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<title>Friedrich Engels - Von Paris nach Bern</title>
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<small>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 5, S. 463-480<br>
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Dietz Verlag, Berlin/DDR 1959</small><br>
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<h2>[Friedrich Engels]</h2>
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<h1>Von Paris nach Bern</h1>
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<p><font size="2">Geschrieben Ende Oktober bis November 1848. Nach dem Manuskript.<br>
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Zum ersten Mal veröffentlicht in der Zeitschrift "Die Neue Zeit", 17. Jahrgang, 1898/99,
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Bd. 1, Nr. 1 und 2</font></p>
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<p><a href="me05_463.htm#Kap_I">I - Seine und Loire</a><br>
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<a href="me05_463.htm#Kap_II">II - Burgund</a></p>
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<hr>
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<p align="center"><a name="Kap_I">I<br>
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<i>Seine und Loire</i></a></p>
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<p><b><a name="S463"><463></a></b> La belle France! <Schönes Frankreich!> In
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der Tat, die Franzosen haben ein schönes Land, und sie haben recht, wenn sie stolz darauf
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sind.</p>
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<p>Welches Land in Europa will sich an Reichtum, an Mannigfaltigkeit der Anlagen und Produkte,
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an Universalität mit Frankreich messen?</p>
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<p>Spanien? Aber zwei Drittel seiner Oberfläche sind durch Nachlässigkeit oder von
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Natur eine heiße Steinwüste, und die atlantische Seite der Halbinsel, Portugal,
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gehört nicht zu ihm.</p>
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<p>Italien? Aber seit die Welthandelsstraße durch den Ozean geht, seit die Dampfschiffe
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das Mittelmeer durchkreuzen, liegt Italien verlassen da.</p>
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<p>England? Aber England ist seit achtzig Jahren aufgegangen in Handel und Industrie,
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Kohlenrauch und Viehzucht, und England hat einen schrecklich bleiernen Himmel und keinen
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Wein.</p>
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<p>Und Deutschland? Im Norden eine platte Sandebene, vom europäischen Süden durch die
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granitne Wand der Alpen getrennt, weinarm, Land des Bieres, Schnapses und Roggenbrots, der
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versandeten Flüsse und Revolutionen!</p>
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<p>Aber Frankreich! An drei Meeren gelegen, von fünf großen Strömen in drei
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Richtungen durchzogen, im Norden fast deutsches und belgisches, im Süden fast
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italienisches Klima; im Norden der Weizen, im Süden der Mais und Reis; im Norden die Colza
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<Raps>, im Süden die Olive; im Norden der Flachs, im Süden die Seide, und fast
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überall der Wein.</p>
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<p>Und welcher Wein! Welche Verschiedenheit, vom Bordeaux bis zum Burgunder, vom Burgunder zum
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schweren St. Georges, Lünel und Frontignan des Südens, und von diesem zum sprudelnden
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Champagner! Welche Mannigfaltigkeit des Weißen und des Roten, vom Petit Mâcon oder
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Chablis <a name="S464"><b><464></b></a> zum Chambertin, zum Château Larose, zum
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Sauterne, zum Roussilloner, zum Ai Mousseux! Und wenn man bedenkt, daß jeder dieser Weine
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einen verschiedenen Rausch macht, daß man mit wenig Flaschen alle Zwischenstufen von der
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Musardschen Quadrille bis zur "Marseillaise", von der tollen Lust des Cancans bis zur wilden
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Glut des Revolutionsfiebers durchmachen und sich schließlich mit einer Flasche Champagner
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wieder in die heiterste Karnevalslaune von der Welt versetzen kann!</p>
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<p>Und Frankreich allein hat ein Paris, eine Stadt, in der die europäische Zivilisation zu
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ihrer vollsten Blüte sich entfaltet, in der alle Nervenfasern der europäischen
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Geschichte sich vereinigen und von der in gemessenen Zeiträumen die elektrischen
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Schläge ausgehn, unter denen eine ganze Welt erbebt; eine Stadt, deren Bevölkerung
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die Leidenschaft des Genusses mit der Leidenschaft der geschichtlichen Aktion wie nie ein
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andres Volk vereinigt, deren Bewohner zu leben wissen wie der feinste Epikureer Athens und zu
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sterben wie der unerschrockenste Spartaner, Alcibiades und Leonidas in einem; eine Stadt, die
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wirklich, wie Louis Blanc sagt, Herz und Hirn der Welt ist.</p>
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<p>Wenn man von einem hohen Punkte der Stadt oder vom Montmartre oder der Terrasse von
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Saint-Cloud Paris überschaut, wenn man die Umgegend der Stadt durchstreift, so meint man,
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Frankreich wisse, was es an Paris besitze, Frankreich habe seine besten Kräfte
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verschwendet, um Paris recht zu hegen und zu pflegen. Wie eine Odaliske auf bronzeschillerndem
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Divan liegt die stolze Stadt an den warmen Rebenhügeln des gewundenen Seinetals. Wo in
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aller Welt gibt es eine Aussicht wie die von den beiden Versailler Eisenbahnen hinab auf das
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grüne Tal mit seinen zahllosen Dörfern und Städtchen, und wo gibt es so reizend
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gelegene, so reinlich und nett gebaute, so geschmackvoll angelegte Dörfer und
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Städtchen wie Suresnes, Saint-Cloud, Sèvres, Montmorency, Enghien und zahllose
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andre? Man gehe hinaus zu welcher Barriere man will, man verfolge seinen Weg aufs Geratewohl,
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und überall wird man auf dieselbe schöne Umgehung, auf denselben Geschmack in der
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Benutzung der Gegend, auf dieselbe Zierlichkeit und Reinlichkeit stoßen. Und doch ist es
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wieder nur die Königin der Städte selbst, die sich dies wunderbare Lager geschaffen
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hat.</p>
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<p>Aber freilich gehört auch ein Frankreich dazu, um ein Paris zu schaffen, und erst wenn
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man den üppigen Reichtum dieses herrlichen Landes kennengelernt hat, begreift man, wie
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dies strahlende, üppige, unvergleichliche Paris zustande kommen konnte. Man begreift es
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freilich nicht, wenn man von Norden kommt, auf der Eisenbahn die Blachfelder Flanderns und
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Artois', die wald- und rebenlosen Hügel der Picardie durchfliegend. Da sieht man nichts
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als Kornfelder und Weiden, deren Einförmigkeit nur durch sumpfige <a name=
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"S465"><b><465></b></a> Flußtäler, durch ferne, gestrüppbewachsene
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Hügel unterbrochen wird; und erst wenn man bei Pontoise den Kreis der Pariser
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Atmosphäre betritt, merkt man etwas vom "schönen Frankreich". Man begreift Paris
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schon etwas mehr, wenn man durch die fruchtbaren Täler Lothringens, über die
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rebenbekränzten Kreidehügel der Champagne, das schöne Marnetal entlang nach der
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Hauptstadt zieht; man begreift's noch mehr, wenn man durch die Normandie fährt und von
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Rouen nach Paris mit der Eisenbahn die Windungen der Seine bald verfolgt, bald durchkreuzt. Die
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Seine scheint die Pariser Luft auszuhauchen bis an ihre Mündung; die Dörfer, die
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Städte, die Hügel, alles erinnert an die Umgebung von Paris, nur daß alles
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schöner, üppiger, geschmackvoller wird, je mehr man sich dem Zentrum Frankreichs
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nähert. Aber ganz habe ich erst verstanden, wie Paris möglich war, als ich die Loire
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entlangging und von da übers Gebirg mich nach den burgundischen Rebentälern
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wandte.</p>
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<p>Ich hatte Paris gekannt in den letzten beiden Jahren der Monarchie, als die Bourgeoisie im
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Vollgenuß ihrer Herrschaft schwelgte, als Handel und Industrie erträglich gingen,
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als die große und kleine bürgerliche Jugend noch Geld hatte zum Genießen und
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zum Verjubeln, und als selbst ein Teil der Arbeiter noch gut genug gestellt war, um mit an der
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allgemeinen Heiterkeit und Sorglosigkeit teilnehmen zu können. Ich hatte Paris
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wiedergesehn in dem kurzen Rausch der republikanischen Flitterwochen, im März und April,
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wo die Arbeiter, die hoffnungsvollen Toren, der Republik mit der sorglosesten Unbedenklichkeit
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"drei Monate Elend zur Verfügung stellten", wo sie den Tag über trocken Brot und
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Kartoffeln aßen und den Abend auf den Boulevards Freiheitsbäume pflanzten,
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Schwärmer abbrannten und die "Marseillaise" jubelten, und wo die Bourgeois, den ganzen Tag
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in ihren Häusern versteckt, den Zorn des Volks durch bunte Lampen zu besänftigen
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suchten. Ich kam - unfreiwillig genug, bei Hecker! - im Oktober wieder. Zwischen dem Paris von
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damals und von jetzt lag der 15. Mai und der 25. Juni, lag der furchtbarste Kampf, den die Welt
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je gesehen, lag ein Meer von Blut, lagen fünfzehntausend Leichen. Die Granaten Cavaignacs
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hatten die unüberwindliche Pariser Heiterkeit in die Luft gesprengt; die "Marseillaise"
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und der "Chant du depart" waren verstummt, nur die Bourgeois summten noch ihr "Mourir pour la
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patrie" zwischen den Zähnen; die Arbeiter, brotlos und waffenlos, knirschten in verhaltnem
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Groll; in der Schule des Belagerungszustands war die ausgelassene Republik gar bald honett,
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zahm, artig und gemäßigt (sage et modérée) geworden. Aber Paris war
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tot, es war nicht mehr Paris. Auf den Boulevards nichts als Bourgeois <a name=
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"S466"><b><466></b></a> und Polizeispione; die Bälle, die Theater verödet; die
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Gamins <Gassenjungen> in der Mobilgardenjacke untergegangen, für 30 Sous
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täglich an die honette Republik verkauft, und je dummer sie wurden, desto mehr gefeiert
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von der Bourgeoisie - kurz, es war wieder das Paris von 1847, aber ohne den Geist, ohne das
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Leben, ohne das Feuer und das Ferment, das die Arbeiter damals überall hineinbrachten.
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Paris war tot, und diese schöne Leiche war um so schauerlicher, je schöner sie
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war.</p>
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<p>Es litt mich nicht länger in diesem toten Paris. Ich mußte fort, gleichviel
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wohin. Also zunächst nach der Schweiz. Geld hatt' ich nicht viel, also zu Fuß. Auf
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den nächsten Weg kam's mir auch nicht an; man scheidet nicht gern von Frankreich.</p>
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<p>Eines schönen Morgens also brach ich auf und marschierte aufs Geratewohl direkt nach
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Süden zu. Ich verirrte mich zwischen den Dörfern, sobald ich erst aus der Banlieue
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hinaus war; das war natürlich. Endlich geriet ich auf die große Straße nach
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Lyon. Ich verfolgte sie eine Strecke, mit Abstechern über die Hügel. Von dort oben
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hat man wunderschöne Aussichten, die Seine aufwärts und abwärts, nach Paris und
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nach Fontainebleau. Unendlich weit sieht man den Fluß sich schlängeln im breiten
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Tal, zu beiden Seiten Rebenhügel, weiter im Hintergrund die blauen Berge, hinter denen die
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Marne fließt.</p>
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<p>Aber ich wollte nicht so direkt nach Burgund hinein; ich wollte erst an die Loire. Ich
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verließ also am zweiten Tage die große Straße und ging über die Berge
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nach Orléans zu. Ich verirrte mich natürlich wieder zwischen den Dörfern, da
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ich nur die Sonne und die von aller Welt abgeschnittenen Bauern, die weder rechts noch links
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wußten, zu Führern hatte. Ich übernachtete in irgendeinem Dorf, dessen Namen
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ich nie aus dem Bauernpatois deutlich heraushören konnte, fünfzehn Lieues von Paris,
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auf der Wasserscheide zwischen Seine und Loire.</p>
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<p>Diese Wasserscheide wird gebildet von einem breiten Bergrücken, der sich von
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Südosten nach Nordwesten entlangzieht. Zu beiden Seiten sind zahlreiche Taleinschnitte,
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von kleinen Bächen oder Flüssen bewässert. Oben auf der windigen Höhe
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gedeiht nur Korn, Buchweizen, Klee und Gemüse; an den Talwänden jedoch wächst
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überall Wein. Die nach Osten zu gelegenen Talwände sind fast alle mit großen
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Massen jener Kalkfelsblöcke bedeckt, welche die englischen Geologen Bolderstones nennen,
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und die man im sekundären und tertiären Hügelland häufig findet. Die
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gewaltigen blauen Blöcke, zwischen denen grünes Gebüsch und junge Bäume
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emporwachsen, <a name="S467"><b><467></b></a> bilden gar keinen üblen Kontrast zu
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den Wiesen des Tals und den Weinbergen des gegenüberliegenden Abhangs.</p>
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<p>Allmählich stieg ich in eins dieser kleinen Flußtäler hinab und verfolgte es
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eine Zeitlang. Endlich stieß ich auf eine Landstraße und damit auf Leute, von denen
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zu erfahren war, wo ich mich eigentlich befand. Ich war nah bei Malesherbes, halbwegs zwischen
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Orléans und Paris. Orléans selbst lag mir zu weit westlich; Nevers war mein
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nächstes Ziel, und so stieg ich wieder über den nächsten Berg direkt nach
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Süden zu. Von oben eine sehr hübsche Aussicht: zwischen waldigen Bergen das nette
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Städtchen Malesherbes, an den Abhängen zahlreiche Dörfer, oben auf einem Gipfel
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das Schloß Châteaubriand. Und was mir noch lieber war: gegenüber, jenseits
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einer schmalen Schlucht, eine Departementalstraße, die sich direkt nach Süden
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zog.</p>
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<p>Es gibt nämlich in Frankreich dreierlei Straßen: die Staatsstraßen,
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früher königliche, jetzt Nationalstraßen genannt, schöne breite Chausseen,
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die die wichtigsten Städte miteinander verbinden. Diese Nationalstraßen, in der
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Umgegend von Paris nicht nur Kunst-, sondern wahre Luxusstraßen, prächtige, sechzig
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und mehr Fuß breite, in der Mitte gepflasterte Ulmenalleen, werden schlechter, schmaler
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und baumloser, je weiter man sich von Paris entfernt und je weniger Bedeutung die Straße
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hat. Sie sind dann stellenweise so schlecht, daß sie nach zwei Stunden mäßigen
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Regens für Fußgänger kaum noch zu passieren sind. Die zweite Klasse sind die
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Departementalstraßen, die Kommunikationen zweiten Rangs herstellend, aus
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Departementsfonds bestritten, schmaler und prunkloser als die Nationalstraßen. Die dritte
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Klasse endlich bilden die großen Vizinalwege <Ortsverbindungswege> (chemins de
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grande communication), aus Kantonalmitteln <Geldmittel, die aus dem Unterbezirk eines
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Arrondissements aufgebracht werden> hergestellt, schmale, bescheidne Straßen, aber
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stellenweise in besserem Zustand als die größeren Chausseen.</p>
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<p>Ich stieg querfeldein direkt auf meine Departementalstraße los und fand zu meiner
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größten Freude, daß sie mit der unabänderlichsten Geradlinigkeit direkt
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nach Süden ging. Dörfer und Wirtshäuser waren selten; nach mehrstündigem
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Marsch traf ich endlich einen großen Pachthof, wo man mir mit der größten
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Bereitwilligkeit einige Erfrischungen vorsetzte, wofür ich den Kindern des Hauses einige
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Fratzen auf ein Blatt Papier zeichnete und sehr ernsthaft erklärte: dies sei der General
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Cavaignac, das sei Louis Napoleon, das Armand Marrast, Ledru-Rollin usw. zum Sprechen
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ähnlich. Die Bauern starrten die verzerrten Gesichter mit großer Ehrfurcht an,
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bedankten sich hoch erfreut und schlugen die frappant ähnlichen Porträts sogleich an
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die <a name="S468"><b><468></b></a> Wand. Von diesen braven Leuten erfuhr ich auch,
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daß ich mich auf der Straße von Malesherbes nach Châteauneuf an der Loire
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befinde, bis wohin ich noch etwa zwölf Lieues habe.</p>
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<p>Ich marschierte durch Puyseaux und ein andres kleines Städtchen, dessen Namen ich
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vergessen, und kam des Abends spät in Bellegarde an, einem hübschen und ziemlich
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großen Ort, wo ich übernachtete. Der Weg über das Plateau, das hier
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übrigens an vielen Orten Wein produziert, war ziemlich einförmig.</p>
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<p>Den nächsten Morgen ging's nach Châteauneuf, noch fünf Lieues, und von da
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die Loire entlang auf der Nationalstraße von Orléans nach Nevers.</p>
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<div style="margin-left: 8em">
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<p><font size="2">Unter blüh'nden Mandelbäumen,<br>
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An der Loire grünem Strand,<br>
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O wie lieblich ist's zu träumen,<br>
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Wo ich meine Liebe fand -</font></p>
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</div>
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<p>so singt gar mancher deutsche schwärmerische Jüngling und manche zarte germanische
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Jungfrau in den schmelzenden Worten Helmine von Chezys und der geschmolzenen Weise Carl Maria
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von Webers. Aber wer an der Loire Mandelbäume und sanfte, liebliche Liebesromantik sucht,
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wie sie anno zwanzig in Dresden Mode war, der macht sich schreckliche Illusionen, wie sie
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eigentlich nur einem deutschen Erbblaustrumpf in der dritten Generation erlaubt sind.</p>
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<p>Von Châteauneuf über les Bordes nach Dampierre bekommt man diese romantische
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Loire fast gar nicht zu sehn. Die Straße geht in einer Entfernung von zwei bis drei
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Lieues vom Flusse über die Höhen, und nur selten sieht man in der Ferne das Wasser
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der Loire in der Sonne aufleuchten. Die Gegend ist reich an Wein, Getreide, Obst; nach dem
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Flusse zu sind üppige Weiden; der Anblick des waldlosen, nur von wellenförmigen
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Hügeln umgebnen Tals ist jedoch ziemlich einförmig.</p>
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<p>Mitten auf der Straße, nah bei einigen Bauernhäusern, traf ich eine Karawane von
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vier Männern, drei Weibern und mehreren Kindern, die drei schwerbeladene Eselskarren mit
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sich führten und auf offner Landstraße bei einem großen Feuer ihr Mittagsmahl
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kochten. Ich blieb einen Augenblick stehn: Ich hatte mich nicht getäuscht, sie sprachen
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deutsch, im härtesten oberdeutschen Dialekt. Ich redete sie an; sie waren entzückt,
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mitten in Frankreich ihre Muttersprache zu hören. Es waren übrigens Elsässer aus
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der Gegend von Straßburg, die jeden Sommer in dieser Weise ins Innere Frankreichs zogen
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und sich mit Korbflechten ernährten. Auf meine Frage, ob sie davon leben könnten,
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hieß es: "Ja schwerlich, wenn mer alles kaufe müscht'; das Mehrscht werd g'bettelt."
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Allmählich kroch noch ein ganz alter Mann <a name="S469"><b><469></b></a> aus einem
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der Eselskarren hervor, wo er ein vollständiges Bett hatte. Die ganze Bande hatte etwas
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sehr Zigeunerartiges in ihren zusammengebettelten Kostümen, von denen kein Stück zum
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andern paßte. Dabei schauten sie indes recht gemütlich drein und plauderten mir
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unendlich viel von ihren Fahrten vor, und mitten in der heitersten Schwatzhaftigkeit gerieten
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sich die Mutter und die Tochter, ein blauäugiges sanftes Geschöpf, beinahe in die
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struppigen roten Haare. Ich mußte bewundern, mit welcher Allgewalt sich die deutsche
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Gemütlichkeit und Innigkeit auch durch die zigeunerhaftesten Lebens- und
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Kleidungsverhältnisse Bahn bricht, wünschte guten Tag und setzte meine Reise fort,
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eine Strecke lang begleitet von einem der Zigeuner, der sich vor Tisch das Vergnügen eines
|
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Spazierrittes auf der spitzknochigen Croupe eines magern Esels erlaubte.</p>
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<p>Den Abend kam ich nach Dampierre, einem kleinen Dorf nicht weit von der Loire. Hier
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ließ die Regierung durch 300 bis 400 Pariser Arbeiter, Trümmer der ehemaligen
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Nationalwerkstätten, einen Damm gegen die Überschwemmungen ausführen. Es waren
|
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Arbeiter aller Art, Goldarbeiter, Metzger, Schuhmacher, Schreiner, bis herab zum Lumpensammler
|
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der Pariser Boulevards. Ich fand ihrer an die zwanzig im Wirtshause, wo ich die Nacht blieb.
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Ein robuster Metzger, der bereits zu einer Art Aufseherstelle vorgerückt war, sprach mit
|
|
großem Entzücken von dem Unternehmen. Man verdiene 30 bis 100 Sous täglich, je
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nachdem man arbeite, 40 bis 60 Sous seien leicht zu machen, wenn man nur etwas anstellig sei.
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Er wollte mich gleich in seine Brigade einrangieren; ich werde mich bald hineinfinden und
|
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gewiß schon in der zweiten Woche 50 Sous den Tag verdienen, ich könne mein
|
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Glück machen, und es sei wenigstens noch für sechs Monat Arbeit da. Ich hatte nicht
|
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übel Lust, zur Abwechslung auf einen oder zwei Monate die Feder mit der Schaufel zu
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vertauschen; aber ich hatte keine Papiere, und da wäre ich schön angelaufen.</p>
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<p>Diese Pariser Arbeiter hatten ganz ihre alte Lustigkeit behalten. Sie betrieben ihre Arbeit,
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zehn Stunden täglich, unter Lachen und Scherzen, ergötzten sich in den Freistunden
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mit tollen Streichen und amüsierten sich abends damit, die Bauernmädchen zu
|
|
"déniaisieren" <"übertölpeln">. Aber sonst waren sie durch ihre
|
|
Isolierung auf ein kleines Dorf gänzlich demoralisiert. Von Beschäftigung mit den
|
|
Interessen ihrer Klasse, mit den die Arbeiter so nahe berührenden politischen Tagesfragen
|
|
keine Spur. Sie schienen gar keine Journale mehr zu lesen. Alle Politik beschränkte sich
|
|
bei ihnen auf die Erteilung von Spitznamen; der eine, ein großer, starker Lümmel,
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|
hieß Caussidière, <a name="S470"><b><470></b></a> der andre, ein schlechter
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|
Arbeiter und arger Trunkenbold, hörte auf den Namen Guizot, usw. Die anstrengende Arbeit,
|
|
die verhältnismäßig gute Lebenslage und vor allem die Lostrennung von Paris und
|
|
die Versetzung nach einem abgeschlossenen, stillen Winkel Frankreichs hatte ihren Gesichtskreis
|
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merkwürdig beschränkt. Sie standen schon im Begriff zu verbauern, und sie waren erst
|
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zwei Monate dort.</p>
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<p>Den nächsten Morgen kam ich nach Gien, und damit endlich ins Loiretal selbst. Gien ist
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ein kleines, winkliges Städtchen mit einem hübschen Quai und einer Brücke
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über die Loire, die hier an Breite kaum dem Main bei Frankfurt gleichkommt. Sie ist
|
|
überhaupt sehr seicht und voller Sandbänke.</p>
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<p>Von Gien nach Briare geht der Weg durch das Tal, ungefähr eine Viertelmeile von der
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Loire entfernt. Die Richtung geht nach Südost, und die Gegend nimmt allmählich einen
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südlichen Charakter an. Ulmen, Eschen, Akazien oder Kastanienbäume bilden die Allee;
|
|
üppige Weiden und fruchtbare Felder, zwischen deren Stoppeln eine Nachernte des fettesten
|
|
Klees aufschoß, mit langen Pappelreihen besetzt, machen die Talsohle aus; jenseits der
|
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Loire in duftiger Ferne eine Hügelreihe, diesseits dicht neben der Landstraße eine
|
|
zweite, ganz mit Weinstöcken bepflanzte Kette von Anhöhen. Das Tal der Loire ist hier
|
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durchaus nicht auffallend schön oder romantisch, wie man zu sagen pflegt, aber es macht
|
|
einen höchst angenehmen Eindruck; man sieht der ganzen reichen Vegetation das milde Klima
|
|
an, dem sie ihr Gedeihen verdankt. Selbst in den fruchtbarsten Gegenden Deutschlands habe ich
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|
nirgends einen Pflanzenwuchs gefunden, der sich mit dem auf der Strecke von Gien bis Briare
|
|
vergleichen könnte.</p>
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|
<p>Eh ich die Loire verlasse, noch ein paar Worte über die Bewohner der durchstreiften
|
|
Gegend und ihre Lebensart.</p>
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<p>Die Dörfer bis vier, fünf Stunden von Paris können keinen Maßstab
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für die Dörfer des übrigen Frankreichs abgeben. Ihre Anlage, die Bauart der
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Häuser, die Sitten der Bewohner sind viel zu sehr von dem Geist der großen Metropole
|
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beherrscht, von der sie leben. Erst zehn Lieues von Paris, auf den abgelegnen Höhen,
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fängt das eigentliche Land an, sieht man wirkliche Bauernhäuser. Es ist bezeichnend
|
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für die ganze Gegend bis zu der Loire und bis nach Burgund hinein, daß der Bauer den
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|
Eingang seines Hauses möglichst vor der Landstraße versteckt. Auf den Höhen ist
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jeder Bauernhof von einer Mauer umgeben; man tritt ein durch ein Tor und muß im Hofe
|
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selbst die meist nach hinten zu gelegne Haustür erst suchen. Hier, wo die meisten Bauern
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Kühe und Pferde haben, sind die Bauernhäuser ziemlich groß; an der Loire
|
|
dagegen, wo viel Gartenkultur getrieben wird und selbst wohlhabende Bauern wenig oder gar kein
|
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Vieh besitzen und die Viehzucht als <a name="S471"><b><471></b></a> besondrer
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|
Erwerbszweig den größeren Grundbesitzern oder Pächtern überlassen bleibt,
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werden die Bauernhäuser immer kleiner, oft so klein, daß man nicht begreift, wie
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|
eine Bauernfamilie mit ihrem Gerät und ihren Vorräten darin Platz findet. Auch hier
|
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indes ist der Eingang auf der der Straße abgekehrten Seite, und in den Dörfern haben
|
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fast nur die Schenken und Läden Türen nach der Straße zu.</p>
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<p>Die Bauern dieser Gegend führen meist trotz ihrer Armut ein recht gutes Leben. Der Wein
|
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ist, wenigstens in den Tälern, meist eignes Produkt, gut und wohlfeil (dies Jahr zwei bis
|
|
drei Sous die Flasche), das Brot überall, mit Ausnahme der höchsten Gipfel, gutes
|
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Weizenbrot, dazu vortrefflicher Käse und herrliches Obst, das man in Frankreich
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bekanntlich überall zum Brote ißt. Wie alle Landbewohner verzehren sie wenig
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Fleisch, dagegen viel Milch, vegetabilische Suppen und überhaupt eine vegetabilische
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Nahrung von ausgezeichneter Qualität. Der norddeutsche Bauer, selbst wenn er bedeutend
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wohlhabender ist, lebt nicht den dritten Teil so gut wie der französische zwischen Seine
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und Loire.</p>
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<p>Diese Bauern sind ein gutmütiges, gastfreies, heiteres Geschlecht, dem Fremden auf jede
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mögliche Weise gefällig und zuvorkommend und im schlechtesten Patois noch echte,
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höfliche Franzosen. Trotz ihres im höchsten Grade entwickelten Eigentumssinnes
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für die von ihren Vätern dem Adel und den Pfaffen aberoberte Scholle, sind sie noch
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immer die Träger gar mancher patriarchalischen Tugend, besonders in den von den
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großen Straßen abseits gelegnen Dörfern.</p>
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<p>Aber Bauer bleibt Bauer, und die Lebensverhältnisse der Bauern hören keinen
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Augenblick auf, ihren Einfluß geltend zu machen. Trotz aller Privattugenden des
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französischen Bauern, trotz der entwickelteren Lebenslage, in der er sich gegen den
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ostrheinischen Bauern befindet, ist der Bauer in Frankreich, wie in Deutschland, der Barbar
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mitten in der Zivilisation.</p>
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<p>Die Isolierung des Bauern auf ein abgelegenes Dorf mit einer wenig zahlreichen, nur mit den
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Generationen wechselnden Bevölkerung, die anstrengende, einförmige Arbeit, die ihn
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mehr als alle Leibeigenschaft an die Scholle bindet und die vom Vater auf den Sohn stets
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dieselbe bleibt, die Stabilität und Einförmigkeit aller Lebensverhältnisse, die
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Beschränkung, in der die Familie das wichtigste, entscheidendste gesellschaftliche
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Verhältnis für ihn wird - alles das reduziert den Gesichtskreis des Bauern auf die
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engsten Grenzen, die in der modernen Gesellschaft überhaupt möglich sind. Die
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großen Bewegungen der Geschichte gehen an ihm vorüber, reißen ihn von Zeit zu
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Zeit mit sich fort, aber ohne daß er eine Ahnung hat von der Natur der bewegenden Kraft,
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von ihrer Entstehung, von ihrem Ziel.</p>
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<p><b><a name="S472"><472></a></b> Im Mittelalter, im siebenzehnten und achtzehnten
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Jahrhundert ging der Bewegung der Bürger in den Städten eine Bauernbewegung zur
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Seite, die aber fortwährend reaktionäre Forderungen aufstellte und, ohne für die
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Bauern selbst große Resultate herbeizuführen, nur die Städte in ihren
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Emanzipationskämpfen unterstützte.</p>
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<p>In der ersten französischen Revolution traten die Bauern gerade solange
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revolutionär auf, als ihr allernächstes, handgreiflichstes Privatinteresse dies
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erforderte; solange, bis ihnen das Eigentumsrecht auf ihre bisher in feudalen
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Verhältnissen bebaute Scholle, die unwiederbringliche Abschaffung dieser
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Feudalverhältnisse und die Entfernung der fremden Armeen von ihrer Gegend gesichert war.
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Als dies erreicht, kehrten sie sich mit der ganzen Wut blinder Habgier gegen die unverstandene
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Bewegung der großen Städte und namentlich gegen die Pariser Bewegung. Zahllose
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Proklamationen des Wohlfahrtsausschusses, zahllose Dekrete des Konvents, vor allem die
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über das Maximum und die Akkapareurs, mobile Kolonnen und ambulante Guillotinen
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mußten gegen die eigensinnigen Bauern gerichtet werden. Und doch kam die
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Schreckensherrschaft, die die fremden Armeen vertrieb und den Bürgerkrieg erstickte,
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keiner Klasse so sehr zugut wie grade den Bauern.</p>
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<p>Als Napoleon die Bourgeoisherrschaft des Direktoriums stürzte, die Ruhe
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wiederherstellte, die neuen Besitzverhältnisse der Bauern befestigte und in seinem Code
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civil sanktionierte und die fremden Armeen immer weiter von den Grenzen trieb, schlossen die
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Bauern sich ihm mit Begeisterung an und wurden seine Hauptstütze. Denn der
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französische Bauer ist national bis zum Fanatismus; la France <Frankreich> hat
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für ihn eine hohe Bedeutung, seit er ein Stück Frankreich erbeigentümlich
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besitzt; die Fremden kennt er nur in der Gestalt verheerender Invasionsarmeen, die ihm den
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meisten Schaden zufügen. Daher der unbegrenzte nationale Sinn des französischen
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Bauern, daher sein ebenso unbegrenzter Haß gegen l'étranger <den Fremden>.
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Daher die Leidenschaft, mit der er 1814 und 1815 in den Krieg zog.</p>
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<p>Als die Bourbonen 1815 wiederkamen, als die vertriebne Aristokratie wieder Ansprüche
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auf den in der Revolution verlornen Grundbesitz erhob, sahen die Bauern ihre ganze
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revolutionäre Eroberung bedroht. Daher ihr Haß gegen die Bourbonenherrschaft, ihr
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Jubel, als die Julirevolution ihnen die Sicherheit des Besitzes und die dreifarbige Fahne
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wiederbrachte.</p>
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<p>Von der Julirevolution an hörte aber auch die Beteiligung der Bauern an den allgemeinen
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Interessen des Landes wieder auf. Ihre Wünsche waren erfüllt, ihr Grundbesitz war
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nicht länger bedroht, auf der Mairie <dem Bürgermeisteramt> des Dorfes <a name=
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"S473"><b><473></b></a> wehte wieder dieselbe Fahne, unter der sie und ihre Väter
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ein Vierteljahrhundert gesiegt.</p>
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<p>Aber wie immer genossen sie wenig Früchte ihres Sieges. Die Bourgeois begannen
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sogleich, ihre ländlichen Verbündeten mit aller Macht zu exploitieren. Die
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Früchte der Parzellierung und der Teilbarkeit des Bodens, die Verarmung der Bauern und die
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Hypothezierung ihrer Grundstücke hatten schon unter der Restauration angefangen zu reifen;
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nach 1830 traten sie in immer allgemeinerer, immer drohenderer Weise hervor. Aber der Druck,
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den das große Kapital auf den Bauern ausübte, blieb für ihn ein bloßes
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Privatverhältnis zwischen ihm und seinem Gläubiger; er sah nicht und konnte nicht
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sehen, daß diese immer allgemeiner, immer mehr zur Regel werdenden
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Privatverhältnisse allmählich zu einem Klassenverhältnis zwischen der Klasse der
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großen Kapitalisten und der der kleinen Grundbesitzer sich entwickelten. Es war nicht
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mehr derselbe Fall wie mit den Feudallasten, deren Entstehung längst vergessen, deren Sinn
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längst verloren, die nicht mehr Gegenleistung gegen erwiesene Dienste, die längst
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eine bloße, den einen Teil bedrückende Last geworden. Hier, bei der
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Hypothekarschuld, hat der Bauer oder doch sein Vater die Summe in harten Fünffrankentalern
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ausbezahlt erhalten; der Schuldschein und das Hypothekenbuch erinnern ihn vorkommendenfalls an
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den Ursprung der Last; der Zins, den er zahlen muß, selbst die stets sich erneuernden,
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drückenden Nebenvergütungen für den Wucherer sind moderne bürgerliche
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Gefälle, die in ähnlicher Form alle Schuldner treffen; die Bedrückung geschieht
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in ganz moderner, zeitgemäßer Gestalt, und der Bauer wird genau nach denselben
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Rechtsprinzipien ausgesogen und ruiniert, unter denen allein ihm sein Besitz gesichert ist.
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Sein eigner Code civil, seine moderne Bibel, wird zur Zuchtrute für ihn. Der Bauer kann in
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dem Hypothekarwucher kein Klassenverhältnis sehn, er kann seine Aufhebung nicht verlangen,
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ohne zugleich seinen eignen Besitz zu gefährden. Der Druck des Wuchers, statt ihn in die
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Bewegung zu schleudern, macht ihn vollends verwirrt. Worin er allein Erleichterung sehen kann,
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ist Verminderung der Steuern.</p>
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<p>Als im Februar dieses Jahres zum erstenmal eine Revolution gemacht wurde, in der das
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Proletariat mit selbständigen Forderungen auftrat, begriffen die Bauern nicht das mindeste
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davon. Wenn die Republik einen Sinn für sie hatte, so war es nur der: Verminderung der
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Steuern und hie und da vielleicht auch etwas von Nationalehre, Eroberungskrieg und Rheingrenze.
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Als aber in Paris am Morgen nach dem Sturz Louis-Philippes der Krieg zwischen Proletariat und
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Bourgeoisie losbrach, als die Stockung in Handel und Industrie auf das Land zurückwirkte,
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die Produkte des Bauern, in einem fruchtbaren Jahr ohnehin entwertet, noch mehr im Preise
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fielen und unverkäuflich <a name="S474"><b><474></b></a> wurden, als vollends die
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Junischlacht bis in die entferntesten Winkel Frankreichs Schrecken und Angst verbreitete, da
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erhob sich unter den Bauern ein allgemeiner Schrei der fanatischsten Wut gegen das
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revolutionäre Paris und die nie zufriedenen Pariser. Natürlich! Was wußte auch
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der starrköpfige, bornierte Bauer von Proletariat und Bourgeoisie, von
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demokratisch-sozialer Republik, von Organisation der Arbeit, von Dingen, deren
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Grundbedingungen, deren Ursachen in seinem engen Dorf nie vorkommen konnten! Und als er hie und
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da durch die unsauberen Kanäle der Bourgeoisblätter eine trübe Ahnung von dem
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erhielt, worum es sich in Paris handelte, als die Bourgeois ihm das große Schlagwort
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gegen die Pariser Arbeiter zugeschleudert hatten: ce sont les partageurs <das sind die
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Teiler>, es sind Leute, die alles Eigentum, allen Grund und Boden teilen wollen, da
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verdoppelte sich der Wutschrei, da kannte die Entrüstung der Bauern keine Grenzen mehr.
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Ich habe Hunderte von Bauern gesprochen in den verschiedensten Gegenden Frankreichs, und bei
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allen herrschte dieser Fanatismus gegen Paris und namentlich gegen die Pariser Arbeiter. "Ich
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wollte, dies verdammte Paris würde morgen am Tage in die Luft gesprengt" - das war noch
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der mildeste Segenswunsch. Es versteht sich, daß für die Bauern die alte Verachtung
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gegen die Städter durch die Ereignisse dieses Jahres nur noch vermehrt und gerechtfertigt
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wurde. Die Bauern, das Land muß Frankreich retten; das Land produziert alles, die
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Städte leben von unserm Korn, kleiden sich von unserm Flachs und unsrer Wolle, wir
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müssen die rechte Ordnung der Dinge wiederherstellen; wir Bauern müssen die Sache in
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unsre Hand nehmen - das war der ewige Refrain, der mehr oder weniger deutlich, mehr oder
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weniger bewußt durch alles verworrene Gerede der Bauern durchklang.</p>
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<p>Und wie wollen sie Frankreich retten, wie wollen sie die Sache in ihre Hand nehmen? Indem
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sie Louis Napoleon Bonaparte zum Präsidenten der Republik wählen, einen großen
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Namen, getragen von einem winzigen, eitlen, verworrenen Toren! Bei allen Bauern, die ich
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gesprochen, war der Enthusiasmus für Louis Napoleon ebenso groß wie der Haß
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gegen Paris. Auf diese beiden Leidenschaften und auf das gedankenloseste, tierischste
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Verwundern über die ganze europäische Erschütterung beschränkt sich die
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ganze Politik des französischen Bauern. Und die Bauern haben über sechs Millionen
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Stimmen, über zwei Drittel aller Stimmen bei den Wahlen in Frankreich.</p>
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<p>Es ist wahr, die provisorische Regierung hat es nicht verstanden, die Interessen der Bauern
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an die Revolution zu fesseln, sie hat in dem Zuschlag von 45 Centimen auf die Grundsteuer, die
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hauptsächlich die Bauern traf, <a name="S475"><b><475></b></a> einen
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unverzeihlichen, nie gutzumachenden Fehler begangen. Aber hätte sie auch die Bauern auf
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ein paar Monate für die Revolution gewonnen, im Sommer wären sie doch abgefallen. Die
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gegenwärtige Stellung der Bauern zur Revolution von 1848 ist nicht Folge von etwaigen
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Fehlern und zufälligen Verstößen; sie ist naturgemäß, sie ist in der
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Lebenslage, in der gesellschaftlichen Stellung des kleinen Grundeigentümers
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begründet. Das französische Proletariat, ehe es seine Forderungen durchsetzt, wird
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zuerst einen allgemeinen Bauernkrieg zu unterdrücken haben, einen Krieg, der selbst durch
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Niederschlagung aller Hypothekarschulden sich nur um kurze Zeit wird hinausschieben lassen.</p>
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<p>Man muß während vierzehn Tagen fast nur mit Bauern, Bauern der verschiedensten
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Gegenden, zusammengekommen sein, man muß Gelegenheit gehabt haben, überall dieselbe
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vernagelte Borniertheit, dieselbe totale Unkenntnis aller städtischen, industriellen und
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kommerziellen Verhältnisse, dieselbe Blindheit in der Politik, dasselbe Raten ins Blaue
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über alles, was jenseits des Dorfes liegt, dasselbe Anlegen des Maßstabs der
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Bauernverhältnisse an die gewaltigsten Verhältnisse der Geschichte wiederzufinden -
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man muß, mit einem Wort, die französischen Bauern gerade im Jahr 1848 kennengelernt
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haben, um den ganzen niederschlagenden Eindruck zu empfinden, den diese störrische
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Dummheit hervorbringt.</p>
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<p align="center"><a name="Kap_II">II<br>
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<i>Burgund</i></a></p>
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<p>Briare ist ein altertümliches Städtchen an der Mündung des Kanals, der die
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Loire mit der Seine verbindet. Hier orientierte ich mich über die Route und fand es
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angemessener, statt über Nevers, über Auxerre nach der Schweiz zu gehn. Ich
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verließ also die Loire und wandte mich über die Berge nach Burgund zu.</p>
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<p>Der fruchtbare Charakter des Loiretals nimmt allmählich, aber ziemlich langsam ab. Man
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steigt unmerkbar und kommt erst fünf bis sechs Meilen von Briare, bei Saint-Sauveur und
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Saint-Fargeau, in die Anfänge des waldigen, viehzuchttreibenden Gebirgslandes. Der
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Bergrücken zwischen Yonne und Loire ist hier schon höher, und diese ganze westliche
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Seite des Yonne-Departements ist überhaupt ziemlich gebirgig.</p>
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<p>In der Gegend von Toucy, sechs Lieues von Auxerre, hörte ich zuerst den
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eigentümlichen naiv-breiten Burgunder Dialekt, ein Idiom, das hier und im ganzen
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eigentlichen Burgund noch einen liebenswürdigen, angenehmen <a name=
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"S476"><b><476></b></a> Charakter hat, dagegen in den höheren Gegenden der Franche
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Comté einen schwerfälligen, plumpen, fast doktoralen Klang annimmt. Es ist wie der
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naive östreichische Dialekt, der sich allmählich in den groben oberbayrischen
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verwandelt. Das burgundische Idiom betont auf eine merkwürdig unfranzösische Weise
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stets die Silbe vor derjenigen, welche im guten Französisch den Hauptakzent hat, sie
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verwandelt das jambische Französisch in ein trochäisches und verdreht dadurch
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merkwürdig die feine Akzentuierung, die der gebildete Franzose seiner Sprache zu geben
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weiß. Aber wie gesagt, im eigentlichen Burgund klingt es noch recht nett und im Munde
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eines hübschen Mädchens sogar reizend: Mais, mâ foi, monsieur, je vous demande
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ûn peu ...</p>
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<p>Wenn man vergleichen kann, so ist überhaupt der Burgunder der französische
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Östreicher. Naiv, gutmütig, zutraulich im höchsten Grade, mit viel Mutterwitz
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innerhalb des gewohnten Lebenskreises, voll naiv komischer Vorstellungen über alles, was
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darüber hinausgeht, possierlich ungeschickt in ungewohnten Verhältnissen, stets
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unverwüstlich heiter - so sind diese guten Leute fast einer wie der andre. Man verzeiht
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dem liebenswürdig gutherzigen burgundischen Bauern noch am allerersten seine
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gänzliche politische Nullität und seine Schwärmerei für Louis Napoleon.</p>
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<p>Die Burgunder haben übrigens unleugbar eine stärkere Beimischung deutschen Bluts
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als die weiter westlich wohnenden Franzosen; die Haare und der Teint sind heller, die Gestalt
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etwas größer, namentlich bei den Frauenzimmern, der scharfe kritische Verstand, der
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schlagende Witz nimmt schon bedeutend ab und wird ersetzt durch ehrlicheren Humor und zuweilen
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durch einen leisen Anflug von Gemütlichkeit. Aber das französische heitre Element
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herrscht noch bedeutend vor, und an sorglosem Leichtsinn gibt der Burgunder keinem nach.</p>
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<p>Die westliche Berggegend des Yonne-Departements lebt hauptsächlich von der Viehzucht.
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Aber der Franzose ist überall ein schlechter Viehzüchter, und diese burgundischen
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Rinder fallen gar dünn und klein aus. Doch wird neben der Viehzucht noch viel Kornbau
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getrieben und überall ein gutes Weizenbrot gegessen.</p>
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<p>Die Bauernhäuser nehmen hier auch schon einen deutschern Charakter an; sie werden
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wieder größer und vereinigen Wohnung, Scheune und Ställe unter einem Dach; doch
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ist auch hier die Tür noch meist seitwärts von der Straße oder ganz von ihr
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abgekehrt.</p>
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<p>An dem langen Abhang, der nach Auxerre hinunterführt, sah ich die ersten Burgunder
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Reben, zum großen Teil noch belastet mit der unerhört reichen Traubenernte des
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Jahres 1848. An manchen Stöcken sah man fast gar keine Blätter vor lauter
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Trauben.</p>
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<p><b><a name="S477"><477></a></b> Auxerre ist ein kleines, unebenes, von innen nicht
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sehr ansehnliches Städtchen mit einem hübschen Quai an der Yonne und einigen
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Ansätzen zu jenen Boulevards, ohne die ein französischer Departementshauptort nun
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einmal nicht sein kann. Zu gewöhnlichen Zeiten muß es gar still und tot sein, und
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der Präfekt der Yonne muß die Pflichtbälle und Abendessen, die er unter Ludwig
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Philipp den Notabeln des Ortes zu geben hatte, mit wenig Kosten bestritten haben. Aber jetzt
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war Auxerre belebt, wie es nur einmal im Jahre belebt ist. Wenn der Bürger Denjoy,
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Volksrepräsentant, der sich in der Nationalversammlung so sehr darüber
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skandalisierte, daß bei dem demokratisch-sozialen Bankett von Toulouse das ganze Lokal
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rot dekoriert war, wenn dieser brave Bürger Denjoy mit mir nach Auxerre gekommen
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wäre, er hätte vor Entsetzen Krämpfe bekommen. Hier war nicht ein Lokal, hier
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war die ganze Stadt rot dekoriert. Und welches Rot! Das unzweifelhafteste, unverhüllteste
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Blutrot färbte die Mauern und Treppen der Häuser, die Blusen und Hemden der Menschen;
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dunkelrote Ströme füllten sogar die Rinnsteine und befleckten das Pflaster, und eine
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unheimlich schwärzliche, rotschäumende Flüssigkeit wurde von bärtigen,
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unheimlichen Männern in großen Zubern über die Straßen getragen. Die rote
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Republik schien mit allen ihren Greueln zu herrschen, die Guillotine, die Dampfguillotine
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schien in Permanenz zu sein, die buveurs de sang <Blutsäufer>, von denen das
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"Journal des Débats" so schauerliche Sagen zu berichten weiß, feierten hier
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offenbar ihre kannibalischen Orgien. Aber die rote Republik von Auxerre war sehr unschuldig, es
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war die rote Republik der burgundischen Weinlese, und die Blutsäufer, die das edelste
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Erzeugnis dieser roten Republik mit so großer Wollust verzehren, sind niemand anders als
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die Herren honetten Republikaner selbst, die großen und kleinen Bourgeois von Paris. Und
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der ehrenwerte Bürger Denjoy hat in dieser Beziehung auch seine roten Gelüste trotz
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dem Besten.</p>
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<p>Wer nur in dieser roten Republik die Taschen voll Geld gehabt hätte! Die Lese von 1848
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war so unendlich reich, daß nicht Fässer genug gefunden werden konnten, um all den
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Wein aufzunehmen. Und dabei von einer Qualität - besser als 46er, ja vielleicht besser als
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34er! Von allen Seiten strömten die Bauern herzu, um den noch übrigen 47er zu
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Spottpreisen - zu 2 Franken die Feuillette <Fäßchen, altfranzösisches
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Weinmaß> von 140 Litern guten Weins - aufzukaufen; zu allen Toren kamen Wagen auf
|
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Wagen mit leeren Fässern herein, und doch wurde man nicht fertig. Ich habe selbst gesehn,
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wie ein Weinhändler in Auxerre mehrere Fässer 47er, ganz guten Weins, auf die
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Straße auslaufen ließ, um nur Fassung zu bekommen für den neuen Wein, der der
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Speku- <a name="S478"><b><478></b></a> lation allerdings ganz andre Aussichten bot. Man
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versicherte mir, dieser Weinhändler habe in wenig Wochen auf diese Weise bis zu vierzig
|
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große Fässer (fûts) auslaufen lassen.</p>
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<p>Nachdem ich in Auxerre mehrere Schoppen des Alten sowohl wie des Neuen zu mir genommen, zog
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ich über die Yonne den Bergen des rechten Ufers zu. Die Chaussee geht das Tal entlang; ich
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nahm indes die alte, kürzere Straße über die Berge. Der Himmel war bedeckt, das
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Wetter unfreundlich, ich selbst war müde, und so blieb ich im ersten Dorf, einige
|
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Kilometer von Auxerre über Nacht.</p>
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<p>Am nächsten Morgen brach ich in aller Frühe und mit dem herrlichsten Sonnenschein
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von der Welt auf. Der Weg führte zwischen lauter Weinbergen hindurch über einen
|
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ziemlich hohen Bergrücken. Aber für die Mühe des Steigens belohnte mich oben der
|
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prachtvollste Überblick. Vor mir die ganze hügelige Abdachung bis zur Yonne, dann das
|
|
grüne, wiesenreiche und pappelbepflanzte Yonnetal mit seinen vielen Dörfern und
|
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Bauernhöfen; dahinter das steingraue Auxerre, an die jenseitige Bergwand gelehnt;
|
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überall Dörfer, und überall, soweit das Auge reichte, Reben, nichts als Reben,
|
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und der schimmerndste, warme Sonnenschein, nur in der Ferne durch feinen Herbstduft gemildert,
|
|
ausgegossen über diesen großen Kessel, in dem die Augustsonne einen der edelsten
|
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Weine kocht.</p>
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<p>Ich weiß nicht, was es ist, das diesen französischen, durch keine
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ungewöhnlich schönen Umrisse ausgezeichneten Landschaften ihren eigentümlich
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reizenden Charakter verleiht. Es ist freilich nicht diese oder jene Einzelheit, es ist das
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Ganze, das Ensemble, das ihnen einen Stempel der Sättigung aufdrückt, wie man ihn
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selten anderswo findet. Der Rhein und die Mosel haben schönere Felsengruppierungen, die
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Schweiz hat größere Kontraste, Italien ein volleres Kolorit, aber kein Land hat
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Gegenden von einem so harmonischen Ensemble wie Frankreich. Mit einer ungewöhnlichen
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Befriedigung schweift das Auge von dem breiten, üppigen Wiesental zu den bis auf den
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höchsten Gipfel ebenso üppig mit Reben bewachsenen Bergen und zu den zahllosen
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Dörfern und Städten, die aus dem Laubwerk der Obstbäume sich erheben. Nirgends
|
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ein kahler Fleck, nirgends eine störende unwirtbare Stelle, nirgends ein rauher Fels,
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|
dessen Wände dem Pflanzenwuchs unzugänglich wären. Überall eine reiche
|
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Vegetation, ein schönes sattes Grün, das in eine herbstlich-bronzierte Schattierung
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übergeht, gehoben durch den Glanz einer Sonne, die noch im halben Oktober heiß genug
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brennt, um keine Beere am Weinstock unreif zu lassen.</p>
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<p>Ich ging noch etwas weiter, und eine zweite, ebenso schöne Aussicht eröffnete sich
|
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vor mir. Tief unten, in einem engeren Talkessel, lag Saint-Bris, <a name=
|
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"S479"><b><479></b></a> ein kleines, ebenfalls nur von Weinbau lebendes Städtchen.
|
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Dieselben Details wie vorhin, nur näher zusammengerückt. Weiden und Gärten unten
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im Tal um das Städtchen, Reben ringsum an den Wänden des Kessels, nur an der
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Nordseite umgeackerte oder mit grünem Stoppelklee bedeckte Felder und Wiesen. Drunten in
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den Straßen von Saint-Bris dasselbe Getriebe wie in Auxerre; überall Fässer und
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Keltern, und die ganze Einwohnerschaft unter Lachen und Scherzen beschäftigt, Most zu
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keltern, in die Fässer zu pumpen oder in großen Kufen über die Straße zu
|
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tragen. Dazwischen wurde Markt gehalten; in den breiteren Straßen hielten Bauernwagen mit
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Gemüse, Korn und andern Felderzeugnissen; die Bauern mit ihren weißen
|
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Zipfelmützen, die Bäuerinnen mit ihren Madrastüchern um den Kopf drängten
|
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sich schwatzend, rufend, lachend zwischen die Winzer; und das kleine Saint-Bris bot ein
|
|
lebendiges Getreibe dar, daß man glaubte, in einer großen Stadt zu sein.</p>
|
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<p>Jenseits Saint-Bris ging's wieder einen lang hingezogenen Berg hinauf. Aber diesen Berg
|
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erstieg ich mit ganz besonderm Vergnügen. Hier war alles noch in der Weinlese begriffen,
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und eine burgundische Weinlese ist ganz anders lustig als selbst eine rheinländische. Auf
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jedem Schritt fand ich die heiterste Gesellschaft, die süßesten Trauben und die
|
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hübschesten Mädchen; denn hier, wo von drei zu drei Stunden ein Städtchen liegt,
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wo die Einwohner vermöge ihres Weinhandels viel mit der übrigen Welt in Verkehr sind,
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hier herrscht schon eine gewisse Zivilisation, und niemand nimmt diese Zivilisation rascher an
|
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als die Frauenzimmer, denn sie haben die nächsten und augenfälligsten Vorteile davon.
|
|
Es fällt keiner französischen Städterin ein zu singen:</p>
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<div style="margin-left: 8em">
|
|
<p><font size="2">Wenn ich doch so hübsch wär<br>
|
|
Wie die Mädchen auf dem Land!<br>
|
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Ich trüg 'nen gelben Strohhut<br>
|
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Und ein rosenrotes Band.<br>
|
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<Goethe, "Kriegserklärung"></font></p>
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</div>
|
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<p>Im Gegenteil, sie weiß viel zu gut, daß sie der Stadt, der Entziehung aller
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groben Arbeiten, der Zivilisation und ihren hundert Reinlichkeitsmitteln und
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Toilettenkünsten die ganze Ausbildung ihrer Reize verdankt; sie weiß, daß die
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Mädchen auf dem Land, selbst wenn sie nicht schon von ihren Eltern jene, dem Franzosen so
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schreckliche Grobknochigkeit ererbt haben, die der Stolz der germanischen Race ist, doch durch
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die anstrengende Feldarbeit im glühendsten Sonnenschein wie im heftigsten Regen, durch die
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Erschwerung der Reinlichkeit, durch die Abwesenheit aller Mittel der körperlichen
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Ausbildung, durch das zwar sehr ehrwürdige, aber ebenso unbeholfene und geschmacklose
|
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Kostüm meistens zu plumpen, wackelnden, in grellen Farben <a name=
|
|
"S480"><b><480></b></a> komisch aufgeputzten Vogelscheuchen werden. Die Geschmäcke
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sind verschieden; unsre deutschen Landsleute halten es meist mehr mit der Bauerntochter, und
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sie mögen nicht unrecht haben: allen Respekt vor dem Dragonertritt einer handfesten
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Viehmagd und besonders vor ihren Fäusten; alle Ehre dem grasgrün und feuerrot
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gewürfelten Kleide, das sich um ihre gewaltige Taille schlingt; alle Achtung vor der
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Tadellosigkeit der Ebene, die von ihrem Nacken bis zu ihren Fersen geht und ihr von hinten das
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Ansehn eines mit buntem Kattun überzogenen Brettes gibt! Aber die Geschmäcke sind
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verschieden, und darum möge der von mir differierende, obgleich darum nicht minder
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ehrenwerte Teil meiner Mitbürger mir verzeihen, wenn die reingewaschenen,
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glattgekämmten, schlankgewachsenen Burgunderinnen von Saint-Bris und Vermanton einen
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angenehmeren Eindruck auf mich machten als jene naturwüchsig schmutzigen, struppigen,
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molossischen Büffelkälber zwischen Seine und Loire, die einen wie vernagelt
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anstarren, wenn man eine Zigarette dreht, und mit Geheul davonlaufen, wenn man sie in gutem
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Französisch nach dem rechten Wege fragt.</p>
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<p>Man wird mir also gern glauben, daß ich mehr mit den Winzern und Winzermädchen
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Trauben essend, Wein trinkend, plaudernd und lachend im Grase lag, als den Berg
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hinaufmarschierte, und daß ich in derselben Zeit wie diesen unbedeutenden
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Hügelrücken, den Blocksberg oder gar die Jungfrau hätte besteigen können.
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Um so mehr, als man sich an Weintrauben alle Tage sechzigmal sattessen kann und also an jedem
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Weinberge den besten Vorwand hat, sich mit diesen ewig lachenden und gefälligen Leuten
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beiderlei Geschlechts in Verbindung zu setzen. Aber alles hat ein Ende, und so auch dieser
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Berg. Es war schon Nachmittag, als ich den andern Abhang herunterstieg in das reizende Tal der
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Cure, eines kleinen Nebenflusses der Yonne, nach dem Städtchen Vermenton, das noch
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schöner liegt als Saint-Bris.</p>
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<p>Bald hinter Vermenton aber hört die schöne Gegend auf. Man nähert sich
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allmählich dem höheren Rücken des Faucillon, der die Flußgebiete der
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Seine, Rhone und Loire voneinander scheidet. Von Vermenton steigt man mehrere Stunden, geht
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über ein langes unfruchtbares Plateau, auf dem schon der Roggen, Hafer und Buchweizen den
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Weizen mehr oder weniger vertreiben.</p>
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<p>Hier bricht das Manuskript ab.</p>
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