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<title>Karl Marx - Die Klassenkaempfe in Frankreich 1848 bis 1850 - II</title>
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<body bgcolor="#FFFFFC">
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<p align="center"><a href="me07_012.htm"><font size="2">I - Die Juniniederlage 1848</font></a> |
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<a href="me07_009.htm"><font size="2">Inhalt und Einleitung</font></a> | <a href=
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"me07_064.htm"><font size="2">III - Folgen des 13. Juni 1849</font></a></p>
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<p><small>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 7, "Die
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Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850", S. 35-63<br>
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Dietz Verlag, Berlin/DDR 1960</small></p>
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<p align="center"><font size="5">II<br>
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Der 13. Juni 1849<br></font> <i>Vom Juni 1848 bis 13. Juni 1849</i></p>
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<p><b><a name="S35"><35></a></b> Der 25. Februar 1848 hatte Frankreich die <i>Republik</i>
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oktroyiert, der 25. Juni drang ihm die <i>Revolution</i> auf. Und Revolution bedeutete nach dem
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Juni: <i>Umwälzung der bürgerlichen Gesellschaft</i>, während es vor dem Februar
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bedeutet hatte: <i>Umwälzung der Staatsform</i>.</p>
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<p>Der Junikampf war durch die <i>republikanische</i> Fraktion der Bourgeoisie geleitet worden,
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mit dem Siege fiel ihr notwendigerweise die Staatsmacht anheim. Der Belagerungszustand legte ihr
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das geknebelte Paris widerstandslos vor die Füße, und in den Provinzen herrschte ein
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moralische Belagerungszustand, der drohend brutale Siegesübermut der Bourgeoisie und der
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entfesselten Eigentumsfanatismus der Bauern. Von <i>unten</i> also keine Gefahr!</p>
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<p>Mit der revolutionären Gewalt der Arbeiter zerbrach gleichzeitig der politische
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Einfluß der <i>demokratischen Republikaner</i>, d.h. der Republikaner im Sinne des
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<i>Kleinbürgertums</i>, vertreten in der Exekutivkommission durch Ledru-Rollin, in der
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konstituierenden Nationalversammlung durch die Partei der Montagne, in der Presse durch die
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"Réforme". Gemeinsam mit den Bourgeoisrepublikanern hatten sie am 16. April konspiriert
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gegen das Proletariat, in den Junitagen es gemeinsam mit ihnen bekriegt. So sprengten sie selbst
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den Hintergrund, worauf ihre Partei sich als Macht abhob, denn nur solange kann das
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Kleinbürgertum eine revolutionäre Stellung gegen die Bourgeoisie behaupten, als das
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Proletariat hinter ihm steht. Sie wurde abgedankt. Die mit ihnen widerstrebend und hinterhaltig
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während der Epoche der provisorischen Regierung und der Exekutivkommission eingegangene
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Scheinallianz wurde offen von den Bourgeoisierepublikanern gebrochen. Als Bundesgenossen
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verschmäht und zurückgestoßen, sanken sie zu untergeordneten Trabanten der
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Trikoloren herab, denen sie kein Zugeständnis abringen konnten, deren Herrschaft sie aber
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jedesmal unterstützen mußten, sooft dieselbe, und mit ihr die Republik, von den
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antirepublikanischen Bourgeoisiefraktionen in Frage gestellt schien. Diese Fraktionen endlich,
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Orleanisten und Legitimisten, befanden <a name="S36"><b><36></b></a> sich von vornherein in
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der konstituierenden Nationalversammlung in der Minorität. Vor den Junitagen wagten sie
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selbst nur unter der Maske des bürgerlichen Republikanismus zu reagieren, der Junisieg
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ließ einen Augenblick des ganze bürgerliche Frankreich in Cavaignac seinen Heiland
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begrüßen, und als kurz nach den Junitagen die antirepublikanische Partei sich wieder
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verselbständigte, erlaubten ihr die Militärdiktatur und der Belagerungszustand von
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Paris, nur sehr schüchtern und vorsichtig die Fühlhörner auszustrecken.</p>
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<p>Seit 1830 hatte sich die <i>bourgeoisrepublikanische</i> Fraktion in ihren Schriftstellern,
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ihren Wortführern, ihren Kapazitäten, ihren Ambitionen, ihren Deputierten, Generalen,
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Bankiers und Advokaten um ein Pariser Journal gruppiert, um den <i>"National"</i>. In den
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Provinzen besaß er seine Filialzeitungen. Die Koterie des "National", das war die
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<i>Dynastie der trikoloren Republik</i>. Sofort bemächtigten sie sich aller
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Staatswürden, der Ministerien, der Polizeipräfektur, der Postdirektion, der
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Präfektenstellen, der freigewordenen höheren Offiziersposten in der Armee. An der
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Spitze der Exekutivgewalt stand ihr General, <i>Cavaignac</i>; ihr Redakteur en chef, Marrast,
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wurde der permanente Präsident der konstituierenden Nationalversammlung. In seinen Salons
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machte er als Zeremonienmeister zugleich die Honneurs der honetten Republik.</p>
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<p>Selbst revolutionäre französische Schriftsteller haben den Irrtum befestigt, aus
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einer Art Scheu vor der republikanischen Tradition, als hätten die Royalisten in der
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konstituierenden Nationalversammlung geherrscht. Die konstituierende Versammlung blieb vielmehr
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seit den Junitagen die <i>ausschließliche Vertreterin des Bourgeoisrepublikanismus</i>, und
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um so entschiedener kehrte sie diese Seite hervor, je mehr der Einfluß der trikoloren
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Republikaner außerhalb der Versammlung zusammenbrach. Galt es die <i>Form</i> der
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bürgerlichen Republik behaupten, so verfügte sie über die Stimmen der
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demokratischen Republikaner, galt es den <i>Inhalt</i>, so trennte selbst die Sprechweise sie
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nicht mehr von den royalistischen Bourgeoisfraktionen, denn die Interessen der Bourgeoisie, die
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materiellen Bedingungen ihrer Klassenherrschaft und Klassenexploitation bilden eben den Inhalt
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der bürgerlichen Republik.</p>
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<p>Nicht der Royalismus also, der Bourgeoisrepublikanismus verwirklichte sich im Leben und in den
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Taten dieser konstituierenden Versammlung, die schließlich nicht starb, auch nicht
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getötet wurde, sondern verfaulte.</p>
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<p>Während der ganzen Dauer ihrer Herrschaft, solange sie im Proszenium die Haupt- und
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Staatsaktion spielte, wurde im Hintergrund ein ununterbrochenes Opferfest aufgeführt - die
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fortlaufende standrechtliche Verurteilung der gefangenen Juniinsurgenten oder ihre Deportation
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ohne Urteil. Die konstituierende Versammlung hatte den Takt, zu gestehen, daß sie in den
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Juniinsurgenten nicht Verbrecher richte, sondern Feinde ekrasiere.</p>
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<p><b><a name="S37"><37></a></b> Die erste Tat der konstituierenden Nationalversammlung war
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die Niedersetzung einer <i>Untersuchungskommission</i> über die Ereignisse des Juni und des
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15. Mai und über die Beteiligung der sozialistischen und demokratischen Parteichefs an
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diesen Tagen. Die Untersuchung war direkt gerichtet gegen Louis Blanc, Ledru-Rollin und
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Caussidière. Die Bourgeoisierepublikaner brannten vor Ungeduld, sich dieser Rivalen zu
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entledigen. Die Durchführung ihrer Ranküne konnten sie keinem passenderen Subjekt
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anvertrauen als Herrn <i>Odilon Barrot</i>, dem ehemaligen Chef der dynastischen Opposition, dem
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leibgewordenen Liberalismus, der nullité grave <aufgeblasenen Null>, der
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gründlichen Seichtigkeit, die nicht nur eine Dynastie zu rächen hatte, sondern sogar
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den Revolutionären Rechenschaft abzuverlangen für eine vereitelte
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Ministerpräsidentschaft. Sichere Garantie für seine Unerbittlichkeit. Dieser Barrot
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also wurde zum Präsidenten der Untersuchungskommission ernannt, und er konstruierte einen
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vollständigen Prozeß gegen die Februarrevolution, der sich dahin zusammenfaßt:
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17. März <i>Manifestation</i>, 16. April <i>Komplott</i>, 15. Mai <i>Attentat</i>, 23. Juni
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<i>Bürgerkrieg!</i> Warum erstreckte er seine gelehrten und kriminalistischen Forschungen
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nicht bis zum 24. Februar? Das "Journal des Débats" antwortete: Der 24. Februar, das ist
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die <i>Gründung Roms</i>. Der Ursprung der Staaten verläuft sich in eine Mythe, an die
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man glauben, die man nicht diskutieren darf. Louis Blanc und Caussidière wurden den
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Gerichten preisgegeben. Die Nationalversammlung vervollständigte das Werk ihrer eigenen
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Säuberung, das sie am 15. Mai begonnen hatte.</p>
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<p>Der von der provisorischen Regierung gefaßte, von Goudchaux wiederaufgenommene Plan
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einer Besteuerung des Kapitals - in der Form einer Hypothekensteuer - wurde von der
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konstituierenden Versammlung verworfen, das Gesetz, welche die Arbeitszeit auf 10 Stunden
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beschränkte, abgeschafft, die Schuldhaft wieder eingeführt, von der Zulassung zu der
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Jury der große Teil der französischen Bevölkerung ausgeschlossen, der weder lesen
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noch schreiben kann. Warum nicht auch vom Stimmrecht? Die Kaution für die Journale wurde
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wieder eingeführt, das Assoziationsrecht beschränkt. -</p>
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<p>Aber in ihrer Hast, den alten bürgerlichen Verhältnissen ihre alten Garantien
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wiederzugeben und jede Spur auszulöschen, welche die Revolutionswellen zurückgelassen
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hatten, stießen die Bourgeoisrepublikaner auf einen Widerstand, der mit unerwarteter Gefahr
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drohte.</p>
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<p>Niemand hatte fanatischer in den Junitagen gekämpft für die Rettung des Eigentums
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und die Wiederherstellung des Kredits, als die Pariser Kleinbürger - Caféwirte,
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Restauranten, marchands de vins <Schankwirte>, kleine Kaufleute, Krämer, <a name=
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"S38"><b><38></b></a> Professionisten usw. Die Boutique hatte sich aufgerafft und war gegen
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die Barrikade marschiert, um die Zirkulation herzustellen, die von der Straße in die
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Boutique führt, Aber hinter der Barrikade standen die Kunden und die Schuldner, vor ihr die
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Gläubiger der Boutique. Und als die Barrikaden niedergeworfen und die Arbeiter ekrasiert
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waren und die Ladenhüter siegestrunken zu ihren Läden zurückstürzten, fanden
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sie den Eingang verbarrikadiert von einem Retter des Eigentums, einem offiziellen Agenten des
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Kredits, der ihnen die Drohbriefe entgegenhielt: Verfallener Wechsel! Verfallener Hauszins!
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Verfallender Schuldbrief! Verfallene Boutique! Verfallener Boutiquier!</p>
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<p><i>Rettung des Eigentums!</i> Aber das Haus, das sie bewohnten, war nicht ihr Eigentum; der
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Laden, den sie hüteten, war nicht ihr Eigentum; die Waren, die sie verhandelten, waren nicht
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ihr Eigentum. Nicht ihr Geschäft, nicht der Teller, woraus sie aßen, nicht das Bett,
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worin sie schliefen, gehörte ihnen noch. Ihnen gegenüber galt es gerade, <i>dies
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Eigentum zu retten</i> für den Hausbesitzer, der das Haus verliehen, den Bankier, der den
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Wechsel diskontiert, den Kapitalisten, der die baren Vorschüsse gemacht, den Fabrikanten,
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der die Waren zum Verkaufe diesen Krämern anvertraut, den Großhändler, der die
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Rohstoffe diesen Professionisten kreditiert hatte. <i>Wiederherstellung des Kredits!</i> Aber der
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wieder erstarkte Kredit bewährte sich eben als ein lebendiger und eifriger Gott, indem er
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den zahlungsunfähigen Schuldner aus seinen vier Mauern verjagte, mit Weib und Kind, seine
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Scheinhabe dem Kapital preisgab und ihn selbst in den Schuldturm warf, der sich über den
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Leichen der Juniinsurgenten drohend wieder aufgerichtet hatte.</p>
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<p>Die Kleinbürger erkannten mit Schrecken, daß sie ihren Gläubigern sich
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widerstandslos in die Hände geliefert, indem sie die Arbeiter niedergeschlagen hatten. Ihr
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seit dem Februar chronisch sich hinschleppender und scheinbar ignorierter Bankerott wurde nach
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dem Juni offen erklärt.</p>
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<p>Ihr <i>nominelles Eigentum</i> hatte man so lange unangefochten gelassen, als es galt, sie auf
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den Kampfplatz zu treiben, im <i>Namen des Eigentums</i>. Jetzt, nachdem die große
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Angelegenheit mit dem Proletariat geregelt war, konnte auch das kleine Geschäft mit dem
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Epiciér wieder geregelt werden. In Paris betrug die Masse der leidenden Papiere über
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21 Millionen Francs, in den Provinzen über 11 Millionen. Geschäftliche Inhaber von mehr
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als 7.000 Häusern hatten ihre Miete seit Februar nicht gezahlt.</p>
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<p>Hatte die Nationalversammlung eine Enquête über die <i>politische Schuld</i> bis zu
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den Grenzen des Februar hinauf angestellt, so verlangten nun die Kleinbürger ihrerseits eine
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Enquête über die <i>bürgerlichen Schulden</i> bis zum 24. Februar. Sie
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versammelten sich massenhaft in der Börsenhalle und forderten <a name=
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"S39"><b><39></b></a> drohend für jeden Kaufmann, der nachweisen könne, daß
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er nur durch die von der Revolution hervorgerufene Stockung fallit geworden und sein
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Geschäft am 24. Februar gut stand, Verlängerung des Zahlungstermins durch
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handelsgerichtliches Urteil und Nötigung des Gläubigers, für eine
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mäßige Prozentzahlung seine Forderung zu liquidieren. Als Gesetzesvorlage wurde diese
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Frage in der Nationalversammlung verhandelt unter der Form der <i>"concordats à
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l'amiable"</i> <<i>"freundschaftlichen Verständigung"</i>>. Die Versammlung schwankte;
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da erfuhr sie plötzlich, daß gleichzeitig an der Porte St.Denis Tausende von Frauen
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und Kindern der Insurgenten eine Amnestiepetition vorbereiteten.</p>
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<p>In Gegenwart des wiedererstandenen Junigespenstes erzitterten die Kleinbürger und gewann
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die Versammlung ihre Unerbittlichkeit wieder. Die concordats à l'amiable, die
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freundschaftliche Verständigung zwischen Gläubiger und Schuldner wurde in ihren
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wesentlichen Punkten verworfen.</p>
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<p>Nachdem also längst innerhalb der Nationalversammlung die demokratischen Vertreter der
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Kleinbürger von den republikanischen Vertretern der Bourgeoisie zurückgestoßen
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waren, erhielt dieser parlamentarische Bruch seinen bürgerlichen, reellen ökonomischen
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Sinn, indem die Kleinbürger als Schuldner den Bourgeois als Gläubigern preisgegeben
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wurden. Ein großer Teil der ersteren wurde vollständig ruiniert und dem Rest nur
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gestattet, sein Geschäft fortzuführen unter Bedingungen, die ihn zum unbedingten
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Leibeigenen des Kapitals machten. Am 22. August 1848 verwarf die Nationalversammlung die
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concordats à l'aimable, am 19. September 1848, mitten im Belagerungszustand, wurden der
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Prinz Louis Bonaparte und der Gefangene von Vincennes, der Kommunist Raspail, zu
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Repräsentanten von Paris gewählt. Die Bourgeoisie aber wählte den jüdischen
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Wechsler und Orleanisten Fould. Also von allen Seiten auf einmal offene Kriegserklärung
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gegen die konstituierende Nationalversammlung, gegen den Bourgeoisrepublikanismus, gegen
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Cavaignac.</p>
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<p>Es bedarf keiner Ausführung, wie der massenhafte Bankerott der Pariser Kleinbürger
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seine Nachwirkungen weit über die unmittelbar Getroffenen fortwälzen und den
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bürgerlichen Verkehr abermals erschüttern mußte, während das Staatsdefizit
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durch die Kosten der Juniinsurrektion von neuem anschwoll, die Staatseinnahme durch die
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aufgehaltene Produktion, den eingeschränkten Konsum und die abnehmende Einfuhr
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beständig sank. Cavaignac und die Nationalversammlung konnten zu keinem anderen Mittel ihre
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Zuflucht nehmen als zu einer neuen Anleihe, die sie noch tiefer in das Joch der
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Finanzaristokratie hineinzwängte.</p>
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<p><b><a name="S40"><40></a></b> Hatten die Kleinbürger als Frucht des Junisieges den
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Bankerott und die gerichtliche Liquidation geerntet, so fanden dagegen die Janitscharen
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Cavaignacs, die <i>Mobilgarden</i>, ihren Lohn in den weichen Armen der Loretten und empfingen
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sie, "die jugendlichen Retter der Gesellschaft", Huldigungen aller Art in den Salons von Marrast,
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des gentilhomme <Ritters> der Trikolore, der zugleich den Amphitron und den Troubadour der
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honetten Republik abgab. Unterdessen erbitterte diese gesellschaftliche Bevorzugung und der
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ungleich höhere Sold der Mobilgarden die <i>Armee</i>, während gleichzeitig alle
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nationalen Illusionen verschwanden, womit der Bourgeoisrepublikanismus durch sein Journal, den
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<i>"National"</i>, einen Teil der Armee und der Bauernklasse unter Louis-Philippe an sich zu
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fesseln gewußt hatte. Die Vermittlungsrolle, welche Cavaignac und die Nationalversammlung
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in <i>Norditalien</i> spielten, um es gemeinsam mit England an Österreich zu verraten -
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dieser eine Tag der Herrschaft vernichtete achtzehn Oppositionsjahre des "National". Keine
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Regierung weniger national als die des "National", keine abhängiger von England, und unter
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Louis-Philippe lebte er von der täglichen Umschreibung des Catonischen : Carthaginem esse
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delendam <Karthago muß zerstört werden>; keine serviler gegen die Heilige
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Allianz, und von einem Guizot hatte er die Zerreißung der Wiener Verträge verlangt.
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Die geschichtliche Ironie machte Bastide, den Exredakteur der auswärtigen Angelegenheiten
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des "National", zum Minister der auswärtigen Angelegenheiten Frankreichs, damit er jeden
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seiner Artikel durch jede seiner Depeschen widerlege.</p>
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<p>Einen Augenblick hatten Armee und Bauernklasse geglaubt, mit der Militärdiktatur sei
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gleichzeitig der Krieg nach außen und die "gloire" auf die Tagesordnung Frankreichs
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gesetzt. Aber Cavaignac, das war nicht die Diktatur des Säbels über die
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bürgerliche Gesellschaft, das war die Diktatur der Bourgeoisie durch den Säbel. Und sie
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brauchten jetzt vom Soldaten nur noch den Gendarmen. Cavaignac verbarg unter den strengen
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Zügen antik-republikanischer Resignation die fade Unterwürfigkeit unter die
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demütigenden Bedingungen seines bürgerlichen Amtes. L'argent n'a pas de maître!
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Das Geld hat keinen Herrn! Diesen alten Wahlspruch des tiers-état <dritten Standes>
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idealisierte er, wie überhaupt die konstituierende Versammlung, indem sie ihn in die
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politische Sprache übersetzten: Die Bourgeoisie hat keinen König, die wahre Form ihrer
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Herrschaft ist die Republik.</p>
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<p>Um diese <i>Form</i> ausarbeiten, eine republikanische <i>Konstitution</i> anfertigen, darin
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bestand das "große organische Werk" der konstituierenden Nationalversammlung. Die Umtaufung
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des christlichen Kalenders in einen republi- <a name="S41"><b><41></b></a> kanischen, des
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heiligen Bartholomäus in den heiligen Robespierre, ändert nicht mehr an Wind und
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Wetter, als diese Konstitution an der bürgerlichen Gesellschaft veränderte oder
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verändern sollte. Wo sie über <i>Kostümwechsel</i> hinausging, nahm sie
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<i>vorhandene</i> Tatsachen zu Protokoll. So registrierte sie feierlich die Tatsache der
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Republik, die Tatsache des allgemeinen Stimmrechts, die Tatsache einer einzigen souveränen
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Nationalversammlung an der Stelle der zwei beschränkten konstitutionellen Kammern. So
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registrierte und regelte sie die Tatsache der Diktatur Cavaignacs, indem sie das stationäre,
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unverantwortliche Erbkönigtum durch ein ambulantes, verantwortliches Wahlkönigtum
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ersetzte, durch eine vierjährige Präsidentschaft. So erhob sie nicht minder zum
|
|
konstituierenden Gesetz die Tatsache der außerordentlichen Gewalt, womit die
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Nationalversammlung nach dem Schrecken des 15. Mai und des 25. Juni im Interesse der eigenen
|
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Sicherheit vorsorglich ihren Präsidenten bekleidet hatte. Der Rest der Konstitution war das
|
|
Werk der Terminologie. Von dem Räderwerk der alten Monarchie wurden die royalistischen
|
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Etiketten abgerissen und republikanische aufgeklebt. Marrast, ehemaliger Redakteur en chef des
|
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"National", nunmehr Redakteur en chef der Konstitution, entledigte sich dieser akademischen
|
|
Aufgabe nicht ohne Talent.</p>
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<p>Die konstituierende Versammlung glich jenem chilenischen Beamten, der die
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Grundeigentumsverhältnisse durch eine Katastermessung fester regulieren wollte, in demselben
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Augenblick, wo der unterirdische Donner schon die vulkanische Eruption angekündigt hatte,
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die den Grund und Boden selbst unter seinen Füßen wegschleudern sollte. Während
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sie in der Theorie die Formen abzirkelte, worin die Herrschaft der Bourgeoisie republikanisch
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ausgedrückt wurde, behauptete sie sich in der Wirklichkeit nur durch die Aufhebung aller
|
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Formeln, durch die Gewalt sans phrase <ohne Beschönigung>, durch den
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|
<i>Belagerungszustand</i>. Zwei Tage, bevor sie ihr Verfassungswerk begann, proklamierte sie
|
|
seine Fortdauer. Verfassungen wurden früher gemacht und angenommen, sobald der
|
|
gesellschaftliche Umwälzungsprozeß an einem Ruhepunkte angelangt war, die
|
|
neugebildeten Klassenverhältnisse sich befestigt hatten und die ringenden Fraktionen der
|
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herrschenden Klasse zu einem Kompromiß flüchteten, der ihnen erlaubte, den Kampf unter
|
|
sich fortzusetzen und gleichzeitig die ermattete Volksmasse von demselben auszuschließen.
|
|
Dies Konstitution dagegen sanktionierte keine gesellschaftliche Revolution, sie sanktionierte den
|
|
augenblicklichen Sieg der alten Gesellschaft über die Revolution.</p>
|
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<p>In dem ersten Konstitutionsentwurf, verfaßt vor den Junitagen, befand sich noch das
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"<i>droit au travail"</i>, das Recht auf Arbeit, erste unbeholfene <a name=
|
|
"S42"><b><42></b></a> Formel, worin sich die revolutionären Ansprüche des
|
|
Proletariats zusammenfassen. Es wurde verwandelt in das <i>droit à l'assistance</i>, in
|
|
das Recht auf öffentliche Unterstützung, und welcher moderne Staat ernährt nicht
|
|
in der einen oder andern Form seine Paupers? Das Recht auf Arbeit ist im bürgerlichen Sinn
|
|
ein Widersinn, ein elender, frommer Wunsch, aber hinter dem Rechte auf Arbeit steht die Gewalt
|
|
über das Kapital, hinter der Gewalt über das Kapital die Aneignung der
|
|
Produktionsmittel, ihre Unterwerfung unter die assoziierte Arbeiterklasse, also die Aufhebung der
|
|
Lohnarbeit, des Kapitals und ihres Wechselverhältnisses. Hinter dem <i>"Recht auf
|
|
Arbeit"</i> stand die Juniinsurrektion. Die konstituierende Versammlung, welche das
|
|
revolutionäre Proletariat faktisch hors la loi, außerhalb des Gesetzes stellte, sie
|
|
mußte <i>seine</i> Formel prinzipiell aus der Konstitution, dem Gesetz der Gesetze,
|
|
herauswerfen, ihr Anathem verhängen über das "Recht auf Arbeit". Aber hier blieb sie
|
|
nicht stehn. Wie Plato in seiner Republik die Poeten, verbannte sie aus der ihrigen auf ewige
|
|
Zeiten - <i>die Progressivsteuer</i>. Und die Progressivsteuer ist nicht nur eine
|
|
bürgerliche Maßregel, ausführbar innerhalb der bestehenden
|
|
Produktionsverhältnisse auf größerer oder kleinerer Stufenleiter; sie war das
|
|
einzige Mittel, die mittleren Schichten der bürgerlichen Gesellschaft an die "honette"
|
|
Republik zu fesseln, die Staatsschuld zu reduzieren, der antirepublikanischen Majorität der
|
|
Bourgeoisie Schach zu bieten.</p>
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|
<p>Bei Gelegenheit des concordats à l'amiable hatten die trikoloren Republikaner die
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|
kleine Bourgeoisie tatsächlich der großen geopfert. Dies vereinzelte Faktum erhoben
|
|
sie zum Prinzip durch die gesetzliche Interdiktion der Progressivsteuer. Sie setzten die
|
|
bürgerliche Reform auf gleiche Stufe mit der proletarischen Revolution. Aber welche Klasse
|
|
blieb dann als Halt ihrer Republik? Die große Bourgeoisie. Und deren Masse war
|
|
antirepublikanisch. Wenn sie die Republikaner des "National" ausbeutete, um die alten
|
|
ökonomischen Lebensverhältnisse wieder zu befestigen, so gedachte sie die
|
|
wiederbefestigten gesellschaftlichen Verhältnisse andrerseits auszubeuten, um die ihnen
|
|
entsprechenden politischen Formen wiederherzustellen. Schon Anfang Oktober sah Cavaignac sich
|
|
gezwungen, Dufaure und Vivien, ehemalige Minister Louis-Philippes, zu Ministern der Republik zu
|
|
machen, so sehr die kopflosen Puritaner seiner eigenen Partei grollten und polterten.</p>
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<p>Während dir trikolore Konstitution jeden Kompromiß mit der kleinen Bourgeoisie
|
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verwarf und kein neues Element der Gesellschaft an die neue Staatsform zu fesseln wußte,
|
|
beeilte sie sich dagegen, einem Korps, worin der alte Staat seine verbissensten und fanatischsten
|
|
Verteidiger fand, die traditionelle Unantastbarkeit wiederzugeben. Sie erhob die von der
|
|
provisorischen Regierung in Frage gestellte <i>Unabsetzbarkeit der Richter</i> zum
|
|
konstituierenden <a name="S43"><b><43></b></a> Gesetz. Der <i>eine</i> König, den sie
|
|
abgesetzt, erstand schockweise in diesen unabsetzbaren Inquisitoren der Legalität.</p>
|
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<p>Die französische Presse hat vielseitig die Widersprüche der Konstitution des Herrn
|
|
Marrast auseinandergesetzt, z.B. das Nebeneinanderstehen von zwei Souveränen, der
|
|
Nationalversammlung und dem Präsidenten usw. usw.</p>
|
|
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<p>Der umfassende Widerspruch aber dieser Konstitution besteht darin: Die Klassen, deren
|
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gesellschaftliche Sklaverei sie verewigen soll, Proletariat, Bauern, Kleinbürger, setzte sie
|
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durch das allgemeine Stimmrecht in den Besitz der politischen Macht. Und der Klasse, deren alte
|
|
gesellschaftliche Macht sie sanktionierte, der Bourgeoisie, entzieht sie die politischen
|
|
Garantien dieser Macht. Sie zwängt ihre politische Herrschaft in demokratische Bedingungen,
|
|
die jeden Augenblick den feindlichen Klassen zum Sieg verhelfen und die Grundlagen der
|
|
bürgerlichen Gesellschaft selbst in Frage stellen. Von den einen verlangt sie, daß sie
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von der politischen Emanzipation nicht zur sozialen fort-, von den anderen, daß sie von der
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sozialen Restauration nicht zur politischen zurückgehen.</p>
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<p>Wenig kümmerten diese Widersprüche die Bourgeoisrepublikaner. In demselben
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Maße, als sie aufhörten, <i>unentbehrlich</i> zu sein, und unentbehrlich waren sie nur
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als die Vorkämpfer der alten Gesellschaft gegen das revolutionäre Proletariat, wenige
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Wochen nach ihrem Siege, sanken sie von der Stellung einer <i>Partei</i> zu der einer
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<i>Koterie</i> herab. Und die Konstitution, sie behandelten sie als eine große
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<i>Intrige</i>. Was in ihr konstituiert werden sollte, war vor allem die Herrschaft der Koterie.
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Der Präsident sollte der verlängerte Cavaignac sein, die legislative Versammlung eine
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verlängerte Konstituante. Die politische Macht der Volksmassen hofften sie zur Scheinmacht
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herabsetzen und mit dieser Scheinmacht selbst hinreichend spielen zu können, um über
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die Majorität der Bourgeoisie fortdauernd das Dilemma der Junitage zu verhängen:
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<i>Reich des "National"</i> oder <i>Reich der Anarchie</i>.</p>
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<p>Das am 4. September begonnene Verfassungswerk wurde am 23. Oktober beendet. Am 2. September
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hatte die Konstituante beschlossen, sich nicht aufzulösen, bis die organischen, die
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Konstitution ergänzenden Gesetze erlassen seien. Nichtsdestoweniger entschied sie sich nun,
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ihr eigenstes Geschöpf, den Präsidenten, schon am 10. Dezember ins Leben zu rufen,
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lange bevor der Kreislauf ihres eigenen Wirkens geschlossen war. So gewiß war sie, in dem
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Konstitutions-Homunkulus den Sohn seiner Mutter zu begrüßen. Zur Vorsorge war die
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Anstalt getroffen, daß, wenn keiner der Kandidaten zwei Millionen Stimmen zähle, die
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Wahl von der Nation auf die Konstituante übergehe.</p>
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<p><b><a name="S44"><44></a></b> Vergebliche Vorkehrungen! Der erste Tag der Verwirklichung
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der Konstitution war der letzte Tag der Herrschaft der Konstituante. Im Abgrunde der Wahlurne lag
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ihr Todesurteil. Sie suchte den "Sohn seiner Mutter", und sie fand den "Neffen seines Onkels".
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Saulus Cavaignac schlug eine Million Stimmen, aber David Napoleon schlug sechs Millionen.
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Sechsmal war Saulus Cavaignac geschlagen.</p>
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<p>Der 10. Dezember 1848 war der Tag der <i>Bauerninsurrektion</i>. Erst von diesem Tage an
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datiert der Februar für die französischen Bauern. Das Symbol, das ihren Eintritt in die
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revolutionäre Bewegung ausdrückte, unbeholfen-verschlagen, schurkisch-naiv,
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tölpelhaft-sublim, ein berechneter Aberglaube, eine pathetische Burleske, ein
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genial-alberner Anachronismus, eine weltgeschichtliche Eulenspiegelei, unentzifferbare
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Hieroglyphe für den Verstand der Zivilisierten - trug dies Symbol unverkennbar die
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Physiognomie der Klasse, welch innerhalb der Zivilisation die Barbarei vertritt. Die Republik
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hatte sich bei ihr angekündigt mit dem <i>Steuerexekutor</i>, sie kündigte sich bei der
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Republik an mit dem <i>Kaiser</i>. Napoleon war der einzige Mann, der die Interessen und die
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Phantasie der 1789 neugeschaffnen Bauernklasse erschöpfend vertreten hatte. Indem sie seinen
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Namen auf das Frontispiz der Republik schrieb, erklärte sie nach außen den Krieg, nach
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innen die Geltendmachung ihres Klasseninteresses. Napoleon, das war für die Bauern keine
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Person, sondern ein Programm. Mit Fahnen, mit klingendem Spiel zogen sie auf die Wahlstätte
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unter dem Rufe: plus d'impôts, à bas les riches, à bas le République,
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vive l'Empereur, Keine Steuern mehr, nieder mit den Reichen, nieder mit der Republik, es lebe der
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Kaiser! Hinter dem Kaiser verbarg sich der Bauernkrieg. Die Republik, die sie niedervotierte, es
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war die <i>Republik der Reichen</i>.</p>
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<p>Der 10. Dezember war der coup d'état <Staatsstreich> der Bauern, der die
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bestehende Regierung stürzte. Und von diesem Tage an, wo sie Frankreich eine Regierung
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genommen, eine Regierung gegeben hatten, war ihr Auge unverrückt auf Paris gerichtet. Einen
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Augenblick aktive Helden des revolutionären Dramas, konnten sie nicht mehr in die tat- und
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willenlose Rolle des Chors zurückgedrängt werden.</p>
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<p>Die übrigen Klassen trugen bei, den Wahlsieg der Bauern zu vervollständigen. Die
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Wahl Napoleons, sie war für das <i>Proletariat</i> die Absetzung Cavaignacs, der Sturz der
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Konstituante, die Abdankung des Bourgeoisrepublikanismus, die Kassation des Junisiegs. Für
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die <i>kleine Bourgeoisie</i> war Napoleon die Herrschaft des Schuldners über den
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Gläubiger. Für die Majorität der <a name="S45"><b><45></b></a>
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<i>großen Bourgeoisie</i> war die Wahl Napoleons der offene Bruch mit der Fraktion, deren
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sie sich einen Augenblick gegen die Revolution bedienen mußte, die ihr aber
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unerträglich wurde, sobald sie die Stellung des Augenblicks als konstitutionelle Stellung zu
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befestigen suchte. Napoleon an der Stelle Cavaignacs, es war für sie die Monarchie an der
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Stelle der Republik, der Beginn der royalistischen Restauration, der schüchtern angedeutete
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Orléans, die unter Veilchen versteckte Lilie. Die <i>Armee</i> endlich stimmte in Napoleon
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gegen die Mobilgarde, gegen die Friedensidylle, für den Krieg.</p>
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<p>So geschah es, wie die "Neue Rheinische Zeitung" sagte, daß der einfältigste Mann
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Frankreichs die vielfältigste Bedeutung erhielt. Eben weil er nichts war, konnte er alles
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bedeuten, nur nicht sich selbst. So verschieden indessen der Sinn des Namens Napoleon im Munde
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der verschiedenen Klassen sein mochte, jede schrieb mit diesem Namen auf ihr Bulletin: Nieder mit
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der Partei des "National", nieder mit Cavaignac, nieder mit der Konstituante, nieder mit der
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Bourgeoisrepublik. Der Minister Dufaure erklärte es öffentlich in der konstituierenden
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Versammlung: Der 10. Dezember ist ein zweiter 24. Februar.</p>
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<p>Kleinbürgerschaft und Proletariat hatten en bloc <geschlossen> <i>für</i>
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Napoleon gestimmt, um <i>gegen</i> Cavaignac zu stimmen und durch Zusammenhalten der Stimmen der
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Konstituante die schließliche Entscheidung zu entreißen. Indes stellte der
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fortgeschrittenste Teil beider Klassen seine eigenen Kandidaten auf. Napoleon war der
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<i>Kollektivname</i> aller gegen die Bourgeoisie koalisierten Parteien, <i>Ledru-Rollin</i> und
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<i>Raspail</i> waren die <i>Eigennamen</i>, jener der demokratischen Kleinbürgerschaft,
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dieser des revolutionären Proletariats. Die Stimmen für Raspail - die Proletarier und
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ihre sozialistischen Wortführer erklärten es laut - sollten eine bloße
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Demonstration sein, ebenso viele Proteste gegen jede Präsidentur, d.h. gegen die
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Konstitution selbst, ebenso viele Stimmen gegen Ledru-Rollin, der erste Akt, wodurch das
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Proletariat sich als selbständige politische Partei von der demokratischen Partei lossagte.
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Diese Partei dagegen - die demokratische Kleinbürgerschaft und ihr parlamentarischer
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Repräsentant, die Montagne - behandelten die Kandidatur Ledru-Rollins mit all dem Ernste,
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womit sie sich selbst zu düpieren die feierliche Angewohnheit haben. Es war dies
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übrigens ihr letzter Versuch, sich als selbständige Partei dem Proletariat
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gegenüber aufzuwerfen. Nicht nur die republikanische Bourgeoispartei, auch die demokratische
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Kleinbürgerschaft und ihre Montagne wurden am 10. Dezember geschlagen.</p>
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<p>Frankreich besaß jetzt neben einer <i>Montagne</i> einen <i>Napoleon</i>, Beweis,
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daß beide nur die leblosen Zerrbilder der großen Wirklichkeiten waren, deren <a name=
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"S46"><b><46></b></a> Namen sie trugen. Louis-Napoleon mit dem Kaiserhut und dem Adler
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parodierte nicht elender den alten Napoleon, als die Montagne mit ihren 1793 entlehnten Phrasen
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und ihren demagogischen Posen die alte Montagne parodierte. Der traditionelle Aberglaube an 1793
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wurde so gleichzeitig abgestreift mit dem traditionellen Aberglauben an Napoleon. Die Revolution
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war erst bei sich selbst angelangt, sobald sie ihren <i>eigenen, originellen</i> Namen gewonnen
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hatte, und das konnte sie nur, sobald die moderne revolutionäre Klasse, das industrielle
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Proletariat, herrschend in den Vordergrund trat. Man kann sagen, daß der 10. Dezember die
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Montagne schon darum verblüffte und an ihrem eigenen Verstand irre werden ließ, weil
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er die klassische Analogie mit der alten Revolution durch einen schnöden Bauernwitz lachend
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abbrach.</p>
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<p>Am 20. Dezember legte Cavaignac sein Amt nieder, und die konstituierende Versammlung
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proklamierte Louis-Napoleon als Präsidenten der Republik. Am 19. Dezember, dem letzten Tag
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ihrer Alleinherrschaft, verwarf sie den Antrag auf eine Amnestie der Juniinsurgenten. Das Dekret
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vom 27. Juni widerrufen, wodurch sie 15.000 Insurgenten mit Umgehung des richterlichen Urteils
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zur Deportation verdammt hatte, hieß es nicht die Junischlacht selbst widerrufen?</p>
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<p>Odilon Barrot, der letzte Minister Louis-Philippes, wurde der erste Minister Louis-Napoleons.
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Wie Louis-Napoleon den Tag seiner Herrschaft nicht vom 10. Dezember datierte, sondern von einem
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Senatus-Konsult von 1804, so fand er einen Ministerpräsidenten, der sein Ministerium nicht
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vom 20. Dezember datierte, sondern von einem Königlichen Dekret vom 24. Februar. Als
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legitimer Erbe Louis-Philippes milderte Louis-Napoleon den Regierungswechsel durch Beibehaltung
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des alten Ministeriums, das zudem keine Zeit gewonnen hatte, sich abzunutzen, weil es keine Zeit
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gefunden hatte, ins Leben zu treten.</p>
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<p>Die Chefs der royalistischen Bourgeoisiefraktionen rieten ihm zu dieser Wahl. Das Haupt der
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alten dynastischen Opposition, das bewußtlos den Übergang zu den Republikanern des
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"National" gebildet hatte, war noch geeigneter, mit vollem Bewußtsein den Übergang von
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der Bourgeoisrepublik zur Monarchie zu bilden.</p>
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<p>Odilon Barrot war der Chef der einzigen alten Oppositionspartei, die, immer vergeblich nach
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dem Ministerportefeuille ringend, sich noch nicht verschlissen hatte. In rascher Aufeinanderfolge
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schleuderte die Revolution alle alten Oppositionsparteien auf die Staatshöhe, damit sie
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nicht nur in der Tat, sondern mit der Phrase selbst ihre alten Phrasen verleugnen, widerrufen
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mußten und schließlich, in einem widerlichen Mischkörper vereint, allzumal
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<a name="S47"><b><47></b></a> von dem Volke auf den Schindanger der Geschichte geschleudert
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würden. Und keine Apostasie wurde diesem Barrot erspart, dieser Inkorporation des
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bürgerlichen Liberalismus, der achtzehn Jahre hindurch die schuftige Hohlheit seines Geistes
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unter ein ernsttuendes Benehmen seines Körpers versteckt hatte. Wenn in einzelnen Momenten
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der gar zu stechende Kontrast zwischen den Disteln der Gegenwart und den Lorbeeren der
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Vergangenheit ihn selbst aufschreckte, gab ein Blick in den Spiegel die ministerielle Fassung und
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die menschliche Selbstbewunderung zurück. Was ihm aus dem Spiegel entgegenstrahlte, war
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Guizot, den er stets beneidet, der ihn stets gemeistert hatte, Guizot selbst, aber Guizot mit der
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olympischen Stirne Odilons. Was er übersah, waren die Midasohren.</p>
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<p>Der Barrot vom 24. Februar wurde erst offenbar in dem Barrot vom 20. Dezember. Ihm, dem
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Orleanisten und Voltairianer, gesellte sich als Kultusminister bei - der Legitimist und Jesuit
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Falloux.</p>
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<p>Wenige Tage später wurde das Ministerium des Innern an Léon Faucher, den
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Mathusianer überwiesen. Das Recht, die Religion, die politische Ökonomie! Das
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Ministerium Barrot erhielt alles dies und zudem eine Vereinigung der Legitimisten und der
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Orleanisten. Nur der Bonapartist fehlte. Noch versteckte Bonaparte das Gelüste, den Napoleon
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zu bedeuten, denn <i>Soulouque</i> spielte noch nicht den Toussaint-Louverture.</p>
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<p>Sofort wurde die Partei des "National" ausgehoben aus allen höheren Posten, worin sie
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sich eingenistet. Polizeipräfektur, Postdirektion, Generalprokuratur, Mairie von Paris,
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alles wurde mit alten Kreaturen der Monarchie besetzt. Changarnier, der Legitimist, erhielt das
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vereinigte Oberkommando der Nationalgarde des Seine-Depatements, der Mobilgarde und der
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Linientruppen der ersten Militärdivision; Bugeaud, der Orleanist, wurde zum Oberbefehlshaber
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der Alpenarmee ernannt. Dieser Beamtenwechsel dauerte ununterbrochen fort unter der Regierung
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Barrot. Der erste Akt seines Ministeriums war die Restauration der alten royalistischen
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Administration. In einem Nu verwandelte sich die offizielle Szene - Kulissen, Kostüme,
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Sprache, Schauspieler, Figuranten, Statisten, Souffleure, Stellung der Parteien, Motive des
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Dramas, Inhalt der Kollision, die gesamte Situation. Nur die vorweltliche konstituierende
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Versammlung befand sich noch auf ihrem Platz. Aber von der Stunde, wo die Nationalversammlung den
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Bonaparte, wo Bonaparte den Barrot, wo Barrot den Changarnier installiert hatte, trat Frankreich
|
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aus der Periode der republikanischen Konstituierung in die Perioden der konstituierten Republik.
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Und in der konstituierten Republik, was sollte eine konstituierende Versammlung? Nachdem die Erde
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geschaffen war, blieb ihrem Schöpfer nichts übrig, als in den Himmel zu flüchten.
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Die konstituierende Versammlung war <a name="S48"><b><48></b></a> entschlossen, nicht
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seinem Beispiele zu folgen, die Nationalversammlung war das letzte Asyl der Partei der
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Bourgeoisrepublikaner. Wenn ihr alle Handhaben der exekutiven Gewalt entrissen waren, blieb ihr
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nicht die konstituierende Allmacht? Den souveränen Posten, den sie innehatte, unter allen
|
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Umständen behaupten und von hier aus das verlorene Terrain wiedererobern, es war ihr erster
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Gedanke. Das Ministerium Barrot durch ein Ministerium des "National" verdrängt, und das
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royalistische Personal mußte sofort die Paläste der Administration räumen, und
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das trikolore Personal zog triumphierend wieder ein. Die Nationalversammlung beschloß den
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Sturz des Ministeriums, und das Ministerium selbst bot eine Gelegenheit des Angriffs, wie die
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Konstituante sie nicht passender erfinden konnte.</p>
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<p>Man erinnert sich, daß Louis Bonaparte für die Bauern bedeutete: Keine Steuern
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mehr! Sechs Tage saß er auf dem Präsidentenstuhl, und am siebenten Tage, am 27.
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Dezember, schlug sein Ministerium die <i>Beibehaltung der Salzsteuer</i> vor, deren Abschaffung
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die provisorische Regierung dekretiert hatte. Die Salzsteuer teilt mit der Weinsteuer das
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Privilegium, der Sündenbock des alten französischen Finanzsystems zu sein, besonders in
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den Augen des Landvolkes. Dem Auserwählten der Bauern konnte das Ministerium Barrot kein
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beißenderes Epigramm auf seine Wähler in den Mund legen als die Worte:
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<i>Wiederherstellung der Salzsteuer!</i> Mit der Salzsteuer verlor Bonaparte sein
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revolutionäres Salz - der Napoleon der Bauerninsurrektion zerrann wie ein Nebelbild, und es
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blieb nichts zurück als der große Unbekannte der royalistischen Bourgeoisintrige. Und
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nicht ohne Absicht machte das Ministerium Barrot diesen Akt taktlos grober Enttäuschung zum
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ersten Regierungsakt des Präsidenten.</p>
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<p>Die Konstituante ihrerseits ergriff begierig die doppelte Gelegenheit, das Ministerium zu
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stürzen und dem Erwählten der Bauern gegenüber sich als Vertreterin des
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Bauerninteresses aufzuwerfen. Sie verwarf den Vorschlag des Finanzministers, reduzierte die
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Salzsteuer auf ein Drittel ihres früheren Betrages, vermehrte so um 60 Millionen ein
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Staatsdefizit von 560 Millionen und erwartete nach diesem <i>Mißtrauensvotum</i> ruhig den
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|
Abtritt des Ministeriums. So wenig begriff sie die neue Welt, von der sie umgeben war, und die
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eigene veränderte Stellung. Hinter dem Ministerium stand der Präsident, und hinter dem
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Präsidenten standen 6 Millionen, die ebenso viele Mißtrauensvota gegen die
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Konstituante in die Wahlurne niedergelegt hatten. Die Konstituante gab der Nation ihr
|
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Mißtrauensvotum zurück. Lächerlicher Austausch! Sie vergaß, daß ihre
|
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Vota den Zwangskurs verloren hatten. Die Verwerfung der Salzsteuer reifte nur den Entschluß
|
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Bonapartes und seines Ministeriums, mit der konstituierende Versammlung <i>"zu enden"</i>. Jenes
|
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lange Duell begann, das die <a name="S49"><b><49></b></a> ganze letzte Lebenshälfte
|
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der Konstituante ausfüllt. Der <i>29. Januar</i>, der 21. März, der 8. Mai sind die
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journées, die großen Tage dieser Krise, ebenso viele Vorläufer des <i>13.
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|
Juni</i>.</p>
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<p>Die Franzosen, z.B. Louis Blanc, haben den 29. Januar als das Heraustreten eines
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konstitutionellen Widerspruchs aufgefaßt, des Widerspruchs zwischen einer souveränen,
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unauflösbaren, aus dem allgemeinen Stimmrecht hervorgegangenen Nationalversammlung und einem
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Präsidenten, dem Wortlaut nach ihr verantwortlich, der Wirklichkeit nach nicht nur ebenfalls
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sanktioniert durch das allgemeine Stimmrecht und zudem in seiner Person alle Stimmen vereinigend,
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die sich auf die einzelnen Mitglieder der Versammlung verteilen und hundertfach zersplittern,
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sondern auch im Vollbesitz der ganzen exekutiven Gewalt, über welcher die
|
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Nationalversammlung nur als moralische Macht schwebt. Diese Auslegung des 29. Januar verwechselt
|
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die Sprache des Kampfes auf der Tribüne, durch die Presse, in den Klubs mit seinem
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wirklichen Inhalt. Louis Bonaparte gegenüber der konstituierenden Nationalversammlung, das
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war nicht die vollziehende Gewalt gegenüber der gesetzgebenden, das war die konstituierte
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Bourgeoisrepublik selbst gegenüber den Werkzeugen ihrer Konstituierung, gegenüber den
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ehrsüchtigen Intrigen und den ideologischen Forderungen der revolutionären
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Bourgeoisfraktion, welche sie begründet hatte und nun verwundert fand, daß ihre
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konstituierte Republik wie eine restaurierte Monarchie aussah, und nun gewaltsam die
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konstituierende Periode mit ihren Bedingungen, ihren Illusionen, ihrer Sprache und ihren Personen
|
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festhalten und die reife Bourgeoisrepublik verhindern wollte, in ihrer vollständigen und
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eigentümlichen Gestalt herauszutreten. Wie die konstituierende Nationalversammlung den in
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sie zurückgefallenen Cavaignac vertrat, so Bonaparte die noch nicht von ihm losgeschiedene
|
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gesetzgebende Nationalversammlung, d.h. die Nationalversammlung der konstituierten
|
|
Bourgeoisrepublik.</p>
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<p>Die Wahl Bonapartes konnte sich erst auslegen, indem sie an die Stelle des <i>einen</i> Namens
|
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seine vielsinnigen Bedeutungen setzte, indem sie sich wiederholte in der Wahl der neuen
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Nationalversammlung. Das Mandat der alten hatte der 10. Dezember kassiert. Was sich also am 29.
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Januar gegenübertrat, das waren nicht der Präsident und die Nationalversammlung
|
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<i>derselben</i> Republik, das war die Nationalversammlung der werdenden Republik und der
|
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Präsident der gewordenen Republik, zwei Mächte, die ganz verschiedene Perioden des
|
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Lebensprozesses der Republik verkörperten, das war die kleine republikanische Fraktion der
|
|
Bourgeoisie, welche allein die Republik proklamieren, sie dem revolutionären Proletariat
|
|
durch den Straßenkampf und durch die <a name="S50"><b><50></b></a>
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|
Schreckensherrschaft abringen und in der Konstitution ihre idealen Grundzüge entwerfen
|
|
konnte, und andererseits die ganze royalistische Masse der Bourgeoisie, welche allein in dieser
|
|
konstituierten Bourgeoisrepublik herrschen, der Konstitution ihre ideologischen Zutaten
|
|
abstreifen und die unumgänglichen Bedingungen zur Unterjochung des Proletariats durch ihre
|
|
Gesetzgebung und durch ihre Administration verwirklichen konnte.</p>
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|
|
|
<p>Das Ungewitter, das sich am 29. Januar entlud, sammelte seine Elemente während des ganzen
|
|
Monats Januar. Die Konstituante wollte durch ihr Mißtrauensvotum das Ministerium Barrot zur
|
|
Abdankung treiben. Das Ministerium Barrot schlug dagegen der Konstituante vor, sich selbst ein
|
|
definitives Mißtrauensvotum zu geben, ihren Selbstmord zu beschließen, ihre <i>eigene
|
|
Auflösung</i> zu dekretieren. Rateau, einer der obskursten Deputierten, stellte der
|
|
Konstituante, auf Befehl des Ministeriums, am 6. Januar diesen Antrag, derselben Konstituante,
|
|
die schon im August beschlossen hatte, sich nicht aufzulösen, bis sie eine ganze Reihe
|
|
organischer, die Konstitution ergänzender Gesetze erlassen hätte. Der ministerielle
|
|
Fould erklärte ihr geradezu, ihre Auflösung sei nötig <i>"zur Wiederherstellung
|
|
des gestörten Kredits"</i>. Und störte sie nicht den Kredit, indem sie das Provisorium
|
|
verlängerte und mit Barrot den Bonaparte und mit Bonaparte die konstituierte Republik wieder
|
|
in Frage stellte? Barrot, der Olympische, zum rasenden Roland geworden durch die Aussicht, die
|
|
endlich erhaschte Ministerpräsidentschaft, die ihm die Republikaner schon einmal um ein
|
|
Dezennium, d.h. um zehn Monate vertagt hatten, nach kaum zweiwöchentlichem Genusse sich
|
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wieder entrissen zu sehen, Barrot übertyrranisierte dieser elenden Versammlung
|
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gegenüber den Tyrannen. Das mildeste seiner Worte war, "mit ihr sein keine Zukunft
|
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möglich". Und wirklich, sie vertrat nur noch die Vergangenheit. "Sie sei unfähig",
|
|
fügte er ironisch hinzu, "die Republik mit den Institutionen zu umgeben, die zu ihrer
|
|
Befestigung nötig seien." Und in der Tat! Mit dem ausschließlichen Gegensatz gegen das
|
|
Proletariat war gleichzeitig ihre Bourgeoisenergie gebrochen, und mit dem Gegensatz gegen die
|
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Royalisten ihre republikanische Überschwenglichkeit neu aufgelebt. So war sie doppelt
|
|
unfähig, die Bourgeoisrepublik, die sie nicht mehr begriff, durch die entsprechenden
|
|
Institutionen zu befestigen.</p>
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|
<p>Mit dem Vorschlag Rateaus beschwor das Ministerium gleichzeitig einen <i>Petitonssturm</i> im
|
|
ganzen Lande herauf, und täglich flogen aus allen Winkeln Frankreichs der Konstituante
|
|
Ballen von billets-doux <Liebesbriefen> an den Kopf, worin sie mehr oder minder kategorisch
|
|
ersucht wurde, sich <i>aufzulösen</i> und ihr Testa- <a name="S51"><b><51></b></a>
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|
ment zu machen. Die Konstituante ihrerseits rief Gegenpetitionen hervor, worin sie sich
|
|
auffordern ließ, am Leben zu bleiben. Der Wahlkampf zwischen Bonaparte und Cavaignac
|
|
erneuerte sich als Petitionskampf für und gegen die Auflösung der Nationalversammlung.
|
|
Die Petitionen sollten die nachträglichen Kommentare des 10. Dezember sein. Während des
|
|
ganzen Januar dauerte diese Agitation fort.</p>
|
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<p>In dem Konflikt zwischen der Konstituante und dem Präsidenten konnte sie nicht auf die
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allgemeine Wahl als ihren Ursprung zurückgehen, denn man appellierte von ihr an das
|
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allgemeine Stimmrecht. Sie konnte sich auf keine regelmäßige Gewalt stützen, denn
|
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es handelte sich um den Kampf gegen die legale Gewalt. Sie konnte das Ministerium nicht durch
|
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Mißtrauensvota stürzen, wie sie es noch einmal am 6. Januar und am 26. Januar
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versuchte, denn das Ministerium verlangte ihr Vertrauen nicht. Es blieb nur eine
|
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Möglichkeit, die der <i>Insurrektion</i>. Die Streitkräfte der Insurrektion waren der
|
|
<i>republikanische Teil der Nationalgarde</i>, die <i>Mobilgarde</i> und die Zentren des
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revolutionären Proletariats, die <i>Klubs</i>. Die Mobilgarden, diese Helden der Junitage,
|
|
bildeten ebenso im Dezember die organisierte Streitkraft der republikanischen
|
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<i>Bourgeoisfraktion</i>, wie vor dem Juni die <i>Nationalateliers</i> die organisierte
|
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Streitkraft des revolutionären Proletariats gebildet hatten. Wie die exekutive Kommission
|
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der Konstituante ihren brutalen Angriff auf die Nationalateliers richtete, als sie mit den
|
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unerträglich gewordenen Ansprüchen des Proletariats enden mußte, so das
|
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Ministerium Bonapartes auf die Mobilgarde, als es mit den unerträglichen Ansprüchen der
|
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revolutionären Bourgeoisfraktion enden mußte. Es verordnete die <i>Auflösung der
|
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Mobilgarde</i>. Die eine Hälfte derselben wurde entlassen und auf das Pflaster geworfen, die
|
|
andere erhielt an der Stelle der demokratischen Organisation eine monarchische, und ihr Sold
|
|
wurde auf den gewöhnlichen Sold der Linientruppen herabgesetzt. Die Mobilgarde fand sich in
|
|
der Lage der Juniinsurgenten, und täglich brachte die Zeitungspresse <i>öffentliche
|
|
Beichten</i>, worin sie ihre Schuld vom Juni bekannte und das Proletariat um Verzeihung
|
|
anflehte.</p>
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|
<p>Und die <i>Klubs</i>? Von dem Augenblick, wo die konstituierende Versammlung in Barrot den
|
|
Präsidenten und in dem Präsidenten die konstituierte Bourgeoisrepublik und in der
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konstituierten Bourgeoisrepublik die Bourgeoisrepublik überhaupt in Frage stellte, reihten
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sich notwendig alle konstituierenden Elemente der Februarrepublik um sie zusammen, alle Parteien,
|
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welche die vorhandene Republik umstürzen und sie durch einen gewaltsamen
|
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Rückbildungsprozeß als die Republik ihrer Klasseninteressen und Prinzipien umgestalten
|
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wollten. Das Geschehene war wieder ungeschehen, die Kristallisationen der revolutionären
|
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Bewegung waren wieder flüssig geworden, die <a name="S52"><b><52></b></a> Republik, um
|
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die gekämpft wurde, war wieder die unbestimmte Republik der Februartage, deren Bestimmung
|
|
sich jede Partei vorbehielt. Die Parteien nahmen einen Augenblick wieder ihre alten
|
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Februarstellungen ein, ohne die Illusionen des Februar zu teilen. Die trikoloren Republikaner des
|
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"National" lehnten sich wieder auf die demokratischen Republikaner der "Réforme" und
|
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drängten sie als Vorkämpfer in den Vordergrund des parlamentarischen Kampfes. Die
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demokratischen Republikaner lehnten sich wieder auf die sozialistischen Republikaner - am 27.
|
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Januar verkündete ein öffentliches Manifest ihre Aussöhnung und Vereinigung - und
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bereiteten sich in den Klubs ihren insurrektionellen Hintergrund. Die ministerielle Presse
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behandelte mit Recht die trikoloren Republikaner des "National" als die wiedererstandenen
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Insurgenten des Juni. Um sich an der Spitze der Bourgeoisrepublik zu behaupten, stellten sie die
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Bourgeoisrepublik selbst in Frage. Am 26. Januar schlug der Minister Faucher ein Gesetz über
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das Assoziationsrecht vor, dessen erster Paragraph lautete: <i>"Die Klubs sind untersagt."</i> Er
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stellte den Antrag, diesen Gesetzentwurf sofort als dringlich zur Diskussion zu bringen. Die
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Konstituante verwarf den Dringlichkeitsantrag, und am 27. Januar deponierte Ledru-Rollin einen
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Antrag auf Versetzung des Ministeriums in Anklagezustand wegen Verletzung der Konstitution,
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unterzeichnet von 230 Unterschriften. Die Versetzung des Ministeriums in Anklagezustand im
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Augenblicke, wo ein solcher Akt die taktlose Enthüllung der Ohnmacht des Richters,
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nämlich der Kammermajorität, war, oder ein ohnmächtiger Protest des Anklägers
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gegen diese Majorität selbst, das war der große revolutionäre Trumpf, den die
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nachgeborene Montagne von nun an auf jedem Höhepunkt der Krise ausspielte. Arme Montagne,
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von der Wucht ihres eigenen Namens erdrückt!</p>
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<p>Blanqui, Barbès, Raspail usw. hatten am 15. Mai die konstituierende Versammlung zu
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sprengen versucht, indem sie an der Spitze des Pariser Proletariats in ihren Sitzungssaal
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eindrangen. Barrot bereitete derselben Versammlung einen moralischen 15. Mai vor, indem er ihre
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Selbstauflösung diktieren und ihren Sitzungssaal schließen wollte. Dieselbe
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Versammlung hatte Barrot mit der Enquête gegen die Maiangeklagten beauftragt und jetzt, in
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diesem Augenblicke, wo er ihr gegenüber als der royalistische Blanqui erschien, wo sie ihm
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gegenüber in den Klubs, bei den revolutionären Proletariern, in der Partei Blanquis
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ihre Alliierten suchte, in diesem Augenblick folterte der unerbittliche Barrot sie mit dem
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Antrag, die Maigefangenen dem Geschworenengericht zu entziehen und dem von der Partei des
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"National" erfundenen Hochgericht, der haute cour zu überweisen. Merkwürdig, wie die
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aufgehetzte Angst um ein Ministerportefeuille aus dem Kopfe eines Barrot Pointen, würdig
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eines Beaumarchais, herausschlagen konnte! Die Nationalversammlung nach langem <a name=
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"S53"><b><53></b></a> Schwanken nahm seinen Antrag an. Den Maiattentäter
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gegenüber trat sie in ihren normalen Charakter zurück.</p>
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<p>Wenn die Konstituante dem Präsidenten und den Ministern gegenüber zur
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<i>Insurrektion</i>, so wurde der Präsident und das Ministerium der Konstituante
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gegenüber zum Staatsstreich gedrängt, denn sie besaßen kein gesetzliches Mittel,
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sie aufzulösen. Aber die Konstituante war die Mutter der Konstitution, und die Konstitution
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war die Mutter des Präsidenten. Mit dem Staatsstreich zerriß der Präsident die
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Konstitution und löschte seinen republikanischen Rechtstitel aus. Er war dann gezwungen, den
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imperialistischen Rechtstitel hervorzuziehen; aber der imperialistische rief den orleanistischen
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wach, und beide erbleichten vor dem legitimistischen Rechtstitel. Der Niederfall der legalen
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Republik konnte nur ihren äußersten Gegenpol in die Höhe schnellen, die
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legitimistische Monarchie, in dem Augenblick, wo die orleanistische Partei nur noch die Besiegte
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des Februar und Bonaparte nur noch der Sieger des 10. Dezember war, wo beide der republikanischen
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Usurpation nur noch ihre ebenfalls usurpierten monarchischen Titel entgegenhalten konnten. Die
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Legitimisten waren sich der Gunst des Augenblicks bewußt, sie konspirierten am offenen
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Tage. In dem General Changarnier konnten sie hoffen ihren <i>Monk</i> zu finden. Die Herankunft
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der <i>weißen Monarchie</i> wurde ebenso offen verkündet in ihren Klubs, wie in den
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proletarischen die der <i>roten Republik</i>.</p>
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<p>Durch eine glücklich unterdrückte Emeute wäre das Ministerium allen
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Schwierigkeiten entgangen. "Die Gesetzlichkeit tötet uns", rief Odilon Barrot aus. Eine
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Emeute hätte erlaubt, unter dem Vorwand des salut public <Staatswohls> die
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Konstituante aufzulösen, die Konstitution im Interesse der Konstitution selbst zu verletzen.
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Das brutale Auftreten Odilon Barrots in der Nationalversammlung, der Antrag auf Auflösung
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der Klubs, die geräuschvolle Absetzung von 50 trikoloren Präfekten und ihre Ersetzung
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durch Royalisten, die Mißhandlung ihrer Chefs durch Changarnier, die Wiedereinsetzung
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Lerminiers, des schon unter Guizot unmöglichen Professors, die Duldung der legitimistischen
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Renommistereien - es waren ebenso viele Herausforderungen der Emeute. Aber die Emeute blieb
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stumm. Sie erwartete ihr Signal von der Konstituante und nicht vom Ministerium.</p>
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<p>Endlich kam der 29. Januar, der Tag, an dem über Mathieus (de la Drôme) Antrag auf
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unbedingte Verwerfung des Rateauschen Antrag entschieden werden sollte. Legitimisten,
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Orleanisten, Bonapartisten, Mobilgarde, Montagne, Klubs, alles konspirierte an diesem Tage, jeder
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ebensosehr gegen den <a name="S54"><b><54></b></a> angeblichen Feind als gegen den
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angeblichen Bundesgenossen. Bonaparte, hoch zu Roß, musterte einen Teil der Truppen auf dem
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Konkordiaplatz, Changarnier schauspielerte mit einem Aufwand strategischer Manöver, die
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Konstituante fand ihr Sitzungsgebäude militärisch besetzt. Sie, der Mittelpunkt aller
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sich durchkreuzenden Hoffnungen, Befürchtungen, Erwartungen, Gärungen, Spannungen,
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Verschwörungen, die löwenmütige Versammlung schwankte keinen Augenblick, als sie
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dem Weltgeist näher trat denn sonst. Sie glich jenem Kämpfer, der nicht nur den
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Gebrauch seiner eigenen Waffe fürchtete, sondern sich auch verpflichtet fühlte, die
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Waffen seines Gegners unversehrt zu erhalten. Mit Todesverachtung unterzeichnete sie ihr eigenes
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Todesurteil und verwarf die unbedingte Verwerfung des Rateauschen Antrages. Selbst im
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Belagerungszustand setzte sie einer konstituierenden Tätigkeit Grenzen, deren notwendiger
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Rahmen der Belagerungszustand von Paris gewesen war. Sie rächte sich ihrer würdig,
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indem sie am anderen Tage eine Enquête über den Schrecken verhängte, den ihr das
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Ministerium am 29. Januar eingejagt hatte. Die Montagne bewies ihren Mangel an
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revolutionärer Energie und politischem Verstand, indem sie von der Partei des "National"
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sich als Rufer im Streit in dieser großen Intrigenkomödie verbrauchen ließ. Die
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Partei des "National" hatte den letzten Versuch gemacht, das Monopol der Herrschaft, das sie
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während der Entstehungsperiode der Bourgeoisrepublik besaß, in der konstituierten
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Republik weiter zu behaupten. Sie war gescheitert.</p>
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<p>Handelte es sich in der Januarkrise um die Existenz der Konstituante, so in der Krise vom 21.
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März um die Existenz der Konstitution, dort um das Personal der Nationalpartei, hier um ihr
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Ideal. Es bedarf keiner Andeutung, daß die honetten Republikaner das Hochgefühl ihrer
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Ideologie wohlfeiler preisgaben als den weltlichen Genuß der Regierungsgewalt.</p>
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<p>Am 21. März stand auf der Tagesordnung der Nationalversammlung Fauchers Gesetzentwurf
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gegen das Assoziationsrecht: <i>Die Unterdrückung der Klubs</i>. Artikel 8 der Konstitution
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garantiert allen Franzosen das Recht, sich zu assoziieren. Die Untersagung der Klubs war also
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eine unzweideutige Verletzung der Konstitution, und die Konstituante selbst sollte die
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Schändung ihrer Heiligen kanonisieren. Aber die Klubs, das waren die Sammelpunkte, die
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Konspirationssitze des revolutionären Proletariats. Die Nationalversammlung selbst hatte die
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Koalition der Arbeiter gegen ihre Bourgeois untersagt. Und die Klubs, was waren sie anderes als
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eine Koalition der gesamten Arbeiterklasse gegen die gesamte Bourgeoisklasse, die Bildung eines
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Arbeiterstaats gegen den Bourgeoisstaat? Waren es nicht ebenso viele konstituierende
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Versammlungen des Proletariats und ebenso viele schlagfertige Armeeabteilungen der Revolte? Was
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die Konstitution vor allem konstituieren sollte, es war die <a name="S55"><b><55></b></a>
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Herrschaft der Bourgeoisie. Die Konstitution konnte also offenbar unter dem Assoziationsrecht nur
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die mit der Herrschaft der Bourgeoisie, d.h. mit der bürgerlichen Ordnung in Einklang
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befindlichen Assoziationen verstehen. Wenn sie sich aus theoretischem Anstand allgemein
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ausdrückte, war nicht die Regierung da und die Nationalversammlung, um sie im besonderen
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Fall auszulegen und anzuwenden? Und wenn in der urweltlichen Epoche der Republik die Klubs
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tatsächlich untersagt waren durch den Belagerungszustand, mußten sie nicht in der
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geregelten, konstituierten Republik untersagt sein durch das Gesetz? Die trikoloren Republikaner
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hatten dieser prosaischen Auslegung der Konstitution nichts entgegenzuhalten als die
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überschwengliche Phrase der Konstitution. Ein Teil derselben, Pagnerre, Duclerc etc. stimmte
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für das Ministerium und verschaffte ihm so die Majorität. Der andere Teil, den Erzengel
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Cavaignac und den Kirchenvater Marrast an der Spitze, zog sich, nachdem der Artikel über die
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Untersagung der Klubs durch durchgegangen war, mit Ledru-Rollin und der Montagne vereint, in
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einen besonderen Bürosaal zurück - "und hielten einen Rat". - Die Nationalversammlung
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war gelähmt, sie zählte nicht mehr die beschlußfähige Stimmzahl. Zur rechten
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Zeit erinnerte Herr Crémieux in dem Bürosaal, daß von hier der Weg direkt auf
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die Straße führe und daß man nicht mehr Februar 1848 zähle, sondern
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März 1849. Die Partei des "National", plötzlich erleuchtet, kehrte in den Sitzungssaal
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der Nationalversammlung zurück, hinter ihr die abermals düpierte Montagne, die,
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beständig gequält von revolutionären Gelüsten, ebenso beständig nach
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konstitutionellen Möglichkeiten haschte und sich immer noch mehr auf ihrem Platze
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fühlte hinter den Bourgeoisrepublikanern als vor dem revolutionären Proletariat. So war
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die Komödie gespielt. Und die Konstituante selbst hatte dekretiert, daß die Verletzung
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des Wortlauts der Konstitution die einzig entsprechende Verwirklichung ihres Wortsinns sei.</p>
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<p>Es blieb nur noch ein Punkt zu regeln, das Verhältnis der konstituierten Republik zur
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europäischen Revolution, ihre <i>auswärtige Politik</i>. Am 8. Mai 1849 herrschte eine
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ungewohnte Aufregung in der konstituierenden Versammlung, deren Lebenstermin in wenigen Tagen
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ablaufen sollte. Der Angriff der französischen Armee auf Rom, ihre Zurücktreibung durch
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die Römer, ihre politische Infamie und ihre militärische Blamage, der Meuchelmord der
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römischen Republik durch die französische Republik, der erste italienische Feldzug des
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zweiten Bonaparte stand auf der Tagesordnung. Die Montagne hatte abermals ihren großen
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Trumpf ausgespielt, Ledru-Rollin hatte den unvermeidlichen Anklageakt gegen das Ministerium und
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diesmal auch gegen Bonaparte wegen der Verletzung der Konstitution auf den Tisch des
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Präsidenten niedergelegt.</p>
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<p><b><a name="S56"><56></a></b> Das Motiv des 8. Mai wiederholte sich später als
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Motiv des 13. Juni. Verständigen wir uns über die römische Expedition.</p>
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<p>Cavaignac hatte schon Mitte November 1848 eine Kriegsflotte nach Civitavecchia expediert, um
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den Papst zu beschützen, an Bord zu nehmen und nach Frankreich überzusegeln. Der Papst
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sollte die honette Republik einsegnen und die Wahl Cavaignacs zum Präsidenten sichern. Mit
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dem Papst wollte Cavaignac die Pfaffen, mit den Pfaffen die Bauern und mit den Bauern die
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Präsidentschaft angeln. Eine Wahlreklame ihrem nächsten Zwecke nach, war die Expedition
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Cavaignacs gleichzeitig ein Protest und eine Drohung gegen die römische Revolution. Sie
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enthielt im Keim die Intervention Frankreichs zugunsten des Papstes.</p>
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<p>Diese Intervention für den Papst mit Österreich und Neapel gegen sie römische
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Republik wurde beschlossen in der ersten Sitzung des Ministerrats Bonapartes am 23. Dezember.
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Falloux im Ministerium, das war der Papst in Rom und im Rom - des Papstes. Bonaparte brauchte den
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Papst nicht mehr, um der Präsident der Bauern zu werden, aber er brauchte die Konservation
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des Papstes, um die Bauern des Präsidenten zu konservieren. Ihre Leichtgläubigkeit
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hatte ihn zum Präsidenten gemacht. Mit dem Glauben verloren sie die Leichtgläubigkeit
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und mit dem Papste den Glauben. Und die koalisierten Orleanisten und Legitimisten, die in
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Bonapartes Namen herrschten! Ehe der König restauriert wurde, mußte die Macht
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restauriert werden, welche die Könige heiligt. Abgesehen von ihrem Royalismus: ohne das
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alte, seiner weltlichen Herrschaft unterworfene Rom kein Papst, ohne den Papst kein
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Katholizismus, ohne den Katholizismus keine französische Religion, und ohne Religion, was
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wurde aus der alten französischen Gesellschaft? Die Hypotheke, welche der Bauer auf die
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himmlischen Güter besitzt, garantiert die Hypotheke, welche die Bourgeoisie auf die
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Bauerngüter besitzt. Die römische Revolution war also ein Attentat auf das Eigentum,
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auf die bürgerliche Ordnung, furchtbar wie die Julirevolution. Die wiederhergestellte
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Bourgeoisherrschaft in Frankreich erheischte die Restauration der päpstlichen Herrschaft in
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Rom. Endlich schlug man mit den römischen Revolutionären die Alliierten der
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französischen Revolutionäre; die Allianz der kontrerevolutionären Klassen in der
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konstituierten französischen Republik ergänzte sich notwendig in der Allianz der
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französischen Republik mit der heiligen Allianz, mit Neapel und Österreich. Der
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Ministerratsbeschluß vom 23. Dezember war kein Geheimnis für die Konstituante. Schon
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am 8. Januar hatte Ledru-Rollin das Ministerium über denselben interpelliert, das
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Ministerium hatte geleugnet, die Nationalversammlung war zur Tagesordnung übergegangen.
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Traute sie den Worten des Ministeriums? Wir wissen, daß sie den ganzen Monat Januar damit
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zu- <a name="S57"><b><57></b></a> brachte, ihm Mißtrauensvota zu geben. Aber wenn es
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in seiner Rolle war zu lügen, war es in ihrer Rolle, den Glauben an die Lüge zu
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heucheln und damit die republikanischen dehors <den republikanischen Schein> zu retten.</p>
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<p>Unterdessen war Piemont geschlagen, Karl Albert hatte abgedankt, die österreichische
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Armee pochte an die Tore Frankreichs. Ledru-Rollin interpellierte heftig. Das Ministerium bewies,
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daß es in Norditalien nur die Politik Cavaignacs und Cavaignac nur die Politik der
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provisorischen Regierung, d.h. Ledru-Rollins fortgesetzt habe. Diesmal erntete es von der
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Nationalversammlung sogar ein Vertrauensvotum und wurde autorisiert, einen gelegenen Punkt
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Oberitaliens temporär zu besetzen, um so der friedlichen Unterhandlung mit Österreich
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über die Integrität des sardinischen Gebiets und die römische Frage einen
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Hinterhalt zu geben. Bekanntlich wird das Schicksal Italiens auf den Schlachtfeldern Norditaliens
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entschieden. Mit der Lombardei und Piemont war daher Rom gefallen oder Frankreich mußte den
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Krieg an Österreich und damit an die europäische Kontrerevolution erklären. Hielt
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die Nationalversammlung plötzlich das Ministerium Barrot für den alten
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Wohlfahrtsausschuß? Oder sich selbst für den Konvent? Wozu also die militärische
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Besetzung eines Punktes in Oberitalien? Man versteckte unter diesem durchsichtigen Schleier die
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Expedition gegen Rom.</p>
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<p>Am 14. April segelten 14.000 Mann unter Oudinot nach Civitavecchia, am 16. April bewilligte
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die Nationalversammlung dem Ministerium einen Kredit von 1.200.000 frs. zur dreimonatigen
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Unterhaltung einer Interventionsflotte im Mittelmeer. So gab sie dem Ministerium alle Mittel,
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gegen Rom zu intervenieren. Sie sah nicht, was das Ministerium tat, sie hörte nur, was es
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sagte. Solcher Glaube ward nicht in Israel gefunden, die Konstituante war in die Lage geraten,
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nicht wissen zu dürfen, was die konstituierte Republik tun mußte.</p>
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<p>Endlich am 8. Mai wurde die letzte Szene der Komödie gespielt, die Konstituante forderte
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das Ministerium zu schleunigsten Maßregeln auf, um die italienische Expedition auf das ihr
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gesteckte Ziel zurückzuführen. Bonaparte inserierte denselben Abend einen Brief in den
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"Moniteur", worin er Oudinot die größte Anerkennung spendete. Am 11. Mai verwarf die
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Nationalversammlung den Anklageakt gegen denselben Bonaparte und sein Ministerium. Und die
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Montagne, die, statt diese Gewebe des Betrugs zu zerreißen, die parlamentarische
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Komödie tragisch nimmt, verriet sie nicht unter der erborgten Konvents-Löwenhaut das
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angeborene kleinbürgerliche Kalbsfell!</p>
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<p><b><a name="S58"><58></a></b> Die letzte Lebenshälfte der Konstituante
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resümiert sich dahin: Sie gesteht am 29. Januar, daß die royalistischen
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Bourgeoisfraktionen die natürlichen Vorgesetzten der von ihr konstituierten Republik sind,
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am 21. März, daß die Verletzung der Konstitution ihre Verwirklichung ist, und am 11.
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Mai, daß die bombastisch angekündigte passive Allianz der französischen Republik
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mit den ringenden Völkern ihre aktive Allianz mit der europäischen Kontrerevolution
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bedeutet.</p>
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<p>Diese elende Versammlung trat von der Bühne ab, nachdem sie noch zwei Tage vor der
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Jahresfeier ihres Geburtstages, des 4. Mai, sich die Genugtuung gegeben hatte, den Antrag auf
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Amnestie der Juniinsurgenten zu verwerfen. Ihre Macht zerbrochen, von dem Volke tödlich
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gehaßt, zurückgestoßen, mißhandelt, verächtlich beiseite geworfen von
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der Bourgeoisie, deren Werkzeug sie war, gezwungen, in der zweiten Hälfte ihrer Lebensepoche
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die erste zu desavouieren, ihrer republikanischen Illusionen beraubt, ohne große
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Schöpfungen in der Vergangenheit, ohne Hoffnung in der Zukunft, bei lebendigem Leibe
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stückweise absterbend, wußte sie ihre eigne Leiche nur noch zu galvanisieren, indem
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sie den Junisieg sich beständig zurückrief und nachträglich wieder durchlebte,
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sich bestätigte durch die stets wiederholte Verdammung der Verdammten. Vampir, der von dem
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Blut der Juniinsurgenten lebte!</p>
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<p>Sie hinterließ das Staatsdefizit, vergrößert durch die Kosten der
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Juniinsurrektion, durch den Ausfall der Salzsteuer, durch die Entschädigungen, die sie den
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Plantagenbesitzern für die Aufhebung der Negersklaverei zuwies, durch die Kosten der
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römischen Expedition, durch den Ausfall der Weinsteuer, deren Abschaffung sie, in den
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letzten Zügen liegend, noch beschloß, ein schadenfroher Greis, glücklich, seinem
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lachenden Erben eine kompromittierende Ehrenschuld aufzubürden.</p>
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<p>Seit Anfang März hatte die Wahlagitation für die <i>gesetzgebende
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Nationalversammlung</i> begonnen. Zwei Hauptgruppen traten sich gegenüber, die <i>Partei der
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Ordnung</i> und die <i>demokratisch-sozialistische</i> oder <i>rote Partei</i>, zwischen beiden
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standen die <i>Freunde der Konstitution</i>, unter welchem Namen die trikoloren Republikaner des
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"National" eine Partei vorzustellen suchten. Die <i>Partei der Ordnung</i> bildete sich
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unmittelbar nach den Junitagen; erst nachdem der 10. Dezember ihr erlaubt hatte, die Koterie des
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"National", der Bourgeoisrepublikaner, von sich abzustoßen, enthüllte sich das
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Geheimnis ihrer Existenz, die <i>Koalition der Orleanisten</i> und <i>Legitimisten</i> zu
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<i><u>einer</u> Partei</i>. Die Bourgeoisklasse zerfiel in zwei große Fraktionen, die
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abwechselnd, das <i>große Grundeigentum</i> unter der <i>restaurierten Monarchie</i>, die
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<i>Finanzaristokratie</i> und die <i>industrielle Bourgeoisie</i> unter der <i>Julimonarchie</i>,
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das Monopol der Herrschaft behauptet hatten. <i>Bourbon</i> war der königliche Name für
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den überwiegenden <a name="S59"><b><59></b></a> Einfluß der Interessen der einen
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Fraktion, <i>Orléans</i> der königliche Name für den überwiegenden
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Einfluß der Interessen der anderen Fraktion - das <i>namenlose Reich der Republik</i> war
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das einzige, worin beide Fraktionen in gleichmäßiger Herrschaft das gemeinsame
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Klasseninteresse behaupten konnten, ohne ihre wechselseitige Rivalität aufzugeben. Wenn die
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Bourgeoisrepublik nichts anderes sein konnte, als die vervollständigte und rein
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herausgetretene Herrschaft der gesamten Bourgeoisklasse, konnte sie etwas anderes sein als die
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Herrschaft der durch die Legitimisten ergänzten Orleanisten und der durch die Orleanisten
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ergänzten Legitimisten, die <i>Synthese der Restauration und der Julimonarchie</i>? Die
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Bourgeoisrepublikaner des "National" vertraten keine auf ökonomischen Grundlagen beruhende
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große Fraktion ihrer Klasse. Sie hatten nur die Bedeutung und den historischen Titel, unter
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der Monarchie den beiden Bourgeoisfraktionen gegenüber, die nur ihr <i>besonderes</i> Regime
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begriffen, das allgemeine Regime der Bourgeoisklasse geltend gemacht zu haben, das <i>namenlose
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Reich der Republik</i>, das sie sich idealisierten und mit antiken Arabesken ausschmückten,
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worin sie aber vor allem die Herrschaft ihrer Koterie begrüßten. Wenn die Partei des
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"National" an ihrem eigenen Verstande irre wurde, als sie auf dem Gipfel der von ihr
|
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begründeten Republik die koalisierten Royalisten erblickte, so täuschten diese selbst
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sich nicht minder über die Tatsache ihrer vereinigten Herrschaft. Sie begriffen nicht,
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daß, wenn jede ihrer Fraktionen, für sich getrennt betrachtet, royalistisch war, das
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Produkt ihrer chemischen Verbindung notwendig <i>republikanisch</i> sein mußte, daß
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die weiße und die blaue Monarchie sich neutralisieren mußten in der trikoloren
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Republik. Gezwungen durch den Gegensatz zu dem revolutionären Proletariat und den mehr und
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mehr um dasselbe als Zentrum sich hindrängenden Übergangsklassen, ihre vereinten Kraft
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aufzubieten und die Organisation dieser vereinten Kraft zu konservieren, mußte jede der
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Fraktionen der Ordnungspartei, den Restaurations- und Überhebungsgelüsten der andern
|
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gegenüber, die gemeinsame Herrschaft, d.h. die <i>republikanische Form</i> der
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Bourgeoisherrschaft geltend machen. So finden wir diese Royalisten im Anfang an eine unmittelbare
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Restauration glaubend, später die republikanische Form konservierend mit Wutschaum, mit
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tödlichen Invektiven gegen sie auf den Lippen, schließlich gestehen, daß sie
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sich nur in der Republik vertragen können und die Restauration aufs Unbestimmte vertagen.
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Der Genuß der vereinigten Herrschaft selbst stärkte jede der beiden Fraktionen und
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machte sie noch unfähiger und unwilliger, sich der anderen unterzuordnen, d.h. die Monarchie
|
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zu restaurieren.</p>
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<p>Die <i>Partei der Ordnung</i> proklamierte direkt in ihrem Wahlprogramm die Herrschaft der
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Bourgeoisklasse, d.h. die Aufrechterhaltung der Lebens- <a name="S60"><b><60></b></a>
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bedingungen ihrer Herrschaft, des <i>Eigentums</i>, der <i>Familie</i>, der <i>Religion</i>, der
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<i>Ordnung</i>! Sie stellte ihre Klassenherrschaft und die Bedingungen ihrer Klassenherrschaft
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natürlich als die Herrschaft der Zivilisation und als die notwendigen Bedingungen der
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materiellen Produktion wie der aus ihr hervorgehenden gesellschaftlichen
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Verkehrsverhältnisse dar. Die Partei der Ordnung gebot über ungeheure Geldmittel, sie
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organisierte die Sukkursalen in ganz Frankreich, sie hatte sämtliche Ideologen der alten
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Gesellschaft in ihrem Lohn, sie verfügte über den Einfluß der bestehenden
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Regierungsgewalt, sie besaß ein Heer unbezahlter Vasallen in der ganzen Masse der
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Kleinbürger und Bauern, die, der revolutionären Bewegung noch fernstehend, in den
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Großwürdenträgern des Eigentums die natürlichen Vertreter ihres kleinen
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Eigentums und seiner kleinen Vorurteile fanden; sie, die auf dem ganzen Lande in einer Unzahl
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kleiner Könige vertreten, konnte die Verwerfung ihrer Kandidaten als Insurrektion bestrafen,
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die rebellischen Arbeiter entlassen, die widerstrebenden Bauernknechte, Dienstboten, Kommis,
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Eisenbahnbeamten, Schreiber, sämtliche ihr bürgerlich untergeordneten Funktionäre.
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Sie konnte endlich stellenweise die Täuschung aufrechterhalten, daß die
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republikanische Konstituante den Bonaparte des 10. Dezember an der Offenbarung seiner wunderbaren
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Kräfte verhindert habe. Wir haben bei der Partei der Ordnung der Bonapartisten nicht
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gedacht. Sie waren keine ernsthafte Fraktion der Bourgeoisklasse, sondern eine Sammlung alter,
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abergläubischer Invaliden und junger, ungläubiger Glücksritter. - Die Partei der
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Ordnung siegte in den Wahlen, sie sandte die große Majorität in die gesetzgebende
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Versammlung.</p>
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<p>Der koalisierten kontrerevolutionären Bourgeoisklasse gegenüber mußten sich
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natürlich die schon revolutionierten Teile der kleinen Bourgeoisie und der Bauernklasse mit
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dem Großwürdenträger der revolutionären Interessen, dem revolutionären
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Proletariat, verbinden. Wir haben gesehen, wie die demokratischen Wortführer der
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Kleinbürgerschaft im Parlament, d.h. die Montagne, durch parlamentarische Niederlagen zu den
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sozialistischen Wortführern des Proletariats und wie die wirkliche Kleinbürgerschaft
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außerhalb des Parlaments durch die concordats à l'amiable, durch die brutale
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Geltendmachung der Bourgeoisinteressen, durch den Bankerott zu den wirklichen Proletariern
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gedrängt wurden. Am 27. Januar hatten Montagne und Sozialisten ihre Aussöhnung
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gefeiert, im großen Februarbankett 1849 wiederholten sie ihren Vereinigungsakt. Die soziale
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und die demokratische, die Partei der Arbeiter und die der Kleinbürger, vereinigten sich zur
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<i>sozialdemokratischen Partei</i>, d.h. zur <i>roten</i> Partei.</p>
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<p>Einen Augenblick durch die den Junitagen folgende Agonie gelähmt, hatte die
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französische Republik seit der Aufhebung des Belagerungszustandes, seit <a name=
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"S61"><b><61></b></a> dem 19. Oktober, eine fortlaufende Reihe fieberhafter Aufregungen
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erlebt. Erst der Kampf um die Präsidentschaft; dann der Kampf des Präsidenten mit der
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Konstituante; der Kampf um die Klubs; der Prozeß in Bourges, der gegenüber den kleinen
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Gestalten des Präsidenten, der koalisierten Royalisten, der honetten Republikaner, der
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demokratischen Montagne, der sozialistischen Doktrinäre des Proletariats seine wirklichen
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Revolutionäre als urweltliche Ungeheuer erscheinen ließ, wie sie nur eine
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Sündflut auf der Gesellschaftsoberfläche zurückläßt oder wie sie nur
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einer gesellschaftlichen Sündflut vorangehn können; die Wahlagitation; die Hinrichtung
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der Bréa-Mörder; die fortlaufenden Preßprozesse; die gewaltsamen polizeilichen
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Einmischungen der Regierung in die Banketts; die frechen royalistischen Provokationen; die
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Ausstellung der Bilder Louis Blancs und Caussidières an dem Pranger; der ununterbrochene
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Kampf zwischen der konstituierten Republik und der Konstituante, der jeden Augenblick die
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Revolution auf ihren Ausgangspunkt zurückdrängte, der jeden Augenblick den Sieger zum
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Besiegten, den Besiegten zum Sieger machte und im Nu die Stellung der Parteien und Klassen, ihre
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Scheidungen und Bindungen umschwenkte; der rasche Gang der europäischen Kontrerevolution,
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der glorreiche ungarische Kampf, die deutschen Schilderhebungen, die römische Expedition,
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die schmähliche Niederlage der französischen Armee vor Rom - in diesem Wirbel der
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Bewegung, in dieser Pein der geschichtlichen Unruhe, in dieser dramatischen Ebbe und Flut
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revolutionärer Leidenschaften, Hoffnungen, Enttäuschungen mußten die
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verschiedenen Klassen der französischen Gesellschaft ihre Entwicklungsepochen nach Wochen
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zählen, wie sie sie früher nach halben Jahrhunderten gezählt hatten. Ein
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bedeutender Teil der Bauern und der Provinzen war revolutioniert. Nicht nur waren sie über
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den Napoleon enttäuscht, die rote Partei bot ihnen an der Stelle des Namens den Inhalt, an
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der Stelle der illusorischen Steuerfreiheit die Rückzahlung der den Legitimisten gezahlten
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Milliarde, die Regelung der Hypothek und die Aufhebung des Wuchers.</p>
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<p>Die Armee selbst war von dem Revolutionsfieber angesteckt. Sie hatte in Bonaparte für den
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Sieg gestimmt, und er gab ihr die Niederlage. Sie hatte in ihm für den kleinen Korporal
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gestimmt, hinter dem der große revolutionäre Feldherr steckt, und er gab ihr die
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großen Generale wieder, hinter denen der gamaschengerechte Korporal sich birgt. Kein
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Zweifel, daß die rote Partei, d.h. die koalisierte demokratische Partei, wenn nicht den
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Sieg, doch große Triumphe feiern mußte, daß Paris, daß die Armee,
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daß ein großer Teil der Provinzen für sie stimmen würde.
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<i>Ledru-Rollin</i>, der Chef der Montagne, wurde von fünf Departements gewählt, kein
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Chef der Ordnungspartei trug einen solchen Sieg davon, kein Name der eigentlich proletarischen
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Partei. Diese Wahl ent- <a name="S62"><b><62></b></a> hüllt uns das Geheimnis der
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demokratisch-sozialistischen Partei. Wenn die Montagne, der parlamentarische Vorkämpfer der
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demokratischen Kleinbürgerschaft, einerseits gezwungen war, sich mit den sozialistischen
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Doktrinären des Proletariats zu vereinigen - das Proletariat, von der furchtbaren
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materiellen Niederlage des Juni gezwungen, sich durch intellektuelle Siege wieder aufzurichten,
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durch die Entwicklung der übrigen Klassen noch nicht befähigt, die revolutionäre
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Diktatur zu ergreifen, mußte sich den Doktrinären seiner Emanzipation, den
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sozialistischen Sektenstiftern in die Arme werfen -, stellten sich andererseits die
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revolutionären Bauern, die Armee, die Provinzen hinter die Montagne, die so zum Gebieter im
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revolutionären Heerlager wurde und durch die Verständigung mit den Sozialisten jeden
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Gegensatz in der revolutionären Partei beseitigt hatte. In der letzten Lebenshälfte der
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Konstituante vertrat sie das republikanische Pathos derselben und hatte ihre Sünden
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während der provisorischen Regierung, wahrend der Exekutivkommission, während der
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Junitage in Vergessenheit gebracht. In demselben Maße, als die Partei des "National" ihrer
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halben Natur gemäß sich von dem royalistischen Ministerium niederdrücken
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ließ, stieg die während der Allgewalt des "National" beseitigte Partei des Berges und
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machte sich als die parlamentarische Vertreterin der Revolution geltend. In der Tat, die Partei
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des "National" hatte gegen die anderen, royalistischen Fraktionen nichts einzuwenden als
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ehrsüchtige Persönlichkeiten und idealistische Flausen. Die Partei des Berges dagegen
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vertrat eine zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat schwebende Masse, deren materielle
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Interessen demokratische Institutionen verlangten. Den Cavaignacs und Marrasts gegenüber
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befanden sich Ledru-Rollin und die Montagne daher in der Wahrheit der Revolution, und aus dem
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Bewußtsein dieser gewichtigen Situation schöpften sie um so größeren Mut,
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je mehr die Äußerung der revolutionären Energie sich beschränkte auf
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parlamentarische Ausfälle, Niederlegung von Anklageakten, Drohungen, Stimmerhöhungen.
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donnernde Reden und Extreme, die nur bis zur Phrase getrieben wurden. Die Bauern befanden sich
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ungefähr in derselben Lage wie die Kleinbürger, sie hatten ungefähr dieselben
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sozialen Forderungen zu stellen. Sämtliche Mittelschichten der Gesellschaft, soweit sie in
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die revolutionäre Bewegung getrieben waren, mußten daher in Ledru-Rollin ihren Helden
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finden. Ledru-Rollin war die Personage des demokratischen Kleinbürgertums. Der Partei der
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Ordnung gegenüber mußten zunächst die halb konservativen, halb
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revolutionären und ganz utopistischen Reformatoren dieser Ordnung an die Spitze getrieben
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werden.</p>
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<p>Die Partei des "National", "die Freunde der Konstitution quand même" <um jeden
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Preis>, <a name="S63"><b><63></b></a> die républicains purs et simples
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<Republikaner reinsten Wassers> wurden vollständig in den Wahlen geschlagen. Eine
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winzige Minorität derselben wurde in die gesetzgebende Kammer geschickt, ihre notorischsten
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Chefs verschwanden von der Bühne, sogar Marrast, der Redakteur en chef und der Orpheus der
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honetten Republik.</p>
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<p>Am 28. Mai kam die legislative Versammlung zusammen, am 11. Juni erneuerte sich die Kollision
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vom 8. Mai, Ledru-Rollin legte im Namen der Montagne einen Anklageakt nieder gegen den
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Präsidenten und das Ministerium wegen Verletzung der Konstitution, wegen des Bombardements
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von Rom. Am 12. Juni verwarf die gesetzgebende Versammlung den Anklageakt, wie die
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konstituierende Versammlung ihn am 11. Mai verworfen hatte, aber das Proletariat trieb diesmal
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die Montagne auf die Straße, jedoch nicht zum Straßenkampf, sondern nur zur
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Straßenprozession. Es genügt zu sagen, daß die Montagne an der Spitze dieser
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Bewegung stand, um zu wissen, daß die Bewegung besiegt wurde und daß der Juni 1849
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eine ebenso lächerliche als nichtswürdige Karikatur des Juni 1848 war. Verdunkelt wurde
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die große Retirade vom 13. Juni nur durch den noch größeren Schlachtbericht
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Changarniers, des großen Mannes, den die Partei der Ordnung improvisierte. Jede
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Gesellschaftsepoche braucht ihre großen Männer, und wenn sie dieselben nicht findet,
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erfindet sie sie, wie Helvétius sagt.</p>
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<p>Am 20. Dezember existierte nur noch die eine Hälfte der konstituierten Bourgeoisrepublik,
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der <i>Präsident</i>, am 28. Mai wurde sie ergänzt durch die andre Hälfte, durch
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die <i>gesetzgebende Versammlung</i>. Juni 1848 hatte die sich konstituierende Bourgeoisrepublik
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durch eine unsagbare Schlacht gegen das Proletariat, Juni 1849 die konstituierte
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Bourgeoisrepublik durch eine unnennbare Komödie mit der Kleinbürgerschaft sich in das
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Geburtsregister der Geschichte eingemeißelt. Juni 1849 war die Nemesis für Juni 1848.
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Juni 1849 wurden nicht die Arbeiter besiegt, sondern die Kleinbürger gefällt, die
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zwischen ihnen und der Revolution standen. Juni 1849 war nicht die blutige Tragödie zwischen
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der Lohnarbeit und dem Kapital, sondern das gefängnisreiche und lamentable Schauspiel
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zwischen dem Schuldner und dem Gläubiger. Die Partei der Ordnung hatte gesiegt, sie war
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allmächtig, sie mußte nun zeigen, was sie war.</p>
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