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<TITLE>Franz Mehring: Karl Marx - Junge Jahre</TITLE>
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<!--Hier war ein falsch terminierter Kommentar -->
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<TR>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><A HREF="../../index.shtml.html"><SMALL>MLWerke</SMALL></A></TD>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><!-- #BeginEditable "link1a" --><A HREF="fm03_003.htm"><SMALL>Vorwort</SMALL></A><!-- #EndEditable --></TD>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><A HREF="fm03_000.htm"><SMALL>Inhalt</SMALL></A></TD>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><!-- #BeginEditable "link1b" --><A HREF="fm03_015.htm"><SMALL>2.
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Kapitel</SMALL></A><!-- #EndEditable --></TD>
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<TD ALIGN="center"><B>|</B></TD>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><A HREF="../default.htm"><SMALL>Franz
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Mehring</SMALL></A></TD>
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</TR>
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</TABLE>
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<HR size="1">
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<P><SMALL>Seitenzahlen nach: Franz Mehring - Gesammelte Schriften, Band 3. Berlin/DDR,
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1960, S. <!-- #BeginEditable "Seitenzahlen" -->7-14<!-- #EndEditable -->.<BR>
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1. Korrektur<BR>
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Erstellt am 30.10.1999</SMALL></P>
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<H2>Franz Mehring: Karl Marx - Geschichte seines Lebens</H2>
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<H1><!-- #BeginEditable "Titel" -->Erstes Kapitel: Junge Jahre<!-- #EndEditable --></H1>
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<hr size="1">
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<!-- #BeginEditable "Text" -->
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<H3 align="center">1. Haus und Schule<A name="Kap_1"></A></H3>
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<P><B>|7|</B> Karl Heinrich Marx wurde am 5. Mai 1818 in Trier geboren. Über
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seine Abstammung ist wenig bekannt, dank der Verwirrung und Verwüstung, die
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die kriegerischen Zeitläufte um die Wende des Jahrhunderts in den rheinischen
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Standesregistern angerichtet haben. Wird doch heute noch um das Geburtsjahr Heinrich
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Heines gestritten!</P>
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<P>Ganz so schlimm steht es nun freilich mit Karl Marx nicht, der in ruhigeren
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Zeiten geboren wurde. Aber als vor fünfzig Jahren eine Schwester seines Vaters
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gestorben war, mit Hinterlassung eines ungültigen Testaments, gelang es allen
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gerichtlichen Nachforschungen nach den Intestaterben doch nicht mehr, die Geburts-
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und Todestage ihrer Eltern festzustellen, also der Großeltern von Karl Marx.
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Der Großvater hieß Marx Levi, nannte sich später aber nur Marx
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und war Rabbiner in Trier; er soll 1798 gestorben sein und war 1810 jedenfalls
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nicht mehr am Leben. Seine Ehefrau Eva, geborene Moses, war 1810 noch am Leben
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und soll 1825 gestorben sein.</P>
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<P>Von den zahlreichen Kindern dieses Paares widmeten sich zwei gelehrten Berufen:
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Samuel und Hirschel. Samuel wurde als Rabbiner in Trier der Nachfolger seines
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Vaters, während sein Sohn Moses als Rabbinatskandidat nach Gleiwitz in Schlesien
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verschlagen wurde. Samuel war 1781 geboren und starb 1829. Hirschel, der Vater
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von Karl Marx, war 1782 geboren. Er wandte sich der Jurisprudenz zu, wurde Advokatanwalt
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und später Justizrat in Trier, ließ sich 1824 als Heinrich Marx taufen
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und starb 1838. Er war mit Henriette Preßburg verheiratet, einer holländischen
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Jüdin, deren Ahnen nach Angabe ihrer Enkelin Eleanor Marx eine jahrhundertlange
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Reihe von Rabbinern aufweisen. Sie starb 1863. Beide hinterließen ebenfalls
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eine zahlreiche Familie, doch lebten zur Zeit jener Erbschaftsregulierung, deren
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Akten diese genealogischen Notizen verdankt sind, nur noch vier von ihren Kindern:
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Karl Marx und drei Töchter, Sophie als Witwe des Anwalts Schmalhausen in
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Maastricht, Emilie als Ehefrau des Ingenieurs Conrady in Trier und Luise als Ehefrau
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des Kaufmanns Juta in der Kapstadt.</P>
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<P>Seinen Eltern, deren Ehe überaus glücklich war, verdankte Karl Marx,
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<A NAME="S8"></A><B>|8|</B> nächst der Schwester Sophie ihr ältestes
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Kind, eine heitere und sorgenfreie Jugend. Wenn seine »herrlichen Naturgaben«
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in dem Vater die Hoffnung weckten, daß sie dereinst zum Wohle der Menschheit
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dienen würden, so hieß ihn die Mutter ein Glückskind, dem alles
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wohl unter den Händen gerate. Doch ist Karl Marx weder, wie Goethe, der Sohn
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seiner Mutter, noch, wie Lessing und Schiller, der Sohn seines Vaters gewesen.
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Die Mutter ging, bei all ihrer zärtlichen Sorge für ihren Gatten und
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ihre Kinder, ganz in dem Frieden des Hauses auf; sie hat all ihr Lebtag nur ein
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mangelhaftes Deutsch gesprochen und an den geistigen Kämpfen ihres Sohnes
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keinen Anteil genommen, es sei denn mit der mütterlichen Bekümmernis,
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was aus ihrem Karl wohl hätte werden können, wenn er den rechten Weg
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eingeschlagen hätte. In späteren Jahren scheint Karl Marx seinen mütterlichen
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Verwandten in Holland näher gestanden zu haben, namentlich einem »Onkel«
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Philips; er spricht von diesem »famosen alten Jungen«, der sich ihm auch in den
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Nöten des Lebens hilfreich erwies, wiederholt mit großer Sympathie.</P>
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<P>Jedoch auch der Vater blickte manches Mal mit geheimer Angst auf den »Dämon«
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in dem Lieblingssohne, obgleich er schon wenige Tage nach Karls zwanzigstem Geburtstage
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starb. Nicht die kleinliche und peinliche Sorge des Hausmütterchens um das
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gedeihliche Fortkommen des Sohnes quälte ihn, sondern die dumpfe Ahnung von
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der granitenen Härte eines Charakters, die seinem weichen Wesen völlig
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fremd war. Jude, Rheinländer, Rechtsgelehrter, so daß er gegen alle
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Liebreize des ostelbischen Junkertums dreifach hätte gepanzert sein müssen,
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war Heinrich Marx doch preußischer Patriot, nicht in dem faden Sinne, den
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dies Wort heute hat, sondern preußischer Patriot etwa von dem Schlage, wie
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ihn die älteren von uns noch in den Waldeck und Ziegler gekannt haben: mit
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bürgerlicher Bildung gesättigt, in gutem Glauben an die altfritzige
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Aufklärung, ein »Ideologe«, wie sie Napoleon nicht ohne Grund haßte.
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Was dieser unter »dem tollen Ausdruck von Ideologie« verstand, schürte zumal
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den Haß des Vaters Marx gegen den Eroberer, der den rheinischen Juden die
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bürgerliche Gleichberechtigung und den rheinischen Landen den Code Napoléon
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geschenkt hatte, ihr eifersüchtig behütetes, aber von der altpreußischen
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Reaktion unablässig angefeindetes Kleinod.</P>
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<P>Sein Glaube an den »Genius« der preußischen Monarchie ist auch nicht
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dadurch erschüttert worden, daß ihn die preußische Regierung
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gezwungen hätte, um seines Amtes willen seine Religion zu wechseln. Das ist
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wiederholt behauptet worden und auch von sonst unterrichteter Seite, anscheinend
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um zu rechtfertigen oder doch zu entschuldigen, was weder einer Rechtfertigung
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noch auch nur einer Entschuldigung bedarf. Selbst <A NAME="S9"></A><B>|9|</B>
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vom rein religiösen Standpunkt hatte ein Mann, der mit Locke und Leibniz
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und Lessing seinen »reinen Glauben an Gott« bekannte, nichts mehr in der Synagoge
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zu suchen und fand noch am ehesten einen Unterschlupf in der preußischen
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Landeskirche, in der damals ein duldsamer Rationalismus herrschte, eine sogenannte
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Vernunftreligion, die selbst auf das preußische Zensuredikt von 1819 abgefärbt
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hatte.</P>
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<P>Aber die Lossagung vom Judentum war unter den damaligen Zeitläuften nicht
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nur ein Akt religiöser, sondern auch - und vornehmlich - ein Akt sozialer
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Emanzipation. An der ruhmvollen Geistesarbeit unserer großen Denker und
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Dichter war das Judentum nicht beteiligt gewesen; das bescheidene Licht eines
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Moses Mendelssohn hatte seiner »Nation« vergebens den Weg in das deutsche Geistesleben
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zu erhellen gesucht. Und als just in den Jahren, wo Heinrich Marx zum Christentum
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übertrat, ein Kreis junger Juden in Berlin die Bestrebungen Mendelssohns
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wieder aufnahm, geschah es mit dem gleichen Mißerfolge, obgleich sich Männer
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wie Eduard Gans und Heinrich Heine unter ihnen befanden. Gans, der dies Schifflein
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steuerte, strich sogar zuerst die Flagge und ging zum Christentum über, und
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wenngleich Heine ihm zunächst einen derben Fluch nachsandte - »Gestern noch
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ein Held gewesen, Ist man heute schon ein Schurke« -, so war er doch bald darauf
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selbst gezwungen, den »Eintrittsschein zur europäischen Kultur« zu lösen.
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Beide haben ihren historischen Anteil an der deutschen Geistesarbeit des Jahrhunderts
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erworben, während die Namen ihrer Gefährten, die treuer als sie an der
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Kultivierung des Judentums arbeiteten, vergessen und verschollen sind.</P>
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<P>So ist manches lange Jahrzehnt hindurch der Übertritt zum Christentum
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für die freien Köpfe des Judentums ein zivilisatorischer Fortschritt
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gewesen. Und nicht anders ist der Religionswechsel zu verstehen, den Heinrich
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Marx im Jahre 1824 mit seiner Familie vollzog. Möglich, daß auch äußere
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Umstände nicht die Tat selbst, aber den Zeitpunkt der Tat bestimmt haben.
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Die jüdische Güterschlächterei, die in der landwirtschaftlichen
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Krisis der zwanziger Jahre einen heftigen Aufschwung nahm, hatte einen ebenso
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heftigen Judenhaß auch in den Rheinlanden erregt, und diesen Haß mitzutragen
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hatte ein Mann von der unantastbaren Redlichkeit des alten Marx weder die Pflicht,
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noch auch nur - im Hinblick auf seine Kinder - das Recht. Oder der Tod seiner
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Mutter, der in diese Zeit gefallen sein muß, hat ihn von einer Rücksicht
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der Pietät befreit, die ganz seinem Charakter entsprochen hätte, oder
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es mag auch mitgesprochen haben, daß im Jahre des Übertritts sein ältester
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Sohn das schulpflichtige Alter erreicht hatte.</P>
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<P><B><A NAME="S10">|10|</A></B> Mag dem so oder anders sein, so besteht daran
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kein Zweifel, daß Heinrich Marx sich die freimenschliche Bildung erarbeitet
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hatte, die ihn von aller jüdischen Befangenheit befreite, und diese Freiheit
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hat er seinem Karl als wertvolles Erbe hinterlassen. Nichts in den immerhin zahlreichen
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Briefen, die er an den jungen Studenten gerichtet hat, verrät eine Spur von
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jüdischer Art oder Unart, sie sind in einem altväterischen, sentimental-weitläufigen
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Tone gehalten, im Briefstil noch des achtzehnten Jahrhunderts, wo der echte deutsche
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Mann schwärmte, wenn er liebte, und polterte, wenn er zürnte. Ohne jede
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spießbürgerliche Beschränktheit gehen sie willig auf die geistigen
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Interessen des Sohnes ein, nur mit entschiedener und durchaus berechtigter Abneigung
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gegen dessen Gelüste, sich als »gemeines Poetlein« aufzutun. Bei allem Schwelgen
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in den Gedanken an die Zukunft seines Karl kann sich freilich der alte Herr mit
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»seinen gebleichten Haaren und ein wenig gebeugtem Gemüt« doch nicht ganz
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des Gedankens entschlagen, ob das Herz dem Kopfe des Sohnes entspreche, ob es
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Raum für die irdischen, aber sanfteren Gefühle habe, die in diesem Jammertale
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den Menschen so wesentlich trostreich seien.</P>
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<P>In seinem Sinne waren seine Zweifel wohl berechtigt; die echte Liebe, womit
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er den Sohn »im Innersten seines Herzens« trug, machte ihn nicht blind, sondern
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hellseherisch. Aber wie der Mensch niemals die letzten Folgen seines Tuns zu überblicken
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vermag, so hat Heinrich Marx nicht daran gedacht und nicht daran denken können,
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wie er durch das reiche Maß bürgerlicher Bildung, das er dem Söhne
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als kostbare Mitgift fürs Leben gab, doch nur den gefürchteten »Dämon«
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entbinden half, von dem er zweifelte, ob er »himmlischer« oder »faustischer« Natur
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sei. Wieviel hat Karl Marx im Elternhause schon spielend überwunden, was
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einem Heine oder einem Lassalle die ersten und schwersten Lebenskämpfe gekostet
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hat, Kämpfe, deren Wunden bei beiden niemals völlig verharscht sind!</P>
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<P>Was die Schule dem heranwachsenden Knaben mitgegeben hat, läßt sich
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weniger klar erkennen. Karl Marx hat niemals von einem seiner Schulkameraden gesprochen,
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und so liegt auch von keinem dieser Kameraden eine Kunde über ihn vor. Früh
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genug hat er das Gymnasium seiner Vaterstadt durchlaufen; sein Abiturientenzeugnis
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ist vom 24. September [bei Mehring: 25. August] 1835 datiert. Es begleitet den
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hoffnungsvollen Jüngling in üblicher Weise mit seinen Segenswünschen,
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mit schablonenhaften Urteilen über die Leistungen in den einzelnen Fächern.
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Jedoch hebt es besonders hervor, daß Karl Marx häufig auch die schwierigeren
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Stellen der alten Klassiker zu übersetzen und zu erklären <A NAME="S11"></A><B>|11|</B>
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gewußt habe, besonders solche, wo die Schwierigkeit nicht so sehr in der
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Eigentümlichkeit der Sprache, als in der Sache und dem Gedankenzusammenhange
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bestehe; sein lateinischer Aufsatz zeige in sachlicher Hinsicht Reichtum an Gedanken
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und tieferes Eindringen in den Gegenstand, sei aber häufig mit Ungehörigem
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überladen.</P>
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<P>In der eigentlichen Prüfung wollte es mit der Religion nicht gehen, aber
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auch mit der Geschichte nicht. Im deutschen Aufsatze jedoch fand sich ein Gedanke,
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der den prüfenden Lehrern schon als »interessant« erschien und uns noch viel
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interessanter erscheinen muß. Als Thema war gestellt »Betrachtung eines
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Jünglings bei der Wahl eines Berufs«. Das Urteil lautete, die Arbeit empfehle
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sich durch Gedankenreichtum und gute planmäßige Anordnung, sonst verfalle
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der Verfasser auch hier in den ihm gewöhnlichen Fehler, ein übertriebenes
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Suchen nach einem seltenen, bilderreichen Ausdruck. Dann aber wird wörtlich
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der Satz hervorgehoben: »Wir können nicht immer den Stand ergreifen, zu dem
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wir uns berufen glauben; unsere Verhältnisse in der Gesellschaft haben einigermaßen
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schon begonnen, ehe wir sie zu bestimmen imstande sind.« So kündigte sich
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in dem Knaben das erste Wetterleuchten des Gedankens an, den allseitig zu entwickeln
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das unsterbliche Verdienst des Mannes werden sollte.</P>
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<H3 ALIGN="CENTER">2. Jenny von Westphalen<A name="Kap_2"></A></H3>
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<P>Im Herbste 1833 bezog Karl Marx die Universität Bonn, wo er ein Jahr lang
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vielleicht weniger Rechtswissenschaft studiert, als sich »Studierens halber« aufgehalten
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hat.</P>
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<P>Unmittelbare Kunde liegt auch über diese Zeit nicht vor, aber so wie sie
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sich in den Briefen des Vaters spiegelt, scheint sich das junge Blut ein wenig
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ausgeschäumt zu haben. Von einem »wilden Toben« schrieb der Alte erst später
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in einer sehr ärgerlichen Stunde; zur Zeit klagte er nur über die »Rechnungen
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à la Karl, ohne Zusammenhang, ohne Resultat«, und mit diesen Rechnungen
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hat es auch später bei dem klassischen Theoretiker des Geldes nie recht stimmen
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wollen.</P>
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<P>Nach dem lustigen Jahre in Bonn sah es vollends einem studentischen Geniestreiche
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gleich, als sich Karl Marx, in dem gesegneten Alter von achtzehn Jahren, mit einer
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Gespielin seiner Kinderjahre verlobte, einer vertrauten Freundin seiner älteren
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Schwester Sophie, die dem Bunde der jungen Merzen die Wege ebnen half. In der
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Tat aber war es der erste und schönste Sieg, den dieser geborene Herrscher
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über Menschen <A NAME="S12"></A><B>|12|</B> davontrug; ein Sieg, der dem
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eigenen Vater ganz »unbegreiflich« erschien, bis er ihm erklärlicher wurde
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durch die Entdeckung, daß die Braut auch »etwas Genialisches« hätte
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und Opfer zu bringen verstünde, deren gewöhnliche Mädchen nicht
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fähig wären.</P>
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<P>Wirklich war Jenny von Westphalen ein Mädchen nicht nur von ungewöhnlicher
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Schönheit, sondern auch von ungewöhnlichem Geist und ungewöhnlichem
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Charakter. Vier Jahre älter als Karl Marx, stand sie doch erst im Anfange
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der zwanziger Jahre; im vollen Schmelz ihre jungen Schönheit war sie viel
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gefeiert und viel umworben, und als die Tochter eines hochgestellten Beamten einer
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glänzenden Zukunft sicher. Alle diese Aussichten opferte sie, wie der alte
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Marx meinte, einer »gefahrvollen und unsicheren Zukunft«, und er glaubte mitunter
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auch an ihr die ahnungsschwere Furcht zu beobachten, die ihn beunruhigte. Aber
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er war des »Engelsmädchens«, der »Zauberin« so sicher, daß er den Sohne
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zuschwor, kein Fürst werde sie ihm abwenden.</P>
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<P>Die Zukunft gestaltete sich viel gefahrvoller und unsicherer, als Heinrich
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Marx in seinen bängsten Träumen vorhergesehen hatte, jedoch Jenny von
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Westphalen, deren Jugendbildnis von kindlicher Anmut strahlt, hat mit dem unbeugsamen
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Mut einer Heldin zu dem Mann ihrer Wahl gehalten, mitten in den furchtbarsten
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Leiden und Qualen. Nicht vielleicht im hausbackenen Sinne des Wortes hat sie ihm
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die schwere Last seines Lebens erleichtert, denn, ein verwöhntes Kind des
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Glückes, war sie den kleinen Miseren des täglichen Lebens nicht immer
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so gewachsen, wie es eine wetterfeste Proletarierin gewesen sein würde, aber
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in dem hohen Sinne, womit sie das Werk seines Lebens erfaßte, ist sie ihm
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eine ebenbürtige Gefährtin geworden. In allen ihren Briefen soviel ihrer
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erhalten sind, weht ein Hauch echter Weiblichkeit; sie war eine Natur im Sinne
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Goethes, gleich wahr in jeder Stimmung ihres Gemüts, in dem entzückenden
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Plauderton heiterer Tage wie in dem tragischen Schmerz der Niobe, der das Elend
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ein Kind entriß, ohne daß sie ihm auch nur ein bescheidenes Grab betten
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konnte. Ihre Schönheit war der Stolz ihres Mannes, und als ihre Geschicke
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nahezu schon ein Menschenalter verkettet waren, schrieb er ihr 1863 aus Trier,
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wo er zum Begräbnis seiner Mutter weilte: »Ich bin täglich zum alten
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Westphalenhause gewallfahrtet (in der Römerstraße), das mich mehr interessiert
|
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hat als alle römischen Altertümer, weil es mich an die glückliche
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Jugendzeit erinnert und meinen besten Schatz barg. Außerdem fragt man mich
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täglich, links und rechts, nach dem quondam ›schönsten Mädchen
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von Trier‹ und der ›Ballkönigin‹. Es ist verdammt angenehm für einen
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Mann, wenn seine Frau in der Phantasie einer ganzen Stadt so als ›verwunschene
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<A NAME="S13"></A><B>|13|*</B> Prinzessin‹ fortlebt.« So auch hat der sterbende
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|
Mann, wie fremd ihm immer alle Sentimentalität geblieben ist, in wehmütig
|
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erschütterndem Ton von dem schönsten Teil seines Lebens gesprochen,
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der ihm in dieser Frau beschlossen gewesen sei.</P>
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<P>Die jungen Leute verlobten sich zunächst, ohne die Eltern der Braut zu
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fragen, was seinem gewissenhaften Vater nicht geringe Bedenken erregte. Aber nicht
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lange danach gaben auch sie ihre Zustimmung. Der Geheime Regierungsrat Ludwig
|
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von Westphalen gehörte trotz seines Namens und Titels weder zum ostelbischen
|
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Junkertum noch zur altpreußischen Bürokratie. Sein Vater war jener
|
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Philipp Westphalen, der zu den merkwürdigsten Gestalten der Kriegsgeschichte
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zählt. Bürgerlicher Geheimsekretär des Herzogs Ferdinand von Braunschweig,
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der im siebenjährigen Kriege an der Spitze eines bunt zusammengewürfelten,
|
|
von englischem Gelde besoldeten Heeres das westliche Deutschland erfolgreich vor
|
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den Eroberungsgelüsten Ludwigs XV. und seiner Pompadour schützte, hatte
|
|
sich Philipp Westphalen zum tatsächlichen Generalstabschef des Herzogs zu
|
|
machen verstanden, allen deutschen und englischen Generalen des Heeres zum Trotz.
|
|
Seine Verdienste waren so anerkannt, daß ihn der König von England
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zum Generaladjutanten von der Armee ernennen wollte, was Philipp Westphalen jedoch
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ablehnte. Nur soweit mußte er seinen bürgerlichen Sinn zähmen,
|
|
daß er den Adel »genehmigte«: aus ähnlichen Gründen, wie sich
|
|
ein Herder oder Schiller zu dieser Erniedrigung bequemen mußte: um die Tochter
|
|
einer schottischen Baronsfamilie heiraten zu können, die im Feldlager des
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|
Herzogs Ferdinand erschienen war, zum Besuch ihrer mit einem General der englischen
|
|
Hilfstruppen vermählten Schwester.</P>
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<P>Ein Sohn dieses Paares war Ludwig von Westphalen. Hatte er von seinem Vater
|
|
einen historischen Namen geerbt, so reichte auch die Ahnenreihe der Mutter zu
|
|
großen historischen Erinnerungen herauf; einer ihrer Vorfahren in gerade
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aufsteigender Linie hatte im Kampfe für die Einführung der Reformation
|
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in Schottland den Scheiterhaufen bestiegen, ein anderer, der Earl Archibald Argyle,
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|
war als Rebeller im Freiheitskampfe gegen Jakob II. auf dem Marktplatze in Edinburgh
|
|
enthauptet worden. Mit solchen Familienüberlieferungen entwuchs Ludwig von
|
|
Westphalen von vornherein den Dunstkreisen des bettelstolzen Junkertums und der
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|
dünkelhaften Bürokratie. Ursprünglich in braunschweigischen Diensten,
|
|
hatte er sich nicht bedacht, diese Dienste fortzusetzen, als das kleine Herzogtum
|
|
von Napoleon zum Königreich Westfalen geschlagen worden war, da ihm offenbar
|
|
weniger an dem angestammten Welfen lag als an den Reformen, mit denen die französische
|
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<A NAME="S14"></A><B>|14|</B> Eroberung die verrotteten Zustände seines Heimatländchens
|
|
heilte. Der Fremdherrschaft selbst blieb er deshalb nicht weniger abgeneigt und
|
|
hatte im Jahre 1813 die harte Hand des Marschalls Davoust zu spüren. Vor
|
|
Landrat in Salzwedel, wo ihm seine Tochter Jenny am 12. Februar 1814 geboren wurde,
|
|
war er dann zwei Jahre später als Rat an die Regierung in Trier versetzt
|
|
worden; im ersten Eifer besaß der preußische Staatskanzler Hardenberg
|
|
noch die Erkenntnis, daß die tüchtigsten, von junkerlichen Schrullen
|
|
freiesten Köpfe in die neugewonnenen Rheinland geworfen werden müßten,
|
|
die mit ihrem Herzen immer noch an Frankreich hingen.</P>
|
|
<P>Karl Marx hat Zeit seines Lebens von diesem Manne mit größter Anhänglichkeit
|
|
und Dankbarkeit gesprochen. Nicht nur als sein Schwiegersohn, hat er ihn seinen
|
|
»teuren, väterlichen Freund« genannt und ihn seiner »kindlichen Liebe« versichert.
|
|
Westphalen konnte ganze Gesänge Homers vom Anfang bis zum Ende hersagen;
|
|
er kannte die meisten Dramen Shakespeares englisch wie deutsch auswendig; aus
|
|
dem »alten Westphalenhause« holte sich Karl Marx viele Anregungen, die ihm das
|
|
eigne Haus nicht bieten konnte und noch viel weniger die Schule. Er selbst ist
|
|
schon von früh auf ein Liebling Westphalens gewesen, der seine Einwilligung
|
|
in die Verlobung auch in der Erinnerung an die glücklich Ehe der eignen Eltern
|
|
gegeben haben mag; im Sinne der Welt hatte die Tochter der altadeligen Baronsfamilie
|
|
ebenfalls eine schlechte Partie gemacht, als sie sich mit dem armen bürgerlichen
|
|
Geheimsekretär verband.</P>
|
|
<P>In dem ältesten Sohne Ludwig von Westphalens ist die Gesinnung des Vaters
|
|
nicht lebendig geblieben. Er war ein bürokratischer Streber und schlimmeres
|
|
als das; in der Reaktionszeit der fünfziger Jahre hat er als preußischer
|
|
Minister des Innern die feudalen Ansprüche des verstocktesten Zaunjunkertums
|
|
sogar gegen den Ministerpräsidenten Manteuffel vertreten, der immerhin ein
|
|
gewitzter Bürokrat war. Mit seiner Schwester Jenny hat dieser Ferdinand von
|
|
Westphalen in keinen engeren Beziehungen gestanden, zumal da er fünfzehn
|
|
Jahre älter als sie und auch nur, als Sohn aus einer ersten Ehe des Vaters,
|
|
ihr Halbbruder war.</P>
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|
<P>Ihr echter Bruder war dagegen Edgar von Westphalen, der nach links von den
|
|
Pfaden des Vaters abwich wie Ferdinand nach rechts. Er ha gelegentlich die kommunistischen
|
|
Kundgebungen seines Schwagers Marx mitunterzeichnet. Ein steter Gefährte
|
|
ist er ihm freilich nicht geworden; er ging über das große Wasser,
|
|
hatte dort wechselnde Schicksale, kehrte zurück, tauchte bald hier, bald
|
|
dort auf, ein rechter Wildling, wo man von ihm hört. Aber ein treues Herz
|
|
hat er immer für Jenny und Karl Marx gehabt, und sie haben ihren ersten Sohn
|
|
nach ihm genannt.</P>
|
|
<!-- #EndEditable -->
|
|
<HR size="1" align="left" width="200">
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<P><SMALL>Pfad: »../fm/fm03«<BR>
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Verknüpfte Dateien: »<A href="http://www.mlwerke.de/css/format.css">../../css/format.css</A>«
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><!-- #BeginEditable "link2b" --><A HREF="fm03_015.htm"><SMALL>2.
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Kapitel</SMALL></A><!-- #EndEditable --></TD>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><A HREF="../default.htm"><SMALL>Franz
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Mehring</SMALL></A></TD>
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