denen niemand klug wird, und diese von seiner Versammlung provisorisch annehmen
l&auml;&szlig;t.</p>
<p>Diesmal war Herr Camphausen gn&auml;dig. Er mu&szlig;te die Diskussion haben. Ohne die
Diskussion w&auml;re der Parrisiussche Antrag, w&auml;re der Reutersche Antrag vielleicht
durchgegangen, d.h. w&auml;re ein indirektes Mi&szlig;trauensvotum <a name=
"S49"><b>&lt;49&gt;</b></a> gegen ihn gegeben worden. Und noch schlimmer, was w&auml;re ohne
Diskussion aus seinem "wichtigen politischen Prinzip" geworden?</p>
<p>Es wird also diskutiert.</p>
<p>Herr <i>Parrisius</i> w&uuml;nscht, der Hauptantrag solle sofort debattiert werden, damit
keine Zeit verlorengehe und damit die Kommission wom&ouml;glich noch vor der Adre&szlig;debatte
Bericht erstatten k&ouml;nne. Sonst urteile man in der Adresse ohne alle Sachkenntnis &uuml;ber
Posen.</p>
<p>Herr <i>Meusebach</i> tritt, jedoch noch ziemlich milde, dagegen auf.</p>
<p>Jetzt aber erhebt sich Herr <i>Ritz</i>, ungeduldig, dem w&uuml;hlerischen Antrag Reuters
ein Ende zu machen. Er ist k&ouml;niglich-preu&szlig;ischer Regierungsrat und duldet nicht,
da&szlig; sich Versammlungen, und w&auml;ren sie selbst Versammlungen zur Vereinbarung, in sein
Fach mischen. Er kennt nur eine Beh&ouml;rde, die das kann, und das ist das Oberpr&auml;sidium.
Ihm geht nichts &uuml;ber den Instanzenzug.</p>
<p><font size="2">"Wie", ruft er aus, "wollen Sie, meine Herren, eine Kommission nach Posen
schicken? Wollen Sie sich zur <i>Verwaltungs-</i> oder <i>Justizbeh&ouml;rde machen</i>? Meine
Herren, ich sehe aus dem Antrage nicht ein, was Sie machen wollen. Wollen Sie Akten verlangen
von dem kommandierenden General" (welcher Frevel!) "oder von der Justizbeh&ouml;rde"
(entsetzlich), "gar von der Verwaltungsbeh&ouml;rde?" (Bei dem Gedanken steht dem Regierungsrat
der Verstand still.) "Wollen Sie die Untersuchung f&uuml;hren lassen durch eine Kommission,
welche improvisiert wird" (und vielleicht kein einziges Examen gemacht hat) "&uuml;ber alles
dies, <i>wor&uuml;ber noch niemand klare Begriffe hat</i>?" (Herr Ritz ernennt wahrscheinlich
blo&szlig; Kommissionen zur Untersuchung dessen, wor&uuml;ber jedermann klare Begriffe hat.)
"Eine so wichtige Angelegenheit, wo <i>Sie sich Rechte</i> arrogieren, <i>die Ihnen nicht
geb&uuml;hren</i> ..." (Unterbrechung.)</font></p>
<p>Was soll man sagen zu diesem Regierungsrat von echtem Schrot und Korn, zu diesem Sohn des
gr&uuml;nen Tisches, an dem kein Falsch ist! Er ist wie jener Provinziale auf dem Bildchen von
Cham, der nach der Februarrevolution nach Paris kommt, die Maueranschl&auml;ge mit der
&Uuml;berschrift "R&eacute;publique fran&ccedil;aise" &lt;"Franz&ouml;sische Republik"&gt;
sieht und zum Generalprokurator geht, um die Aufwiegler gegen die Regierung des K&ouml;nigs zu
denunzieren. Der Mann hatte die Zeit &uuml;ber geschlafen.</p>
<p>Herr Ritz hat auch geschlafen. Das Donnerwort "Untersuchungskommission f&uuml;r Posen"
r&uuml;ttelt ihn unsanft empor, und noch schlaftrunken, ruft der erstaunte Mann aus: Wollen Sie
sich Rechte arrogieren, die Ihnen nicht geb&uuml;hren?</p>
<p>Herr <i>Duncker</i> findet eine Untersuchungskommission &uuml;berfl&uuml;ssig, "da die
Adre&szlig;kommission vom Ministerium die n&ouml;tigen Aufkl&auml;rungen fordern mu&szlig;". <a
name="S50"><b>&lt;50&gt;</b></a> Als ob die Kommission nicht gerade dazu da sei, die
"Aufkl&auml;rungen" des Ministeriums mit dem Tatbestande zu vergleichen.</p>
<p>Herr <i>Bloem</i> sprach &uuml;ber die Dringlichkeit des Antrags. Die Sache m&uuml;sse
abgemacht sein, ehe die Adresse beraten werde. Man spreche von improvisierten Kommissionen.
Herr Hansemann habe gestern ebenfalls eine Kabinettsfrage improvisiert, und man habe doch
abgestimmt.</p>
<p>Herr <i>Hansemann</i>, der wahrscheinlich w&auml;hrend dieser ganzen unerquicklichen Debatte
&uuml;ber seinen neuen Finanzplan nachgedacht, wurde durch Nennung seines Namens unsanft aus
seinen klingenden Tr&auml;umen geweckt. Er wu&szlig;te offenbar gar nicht, wovon die Rede war.
Aber er war genannt und er mu&szlig;te sprechen. Ihm blieben nur zwei Ankn&uuml;pfungspunkte im
Ged&auml;chtnis: die Rede seines Vorgesetzten Camphausen und die des Herrn <i>Ritz</i>. Aus
beiden komponierte er, nach einigen leeren Worten &uuml;ber die Adre&szlig;frage, folgendes
Meisterst&uuml;ck der Beredsamkeit:</p>
<p><font size="2">"Gerade da&szlig; man noch nicht wei&szlig;, was die Kommission alles zu tun
haben wird, ob sie Mitglieder aus ihrer Mitte nach dem Gro&szlig;herzogtum zu schicken, ob sie
dies oder jenes zu besorgen haben wird - <i>dies beweist die gro&szlig;e Wichtigkeit der
vorliegenden Frage</i> (!). Diese nun hier sogleich entscheiden, hei&szlig;t: <i>improvisiert
eine der wichtigsten politischen Fragen zur Entscheidung bringen</i>. Ich glaube nicht,
da&szlig; die Versammlung diesen Weg wandeln werde, ich habe das Vertrauen zu ihr, da&szlig;
sie vorsichtig etc."</font></p>
<p>Wie sehr mu&szlig; Herr Hansemann die ganze Versammlung verachten, um ihr solche
Schlu&szlig;folgerungen hinzuwerfen! Wir wollen eine Kommission ernennen, die vielleicht nach
Posen gehen mu&szlig;, vielleicht auch nicht. Gerade weil wir nicht wissen, ob sie in Berlin
bleiben oder nach Posen gehen mu&szlig;, deswegen ist diese Frage, ob &uuml;berhaupt eine
Kommission ernannt werden soll, von <i>gro&szlig;er Wichtigkeit</i>. Weil sie von gro&szlig;er
Wichtigkeit ist, deswegen ist sie eine der <i>wichtigsten politischen</i> Fragen!</p>
<p>Welche Frage aber diese wichtigste politische Frage ist, das beh&auml;lt Herr Hansemann
vorderhand noch f&uuml;r sich, ebenso wie Herr Camphausen sein wichtiges politisches Prinzip.
Gedulden wir uns abermals!</p>
<p>Der Effekt der Hansemannschen Logik ist so niederschmetternd, da&szlig; alles sogleich nach
dem Schlu&szlig; schreit. Jetzt entspinnt sich folgende Szene:</p>
<p>Herr <i>Jung</i> verlangt das Wort gegen den Schlu&szlig;.</p>
<p><i>Der Pr&auml;sident</i>: Es scheint mir unzul&auml;ssig, hierzu das Wort zu erteilen.</p>
<p>Herr <i>Jung</i>: Es ist &uuml;berall Gebrauch, gegen den Schlu&szlig; sprechen zu
d&uuml;rfen.</p>
<p>Herr <i>Temme</i> liest &sect; 42 der provisorischen Gesch&auml;ftsordnung vor, wonach Herr
Jung recht und der Pr&auml;sident unrecht hat.</p>
<p><b><a name="S51">&lt;51&gt;</a></b> Herr <i>Jung</i> erh&auml;lt das Wort: Ich bin gegen den
Schlu&szlig;, weil der Minister das letzte Wort gehabt hat. Das Wort des Ministers ist von der
gr&ouml;&szlig;ten Wichtigkeit, weil es eine gro&szlig;e Partei auf die eine Seite hinzieht,
weil eine gro&szlig;e Partei nicht gern einen Minister desavouiert ...</p>
<p>Ein langgezogenes, allgemeines Oho! Oho! Ein furchtbarer L&auml;rm erhebt sich von der
Rechten.</p>
<p>Herr Justizkommissar <i>Moritz</i> vom Platz: Ich trage darauf an, da&szlig; Jung Ordnung
verwiesen werde, er hat sich in <i>Pers&ouml;nlichkeiten gegen die ganze Versammlung</i>
vergangen! (!)</p>
<p>Eine andere Stimme von der "Rechten" schreit: Ich trage gleichfalls darauf an und
protestiere dagegen ...</p>
<p>Der L&auml;rm wird immer gr&ouml;&szlig;er. <i>Jung</i> versucht sein m&ouml;glichstes, aber
es ist unm&ouml;glich durchzudringen. Er fordert den Pr&auml;sidenten auf, ihm das Wort zu
erhalten.</p>
<p><i>Pr&auml;sident</i>: <i>Da die Versammlung gerichtet hat, so ist meine Funktion
erledigt</i>. (!!)</p>
<p>Herr <i>Jung</i>: Die Versammlung hat nicht gerichtet; Sie m&uuml;ssen erst f&ouml;rmlich
abstimmen lassen.</p>
<p>Herr <i>Jung</i> mu&szlig; abtreten. Der L&auml;rm l&auml;&szlig;t nicht nach, bis er die
Trib&uuml;ne verl&auml;&szlig;t.</p>
<p><i>Pr&auml;sident</i>: Der letzte Redner <i>scheint</i> (!) gegen den Schlu&szlig;
gesprochen zu haben. Es fragt sich, ob noch jemand f&uuml;r den Schlu&szlig; sprechen will.</p>
<p>Herr <i>Reuter</i>: Die Debatte &uuml;ber Schlu&szlig; oder Nichtschlu&szlig; kostet uns nun
schon 15 Minuten; wollen wir sie nicht liegenlassen?</p>
<p>Hierauf geht nun der Redner nochmals auf die Dringlichkeit der zu ernennenden Kommission
ein. Dies zwingt Herrn Hansemann, nochmals vorzutreten und endlich &uuml;ber seine "wichtigste
politische Frage" Aufschlu&szlig; zu geben.</p>
<p>Herr <i>Hansemann</i>: Meine Herren! Es handelt sich um eine der <i>gr&ouml;&szlig;ten
politischen Fragen</i>, n&auml;mlich darum, ob die Versammlung Lust habe, sich auf einen Weg
einzulassen, der sie <i>in wesentliche Konflikte bringen kann</i>!</p>
<p>Endlich! Herr Hansemann erkl&auml;rte als konsequenter Duch&acirc;tel die Frage richtig
wieder f&uuml;r eine <i>Kabinettsfrage</i>. Alle Fragen haben f&uuml;r ihn nur die eine
Bedeutung, da&szlig; sie Kabinettsfragen sind, und die Kabinettsfrage ist f&uuml;r ihn
nat&uuml;rlich die "allergr&ouml;&szlig;te politische Frage"!</p>
<p>Herr <i>Camphausen</i> scheint diesmal nicht zufrieden zu sein mit dieser einfachen und
abk&uuml;rzenden Methode. Er ergreift das Wort.</p>
<p><font size="2">"Es ist zu bemerken, da&szlig; die Versammlung" (&uuml;ber Posen) "schon
aufgekl&auml;rt sein k&ouml;nnte, wenn es dem Abgeordneten beliebt h&auml;tte, eine
<i>Interpellation</i> zu stellen" (man <a name="S52"><b>&lt;52&gt;</b></a></font> w&uuml;nschte
sich aber selbst zu &uuml;berzeugen). "Dies w&auml;re die <i>rascheste</i> Art und Weise, sich
Aufkl&auml;rung" (aber was f&uuml;r welche?) "zu verschaffen ... Ich schlie&szlig;e mit der
Erkl&auml;rung, da&szlig; der ganze Antrag nichts weiter ist, als da&szlig; die Versammlung die
Frage entscheiden soll, <i>ob wir zu diesen oder andern Zwecken Kommissionen zur Untersuchung
bilden sollen</i>; da&szlig; diese Frage <i>reiflich &uuml;berlegt und gepr&uuml;ft</i> werde,
damit bin ich g&auml;nzlich einverstanden, nicht aber damit, da&szlig; sie so pl&ouml;tzlich
hier zur Diskussion gebracht werde."</p>
<p>Das also ist das "wichtige politische Prinzip", die Frage, ob die Vereinbarungsversammlung
das Recht habe, Untersuchungskommissionen zu bilden, oder ob sie sich dies Recht selbst
verweigern will!</p>
<p>Die franz&ouml;sischen und englischen Kammern haben von jeher solche Kommissionen (select
committees) zur Untersuchung (enquete, parliamentary inquiry) gebildet, und anst&auml;ndige
Minister haben nie etwas dagegen gehabt. Ohne solche Kommissionen ist die ministerielle
Verantwortlichkeit eine leere Phrase. Und Herr Camphausen macht den Vereinbarern dies Recht
streitig!</p>
<p>Genug. Reden ist leicht, aber Abstimmen ist schwer. Man kommt zum Schlu&szlig;, man will
abstimmen, zahllose Schwierigkeiten, Zweifel, Spitzfindigkeiten und Gewissensskrupel erheben
sich. Aber verschonen wir unsre Leser damit. Nach vielem Hin- und Herreden wird der
Parrisiussche Antrag verworfen und der Reutersche geht an die Abteilungen. Sanft ruhe seine
Asche!</p>
<p><font size="2">Geschrieben von Friedrich Engels.</font></p>
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