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<TITLE>Franz Mehring: Karl Marx - Das letzte Jahrzehnt</TITLE>
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<!--Hier war ein falsch terminierter Kommentar -->
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<TR>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><!-- #BeginEditable "link1a" --><A HREF="fm03_443.htm"><SMALL>14.
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Kapitel</SMALL></A><!-- #EndEditable --></TD>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><A HREF="fm03_000.htm"><SMALL>Inhalt</SMALL></A></TD>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><!-- #BeginEditable "link1b" --><A HREF="fm03_543.htm"><SMALL>Anmerkungen</SMALL></A><!-- #EndEditable --></TD>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><A HREF="../default.htm"><SMALL>Franz
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Mehring</SMALL></A></TD>
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</TR>
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</TABLE>
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<HR size="1">
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<P><SMALL>Seitenzahlen nach: Franz Mehring - Gesammelte Schriften, Band 3. Berlin/DDR,
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1960, S. <!-- #BeginEditable "Seitenzahlen" -->509-542<!-- #EndEditable -->.<BR>
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1. Korrektur<BR>
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Erstellt am 30.10.1999</SMALL></P>
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<H2>Franz Mehring: Karl Marx - Geschichte seines Lebens</H2>
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<H1><!-- #BeginEditable "Titel" -->Fünfzehntes Kapitel: Das letzte Jahrzehnt<!-- #EndEditable --></H1>
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<hr size="1">
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<!-- #BeginEditable "Text" -->
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<H3 ALIGN="CENTER">1. Marx in seinem Heim<A name="Kap_1"></A></H3>
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<P><B>|509|</B> Wie sich Marx am Schlusse des Jahres 1853 nach den letzten Zuckungen
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des Kommunistenbundes in sein Arbeitszimmer zurückzog, so am Schlusse des
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Jahres 1873 nach den letzten Zuckungen der Internationalen. Aber diesmal geschah
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es für den Rest seines Lebens.</P>
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<P>Man hat sein letztes Jahrzehnt »ein langsames Sterben« genannt, jedoch mit
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großer Übertreibung. Zwar hatten die Kämpfe seit dem Sturz der
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Kommune seiner Gesundheit wieder harte Stöße versetzt; er litt im Herbste
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1873 sehr am Kopfe und schwebte in großer Gefahr eines Schlaganfalls; dieser
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chronische gedrückte Hirnzustand machte ihn arbeitsunfähig und schreibunlustig;
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bei längerer Dauer hätte er schlimme Folgen haben können. Doch
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erholte sich Marx in der mehrwöchigen Pflege des mit ihm und Engels befreundeten
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Arztes Gumpert in Manchester, in den er volles Vertrauen setzte.</P>
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<P>Auf den Rat Gumperts entschloß er sich, im Jahre 1874 nach Karlsbad zu
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gehen, und ebenso in den beiden folgenden Jahren; im Jahre 1877 wählte er
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zur Abwechselung Neuenahr, worauf ihm im Jahre 1878 die beiden Attentate auf den
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deutschen Kaiser und die Sozialistenjagd, die sich daran schloß, das Festland
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sperrten. Immerhin war ihm namentlich die dreimalige Kur in Karlsbad »wundervoll«
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bekommen und hatte ihn von seinem alten Leberleiden fast ganz befreit. Es blieben
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noch chronische Magenleiden und nervöse Abspannung, die sich in Kopfschmerz,
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zumeist aber in hartnäckiger Schlaflosigkeit äußerte. Jedoch verschwanden
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diese Leiden mehr oder weniger nach dem Besuche eines Seebades oder Luftkurorts
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im Sommer und traten erst nach Neujahr wieder störender auf.</P>
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<P>Eine völlige Wiederherstellung seiner Gesundheit wäre freilich nur
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möglich gewesen, wenn Marx sich die Ruhe gegönnt hätte, die er
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nach einem arbeits- und opferreichen Leben beim Herannahen des sechzigsten Lebensjahres
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wohl hätte beanspruchen können. Aber daran war bei ihm nicht zu denken.
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Er warf sich, um sein wissenschaftliches Hauptwerk zu <A NAME="S510"></A><B>|510|</B>
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vollenden, mit allem Feuereifer auf die Studien, deren Feld sich inzwischen sehr
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erweitert hatte. »Bei einem Manne, der jeden Gegenstand auf seine geschichtliche
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Entstehung und seine Vorbedingungen prüfte«, sagt darüber Engels, »entsprangen
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selbstredend aus jeder einzelnen Frage ganze Reihen neuer Fragen. Urgeschichte,
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Agronomie, russische und amerikanische Grundbesitzverhältnisse, Geologie
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usw. wurden durchgenommen, um namentlich den Abschnitt des III. Buches des ›Kapital‹
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über Grundrente in einer bisher nie versuchten Vollständigkeit auszuarbeiten.
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Zu den sämtlichen germanischen und romanischen Sprachen, die er mit Leichtigkeit
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las, lernte er auch noch Altslawisch, Russisch und Serbisch.«<A name="ZT1"></A><A href="fm03_509.htm#Z1"><SPAN class="top">[1]</SPAN></A> Und das war auch
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nur erst sein halbes Tagewerk. Obgleich sich Marx aus der öffentlichen Agitation
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zurückgezogen hatte, blieb er darum nicht minder tätig in der europäischen
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und amerikanischen Arbeiterbewegung. Er stand im Briefwechsel mit fast allen Führern
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in den verschiedenen Ländern, die ihn wenn irgend möglich bei wichtigen
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Anlässen persönlich zu Rate zogen; er wurde mehr und mehr der vielgesuchte
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und stets bereite Berater des streitbaren Proletariats.</P>
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<P>Wie Liebknecht den Marx der fünfziger, so hat Lafargue den Marx der siebziger
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Jahre anziehend geschildert. Er meint, der Körper seines Schwiegervaters
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hätte von kräftiger Konstitution sein müssen, um einer ungewöhnlichen
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Lebensweise und einer aufreibenden geistigen Arbeit gewachsen zu sein. »Er war
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auch in der Tat sehr kräftig, seine Größe ging über das Mittelmaß,
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die Schultern waren breit, die Brust gut entwickelt, die Glieder wohl proportioniert,
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obgleich die Wirbelsäule im Vergleich zu den Beinen etwas zu lang war, wie
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es bei der jüdischen Rasse häufig zu finden ist.« Und nicht nur bei
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der jüdischen Rasse; Goethes Körper war ähnlich gebaut; auch er
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gehörte zu den »Sitzriesen«, wie der Volksmund solche Gestalten zu nennen
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pflegt, die wegen der verhältnismäßigen Länge ihrer Wirbelsäule
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im Sitzen größer erscheinen, als sie sind.</P>
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<P>Hätte Marx in seiner Jugend viel Gymnastik getrieben, so wäre er
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nach Lafargues Meinung ein äußerst kräftiger Mensch geworden.
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Jedoch die einzige Leibesübung, die er regelmäßig betrieben hatte,
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war das Gehen; er konnte stundenlang plaudernd marschieren oder Hügel ersteigen,
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ohne die geringste Müdigkeit zu spüren. Aber auch diese Fähigkeit
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übte er gemeiniglich nur, um in seinem Arbeitszimmer seine Gedanken zu ordnen;
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von der Tür bis zum Fenster zeigte sich auf dem Teppich ein total abgenützter
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Streifen wie der Fußpfad auf einer Wiese.</P>
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<P>Obgleich er sich immer erst in sehr vorgerückter Stunde zur Ruhe legte,
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war er morgens zwischen acht und neun Uhr auf den Beinen, trank <A NAME="S511"></A><B>|
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511|</B> seinen schwarzen Kaffee, las seine Zeitungen und ging in sein Arbeitszimmer,
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das er bis Mitternacht und darüber hinaus nur verließ, um seine Mahlzeiten
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einzunehmen, oder, wenn es die abendliche Witterung erlaubte, einen Spaziergang
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nach Hampstead Heath zu machen; unter Tags schlief er wohl ein oder zwei Stunden
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auf seinem Sofa. Das Arbeiten war ihm so zur Leidenschaft geworden, daß
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er oft das Essen darüber vergaß. Sein Magen mußte für seine
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kolossale Gehirntätigkeit büßen. Er war ein sehr schwacher Esser
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und litt an Appetitlosigkeit, die er durch den Genuß von scharf gesalzenen
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Speisen, Schinken, geräucherten Fischen, Kaviar und Pickles zu bekämpfen
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suchte. Ein schwacher Esser, war er doch kein starker Trinker, obgleich er nie
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ein Mäßigkeitsapostel gewesen ist und als Sohn des Rheinlandes einen
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guten Tropfen zu schätzen wußte. Dagegen war er ein leidenschaftlicher
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Raucher und arger Zündhölzchenverschwender; er meinte, das »Kapital«
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werde ihm nicht einmal so viel einbringen, wie ihn die Zigarren gekostet hätten,
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die er beim Schreiben geraucht habe. Da er in den langen Jahren der Not sich wohl
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mit manchem zweifelhaften Kraut hatte begnügen müssen, so ist diese
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Leidenschaft seiner Gesundheit nicht zuträglich gewesen, und der Arzt mußte
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ihm wiederholt das Rauchen verbieten.</P>
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<P>Seine geistige Erfrischung und Erholung fand Marx in der schönen Literatur.
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Sie ist ihm all sein Lebtag eine wirksame Trösterin gewesen. Er besaß
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auf diesem Gebiete die ausgebreitetsten Kenntnisse, ohne je damit zu prunken;
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seine Werke verraten wenig davon, mit der einzigen Ausnahme der Streitschrift
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gegen Vogt, wo er zahlreiche Zitate aus allen europäischen Literaturen für
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seine künstlerischen Zwecke verwertete. Wie sein wissenschaftliches Hauptwerk
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ein ganzes Zeitalter widerspiegelt, so waren seine literarischen Lieblinge die
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großen Weltdichter, von deren Schöpfungen das gleiche gilt: von Aschylus
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und Homer über Dante, Shakespeare, Cervantes bis auf Goethe. Den Aschylus
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las er, wie Lafargue erzählt, jedes Jahr einmal im Urtext; seinen alten Griechen
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blieb er immer treu, und die armseligen Krämerseelen, die den Arbeitern die
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antike Kultur verleiden möchten, hätte er mit Ruten aus dem Tempel gepeitscht.</P>
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<P>Die deutsche Literatur kannte er bis hoch ins Mittelalter hinauf. Unter den
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Modernen stand ihm neben Goethe namentlich Heine nahe; Schiller scheint ihm in
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seiner Jugend verleidet worden zu sein, zur Zeit, wo sich der deutsche Philister
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an dem mehr oder minder mißverstandenen »Idealismus« dieses Dichters berauschte,
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was Marx nur als eine Vertauschung der platten mit der überschwänglichen
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Misere gelten lassen wollte.<A name="ZT2"></A><A href="fm03_509.htm#Z2"><SPAN class="top">[2]</SPAN></A> Seit seinem endgültigen Abschied von Deutschland
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hat sich Marx um die <A NAME="S512"></A><B>|512|</B> deutsche Literatur nicht
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mehr viel gekümmert; selbst die wenigen, die seiner Aufmerksamkeit wohl wert
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gewesen wären, wie Hebbel oder Schopenhauer, erwähnt er nie; der Mißhandlung
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der deutschen Göttersage durch Richard Wagner gilt gelegentlich ein scharfer
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Hieb.</P>
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<P>Unter den Franzosen stellte er Diderot sehr hoch; den »Neffen Rameaus« nannte
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er ein einziges Meisterwerk. Dies Wohlgefallen erstreckte sich auf die französische
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Aufklärungsliteratur des achtzehnten Jahrhunderts, von der Engels einmal
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sagt, daß in ihr der französische Geist nach Form und Inhalt bisher
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sein Höchstes geleistet habe, daß sie ihrem Inhalt nach, wenn man den
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damaligen Stand der Wissenschaft berücksichtige, noch heute unendlich hoch
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stehe und der Form nach nie wieder erreicht worden sei. Dementsprechend lehnte
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Marx die französischen Romantiker ab; namentlich Chateaubriand mit seiner
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falschen Tiefe, seiner byzantinischen Übertreibung, seiner buntfarbigen Gefühlskoketterie,
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kurzum seinem beispiellosen Lügenmischmasch, war ihm von jeher zuwider. Sehr
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begeistert war er von Balzacs »Menschlicher Komödie«, die ja auch ein ganzes
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Zeitalter im Spiegel der Dichtung auffängt; er wollte nach Vollendung seines
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großen Werkes über sie schreiben, doch ist dieser Plan, wie so viele
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andere, im Keime steckengeblieben.</P>
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<P>Seit seiner dauernden Ansiedlung in London trat die englische Literatur in
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den Vordergrund seiner literarischen Neigungen, und hier überragte alles
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andere die gewaltige Gestalt Shakespeares, mit dem in der ganzen Familie ein wahrer
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Kultus getrieben wurde. Leider hat Marx sich niemals über die Stellung Shakespeares
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zu den Schicksalsfragen seiner Zeit ausgelassen. Dagegen urteilte er über
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Byron und Shelley, wer diese Dichter liebe und verstehe, müsse es für
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ein Glück halten, daß Byron im sechsunddreißigsten Lebensjahre
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gestorben sei, denn er wäre bei längerer Lebensdauer ein reaktionärer
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Bourgeois geworden, dagegen beklagen, daß Shelley schon mit neunundzwanzig
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Jahren das Leben verloren habe; er sei durch und durch ein Revolutionär gewesen
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und würde stets zur Vorhut des Sozialismus gehört haben. Die englischen
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Romane des achtzehnten Jahrhunderts liebte Marx sehr, namentlich Fieldings »Tom
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Jones«, der in seiner Art ja ebenfalls ein Welt- und Zeitbild ist, doch erkannte
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er auch einzelne Romane Walter Scotts als Muster ihrer Gattung an.</P>
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<P>In seinem literarischen Urteile war Marx frei von aller politischen und sozialen
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Voreingenommenheit, wie schon seine Vorliebe für Shakespeare und Walter Scott
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zeigt, doch huldigte er ebensowenig jener »reinen Ästhetik«, die sich nur
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allzugern mit politischer Gleichgültigkeit oder gar Knechtseligkeit paart.
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Er war eben auch hier ein ganzer Mann, <A NAME="S513"></A><B>|513|</B> ein selbständiger
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und ursprünglicher Geist, der sich an keiner Schablone messen ließ.
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Auch darin nicht, daß er durchaus kein Kostverächter war und selbst
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solche literarische Kost nicht verschmähte, vor der sich der schulmäßige
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Ästhetiker dreimal bekreuzigt. Marx war ein großer Romanleser wie Darwin
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und Bismarck; eine besondere Vorliebe hatte er für abenteuerliche und humoristische
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Erzählungen; da stieg er dann wohl von seinen Cervantes und Balzac und Fielding
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zu den Paul de Kock und dem älteren Dumas herab, der den »Grafen von Monte
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Christo« auf dem Gewissen hat.</P>
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<P>Noch auf einem ganz anderen Gebiete, als der schönen Literatur, pflegte
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Marx geistig auszuruhen; namentlich in Tagen seelischen Schmerzes und schwerer
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Leiden nahm er gern seine Zuflucht zur Mathematik, die eine beruhigende Wirkung
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auf ihn ausübte. Ob er in ihr selbständige Entdeckungen gemacht hat,
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wie Engels und Lafargue behaupten, muß hier dahingestellt bleiben; Mathematiker,
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die seine hinterlassenen Manuskripte eingesehen haben, sollen anderer Ansicht
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sein.</P>
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<P>Bei alledem war Marx kein Wagner, der, in sein Museum gebannt, die Welt kaum
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einen Feiertag von weitem sah, noch auch nur ein Faust, dem zwei Seelen in seiner
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Brust wohnten. »Für die Welt arbeiten«, war eins seiner Lieblingsworte; wer
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so glücklich sei, sich wissenschaftlichen Zwecken widmen zu können,
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sollte auch seine Kenntnisse in den Dienst der Menschheit stellen. Dadurch erhielt
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Marx das Blut in seinen Adern und das Mark in seinen Knochen frisch. Im Kreise
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seiner Familie und seiner Freunde war er immer der heiterste und witzigste Gesellschafter,
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dem das herzliche Lachen aus breiter Brust klang, und wer den »Roten Schreckens-Doktor«
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suchte, wie Marx wohl seit den Tagen der Kommune genannt wurde, der fand keinen
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finstern Fanatiker oder verträumten Stubenhocker vor, sondern einen Mann
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von Welt, der in allen Sätteln gescheiter Unterhaltung gerecht war.</P>
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<P>Was dem Leser seiner Briefe oft so bewundernswert erscheint, nämlich wie
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dieser reiche Geist aus der prachtvollen Spannung stürmischen Zorns unmerklich
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hinübergleitet in die tiefe, aber ruhige See philosophischer Betrachtung,
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scheint nicht minder stark auf seine Hörer gewirkt zu haben. So schreibt
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Hyndman über seine Gespräche mit Marx: »Als er mit heftiger Entrüstung
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über die Politik der liberalen Partei, namentlich über ihre irische
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Politik sprach, da flammten die kleinen, tief eingesunkenen Augen des alten Kriegers
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auf, seine dichten Augenbrauen zogen sich zusammen, die breite, starke Nase und
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das Gesicht wurden ersichtlich von Leidenschaft bewegt, und er ließ einen
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Strom kräftiger Brandmarkung sich ergießen, der gleichzeitig das Feuer
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seines Temperaments wie seine <A NAME="S514"></A><B>|514|</B> wunderbare Gewalt
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über unsere Sprache zur Erscheinung brachte. Der Kontrast zwischen seinem
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Gebaren, wenn er durch Ärger tief erregt war, und seiner Haltung, wenn er
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dazu überging, seine Ansichten über die wirtschaftlichen Vorgänge
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der Zeit darzulegen, war sehr auffällig. Ohne jede ersichtliche Anstrengung
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ging er von der Rolle des Propheten und heftigen Anklägers zu der Rolle des
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ruhigen Philosophen über, und ich fühlte von Anfang an, daß manches
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lange Jahr verstreichen könnte, ehe ich aufgehört haben würde,
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auf diesem Gebiete als Schüler einem Lehrer gegenüberzustehen.«</P>
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<P>Dem Verkehr in der sogenannten Gesellschaft hielt sich Marx nach wie vor fern,
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obgleich er auch in bürgerlichen Kreisen viel bekannter geworden war als
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zwanzig Jahre früher; so war Hyndman durch ein konservatives Mitglied des
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Parlaments auf ihn aufmerksam gemacht worden. Wohl aber war sein eigenes Haus
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im Anfang der siebziger Jahre der Mittelpunkt eines sehr regen Verkehrs, eine
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andere »Herberge der Gerechtigkeit« für die Flüchtlinge der Kommune,
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die hier immer Rat und Hilfe fanden. Freilich brachte das unruhige Völkchen
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auch viel Ärger und Sorge mit sich; als es allmählich verschwand, konnte
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Frau Marx bei aller gastlichen Gesinnung doch den Stoßseufzer nicht unterdrücken:
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Wir hatten genug an ihnen.</P>
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<P>Doch gab es auch Ausnahmen. Im Jahre 1872 heiratete Charles Longuet, der im
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Rate der Kommune gesessen und deren offizielles Blatt redigiert hatte, Jenny Marx.
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Er verwuchs weder persönlich noch politisch so eng mit der Familie wie Lafargue,
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aber auch er war ein tüchtiger Mann; »er kocht, schreit und argumentiert
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wie früher«, schreibt Frau Marx einmal über ihn, »aber zu seiner Ehre
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muß ich ihm nachsagen, daß er seine Stunden im Kings College regelmäßig
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und zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten gegeben hat«. Die glückliche Ehe
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wurde durch den frühen Tod des ersten Kindes getrübt, aber dann wuchs
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»ein fetter, derber, prächtiger Junge« heran, zur Freude der ganzen Familie
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und nicht zum mindesten des Großvaters.</P>
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<P>Lafargues gehörten auch zu den Verbannten der Kommune und wohnten ganz
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in der Nachbarschaft. Sie hatten das Unglück gehabt, zwei Kinder in frühem
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Alter zu verlieren; unter dem Druck dieses Schicksalsschlages hatte Lafargue die
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ärztliche Praxis aufgegeben, weil sie ohne ein gewisses Maß von Scharlatanerie
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nicht auszuüben sei. »Ein Jammer, daß er dem alten Vater Äskulap
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untreu geworden ist«, meinte Frau Marx. Denn mit dem Betrieb eines photographisch-lithographischen
|
|
Ateliers wollte es nur langsam vorwärtsgehen, obgleich Lafargue, dem der
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Himmel glücklicherweise immer voll Geigen hing, »eine wahre <A NAME="S515"></A><B>|515|</B>
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Niggerarbeit in die Bresche« schickte und an seiner Frau eine mutige und unermüdliche
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Helferin fand. Jedoch gegen die Konkurrenz des großen Kapitals war schwer
|
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anzukämpfen.</P>
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<P>Auch die dritte Tochter fand in dieser Zeit einen französischen Bewerber
|
|
in Lissagaray, der später die Geschichte der Kommune geschrieben hat, in
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deren Reihen er gekämpft hatte. Eleanor Marx scheint ihm günstig gesinnt
|
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gewesen zu sein, aber ihr Vater hegte Bedenken gegen die Solidität des Freiers;
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nach langem Hin und Her ist aus der Sache nichts geworden.</P>
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<P>Im Frühjahr 1875 wechselte die Familie noch einmal die Wohnung, wenn auch
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|
nicht den Stadtteil; sie siedelte nach 41 Maitlandpark Road, Haverstock Hill über.
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Hier hat Marx die letzten Jahre gelebt, und hier ist er gestorben.</P>
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<H3 ALIGN="CENTER">2. Die deutsche Sozialdemokratie<A name="Kap_2"></A></H3>
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<P>Von der Krise, in die alle sonstigen Zweige der alten Internationalen dadurch
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geraten waren, daß sie sich zu nationalen Arbeiterparteien entwickelten,
|
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blieb die deutsche Sozialdemokratie verschont, dank dem Umstande, daß sie
|
|
sich von vornherein in nationalem Rahmen entwickelt hatte. Wenige Monate nach
|
|
dem Fiasko des Genfer Kongresses, am 10. Januar 1874, feierte sie bei den Reichstagswahlen
|
|
ihren ersten großen Wahlsieg, 350.000 Stimmen wurden gewonnen und neun Mandate
|
|
erobert, von denen drei den Lassalleanern und sechs den Eisenachern zufielen.</P>
|
|
<P>Es wirft nun aber das letzte und stärkste Licht auf die Ursachen, die
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|
den Niedergang der alten Internationalen verschuldet hatten, daß Marx und
|
|
Engels, die leitenden Köpfe ihres Generalrats, sich selbst mit derjenigen
|
|
aufblühenden Arbeiterpartei, die ihnen ihrer Abstammung nach am vertrautesten
|
|
sein mußte und ihren theoretischen Anschauungen am nächsten stand,
|
|
doch nur schwer verständigen konnten. Auch sie wandelten nicht ungestraft
|
|
unter Palmen; die internationale Warte, von der sie die Dinge überschauten,
|
|
hinderte sie, den einzelnen Nationen in Herz und Nieren zu sehen. Begeisterte
|
|
Verehrer, die ihnen in England und Frankreich entstanden sind, haben gleichwohl
|
|
eingeräumt, daß sie die englischen und französischen Zustände
|
|
niemals bis auf den letzten Grund durchschaut hätten. Auch mit den deutschen
|
|
Zuständen haben sie niemals wieder eine völlig vertraute Fühlung
|
|
gewonnen, seitdem sie ihre Heimat verlassen hatten; selbst in den eigentlichen
|
|
Parteifragen <A NAME="S516"></A><B>|516|</B> nicht, wo ihr nun einmal unbesiegbares
|
|
Mißtrauen gegen Lassalle und alles Lassallesche ihr Urteil trübte.</P>
|
|
<P>Das trat in recht bezeichnender Weise hervor, als der neugewählte Reichstag
|
|
zum ersten Male tagte. Von den sechs Eisenacher Vertretern saßen zwei, Bebel
|
|
und Liebknecht, noch im Gefängnis; das Auftretender anderen vier, Geib, Most,
|
|
Motteler und Vahlteich, rief aber unter den eigenen Anhängern große
|
|
Enttäuschung hervor; Bebel berichtet in seinen »Denkwürdigkeiten«, ihm
|
|
seien von den verschiedensten Seiten bittere Klagen darüber zugekommen, daß
|
|
sich die vier von den drei Lassalleanern Hasenclever, Hasselmann und Reimer den
|
|
parlamentarischen Rang hätten ablaufen lassen. Ganz anders sah Engels die
|
|
Sachlage an; er schrieb an Sorge: »Die Lassalleaner sind durch ihre Repräsentanten
|
|
im Reichstag so diskreditiert, daß die Regierung Verfolgungen gegen sie
|
|
einleiten muß, um dieser Bewegung wieder den Schein zu geben, als sei sie
|
|
ernstlich gemeint. Im übrigen haben die Lassalleaner seit den Wahlen sich
|
|
in der Notwendigkeit befunden, als Schwanz der Unsrigen aufzutreten. Ein wahres
|
|
Glück, daß Hasselmann und Hasenclever in den Reichstag gewählt.
|
|
Sie diskreditieren sich da zusehends; entweder müssen sie mit den Unseren
|
|
gehen oder aber auf eigene Faust Blödsinn machen. Beides ruiniert sie.« Gründlicher
|
|
ließen sich die Dinge nicht wohl verkennen.</P>
|
|
<P>Die parlamentarischen Vertreter beider Fraktionen vertrugen sich ganz gut miteinander
|
|
und ließen sich keine grauen Haare darum wachsen, ob auf der Tribüne
|
|
die einen etwas besser und die anderen etwas schlechter abschnitten. Beide Fraktionen
|
|
hatten den Wahlkampf so geführt, daß weder den Eisenachern der Vorwurf
|
|
des Halbsozialismus, noch den Lassalleanern der Vorwurf des Kokettierens mit der
|
|
Regierung gemacht werden konnte; beide hatten fast die gleiche Stimmenzahl erobert;
|
|
beide standen im Reichstag denselben Gegnern mit denselben Forderungen gegenüber,
|
|
und beide waren nach ihren Wahlerfolgen einer gleich heftigen Verfolgung durch
|
|
die Regierung ausgesetzt. Uneinig waren sie eigentlich nur noch in der Organisationsfrage,
|
|
aber auch dies letzte Hindernis räumte der streberische Eifer des Staatsanwalts
|
|
Tessendorff aus dem Wege, indem er von willigen Gerichtshöfen Beschlüsse
|
|
zu erreichen wußte, die sowohl die losere Organisation der Eisenacher wie
|
|
die straffere Organisation der Lassalleaner zertrümmerten.</P>
|
|
<P>So war die Einigung der beiden Fraktionen von selbst auf dem Marsche. Als schon
|
|
im Oktober 1874 Tölcke das Friedensangebot der Lassalleaner an Liebknecht
|
|
überbrachte, der inzwischen aus dem Gefängnis <A NAME="S517"></A><B>|517|*</B>
|
|
entlassen worden war, so griff dieser schnell zu, vielleicht etwas eigenmächtig,
|
|
aber doch mit einem Eifer, der deshalb nicht weniger ein Verdienst war, weil er
|
|
in London sehr übel vermerkt wurde. Für Marx und Engels blieben die
|
|
Lassalleaner nun einmal eine absterbende Sekte, die sich über kurz oder lang
|
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auf Gnade und Ungnade ergeben mußte. Mit ihnen auf dem Fuße der völligen
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Gleichberechtigung zu verhandeln, erschien ihnen als ein leichtsinniger Verstoß
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gegen die Interessen der deutschen Arbeiterklasse, und als nun gar im Frühjahr
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1875 der Entwurf des gemeinsamen Programms veröffentlicht wurde, über
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das sich die Vertreter der beiden Fraktionen geeignet hatten, da brausten beide
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in hellem Zorn auf.</P>
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<P>Am 5. Mai richtete Marx an die Führer der Eisenacher den sogenannten Programmbrief <A name="ZT3"></A><A href="fm03_509.htm#Z3"><SPAN class="top">[3]</SPAN></A>,
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nachdem Engels sich schon vorher mit einem ausführlichen Protest bei Bebel <A name="ZT4"></A><A href="fm03_509.htm#Z4"><SPAN class="top">[4]</SPAN></A>
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eingefunden hatte. Härter denn je sprang Marx darin mit Lassalle um. Dieser
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habe das »Kommunistische Manifest« auswendig gekannt, aber es grob verfälscht,
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um seine Allianz mit den absolutistischen und feudalen Gegnern wider die Bourgeoisie
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zu beschönigen, indem er alle anderen Klassen für eine reaktionäre
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Masse gegenüber der Arbeiterklasse erklärt habe. Dabei war das Schlagwort
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der »reaktionären Masse« gar nicht von Lassalle, sondern erst nach dessen
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Tode von Schweitzer geprägt worden, und als Schweitzer es aufbrachte, war
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er dafür von Engels ausdrücklich belobt worden. Wirklich entnommen hatte
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Lassalle dem »Kommunistischen Manifest« das von ihm so getaufte eherne Lohngesetz;
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dafür mußte er sich als Anhänger der Malthusischen Bevölkerungstheorie
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abkanzeln lassen, die er ebenso verworfen hatte, wie Marx und Engels sie verwarfen.</P>
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<P>Sah man jedoch von dieser höchst unerquicklichen Seite des Programmbriefs
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ab, so war er eine sehr lehrreiche Abhandlung über die Grundprinzipien des
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wissenschaftlichen Sozialismus, und von dem Koalitionsprogramm ließ er freilich
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keinen Stein auf dem andern. Gleichwohl hatte der wuchtige Brief bekanntlich keine
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andere Wirkung, als daß er die Empfänger zu ein paar kleinen, ziemlich
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belanglosen Verbesserungen ihres Entwurfs veranlaßte. Liebknecht hat ein
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paar Jahrzehnte später gesagt, die meisten, wenn nicht alle, seien zwar mit
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Marx einverstanden gewesen, und es hätte sich auch vielleicht auf dem Einigungskongreß
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eine Mehrheit dafür durchsetzen lassen, aber eine Minderheit wäre doch
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unzufrieden geblieben, und das hätte vermieden werden müssen, da es
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sich nicht um die Formulierung wissenschaftlicher Lehrsätze, sondern um die
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Einigung der beiden Fraktionen gehandelt habe.</P>
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<P><B><A NAME="S518">|518|</A></B> Eine weniger feierliche, aber dafür triftigere
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Erklärung findet die schweigende Beseitigung des Programmbriefes darin, daß
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er über den geistigen Horizont der Eisenacher ging, sogar noch mehr als über
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den geistigen Horizont der Lassalleaner. Marx hatte zwar wenige Monate vorher
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darüber geklagt, daß sich im Organ der Eisenacher von Zeit zu Zeit
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halbgelehrte Philisterphantasien geltend machten; das Zeug komme von Schulmeistern,
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Doktoren, Studenten, und dem Liebknecht müsse deshalb der Kopf gewaschen
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werden. Gleichwohl nahm er an, daß die realistische Auffassung, die der
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Partei so mühevoll beigebracht worden sei, aber nun auch Wurzeln geschlagen
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habe, von der Sekte der Lassalleaner durch ideologische Rechts- und andere, den
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Demokraten und französischen Sozialisten geläufige Flausen weggeschwemmt
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werden solle.</P>
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<P>Darin irrte Marx gänzlich. In theoretischen Fragen standen beide Fraktionen
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ziemlich auf gleicher Stufe, oder wenn ein Unterschied bestand, so waren die Lassalleaner
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einigermaßen im Vorsprung. Bei den Eisenachern stieß der Entwurf des
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Einigungsprogramms auf gar keinen Widerspruch, während ein Westdeutscher
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Arbeitertag, der nahezu ausschließlich von Lassalleanern beschickt worden
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war, ihn einer Kritik unterzog, die sich mannigfach mit der Kritik berührte,
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die Marx einige Wochen später an ihm übte. Indessen braucht darauf kein
|
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besonderer Nachdruck gelegt zu werden; dem wissenschaftlichen Sozialismus, wie
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ihn Marx und Engels begründet hatten, standen beide Teile noch fern; von
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der historisch-materialistischen Denkweise hatten sie kaum eine Ahnung, und auch
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das Geheimnis der kapitalistischen Produktionsweise blieb ihnen noch verschlossen;
|
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die Art, wie sich K. A. Schramm, der damals namhafteste Theoretiker der Eisenacher,
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mit der Werttheorie herumschlug, lieferte dafür den schlagendsten Beweis.</P>
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<P>Praktisch bewährte sich die Einigung, und insofern hatten auch Marx und
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Engels nichts gegen sie einzuwenden gehabt, es sei denn, daß sie meinten,
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die Eisenacher hätten sich von den Lassalleanern über das Ohr hauen
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lassen: hatte doch auch Marx in dem Programmbriefe gesagt: jeder Schritt praktischer
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Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme. Aber da die theoretische Unklarheit
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in der neuen Gesamtpartei eher zu- als abnahm, so sahen sie darin eine Wirkung
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der unnatürlichen Verschmelzung, und ihre Unzufriedenheit nahm eher schroffere
|
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als gelindere Formen an.</P>
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<P>Stutzig hätte sie freilich machen können, daß die ihnen ärgerlichen
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|
Dinge viel mehr von den ehemaligen Eisenachern ausgingen als von den ehemaligen
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Lassalleanern, von denen Engels gelegentlich meinte, <A NAME="S519"></A><B>|519|</B>
|
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sie würden bald die klarsten Köpfe sein, da sie in ihr - noch ein Jahr
|
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nach der Einigung fortbestehendes - Blatt am wenigsten Unsinn aufnähmen.
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Der Fluch der bezahlten Agitatoren, der Halbgebildeten, falle schwer auf ihre
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eigene Partei. Besonders gereizt war er durch Most, der »das ganze ›Kapital‹ exzerpiert
|
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und doch nichts daraus kapiert habe« und sich gewaltig für den Sozialismus
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Dührings ins Zeug legte. »Es ist klar«, schrieb Engels am 24. Mai 1876 an
|
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Marx, »in der Vorstellung dieser Leute hat sich Dühring durch seine hundskommunen
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Angriffe gegen Dich uns gegenüber unverletzlich gemacht, denn wenn wir seinen
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theoretischen Blödsinn lächerlich machen, so ist das Rache gegenüber
|
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jenen Personalien.« Aber auch Liebknecht bekam sein Teil. »Es ist W[ilhelms] Sucht,
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dem Mangel unsrer Theorie abzuhelfen, auf jeden Philistereinwand eine Antwort
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zu haben und von der zukünftigen Gesellschaft ein Bild zu haben, weil doch
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auch der Philister sie darüber interpelliert; und daneben auch theoretisch
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möglichst unabhängig von uns zu sein, was ihm bei seinem totalen Mangel
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aller Theorie von jeher weit besser gelungen ist, als er selbst weiß.« Mit
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Lassalle und dessen Überlieferungen hatte alles das nichts zu tun.</P>
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<P>Es war das rasche Anwachsen ihrer praktischen Erfolge, das die neue Gesamtpartei
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gleichgültig gegen die Theorie machte, und selbst das ist noch zuviel gesagt.
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Nicht die Theorie als solche mißachtete sie, sondern das, was sie in dem
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Eifer ihres kräftigen Vorwärtsschreitens für theoretische Haarspaltereien
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hielt. Um ihr aufsteigendes Gestirn sammelten sich verkannte Erfinder und Reformer,
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Impfgegner, Naturheilkundige und ähnliche schrullenhafte Genies, die in den
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arbeitenden Klassen, die sich so mächtig regten, die ihnen sonst versagte
|
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Anerkennung zu finden hofften. Wer nur guten Willen mitbrachte und irgendein Heilmittel
|
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für den kranken Gesellschaftskörper wußte, wurde willkommen geheißen,
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und zumal der Zustrom aus akademischen Kreisen, der den Bund zwischen Proletariat
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und Wissenschaft zu besiegeln verhieß. Ein Universitätslehrer nun gar,
|
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der sich mit dem Sozialismus, in dieser oder jener Schattierung des vieldeutigen
|
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Begriffs, anfreundete oder anzufreunden schien, brauchte keine allzu strenge Kritik
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seiner geistigen Habe zu befürchten.</P>
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<P>Vor allem war Dühring vor solcher Kritik gesichert, da vieles an dem Manne,
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Persönliches und Sachliches, die geistig regen Elemente der Berliner Sozialdemokratie
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anziehen mußte. Er besaß ohne Zweifel große Fähigkeiten
|
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und Gaben, und die Art, wie er, arm und frühzeitig völlig erblindet,
|
|
sich lange Jahre in der schwierigen Stellung eines Privatdozenten zu behaupten
|
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wußte, ohne jedes Zugeständnis an die herrschenden <A NAME="S520"></A><B>|520|*</B>
|
|
Klassen, auch auf dem Katheder seinen politischen Radikalismus bekennend, der
|
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nicht davor zurückscheute, Marat, Babeuf und die Männer der Kommune
|
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zu feiern, konnte den Arbeitern nur sympathisch sein. Seine Schattenseiten, die
|
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Anmaßung, womit er ein halbes Dutzend wissenschaftlicher Gebiete souverän
|
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zu beherrschen behauptete, auf deren keinem er schon wegen seines körperlichen
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Leidens wirklich heimisch war, und der immer wachsende Größenwahn,
|
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womit er seine Vorläufer niedersäbelte, auf philosophischem Gebiete
|
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die Fichte und Hegel ebenso, wie auf ökonomischem Gebiete die Marx und Lassalle,
|
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blieben im Hintergrunde oder wurden als Entgleisungen entschuldigt, die bei der
|
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geistigen Vereinsamung und den schweren Lebenskämpfen des Mannes begreiflich
|
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wären.</P>
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<P>Marx hatte die »hundskommunen« Angriffe Dührings gar nicht beachtet, und
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|
inhaltlich waren sie auch nicht dazu geeignet, ihn herauszufordern. Auch die beginnende
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Schwärmerei der Parteigenossen für Dühring ließ ihn noch
|
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lange kalt, obgleich Dühring mit seinem Unfehlbarkeitsbewußtsein und
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seinem System von »Wahrheiten letzter Instanz« alle Anlagen eines geborenen Sektenstifters
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besaß. Noch als Liebknecht, der in diesem Falle durchaus auf dem Posten
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war, durch Einsendung von Arbeiterbriefen sie auf die Gefahr einer Verflachungspropaganda
|
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in der Partei aufmerksam machte, lehnten Marx und Engels eine Kritik Dührings
|
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als »eine zu subalterne Arbeit« ab, und erst ein anmaßendes Schreiben, das
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Most im Mai 1876 an Engels richtete, scheint der Tropfen gewesen zu sein, der
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den Eimer zum Überlaufen brachte.</P>
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<P>Seitdem beschäftigte sich Engels eingehend mit dem, was Dühring seine
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»systemschaffenden Wahrheiten« nannte, und legte seine Kritik in einer Reihe von
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Aufsätzen nieder, die seit Neujahr 1.877 im »Vorwärts«, dem nunmehrigen
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Zentralorgan der Gesamtpartei, zu erscheinen begannen. Sie wuchsen sich zu der
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|
- nächst dem »Kapital« - bedeutendsten und erfolgreichsten Urkunde des wissenschaftlichen
|
|
Sozialismus aus, aber ihre Aufnahme durch die Partei zeigte, daß in der
|
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Tat Gefahr im Verzuge gewesen war. Es fehlte nicht viel, und der Jahreskongreß
|
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der Partei, der im Mai 1877 in Gotha tagte, hätte ein Ketzergericht über
|
|
Engels gehalten, wie es gleichzeitig der offizielle Universitätsklüngel
|
|
über Dühring hielt. Most brachte den Antrag ein, die Aufsätze gegen
|
|
Dühring aus dem Zentralorgan zu verbannen, da sie »für die weitaus größte
|
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Mehrheit der Leser des ›Vorwärts‹ völlig ohne Interesse oder gar höchst
|
|
anstoßerregend« seien, und Vahlteich, der sonst mit Most spinnefeind war,
|
|
stieß in dasselbe Horn, indem er sagte, der Ton, den Engels anschlage, müsse
|
|
zu einer Geschmacksverirrung führen und die <A NAME="S521"></A><B>|521|</B>
|
|
geistige Speise des »Vorwärts« ungenießbar machen. Glücklicherweise
|
|
wurde die ärgste Blamage durch die Annahme des vermittelnden Antrags verhindert,
|
|
daß die Fortsetzung dieser wissenschaftlichen Polemik aus agitatorisch-praktischen
|
|
Gründen nicht mehr im Hauptblatt, sondern in einer wissenschaftlichen Beilage
|
|
des »Vorwärts« erfolgen solle.</P>
|
|
<P>Zugleich beschloß dieser Kongreß, vom Oktober des Jahres ab eine
|
|
wissenschaftliche Halbmonatszeitschrift herauszugeben, auf Anregung und mit finanzieller
|
|
Unterstützung Karl Höchbergs, eines jener bürgerlichen Adepten
|
|
des Sozialismus, die damals in Deutschland so zahlreich waren. Er war der Sohn
|
|
eines Frankfurter Lotteriekollekteurs, ein noch junger, aber sehr wohlhabender,
|
|
dabei in höchstem Grade opferwilliger und uneigennütziger Mann; alle,
|
|
die ihn gekannt haben, stellen seinen persönlichen Eigenschaften das vortrefflichste
|
|
Zeugnis aus. Minder günstig muß man über seine literarisch-politische
|
|
Persönlichkeit urteilen, so wie sie sich in seinen Veröffentlichungen
|
|
spiegelt. Da erscheint Höchberg als ein recht farbloser und trockener Geist,
|
|
dem die Geschichte und die Theorie des Sozialismus unbekannt, dem namentlich die
|
|
wissenschaftlichen Anschauungen, die Marx und Engels entwickelt hatten, vollkommen
|
|
fremd waren. Er sah nicht in dem proletarischen Klassenkampf den Hebel zur Emanzipation
|
|
der Arbeiterklasse, sondern wollte auf dem Wege friedlicher und gesetzlicher Entwicklung
|
|
die besitzenden Klassen und namentlich ihre gebildeten Elemente für die Arbeitersache
|
|
gewinnen.</P>
|
|
<P>Marx und Engels wußten jedoch noch nichts Näheres über ihn,
|
|
als sie die Mitarbeit an der »Zukunft«, wie die neue Zeitschrift getauft wurde,
|
|
an ihrem Teile ablehnten; sie waren übrigens nur durch ein anonymes Rundschreiben
|
|
wie viele andere auch, um ihre Mitwirkung ersucht worden. Engels meinte, Kongreßbeschlüsse,
|
|
so respektabel sie auch auf dem Gebiete der praktischen Agitation wären,
|
|
gälten in der Wissenschaft gleich Null und reichten nicht hin, den wissenschaftlichen
|
|
Charakter einer Zeitschrift festzustellen, der nicht dekretiert werden könne.
|
|
Eine sozialistische wissenschaftliche Zeitschrift ohne ganz bestimmte wissenschaftliche
|
|
Richtung sei ein Unding, und bei der großen jetzt in Deutschland grassierenden
|
|
Verschiedenheit oder Unbestimmtheit der Richtungen fehle jede Bürgschaft,
|
|
daß die einzuschlagende Richtung ihnen passe.</P>
|
|
<P>Wie richtig ihre Zurückhaltung war, zeigte gleich das erste Heft der »Zukunft«.
|
|
Der Einführungsartikel Höchbergs war sozusagen ein neuer Aufguß
|
|
von allem, was sie an dem Sozialismus der vierziger Jahre als entnervend und verweichlichend
|
|
bekämpft hatten. So blieb ihnen jede peinliche Auseinandersetzung erspart.
|
|
Als ein deutscher Parteigenosse anfragte, ob sie wegen der Debatte auf dem Gothaer
|
|
Kongreß grollten, <A NAME="S522"></A><B>|522|</B> antwortete Marx: »›Ich
|
|
grolle nicht‹ (wie Heine sagt), und Engels ebensowenig. Wir beide geben keinen
|
|
Pfifferling für Popularität. Beweis z.B. im Widerwillen gegen allen
|
|
Personenkultus, habe ich während der Zeit der Internationalen die zahlreichen
|
|
Anerkennungsmanöver, womit ich von verschiednen Ländern aus molestiert
|
|
ward, nie in den Bereich der Publizität dringen lassen, ich habe auch nie
|
|
darauf geantwortet, außer hie und da durch Rüffel.« Er fügte nur
|
|
noch hinzu: »Aber solche Ereignisse, wie sie sich auf dem letzten Parteikongreß
|
|
zugetragen, sie werden gehörig exploitiert von den Feinden der Partei im
|
|
Ausland -, haben uns jedenfalls Vorsicht in unsren Verhältnissen zu den ›Parteigenossen
|
|
in Deutschland‹ aufgenötigt.« Das war aber nicht schlimm gemeint, denn Engels
|
|
setzte seine Aufsätze gegen Dühring in der wissenschaftlichen Beilage
|
|
des »Vorwärts« ruhig fort.</P>
|
|
<P>In sachlicher Beziehung wurde Marx aber doch schwer betroffen von dem »faulen
|
|
Geist«, der sich, nicht so sehr unter den Massen, als unter den Führern geltend
|
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mache. Am 19. Oktober schrieb er an Sorge: »Der Kompromiß mit den Lassalleanern
|
|
hat zum Kompromiß auch mit andern Halbheiten geführt, in Berlin (wie
|
|
<I>Most</I>) mit Dühring und seinen ›Bewunderern‹, außerdem aber mit
|
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einer ganzen Bande halbreifer Studiosen und überweiser Doctores, die dem
|
|
Sozialismus eine ›höhere, ideale Wendung‹ geben wollen, d.h. die materialistische
|
|
Basis (die ernstes objektives Studium erheischt, wenn man auf ihr operieren will)
|
|
zu ersetzen durch moderne Mythologie, mit ihren Göttinnen der Gerechtigkeit,
|
|
Freiheit und Gleichheit und fraternité. Herr Dr. Höchberg, der die
|
|
›Zukunft‹ herausgibt, ist ein Vertreter dieser Richtung und hat sich in die Partei
|
|
›eingekauft‹ - ich unterstelle mit den ›edelsten‹ Absichten, aber ich pfeife auf
|
|
›Absichten‹. Etwas Miserableres wie sein Programm der ›Zukunft‹, hat selten mit
|
|
mehr ›bescheidner Anmaßung‹ das Licht erblickt.«</P>
|
|
<P>Marx und Engels hätten in der Tat ihre ganze Vergangenheit verleugnen
|
|
müssen, wenn sie sich mit dieser »Richtung« jemals versöhnt hätten.</P>
|
|
<H3 ALIGN="CENTER">3. Anarchismus und Orientkrieg<A name="Kap_3"></A></H3>
|
|
<P>Auf dem Gothaer Kongreß von 1877 wurde auch beschlossen, einen sozialistischen
|
|
Weltkongreß zu beschicken, der im September desselben Jahres in Gent stattfinden
|
|
sollte. Zum Vertreter der deutschen Partei wurde Liebknecht gewählt.</P>
|
|
<P><B><A NAME="S523">|523|</A></B> Angeregt war dieser Kongreß durch die
|
|
Belgier worden, die in den anarchistischen Lehren inzwischen ein Haar gefunden
|
|
hatten und eine Wiedervereinigung der beiden Richtungen wünschten, die sich
|
|
auf dem Haager Kongreß getrennt hatten. Die bakunistische Richtung hatte
|
|
wie 1873 in Genf, so 1874 in Brüssel und 1876 in Bern ihre Kongresse abgehalten,
|
|
aber mit immer abnehmenden Kräften; sie zerfiel an den praktischen Bedürfnissen
|
|
des proletarischen Emanzipationskampf es, wie sie aus ihnen entstanden war.</P>
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|
<P>Gleich in dem Ursprunge dieser Wirren, dem Genfer Streit zwischen der fabrique
|
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und den gros métiers, offenbarten sich die wirklichen Gegensätze.
|
|
Hier eine gut gelohnte Arbeiterschaft mit politischen Rechten, die sie zum parlamentarischen
|
|
Kampfe befähigten, aber auch zu allerlei anfechtbaren Bündnissen mit
|
|
bürgerlichen Parteien verlockten; dort eine schlecht gelohnte und politisch
|
|
entrechtete Arbeiterschicht, die auf ihre nackte Kraft angewiesen war. Um diese
|
|
praktischen Gegensätze handelte es sich, und nicht, wie es in der legendenhaften
|
|
Überlieferung dargestellt zu werden pflegt, um den theoretischen Gegensatz:
|
|
Hier Vernunft, dort Unvernunft!</P>
|
|
<P>So einfach lagen die Dinge nicht und liegen sie auch heute nicht, wie die immer
|
|
neue Auferstehung des Anarchismus zeigt, sooft er auch schon mausetot geschlagen
|
|
worden ist. Man braucht ihn noch lange nicht zu <I>be</I>kennen, wenn man sich
|
|
davor hütet, ihn zu <I>ver</I>kennen. Ebenso wie man das <I>Be</I>kenntnis
|
|
zur politisch-parlamentarischen Beteiligung noch nicht zu verleugnen braucht,
|
|
wenn man nicht <I>ver</I>kennt, daß sie mit ihren, an sich gewiß annehmbaren
|
|
Reformen die Arbeiterbewegung auf einen toten Punkt führen kann, wo ihr der
|
|
revolutionäre Atem ausgeht. Es war doch kein Zufall, daß Bakunin eine
|
|
Reihe von Anhängern zählte, die sich die größten Verdienste
|
|
um den proletarischen Emanzipationskampf erworben haben. Liebknecht hat freilich
|
|
nie zu den Freunden Bakunins gehört, aber mindestens so eifrig wie dieser,
|
|
zur Zeit des Baseler Kongresses, die politische Enthaltung gefordert. Andere dagegen
|
|
wie Jules Guesde in Frankreich, Carl Cafiero in Italien, César de Paepe,
|
|
Pawel Axelrod in Rußland waren zur Zeit des Haager Kongresses und noch lange
|
|
nachher die eifrigsten Bakunisten; wenn sie dann ebenso eifrige Marxisten wurden,
|
|
so geschah es, wie der eine und der andere von ihnen ausdrücklich hervorgehoben
|
|
hat, nicht indem sie ihre bisherige Überzeugung über Bord warfen, sondern
|
|
nur indem sie an das anknüpften, was Bakunin mit Marx gemeinsam hatte.</P>
|
|
<P>Eine proletarische Massenbewegung wollten beide, und ihr Streit ging nur um
|
|
die Heerstraße, welche eine solche Bewegung zu marschieren <A NAME="S524"></A><B>|524|</B>
|
|
hatte. Nun aber zeigten die Kongresse der bakunistischen Internationalen, daß
|
|
der anarchistische Weg unpassierbar war.</P>
|
|
<P>Es würde an dieser Stelle zu weit führen, den schnellen Verfall des
|
|
Anarchismus an dem Verlauf seiner einzelnen Kongresse nachzuweisen. Das Zertrümmern
|
|
ging glücklich und gründlich genug vor sich; man schaffte den Generalrat
|
|
und den Jahresbeitrag ab, man verbot den Kongressen die Abstimmung über prinzipielle
|
|
Fragen und wehrte gerade noch mit Mühe dem Versuch, geistige Arbeiter von
|
|
der Internationalen auszuschließen. Aber mit dem Aufbauen, mit dem Entwurf
|
|
eines neuen Programms und einer neuen Taktik, sah es um so trüber aus. Auf
|
|
dem Genfer Kongreß stritt man namentlich über die Frage des Generalstreiks
|
|
als des einzigen und unfehlbaren Mittels der sozialen Umwälzung, kam aber
|
|
zu keiner Einigung, und noch viel weniger auf dem nächsten Kongreß
|
|
in Brüssel über die Frage der öffentlichen Dienste, den Hauptgegenstand
|
|
der Verhandlungen, über den de Paepe in einer Weise berichtete, die ihm den
|
|
nicht unberechtigten Vorwurf eintrug, daß er überhaupt den anarchistischen
|
|
Boden verlassen habe. Es liegt auf der Hand, wie notwendig de Paepes Entgleisung
|
|
war, wenn gerade über diese Frage etwas Greifbares gesagt werden sollte.
|
|
Nach heftigen Debatten wurde auch sie auf den nächsten Kongreß verschoben,
|
|
auf dem sie aber auch nicht entschieden wurde. Die Italiener erklärten überhaupt,
|
|
»die Ära der Kongresse sei abgeschlossen«, und verlangten die »Propaganda
|
|
der Tat«; innerhalb zweier Jahre brachten sie, gestützt auf eine Hungersnot,
|
|
auch sechzig Putsche fertig, aber der Erfolg für ihre Sache war gleich Null.</P>
|
|
<P>Mehr noch als durch den hoffnungslosen Wirrwarr seiner theoretischen Ansichten
|
|
verwuchs der Anarchismus dadurch zu einer verknöcherten Sekte, daß
|
|
er sich ablehnend zu allen praktischen Fragen stellte, die die unmittelbarsten
|
|
Interessen des modernen Proletariats berührten. Als in der Schweiz eine Massenbewegung
|
|
zugunsten des gesetzlichen Zehnstundentags sich entwickelte, lehnten die Anarchisten
|
|
die Beteiligung ab; ebenso als die flämischen Sozialisten einen Petitionsfeldzug
|
|
unternahmen, um das gesetzliche Verbot der Kinderarbeit in Fabriken durchzudrücken.
|
|
Natürlich verwarfen sie auch jeden Kampf ums allgemeine Wahlrecht oder, wo
|
|
dies Wahlrecht schon bestand, seine Benutzung. Gegenüber dieser dürren
|
|
und hoffnungslosen Politik traten die Erfolge der deutschen Sozialdemokratie in
|
|
ein um so glänzenderes Licht, und entfremdeten die Massen überall der
|
|
anarchistischen Propaganda.</P>
|
|
<P>Die Berufung eines sozialistischen Weltkongresses nach Gent, die der anarchistische
|
|
Kongreß in Bern 1876 für das nächste Jahr beschloß, <A NAME="S525"></A><B>|525|</B>
|
|
war schon von der Erkenntnis bestimmt, daß es dem Anarchismus mißlungen
|
|
sei, die Massen für sich zu gewinnen. Der Kongreß tagte vom 9. bis
|
|
15. September in Gent. Er war mit 42 Delegierten beschickt, von denen die Anarchisten
|
|
nur noch über einen festen Kern von 11 Mitgliedern unter Führung von
|
|
Guillaume und Kropotkin geboten; viele ihrer bisherigen Anhänger, darunter
|
|
die Mehrzahl der belgischen Delegierten und der Engländer Hales, schwenkten
|
|
zu dem sozialistischen Flügel über, der von Liebknecht, Greulich und
|
|
Franckel geführt wurde. Zwischen Liebknecht und Guillaume kam es zu einem
|
|
scharfen Zusammenstoß, als dieser die deutsche Sozialdemokratie beschuldigte,
|
|
bei den Reichstagswahlen ihr Programm in die Tasche zu stecken. Im allgemeinen
|
|
aber verliefen die Verhandlungen ganz friedlich; die Anarchisten hatten die Lust
|
|
an großen Worten verloren und stimmten ihre Reden auf einen sanften Mollton,
|
|
wodurch ihren Gegnern ein entgegenkommendes Verhalten ermöglicht wurde. Jedoch
|
|
zu dem geplanten »Solidaritätsvertrage« kam es nicht; dazu gingen die Meinungen
|
|
zu weit auseinander.</P>
|
|
<P>Marx hatte kaum etwas anderes erwartet; seine gespannte Aufmerksamkeit war
|
|
jetzt auf einen anderen Wetterwinkel gerichtet, aus dem er einen revolutionären
|
|
Sturm erwartete: auf den Russisch-Türkischen Krieg. Von zwei Briefen, durch
|
|
die er Liebknecht beriet, begann der erste, vom 4. Februar 1878: »Wir nehmen die
|
|
entschiedenste Partei für die Türken, aus zwei Gründen: 1. weil
|
|
wir den <I>türkischen Bauer</I> - also die türkische Volksmasse - studiert
|
|
und ihn daher als unbedingt einen der <I>tüchtigsten</I> und sittlichsten
|
|
Repräsentanten des Bauerntums in Europa kennengelernt haben. 2. Weil die
|
|
<I>Niederlage der Russen die soziale Umwälzung</I> ... deren Elemente massenhaft
|
|
vorhanden, sehr <I>beschleunigt</I> haben würde und damit den <I>Umschwung
|
|
in ganz Europa</I>.« Schon ein Vierteljahr früher hatte Marx an Sorge geschrieben:
|
|
»Diese Krise ist <I>ein neuer Wendepunkt</I> der europäischen Geschichte,
|
|
Rußland - und ich habe seine Zustände aus den <I>russischen</I> Originalquellen,
|
|
inoffiziellen und offiziellen (letztere nur wenigen Menschen zugänglich,
|
|
aber mir durch Freunde in Petersburg verschafft) studiert - stand schon lang an
|
|
der Schwelle einer Umwälzung; alle Elemente dazu fertig. Die braven Türken
|
|
haben die Explosion um Jahre beschleunigt durch die Keile, die sie nicht nur der
|
|
russischen Armee und den russischen Finanzen, sondern der die Armee <I>kommandierenden
|
|
Dynastie</I> (Zar, Thronfolger und sechs andre Romanows) höchsteigen persönlich
|
|
erteilt ... Das dumme Zeug, das die russischen Studenten machen, ist nur Symptom,
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an sich selbst wertlos. Aber es ist Symptom. Alle Schichten der russischen Gesellschaft
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sind ökonomisch, moralisch, intellektuell in voller Dekomposition.« Diese
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<A NAME="S526"></A><B>|526|</B> Beobachtungen haben sich als vollkommen richtig
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erwiesen, aber wie es ihm in seiner revolutionären Ungeduld oft passiert
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ist, so unterschätzte Marx in der Klarheit, womit er die Dinge ihren Weg
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nehmen sah, die Länge des Weges.</P>
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<P>Die anfänglichen Niederlagen der Russen schlugen in Erfolge um; wie Marx
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annahm, durch die heimliche Unterstützung Bismarcks, durch den Verrat Englands
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und Österreichs und nicht zuletzt auch durch die Schuld der Türken,
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die es versäumt hätten, durch eine Revolution in Konstantinopel das
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alte Serailregiment zu stürzen, das die beste Schutztruppe des Zaren gewesen
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sei. Ein Volk, das in solchen Momenten der höchsten Krise nicht revolutionär
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dreinzufahren wisse, sei verloren.</P>
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<P>So endete der Russisch-Türkische Krieg nicht mit einer europäischen
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Revolution, sondern mit einem Diplomatenkongresse, am selben Ort und zur selben
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Zeit, wo die deutsche Sozialdemokratie durch einen furchtbaren Schlag zerschmettert
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zu werden schien.</P>
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<H3 ALIGN="CENTER">4. Morgenröte<A name="Kap_4"></A></H3>
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<P>Trotz alledem begann eine neue Morgenröte am Welthorizonte zu dämmern.
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Das Sozialistengesetz, mit dem Bismarck die deutsche Sozialdemokratie zu zerschmettern
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gedachte, leitete nur ihr Heldenzeitalter ein, und so räumte es auch mit
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allen Irrungen und Wirrungen auf, die zwischen ihr und den beiden Alten in London
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bestanden.</P>
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<P>Freilich erst nach einem letzten Kampfe. Die deutsche Partei hatte die Attentatshetze
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und die Attentatswahlen im Sommer 1878 rühmlich genug bestanden. Aber in
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ihren Vorbereitungen auf den drohenden Schlag hatte sie nicht genügend erwogen,
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mit welcher Summe erbitterten Hasses sie zu rechnen hatte. Kaum war das Gesetz
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rechtskräftig geworden, als alle Versprechungen seiner loyalen Handhabung«,
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mit denen die Vertreter der Regierung die Bedenken des Reichstags beschwichtigt
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hatten, vollkommen vergessen waren und alle Einrichtungen der Partei so rücksichtslos
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zertrümmert wurden, daß Hunderte von Existenzen auf die Straße
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flogen. Selbst der sogenannte kleine Belagerungszustand wurde schon wenige Wochen
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später, in handgreiflichem Widerspruch mit dem Wortlaut des Gesetzes, über
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Berlin und Umgegend verhängt, und einigen sechzig Familienvätern ging
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sofort der Ausweisungsbefehl zu, der ihnen nicht nur ihr Brot, sondern auch ihre
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Heimat kostete.</P>
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<P><B><A NAME="S527">|527|</A></B> Dadurch allein schon entstand eine begreifliche
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und kaum vermeidliche Verwirrung. Hatte der Generalrat der Internationalen nach
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dem Falle der Kommune bereits geklagt, daß ihn die Sorge für die Kommuneflüchtlinge
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an der Erledigung seiner regelmäßigen Arbeiten monatelang gehindert
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habe, so hatte die deutsche Parteileitung nunmehr eine noch viel schwierigere
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Aufgabe zu lösen, auf Schritt und Tritt polizeilich behindert, wie sie war,
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und inmitten einer furchtbaren Wirtschaftskrise. Es kann auch nicht bestritten
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werden, daß der Sturm die Spreu von dem Korn sonderte, daß die bürgerlichen
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Elemente, die der Partei in den letzten Jahren zugeströmt waren, sich vielfach
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als unzuverlässig erwiesen, daß manche Führer sich nicht bewährten,
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andere, auch tüchtigere Männer sich durch die schweren Schläge
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der Reaktion entmutigt fühlten und die Feinde durch einen tatkräftigen
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Widerstand nur noch mehr zu reizen fürchteten.</P>
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<P>Von alledem waren Marx und Engels wenig erbaut, wobei sie gewiß die Schwierigkeiten
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unterschätzten, die zu überwinden waren. Aber selbst an der Haltung
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der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, die in der Zahl von neun Köpfen
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aus den Attentatswahlen hervorgegangen war, hatten sie berechtigte Ausstellungen
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zu machen. Einer von diesen, Max Kayser, hielt es für richtig, bei der Beratung
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eines neuen Zolltarifs für höhere Eisenzölle zu sprechen und zu
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stimmen, was einen sehr peinlichen Eindruck machen mußte. Denn alle Welt
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wußte, daß der neue Zolltarif die Aufgabe hatte, ein paar hundert
|
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Millionen mehr jährlich in die Reichskasse zu liefern, die Grundrente des
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landwirtschaftlichen Grundbesitzes gegen die amerikanische Konkurrenz zu schützen
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und der Großindustrie zu ermöglichen, die Wunden zu heilen, die sie
|
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sich selbst im Taumel der Gründerjahre geschlagen hatte, und daß nicht
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zuletzt deshalb das Sozialistengesetz erlassen worden war, um den Widerstand der
|
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Massen gegen die ihnen drohende Auspowerung zu brechen.</P>
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<P>Als Bebel die Abstimmung Kaysers mit dessen fleißigen Studien über
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die Eisenzollfrage rechtfertigen wollte, antwortete Engels kurz und bündig:
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»Wenn seine Studien einen Pfennig wert, so mußten sie ihn lehren, daß
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in Deutschland <I>zwei</I> Hüttenwerke sind, Dortmunder Union und Königs-
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und Laurahütte, deren <I>jedes</I> imstande ist, <I>den ganzen inländischen
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Bedarf zu decken</I>: daneben auch die vielen kleineren, daß hier also Schutzzoll
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reiner Unsinn ist, daß hier nur Eroberung des auswärtigen Marktes helfen
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kann, also absoluter Freihandel oder aber <I>Bankrott</I>; daß die Eisenfabrikanten
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selbst den Schutzzoll nur wünschen können, wenn sie sich zu einem <I>Ring</I>,
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einer Verschwörung zusammengetan haben, die dem <I>inneren Markt Monopolpreise
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|
aufzwingt</I>, um dagegen <A NAME="S528"></A><B>|528|*</B> die überschüssigen
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Produkte auswärts zu Schleuderpreisen loszuschlagen, <I>wie sie dies im Augenblick
|
|
bereits tatsächlich tun</I>. Im Interesse dieses Ringes, dieser Monopolistenverschwörung,
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hat K[ayser] gesprochen, und soweit er für Eisenzölle stimmte, auch
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gestimmt.« Als nun auch Karl Hirsch in der »Laterne« mit Kaysers Taktik unsanft
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genug ins Gericht ging, verfiel die Fraktion auf den unglücklichen Gedanken,
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die Beleidigte zu spielen, da Kayser mit ihrer Genehmigung gesprochen habe. Damit
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verdarb sie es bei Marx und Engels vollends; »sie sind schon so weit vom parlamentarischen
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Idiotismus angegriffen, daß sie glauben, <I>über der Kritik</I> zu
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stehn, daß sie die Kritik als ein crime de lésemajesté [Mehring
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übersetzt: Majestätsverbrechen] verdonnern« meinte Marx.</P>
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<P>Karl Hirsch war ein junger Schriftsteller, der sich als stellvertretender Redakteur
|
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des »Volksstaats« während Liebknechts mehrjähriger Festungshaft seine
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Sporen verdient und seither in Paris gelebt hatte, aber von hier nach Erlaß
|
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des deutschen Ausnahmegesetzes ausgewiesen war. Er tat nun, was die deutsche Parteileitung
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von Anfang an hätte tun sollen: er gab seit Mitte Dezember 1878 in Breda
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in Belgien »Die Laterne« heraus, ein Wochenblättchen im Format und Stil von
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Rocheforts »Lanterne«, so daß es in einfachen Briefumschlägen nach
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Deutschland versandt werden konnte, um hier ein Sammel- und Stützpunkt der
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sozialdemokratischen Bewegung zu werden. Die Absicht war gut und Hirsch prinzipiell
|
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ein durchaus klarer Kopf, aber die von ihm gewählte Form, kurze, geistreich
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pointierte Epigramme, entsprach wenig den Bedürfnissen eines Arbeiterblattes.
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|
Darin traf es die »Freiheit« glücklicher, ein Wochenblatt, das Most wenige
|
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Wochen später mit Hilfe des Kommunistischen Arbeiterbildungsvereins in London
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herauszugeben begann; nur daß es sich nach leidlich vernünftigen Anfängen
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in eine ziellose Revolutionsspielerei verlor.</P>
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<P>Für die deutsche Parteileitung wurde mit dem Erscheinen dieser beiden,
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gewissermaßen wild gewachsenen und von ihr unabhängigen Parteiblätter
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die Frage eines ausländischen Preßorgans brennend. Bebel und Liebknecht
|
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traten mit allem Nachdruck dafür ein, und es gelang ihnen auch, den noch
|
|
immer sehr zähen Widerstand einflußreicher Parteikreise zu überwinden,
|
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die an der Taktik vorsichtiger Zurückhaltung festhalten wollten. Mit Most
|
|
war schon keine Einigung mehr möglich, aber Hirsch gab die »Laterne« auf
|
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und erklärte sich bereit, die Redaktion des neuen Organs zu übernehmen;
|
|
auch Marx und Engels, die in Hirsch volles Vertrauen setzten, waren zur Mitarbeit
|
|
bereit. Das neue Blatt sollte als Wochenschrift in Zürich erscheinen, und
|
|
mit seiner <A NAME="S529"></A><B>|529|</B> Vorbereitungen wurden drei Parteigenossen
|
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beauftragt, die in Zürich, lebten: der Versicherungsbeamte Schramm, der aus
|
|
Berlin ausgewiesen worden war, Karl Höchberg und Eduard Bernstein, den Höchberg
|
|
als literarischen Beirat gewonnen hatte.</P>
|
|
<P>Sie hatten es aber offenbar nicht eilig mit dem Auftrage, der ihnen erteilt
|
|
worden war, und der Grund ihres Zögerns wurde offenbar, als sie im Juli 1879
|
|
mit einem eigenen »Jahrbuch für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« hervortraten,
|
|
das zweimal im Jahre erscheinen sollte. Der Geist, worin es redigiert war, offenbarte
|
|
sich namentlich in einem Artikel, der »Rückblicke auf die sozialistische
|
|
Bewegung« warf und mit drei Sternen gezeichnet war. Doch waren seine eigentlichen
|
|
Verfasser Höchberg und Schramm; Bernstein hatte nur wenige Zeilen beigesteuert.</P>
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<P>Inhaltlich aber war der Artikel eine unglaublich geschmack- und taktlose Kapuzinade
|
|
über die Sünden der Partei, über ihren Mangel an »gutem Ton«, über
|
|
ihre Sucht zu schimpfen, über ihre Koketterie mit den Massen und ihre Mißachtung
|
|
der gebildeten Klassen, und was sonst von jeher die Schneiderseele des Philisters
|
|
an proletarischen Bewegungen zu ärgern pflegt. Ihrer praktischen Weisheit
|
|
letzter Schluß aber war, die erzwungene Muße des Sozialistengesetzes
|
|
zur Buße und Einkehr zu benutzen. Marx und Engels waren über das Machwerk
|
|
empört; in einem privaten Rundschreiben an die leitenden Parteikreise forderten
|
|
sie kategorisch, daß man Leute mit solchen Gesinnungen, wenn man sie einmal
|
|
aus praktischen Gründen in der Partei dulden wolle, wenigstens nicht an hervorragender
|
|
Stelle sprechen lassen solle.<A name="ZT5"></A><A href="fm03_509.htm#Z5"><SPAN class="top">[5]</SPAN></A> Dies Recht hat freilich auch Höchberg nicht
|
|
eingeräumt erhalten, sondern er hatte es sich einfach genommen, wie er denn
|
|
auch ganz eigenmächtig verfahren zu sein scheint, als er für das »Dreigestirn«
|
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in Zürich ein Überwachungsrecht über die Redaktion Hirsch beanspruchte
|
|
und sich eine Redaktionsführung im Stil der »Laterne« verbat. Daraufhin sagten
|
|
sich Hirsch und die beiden Alten in London von jeder Beteiligung an dem neuen
|
|
Blatte los.</P>
|
|
<P>Aus dem vielen Hin- und Hergeschreibe in der Sache haben sich nur Bruchstücke
|
|
erhalten. Daraus geht freilich hervor, daß Bebel und Liebknecht mit den
|
|
Ansprüchen des »Dreigestirns« keineswegs einverstanden gewesen, aber man
|
|
sieht nicht recht, weshalb sie nicht rechtzeitig dazwischengefahren sind. Höchberg
|
|
selbst war nach London gekommen, wo er jedoch nur Engels antraf, der von seinen
|
|
konfusen Anschauungen den schlechtesten Eindruck empfing, sowenig er oder Marx
|
|
je an den guten Absichten des Mannes gezweifelt haben. Die gegenseitige Erbitterung
|
|
war auch wenig geeignet, ein rechtzeitiges Einvernehmen zu fördern; am 19.
|
|
September 1879 schrieb Marx an Sorge, würde das neue Wochenblatt <A NAME="S530"></A><B>|530|*</B>
|
|
im Stil Höchbergs redigiert werden, so wären sie gezwungen, öffentlich
|
|
gegen solche »Verluderung« der Partei und der Theorie aufzutreten. »Die Herren
|
|
sind also vorgewarnt und kennen uns auch genug um zu wissen, daß es hier
|
|
heißt: Biegen oder Brechen! Wollen sie sich kompromittieren, tant pis! [Mehring
|
|
übersetzt: um so schlimmer!] Uns zu kompromittieren wird ihnen in keinem
|
|
Fall gestattet.«</P>
|
|
<P>Glücklicherweise ist es nicht zu dem Äußersten gekommen. Vollmar
|
|
übernahm die Redaktion des Züricher »Sozialdemokraten« und führte
|
|
sie zwar »miserabel« genug, wie Marx und Engels meinten, aber doch nicht so, daß
|
|
sie einen Anlaß zum öffentlichen Protest gehabt hätten. Es gab
|
|
nur »beständige Korrespondenzauseinandersetzungen mit den Leipzigern, wobei
|
|
's oft scharf hergeht«. Das »Dreigestirn« erwies sich auch als ungefährlich.
|
|
Schramm hielt sich völlig zurück; Höchberg war häufig verreist,
|
|
und Bernstein befreite sich unter dem Druck der Ereignisse von aller katzenjämmerlichen
|
|
Stimmung, wie es gleichmäßig und gleichzeitig vielen Parteigenossen
|
|
erging, die bis dahin die Dinge ein wenig hatten an sich herankommen lassen. Nicht
|
|
zuletzt mochte zur Beruhigung der Gemüter beitragen, daß Marx und Engels
|
|
den ungeheuren Schwierigkeiten, mit denen die deutsche Parteileitung zu kämpfen
|
|
hatte, nachgerade in höherem Grade gerecht wurden, als es anfangs wohl geschehen
|
|
war. Am 5. November 1880 schrieb Marx an Sorge: »Denen, comparativement parlant
|
|
[Mehring übersetzt: die vergleichsweise] ruhig im Auslande sitzen, ziemt
|
|
es nicht, den unter den schwierigsten Umständen und mit großen persönlichen
|
|
Opfern im Inland Wirkenden, zum Gaudium der Bourgeois und der Regierung, ihre
|
|
Position noch zu erschweren.«Wenige Wochen darauf wurde sogar ein förmlicher
|
|
Friede geschlossen.</P>
|
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<P>Vollmar hatte seine Redaktionsstelle zum 31. Dezember 1880 gekündigt,
|
|
und es war in entgegenkommendem Sinne gemeint, daß die deutsche Parteileitung
|
|
nunmehr Karl Hirsch zu berufen beschloß. Da Hirsch zur Zeit in London lebte,
|
|
entschloß sich Bebel, hinüberzufahren, um mit ihm zu verhandeln; zugleich
|
|
wollte er sich, was längst schon geplant war, einmal gründlich mit Marx
|
|
und Engels aussprechen, und er nahm auch Bernstein mit, um das Vorurteil zu zerstreuen,
|
|
das gegen diesen, der sich inzwischen durchaus bewährt hatte, noch immer
|
|
in London bestand. Der Kanossagang nach London, wie er in Parteikreisen genannt
|
|
wurde, erreichte seine verschiedenen Zwecke durchaus; nur daß Karl Hirsch
|
|
seine anfängliche Zusage nachträglich dahin einschränkte, er wolle
|
|
den »Sozialdemokraten« von London aus redigieren. Das wurde abgelehnt, und das
|
|
Ende vom Liede war, daß Bernstein zunächst vorläufig <A NAME="S531"></A><B>|531|*</B>,
|
|
dann aber endgültig mit der Redaktion betraut wurde, die er, nicht zuletzt
|
|
zur Zufriedenheit der Londoner, mit Ehren führte. Und als ein Jahr darauf
|
|
die ersten Reichstagswahlen unter dem Sozialistengesetz stattfanden, jubelte Engels:
|
|
So famos hat sich noch kein Proletariat geschlagen.</P>
|
|
<P>Auch in Frankreich leuchteten günstige Sterne. Nach der blutigen Maiwoche
|
|
des Jahres 1871 hatte Thiers den noch immer zitternden Bourgeois von Versailles
|
|
verkündigt, daß der Sozialismus für Frankreich tot sei, unbekümmert
|
|
darum, daß er sich mit der gleichen Versicherung schon einmal, nach den
|
|
Junitagen von 1848, als falscher Prophet erwiesen hatte. Er mochte glauben, daß
|
|
der um so kräftigere Aderlaß - man berechnete 1871 den Verlust der
|
|
Pariser Arbeiterschaft durch die Straßenkämpfe, die Hinrichtungen,
|
|
die Deportationen, die Galeerenstrafen, die Auswanderung auf 100.000 Köpfe
|
|
- um so wirksamer sein werde. Aber er täuschte sich nur um so gründlicher.
|
|
Nach 1848 hatte der Sozialismus immerhin an zwei Jahrzehnte gebraucht, um aus
|
|
seiner Betäubung und seinem Schweigen zu erwachen; nach 1871 aber brauchte
|
|
er nur ein halbes Jahrzehnt, um sich wieder anzumelden. Schon 1876, als die Kriegsgerichte
|
|
noch ihre Blutarbeit verrichteten und Verteidiger der Kommune füsiliert wurden,
|
|
tagte der erste Arbeiterkongreß in Paris.</P>
|
|
<P>Freilich war er zunächst nur eine Anmeldung. Er stand unter der Gönnerschaft
|
|
der bürgerlichen Republikaner, die an den Arbeitern eine Stütze gegen
|
|
die monarchistischen Krautjunker suchten, und seine Beschlüsse bewegten sich
|
|
um das harmlose Genossenschaftswesen, wie es etwa Schulze-Delitzsch in Deutschland
|
|
vertrat. Aber daß es dabei nicht bleiben würde, ließ sich voraussehen.
|
|
Die mechanische Großindustrie, die sich seit dem Handelsvertrage mit England
|
|
vom Jahre 1803 langsam entwickelt hatte, war nach 1870 ungleich schneller gewachsen.
|
|
Sie hatte hohen Anforderungen gerecht zu werden: die Schäden zu heilen, die
|
|
der Krieg dem dritten Teile Frankreichs zugefügt hatte, die Mittel für
|
|
den riesigen Aufbau eines neuen Militarismus zu schaffen, endlich die Lücke
|
|
auszufüllen, die durch den Verlust des Elsasses entstanden war, derjenigen
|
|
französischen Provinz, die bis 1870 industriell am entwickeltsten gewesen
|
|
war. Was von ihr beansprucht wurde, verstand die große Industrie zu leisten.
|
|
In allen Teilen des Landes schossen Fabriken empor und schufen ein industrielles
|
|
Proletariat, das in den Blütetagen der alten Internationalen eigentlich doch
|
|
nur erst in einigen Städten des nordöstlichen Frankreichs vorhanden
|
|
gewesen war.</P>
|
|
<P>Diese Voraussetzung erklärte die schnellen Erfolge, die Jules Guesde errang,
|
|
als er sich mit seiner zündenden Beredsamkeit in die Arbeiterbewegung <A NAME="S532"></A><B>|532|*</B>
|
|
warf, die mit dem Pariser Kongreß von 1876 eingesetzt hatte. Eben erst vom
|
|
Anarchismus bekehrt, zeichnete sich Guesde nicht durch theoretische Klarheit aus,
|
|
wie man heute noch in der von ihm 1877 gegründeten »Égalité«
|
|
erkennen kann; obgleich »Das Kapital« schon ins Französische übersetzt
|
|
und veröffentlicht worden war, wußte er nichts von Marx, dessen Theorien
|
|
ihm erst durch Karl Hirsch bekannt wurden. Aber er hatte den Gedanken des Gemeineigentums
|
|
am Grund und Boden und an den produzierten Produktionsmitteln mit voller Entschiedenheit
|
|
und Klarheit erfaßt, und mit diesem letzten Worte des proletarischen Emanzipationskampfs,
|
|
das auf den Kongressen der alten Internationalen auf den heftigsten Widerstand
|
|
der französischen Delegierten zu stoßen pflegte, wußte Guesde,
|
|
ein Rednertalent ersten Ranges und ein scharfsinniger Polemiker, die französischen
|
|
Arbeiter aufzustürmen.</P>
|
|
<P>Er hatte den Erfolg, daß bereits auf dem zweiten Arbeiterkongresse, der
|
|
im Februar 1878 in Lyon tagte und nach der Absicht seiner Veranstalter nur eine
|
|
neue Auflage des Pariser Kongresses werden sollte, sich eine Minderheit von zwanzig
|
|
Delegierten um seine Fahne sammelte. Nunmehr wurde die Sache für die Regierung
|
|
und die Bourgeoisie brenzlich; man begann die Arbeiterbewegung zu verfolgen, und
|
|
es gelang auch, die »Égalité« durch Geld- und Gefängnisstrafen
|
|
ihrer Redakteure zu unterdrücken. Aber Guesde und seine Genossen ließen
|
|
sich nicht entmutigen; sie arbeiteten unverdrossen weiter, und auf dem dritten
|
|
Arbeiterkongresse, der im Oktober 1879 in Marseille tagte, hatten sie die Mehrheit
|
|
für sich, die sich sofort als sozialistische Partei auftat und für den
|
|
politischen Kampf organisierte. Die »Égalité« erstand wieder und
|
|
gewann an Lafargue einen fleißigen Mitarbeiter, der fast alle ihre theoretischen
|
|
Artikel schrieb, wenig später begann Malon, auch er ein ehemaliger Bakunist,
|
|
die »Revue socialiste« herauszugeben, die Marx und Engels mit einzelnen Beiträgen
|
|
unterstützten.</P>
|
|
<P>Dann begab sich Guesde im Frühjahr 1880 nach London, um mit Marx, Engels
|
|
und Lafargue ein Wahlprogramm für die junge Partei zu entwerfen. Man einigte
|
|
sich auf das sogenannte Minimalprogramm, das nach einer kurzen Einleitung, die
|
|
in wenigen Zeilen das kommunistische Ziel erläuterte, in seinem ökonomischen
|
|
Teil nur aus Forderungen bestand, die aus der Arbeiterbewegung unmittelbar hervorwuchsen.
|
|
Man einigte sich freilich nicht über jeden einzelnen Punkt; als Guesde darauf
|
|
drängte, die Forderung eines gesetzlich festgestellten Minimallohns in das
|
|
Programm aufzunehmen, meinte Marx, wenn das französische Proletariat noch
|
|
so kindisch sei, solcher Köder zu bedürfen, so sei es nicht erst der
|
|
Mühe wert, ein Programm aufzustellen.</P>
|
|
<P><B><A NAME="S533">|533|</A></B> Indessen war das nicht so schlimm gemeint;
|
|
im ganzen betrachtete Marx das Programm als einen gewaltsamen Schritt, die französischen
|
|
Arbeiter aus ihrem Phrasennebel auf den Boden der Wirklichkeit herabzuziehen,
|
|
und sowohl aus der Opposition wie aus der Zustimmung, die es fand, schloß
|
|
er, daß die erste wirkliche Arbeiterbewegung in Frankreich entstehe. Bisher
|
|
hätte es dort nur Sekten gegeben, die natürlich ihr Losungswort vom
|
|
Sektenstifter erhalten hätten, während die Masse des Proletariats den
|
|
radikalen oder radikaltuenden Bourgeois folgte und sich am Tage der Entscheidung
|
|
für sie schlüge, um den Tag darauf von den Leuten, die sie ans Ruder
|
|
gebracht hätte, niedergemetzelt, deportiert usw. zu werden. Deshalb war Marx
|
|
auch sehr einverstanden damit, daß seine Schwiegersöhne, sobald ihnen
|
|
die der französischen Regierung abgetrotzte Amnestie der Kommunards die Rückkehr
|
|
ermöglichte, nach Frankreich übersiedelten: Lafargue, um gemeinsam mit
|
|
Guesde zu arbeiten, Longuet, um eine einflußreiche Redakteurstelle in der
|
|
»Justice« Clemenceaus zu übernehmen, der an der Spitze der äußersten
|
|
Linken stand.</P>
|
|
<P>Anders, aber im Sinne von Marx noch erfreulicher, lagen die Dinge in Rußland.
|
|
Hier wurde sein Hauptwerk eifriger gelesen und lebhafter anerkannt als irgendwo
|
|
anders; namentlich in der jüngeren Gelehrtenwelt gewann Marx viele Anhänger
|
|
und zum Teil auch persönliche Freunde. Aber den beiden Hauptrichtungen der
|
|
damaligen russischen Massenbewegung, soweit es eine solche gab, der Partei des
|
|
Volkswillens und der Partei der schwarzen Umteilung, war seine Auffassung und
|
|
Lehre noch ganz fremd. Beide standen wenigstens insoweit noch ganz auf bakunistischem
|
|
Boden, als es ihnen vor allen Dingen auf die bäuerliche Klasse ankam. Die
|
|
Frage, auf die es ihnen in erster Reihe ankam, formulierten Marx und Engels so:
|
|
Kann die russische Bauerngemeinde, diese allerdings schon sehr zersetzte Form
|
|
des urwüchsigen Gemeineigentums am Boden, unmittelbar übergehen in eine
|
|
höhere kommunistische Form des Grundeigentums, oder aber muß sie vorher
|
|
denselben Auflösungsprozeß durchmachen, der sich in der historischen
|
|
Entwicklung des Westens darstellt?</P>
|
|
<P>Die »einzige, heute mögliche« Antwort auf diese Frage gaben Marx und Engels
|
|
in der Vorrede zu einer neuen, von Vera Sassulitsch verfaßten Übersetzung
|
|
des »Kommunistischen Manifestes« ins Russische mit den Worten: »Wird die russische
|
|
Revolution das Signal zu einer proletarischen Revolution im Westen, so daß
|
|
beide einander ergänzen, so kann das jetzige russische Gemeineigentum am
|
|
Boden zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen.«<A name="ZT6"></A><A href="fm03_509.htm#Z6"><SPAN class="top">[6]</SPAN></A> Diese Auffassung
|
|
erklärt <A NAME="S534"></A><B>|534|*</B> die leidenschaftliche Parteinahme,
|
|
die Marx für die Partei des Volkswillens bekundete, deren terroristische
|
|
Politik den Zaren zum Gefangenen der Revolution in Gatschina machte, während
|
|
er mit einer gewissen Härte über die Partei der schwarzen Umteilung
|
|
urteilte, die alle politisch-revolutionäre Aktion ablehnte und sich auf die
|
|
Propaganda beschränkte. Gehörten doch gerade dieser Partei Männer
|
|
wie Axelrod und Plechanow an, die so viel dazu beigetragen haben, die russische
|
|
Arbeiterbewegung mit marxistischem Geiste zu erfüllen.</P>
|
|
<P>Endlich begann es auch in England zu tagen. Im Juni 1881 erschien ein kleines
|
|
Buch: »England für Alle«; es war von Hyndman verfaßt und sollte das
|
|
Programm der Demokratischen Föderation darstellen, einer Assoziation, die
|
|
sich eben aus verschiedenen, englischen und schottischen radikalen Gesellschaften,
|
|
halb Bourgeois, halb Proletariern, gebildet hatte. Die Kapitel über Arbeit
|
|
und Kapital waren wörtliche Auszüge oder Umschreibungen aus dem »Kapital«
|
|
von Marx, doch nannte Hyndman weder das Werk noch dessen Verfasser, sondern bemerkte
|
|
nur am Schluß der Vorrede, für den Gedankeninhalt, wie für einen
|
|
großen Teil des stofflichen Inhalts sei er dem Werke eines großen
|
|
Denkers und selbständigen Schriftstellers verpflichtet. Diese sonderbare
|
|
Art des Zitierens machte Hyndman noch kränkender durch die Entschuldigungen,
|
|
durch die er sie vor Marx zu rechtfertigen suchte: dessen Name sei zu verrufen,
|
|
die Engländer ließen sich ungern von Fremden belehren und was dessen
|
|
mehr war. Marx brach darauf mit Hyndman, den er zudem für ein »schwaches
|
|
Gefäß« hielt.</P>
|
|
<P>Große Genugtuung bereitete ihm dagegen noch in demselben Jahre ein Aufsatz
|
|
über ihn, den Belfort Bax im Dezemberheft einer englischen Monatsschrift
|
|
veröffentlichte. Zwar fand Marx, daß die biographischen Notizen darin
|
|
meistens unrichtig und auch in der Darstellung seiner ökonomischen Prinzipien
|
|
vieles falsch und konfus sei, aber es sei die erste englische Veröffentlichung
|
|
dieser Art, die von einem wirklichen Enthusiasmus für die neuen Ideen selbst
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durchweht sei und sich kühn gegen britisches Philistertum aufrichte; trotz
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alledem habe das Erscheinen dieses Artikels, mit großen Lettern in Plakaten
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auf den Wänden von Westend London angekündigt, großes Aufsehen
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erregt.</P>
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<P>Wenn Marx so an Sorge schrieb, so scheint der eiserne Mann, der für Lob
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und Tadel so unempfindlich war, einmal einen leichten Anfall von Selbstgefälligkeit
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gehabt zu haben, und nichts wäre verzeihlicher gewesen. Aber er schrieb nur
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aus einem tieferschütterten Gemüte, wie aus den Schlußsätzen
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des Briefes hervorging: »Das wichtigste dabei für mich <A NAME="S535"></A><B>|535|</B>
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war, daß ich die betreffende Nummer schon am 30. November erhielt, so daß
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meiner teuren Gattin noch die letzten Tage ihres Lebens erhellt wurden. Du weißt
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ja, welch leidenschaftliches Interesse sie an allen solchen Sachen nahm.« Frau
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Marx war am 2. Dezember 1881 gestorben.</P>
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<H3 ALIGN="CENTER">5. Abendschatten<A name="Kap_5"></A></H3>
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<P>Während sich der politisch-soziale Horizont - und das war für Marx
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freilich immer die Hauptsache - ringsum erhellte, senkten sich die Abendschatten
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tiefer und tiefer auf ihn und sein Haus. Seitdem ihm das Festland mit seinen heilkräftigen
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Bädern gesperrt war, hatten seine körperlichen Leiden wieder zugenommen
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und ihn mehr oder weniger arbeitsunfähig gemacht; seit 1878 hat er an der
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Vollendung seines Hauptwerks nicht mehr gearbeitet, und ungefähr zur selben
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Zeit oder doch wenig nachher begann die nagende Sorge um die Gesundheit seiner
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Frau,</P>
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<P>Sie hatte die sorgenfreieren Tage des Alters mit dem glücklichen Gleichmut
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einer immer harmonisch gestimmten Seele genossen, so wie sie es selbst in einem
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Trostbriefe an Sorges schilderte, die zwei Kinder in blühendem Alter verloren
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hatten: »Ich weiß nur zu gut, wie schwer es wird, und wie lange es dauert,
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ehe man nach solchen Verlusten sein eigenes Gleichgewicht wiederfindet; da kommt
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dann das Leben mit seinen kleinen Freuden und seinen großen Sorgen, mit
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all seinen kleinen tagtäglichen Plackereien und kleinlichen Quälereien
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zu unserer Hilfe, und der größere Schmerz wird vom stündlichen
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kleinen Leid übertäubt und, ohne daß wirs merken, mildert sich
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das heftige Weh; nicht daß die Wunde jemals ausheilte, namentlich nicht
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im Mutterherzen, aber nach und nach erwacht wieder im Gemüt neue Empfänglichkeit
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und selbst neue Empfindlichkeit für neues Leid und neue Freude, und so lebt
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man weiter und weiter mit dem wunden und doch stets hoffenden Herzen, bis es zuletzt
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ganz stillesteht und ewiger Frieden da ist.« Wer hätte diesen leichten Tod
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durch das sanft lösende Walten der Natur eher verdient als diese Dulderin
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und Kämpferin, aber beschieden ist er ihr nicht gewesen: sie hatte Schweres
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und Schwerstes zu tragen, ehe sie den letzten Atemzug tat.</P>
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<P>Im Herbst 1878 meldete Marx zuerst an Sorge, daß seine Frau »sehr unwohl«
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sei; ein Jahr später hieß es schon: »Meine Frau ist immer noch gefährlich
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krank, und ich selbst immer noch nicht auf dem <A NAME="S536"></A><B>|536|</B>
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Strumpf.« Nach, wie es scheint, längerer Ungewißheit erwies sich die
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Krankheit von Frau Marx als ein Krebsleiden, das unter qualvollen Schmerzen ihren
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langsamen, aber unaufhaltsamen Tod herbeiführen mußte. Was Marx darunter
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litt, läßt sich nur an dem ermessen, was ihm diese Frau ein langes
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Leben hindurch gewesen war. Sie selbst blieb gefaßter als ihr Mann und ihre
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ganze Umgebung; mit unvergleichlichem Mute unterdrückte sie alle Schmerzen,
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um den Ihrigen immer ein heiteres Gesicht zu zeigen. Als das Übel schon weit
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vorgeschritten war, im Sommer 1881, hatte sie noch den Mut, eine Reise nach Paris
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zu unternehmen, um ihre verheirateten Töchter wiederzusehen; da doch keine
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Hilfe mehr möglich war, fügten sich die Ärzte dem Wagnis. In einem
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Briefe an Frau Longuet vom 22. Juli 1881 kündigte Marx den gemeinsamen Besuch
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an: »Antworte, bitte, sofort, denn Mama wird nicht wegfahren, bis Du ihr schreibst,
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was sie Dir aus London mitbringen soll. Du weißt, sie hat solche Aufträge
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wahnsinnig gern.« Der Ausflug verlief für die Kranke so günstig, wie
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unter den Umständen noch möglich war, dagegen wurde Marx nach der Rückkehr
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von einer heftigen Brustfellentzündung ergriffen, verbunden mit Bronchitis
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(Entzündung der Luftröhrenäste) und beginnender Lungenentzündung.
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Die Erkrankung war sehr gefährlich, aber sie wurde überwunden, dank
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der aufopfernden Pflege Eleanors und Lenchen Demuths. Es waren traurige Tage,
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über die Eleanor schreibt: »In der großen Vorderstube lag unser Mütterchen,
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in der kleinen Stube daneben lag Mohr. Und diese beiden, die so aneinander gewöhnt,
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so miteinander verwachsen waren, konnten nicht mehr in demselben Raume zusammen
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sein... Mohr überwand noch einmal die Krankheit. Nie werde ich den Morgen
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vergessen, an welchem er sich stark genug fühlte, in Mütterchens Stube
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zu gehen. Sie waren zusammen wieder jung - sie ein liebendes Mädchen und
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er ein liebender Jüngling, die zusammen ins Leben eintraten, und nicht ein
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von Krankheit zerrütteter alter Mann und eine sterbende alte Frau, die fürs
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Leben voneinander Abschied nahmen.«</P>
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<P>Als Frau Marx am 2. Dezember 1881 starb, war Marx noch immer so schwach, daß
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ihm der Arzt verbot, die geliebte Frau auf ihrem letzten Gange zu geleiten. »Ich
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habe mich diesem Gebot gefügt«, schrieb Marx an Frau Longuet, »weil die teure
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Verstorbene noch einige Tage vor ihrem Tode den Wunsch aussprach, es möchte
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bei ihrem Begräbnis kein Zeremoniell stattfinden: ›wir legen keinen Wert
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auf die Außenseite‹. Es ist für mich ein großer Trost, daß
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ihre Kräfte so schnell abnahmen. Wie der Arzt vorhergesagt hatte, nahm die
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Krankheit den Charakter eines allgemeinen Absterbens an, als ob sie von Altersschwäche
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herrühre. <A NAME="S537"></A><B>|537|</B> Sogar in den letzten Stunden -
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kein Kampf mit dem Tode, ein langsames Einschlafen, und selbst die Augen größer,
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schöner, strahlender als je.«</P>
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<P>Am Grabe von Jenny Marx sprach Engels. Er rühmte sie als die treueste
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Kameradin ihres Gatten und schloß mit den Worten: »Ich habe nicht nötig,
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von ihren persönlichen Eigenschaften zu sprechen. Ihre Freunde kennen sie
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und werden sie nicht vergessen. Wenn es je eine Frau gegeben, die ihr größtes
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Glück darein gesetzt hat, andere glücklich zu machen, so war es diese
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Frau.«<A name="ZT7"></A><A href="fm03_509.htm#Z7"><SPAN class="top">[7]</SPAN></A></P>
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<H3 ALIGN="CENTER">6. Das letzte Jahr<A name="Kap_6"></A></H3>
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<P>Marx hat seine Frau nur etwa fünf Vierteljahre überlebt. Aber dies
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Leben ist in der Tat nur ein »langsames Sterben« gewesen, und Engels hatte die
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richtige Empfindung, als er am Todestage von Frau Marx sagte: »Der Mohr ist auch
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gestorben.«</P>
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<P>Da die beiden Freunde in dieser kurzen Spanne Zeit meist getrennt waren, so
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nahm ihr Briefwechsel noch einen letzten Aufschwung, und in ihm gleitet das letzte
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Lebensjahr von Marx in düsterer Erhabenheit vorüber, erschütternd
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durch die schmerzlichen Einzelheiten, in denen das unerbittliche Menschenlos auch
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diesen mächtigen Geist auflöste.</P>
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<P>Was ihn noch ans Leben fesselte, war sein brennendes Verlangen, seine letzte
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Kraft der großen Sache zu widmen, der sein ganzes Leben gewidmet gewesen
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war. »Ich komme«, schrieb er am 15. Dezember 1881 an Sorge, »aus der letzten Krankheit
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doppelt verkrüppelt heraus, moralisch durch den Tod meiner Frau, physisch
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dadurch, daß eine Verdickung der Pleura und größere Reizbarkeit
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der Luftröhrenäste geblieben. Einige Zeit werde ich total verlieren
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müssen mit Gesundheitsherstellungsmanövern.« Diese Zeit hat bis an seinen
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Todestag gewährt, denn alle Versuche, seine Gesundheit wiederherzustellen,
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scheiterten.</P>
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<P>Die Ärzte schickten ihn zunächst nach Ventnor auf der Insel Wight,
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und dann nach Algier. Hier traf er am 20. Februar 1882 ein, doch nach der kalten
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Reise mit einer neuen Brustfellentzündung. Noch bedenklicher war, daß
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Winter und Frühjahr in Algier so regnerisch und unfreundlich waren wie nie.
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Nicht bessere Erfahrungen machte Marx in Monte Carlo, wohin er am 2. Mai übersiedelte;
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auch hier traf er infolge der naßkalten Überfahrt mit einer Brustfellentzündung
|
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ein, auch hier fand er anhaltend schlechtes Wetter vor.</P>
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<P><B><A NAME="S538">|538|</A></B> Erst als er Anfang Juni seinen Aufenthalt in
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Argenteuil bei Longuets nahm, besserte sich sein Gesundheitszustand. Nicht wenig
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mochte dazu das Familienleben beitragen; dann aber gebrauchte Marx auch mit Erfolg
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die Schwefelquellen des benachbarten Enghien gegen seine eingewurzelte Bronchitis.
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Ein Aufenthalt von sechs Wochen, den er darauf mit seiner Tochter Laura in Vevey
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am Genfer See nahm, trug ebenfalls wesentlich dazu bei, ihn gesunder zu machen.
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Als er im September nach London zurückkehrte, sah er kräftig aus und
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erstieg oft mit Engels den Hügel von Hampstead, etwa 300 Fuß höher
|
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als seine Wohnung, ohne Beschwerde.</P>
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<P>Marx gedachte jetzt seine Arbeiten wieder aufzunehmen, da die Ärzte ihm
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den Winteraufenthalt zwar nicht in London, aber doch an der englischen Südküste
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gestattet hatten. Als die Novembernebel drohten, ging er nach Ventnor, fand es
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hier jedoch, wie im Frühjahr in Algier und in Monte Carlo: Nebel und nasses
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Wetter, die ihm erneute Erkältungen zuzogen und ihn, statt stärkender
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Bewegung in freier Luft, zu schwächendem Stubenarrest zwangen. An wissenschaftliche
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Arbeiten war nicht zu denken, so reges Interesse Marx an allen wissenschaftlichen
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Entdeckungen bekundete, auch an solchen, die seinem engeren Arbeitsgebiete ferner
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lagen, so an den Experimenten von Deprez auf der Münchner Elektrizitäts-Ausstellung.
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Im allgemeinen machte sich in seinen Briefen eine gedrückte und mißmutige
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Stimmung geltend; als sich in der jungen Arbeiterpartei Frankreichs die unausbleiblichen
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Kinderkrankheiten meldeten, war er unzufrieden mit der Vertretung seiner Gedanken
|
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durch seine Schwiegersöhne: »Longuet als letzter Proudhonist und Lafargue
|
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als letzter Bakuninenist! que le diable les importe [Mehring übersetzt: Hole
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sie der Teufel]!« Damals ist ihm auch das geflügelte Wort entfahren, das
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seitdem die Philisterwelt so seltsam erleuchtet hat, daß er für seine
|
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Person jedenfalls kein Marxist sei.</P>
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<P>Dann kam am 11. Januar 1883 der entscheidende Schlag: der plötzliche Tod
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seiner Tochter Jenny. Schon am nächsten Tage kehrte Marx nach London zurück,
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mit einer entschiedenen Bronchitis, zu der sich bald eine Kehlkopfentzündung
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gesellte, die ihm das Schlucken fast unmöglich machte. »Er, der die größten
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Schmerzen mit dem stoischsten Gleichmut zu ertragen wußte, trank lieber
|
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einen Liter Milch (die ihm sein Lebtag ein Greuel gewesen), als daß er die
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entsprechende feste Nahrung verzehrte.«<A name="ZT8"></A><A href="fm03_509.htm#Z8"><SPAN class="top">[8]</SPAN></A> Im Februar entwickelte sich ein Geschwür
|
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in der Lunge. Die Arzneien versagten jede Wirkung auf den seit fünfzehn Monaten
|
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mit Medizin überfüllten Körper; sie schwächten höchstens
|
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den Appetit und störten die Verdauungstätigkeit. Fast von Tag zu Tag
|
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magerte der <A NAME="S539"></A><B>|539|</B> Kranke sichtbar ab. Doch gaben die
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Ärzte noch nicht die Hoffnung auf, da die Bronchitis fast gehoben war und
|
|
das Schlucken leichter wurde. So trat das Ende dennoch unerwartet ein. Am 14.
|
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März um die Mittagsstunde ist Karl Marx sanft und schmerzlos in seinem Lehnstuhl
|
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entschlafen.</P>
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<P>In allem Schmerz um den unersetzlichen Verlust fand Engels doch, daß
|
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er seinen Trost in sich selbst trage. »Die Doktorenkunst hätte ihm vielleicht
|
|
noch auf einige Jahre eine vegetierende Existenz sichern können, das Leben
|
|
eines hilflosen, von den Ärzten zum Triumph ihrer Künste nicht plötzlich,
|
|
sondern zollweise absterbenden Wesens. Das aber hätte unser Marx nie ausgehalten.
|
|
Zu leben mit den vielen unvollendeten Arbeiten vor sich, mit dem Tantalusgelüst,
|
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sie zu vollenden, und der Unmöglichkeit, es zu tun - das wäre ihm tausendmal
|
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bitterer gewesen als der sanfte Tod, der ihn ereilt. ›Der Tod ist kein Unglück
|
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für den, der stirbt, sondern für den, der überlebt‹, pflegte er
|
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mit Epikur zu sagen. Und diesen gewaltigen, genialen Mann als Ruine fortvegetieren
|
|
zu sehen, zum größeren Ruhme der Medizin und zum Spotte für die
|
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Philister, die er in seiner Vollkraft so oft zusammengeschmettert - nein, tausendmal
|
|
besser wie es ist, tausendmal besser wir tragen ihn ... in das Grab, wo seine
|
|
Frau schläft.«</P>
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<P>Am 17. März, einem Sonnabend, wurde Karl Marx im Grabe seiner Frau beigesetzt.
|
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Mit gutem Takte hatte die Familie »alles Zeremoniell« abgelehnt, das dies Leben
|
|
mit einem schrillen Mißklang beschlossen haben würde. Nur wenige Getreue
|
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standen um die offene Gruft: Engels nebst Leßner und Lochner, den alten
|
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Gefährten noch vom Kommunistenbunde her; aus Frankreich waren Lafargue und
|
|
Longuet, aus Deutschland Liebknecht gekommen; die Wissenschaft war durch zwei
|
|
Männer ersten Ranges vertreten, den Chemiker Schorlemmer und den Zoologen
|
|
Ray Lankester.</P>
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<P>So aber lautete der letzte Gruß, den Engels in englischer Sprache dem
|
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toten Freunde widmete, so aufrichtig und wahrhaftig in schlichten Worten zusammenfassend,
|
|
was Karl Marx der Menschheit gewesen ist und bleiben wird, daß ihm auch
|
|
an dieser Stelle das abschließende Wort gebührt:</P>
|
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<P>»Am 14. März, nachmittags ein Viertel vor drei, hat der größte
|
|
lebende Denker aufgehört zu denken. Kaum zwei Minuten allein gelassen, fanden
|
|
wir ihn beim Eintreten in seinem Sessel ruhig entschlummert - aber für immer.</P>
|
|
<P>Was das streitbare europäische und amerikanische Proletariat, was die
|
|
historische Wissenschaft an diesem Mann verloren haben, das ist <A NAME="S540"></A><B>|540|</B>
|
|
gar nicht zu ermessen. Bald genug wird sich die Lücke fühlbar machen
|
|
die der Tod dieses Gewaltigen gerissen hat.</P>
|
|
<P>Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx
|
|
das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte: die bisher unter ideologischen
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|
Überwucherungen verdeckte einfache Tatsache, daß die Menschen vor allen
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|
Dingen zuerst essen, trinken, wohnen und sich kleiden müssen, ehe sie Politik,
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|
Wissenschaft, Kunst, Religion usw. treiben können; daß also die Produktion
|
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der unmittelbaren materiellen Lebensmittel und damit die jedesmalige ökonomische
|
|
Entwicklungsstufe eines Volkes oder eines Zeitabschnitts die Grundlage bildet,
|
|
aus der sich die Staatseinrichtungen, die Rechtsanschauungen, die Kunst und selbst
|
|
die religiösen Vorstellungen der betreffenden Menschen entwickelt haben und
|
|
aus der sie daher auch erklärt werden müssen - nicht wie bisher geschehen,
|
|
umgekehrt.</P>
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<P>Damit nicht genug. Marx entdeckte auch das spezielle Bewegungsgesetz der heutigen
|
|
kapitalistischen Produktionsweise und der von ihr erzeugten bürgerlichen
|
|
Gesellschaft. Mit der Entdeckung des Mehrwerts war hier plötzlich Licht geschaffen,
|
|
während alle früheren Untersuchungen sowohl der bürgerlichen Ökonomen
|
|
wie der sozialistischen Kritiker im Dunkel sich verirrt hatten.</P>
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|
<P>Zwei solche Entdeckungen sollten für ein Leben genügen. Glücklich
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schon der, dem es vergönnt ist, nur eine solche zu machen. Aber auf jedem
|
|
einzelnen Gebiet, das Marx der Untersuchung unterwarf, und dieser Gebiete waren
|
|
sehr viele und keines hat er bloß flüchtig berührt - auf jedem,
|
|
selbst auf dem der Mathematik, hat er selbständige Entdeckungen gemacht.</P>
|
|
<P>So war der Mann der Wissenschaft. Aber das war noch lange nicht der halbe Mann.
|
|
Die Wissenschaft war für Marx eine geschichtlich bewegende, eine revolutionäre
|
|
Kraft. So reine Freude er haben konnte an einer neuen Entdeckung in irgendeiner
|
|
theoretischen Wissenschaft, deren praktische Anwendung vielleicht noch gar nicht
|
|
abzusehen - eine ganz andere Freude empfand er, wenn es sich um eine Entdeckung
|
|
handelte, die sofort revolutionär eingriff in die Industrie, in die geschichtliche
|
|
Entwicklung überhaupt. So hat er die Entwicklung der Entdeckungen auf dem
|
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Gebiet der Elektrizität und zuletzt noch die von Marc[el] Deprez genau verfolgt.</P>
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<P>Denn Marx war vor allem Revolutionär. Mitzuwirken, in dieser oder jener
|
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Weise, am Sturz der kapitalistischen Gesellschaft und der durch sie geschaffenen
|
|
Staatseinrichtungen, mitzuwirken an der Befreiung des modernen Proletariats, dem
|
|
er zuerst das Bewußtsein seiner eigenen <A NAME="S541"></A><B>|541|</B>
|
|
Lage und seiner Bedürfnisse, das Bewußtsein der Bedingungen seiner
|
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Emanzipation gegeben hatte - das war sein wirklicher Lebensberuf. Der Kampf war
|
|
sein Element. Und er hat gekämpft mit einer Leidenschaft, einer Zähigkeit,
|
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einem Erfolg wie wenige. Erste ›Rheinische Zeitung‹ 1842, Pariser ›Vorwärts!‹
|
|
1844, ›Brüsseler-Deutsche-Zeitung‹ 1847, ›Neue Rheinische Zeitung‹ 1848/49,
|
|
›New-York Daily Tribune‹ 1852 bis 1861 - dazu Kampfbroschüren die Menge,
|
|
Arbeit in Vereinen in Paris, Brüssel und London, bis endlich die große
|
|
Internationale Arbeiterassoziation als Krönung des Ganzen entstand - wahrlich,
|
|
das war wieder ein Resultat, worauf sein Urheber stolz sein konnte, hätte
|
|
er sonst auch nichts geleistet.</P>
|
|
<P>Und deswegen war Marx der bestgehaßte und bestverleumdete Mann seiner
|
|
Zeit. Regierungen, absolute wie republikanische, wiesen ihn aus, Bourgeois, konservative
|
|
wie extrem-demokratische, logen ihm um die Wette Verlästerungen nach. Er
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schob das alles beiseite wie Spinnweb, achtete dessen nicht, antwortete nur, wenn
|
|
äußerster Zwang da war. Und er ist gestorben, verehrt, geliebt, betrauert
|
|
von Millionen revolutionärer Mitarbeiter, die von den sibirischen Bergwerken
|
|
an über ganz Europa und Amerika bis Kalifornien hin wohnen, und ich kann
|
|
es kühn sagen: Er mochte noch manchen Gegner haben, aber kaum noch einen
|
|
persönlichen Feind.</P>
|
|
<P>Sein Name wird durch die Jahrhunderte fortleben und so auch sein Werk!«<A name="ZT9"></A><A href="fm03_509.htm#Z9"><SPAN class="top">[9]</SPAN></A></P>
|
|
<HR size="1">
|
|
<P><A name="Z1"></A><SPAN class="top">[1]</SPAN> Friedrich Engels: Marx, Heinrich Karl, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me22/me22_337.htm#S342">Bd. 22, S. 342.</A> <A href="fm03_509.htm#ZT1"><=</A></P>
|
|
<P><A name="Z2"></A><SPAN class="top">[2]</SPAN> Friedrich Engels: Deutscher Sozialismus in Versen und Prosa, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me04/me04_207.htm#S232">Bd. 4, S. 232.</A> <A href="fm03_509.htm#ZT2"><=</A></P>
|
|
<P><A name="Z3"></A><SPAN class="top">[3]</SPAN> Karl Marx: Brief an Wilhelm Bracke, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me19/me19_013.htm#Kap_I">Bd. 19, S. 13/14.</A> <A href="fm03_509.htm#ZT3"><=</A></P>
|
|
<P><A name="Z4"></A><SPAN class="top">[4]</SPAN> Friedrich Engels: Brief an Bebel, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me19/me19_003.htm">Bd. 19, S. 3-9.</A> <A href="fm03_509.htm#ZT4"><=</A></P>
|
|
<P><A name="Z5"></A><SPAN class="top">[5]</SPAN> Karl Marx/Friedrich Engels: Zirkularbrief an Bebel, Liebknecht, Bracke u.a., in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me19/me19_150.htm#S165">Bd. 19, S. 165.</A> <A href="fm03_509.htm#ZT5"><=</A></P>
|
|
<P><A name="Z6"></A><SPAN class="top">[6]</SPAN> Karl Marx/Friedrich Engels: [Vorrede zur zweiten russischen Ausgabe des »Manifests der Kommunistischen Partei«], in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me19/me19_295.htm#S296">Bd. 19, S. 296.</A> <A href="fm03_509.htm#ZT6"><=</A></P>
|
|
<P><A name="Z7"></A><SPAN class="top">[7]</SPAN> Friedrich Engels: Rede am Grabe von Jenny Marx, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me19/me19_293.htm#S294">Bd. 19, S. 294.</A> <A href="fm03_509.htm#ZT7"><=</A></P>
|
|
<P><A name="Z8"></A><SPAN class="top">[8]</SPAN> Friedrich Engels: Zum Tode von Karl Marx, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me19/me19_340.htm#S342">Bd. 19, S. 342.</A> <A href="fm03_509.htm#ZT8"><=</A></P>
|
|
<P><A name="Z9"></A><SPAN class="top">[9]</SPAN> Friedrich Engels: Das Begräbnis von Karl Marx, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me19/me19_335.htm">Bd. 19, S. 335-335.</A> <A href="fm03_509.htm#ZT9"><=</A></P>
|
|
<!-- #EndEditable -->
|
|
<HR size="1" align="left" width="200">
|
|
<P><SMALL>Pfad: »../fm/fm03«<BR>
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|
Verknüpfte Dateien: »<A href="http://www.mlwerke.de/css/format.css">../../css/format.css</A>«
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|
</SMALL>
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|
<HR size="1">
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<TABLE width="100%" border="0" align="center" cellspacing=0 cellpadding=0>
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|
<TR>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><A HREF="../../index.shtml.html"><SMALL>MLWerke</SMALL></A></TD>
|
|
<TD ALIGN="center"><B>|</B></TD>
|
|
<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><!-- #BeginEditable "link2a" --><A HREF="fm03_443.htm"><SMALL>14.
|
|
Kapitel</SMALL></A><!-- #EndEditable --></TD>
|
|
<TD ALIGN="center">|</TD>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><A HREF="fm03_000.htm"><SMALL>Inhalt</SMALL></A></TD>
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<TD ALIGN="center">|</TD>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><!-- #BeginEditable "link2b" --><A HREF="fm03_543.htm"><SMALL>Anmerkungen</SMALL></A><!-- #EndEditable --></TD>
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|
<TD ALIGN="center"><B>|</B></TD>
|
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><A HREF="../default.htm"><SMALL>Franz
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|
Mehring</SMALL></A></TD>
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</TR>
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