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2022-08-25 20:29:11 +02:00

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<TITLE>Friedrich Engels - Der Verlauf des Krieges</TITLE>
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<FONT SIZE=2><P>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 169-172<BR>
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961</P>
</FONT><H2>Friedrich Engels</H2>
<H1>Der Verlauf des Krieges</H1>
<FONT SIZE=2><P>Geschrieben um den 30. M&auml;rz 1855.<BR>
Aus dem Englischen.</P>
</FONT><P><HR></P>
<FONT SIZE=2><P>["New-York Daily Tribune" Nr. 4366 vom 17. April 1855, Leitartikel]</P>
</FONT><B><P><A NAME="S169">&lt;169&gt;</A></B> W&auml;hrend die Diplomaten in Wien zusammengekommen sind, um &uuml;ber das Schicksal Sewastopols zu verhandeln, und die Alliierten unter den bestm&ouml;glichen Bedingungen versuchen, Frieden zu schlie&szlig;en, gehen die Russen auf der Krim &uuml;berall wieder zur Offensive &uuml;ber, wobei sie sich die Fehler ihrer Gegner sowie ihre eigene zentrale Position im Lande zunutze machen. Wenn man sich der Prahlereien erinnert, mit denen die Alliierten ihre Invasion begonnen haben, so erscheint die Lage der Dinge recht merkw&uuml;rdig und wirkt wie eine ungeheure Satire auf menschlichen D&uuml;nkel und Torheit. Aber trotz dieser seiner komischen Seite ist das Drama im Grunde zutiefst tragisch; wir laden deshalb unsere Leser wiederum ein zu einer ernsthaften Betrachtung der Tatsachen, wie sie sich aus unseren letzten Nachrichten ergeben, die wir Sonntag morgen mit der "America" erhalten haben.</P>
<P>Zu Eupatoria sitzt Omer Pascha nun faktisch fest auf der Landseite. Ihre &Uuml;berlegenheit an Kavallerie erlaubt den Russen, ihre Piketts und Vedetten nahe an die Stadt zu legen, die Umgegend mit Patrouillen zu durchstreifen, die die Zufuhren abschneiden und im Fall eines ernstlichen Ausfalls auf ihre Infanterie zur&uuml;ckfallen. So, wie wir vermuteten &lt;Siehe vorl. Band, S. 121-123&gt;, tun sie alles, eine &uuml;berlegene t&uuml;rkische Streitkraft mit vielleicht nicht mehr als einem Viertel oder einem Drittel ihrer Anzahl in Schach zu halten. Omer Pascha harrt auf die Ankunft von Kavallerieverst&auml;rkungen und war in der Zwischenzeit im franz&ouml;sisch-englischen Lager, seine Alliierten zu unterrichten, da&szlig; er f&uuml;r den Augenblick nichts tun k&ouml;nne und da&szlig; eine Verst&auml;rkung von einigen 10.000 franz&ouml;sischen Soldaten sehr w&uuml;nschenswert sei. Zweifelsohne, aber nicht minder w&uuml;nschenswert f&uuml;r Canrobert selbst, der bereits entdeckt haben mu&szlig;, da&szlig; er zur selben Zeit zuviel und auch zuwenig Truppen zur Verf&uuml;gung hat - zuviel f&uuml;r die blo&szlig;e Fortf&uuml;hrung der Belagerung als solche und f&uuml;r die Ver- <A NAME="S170"><B>&lt;170&gt;</A></B> teidigung der Tschornaja; aber nicht genug, um von der Tschornaja hervorzubrechen, die Russen ins Innere zu treiben und das Nordfort einzuschlie&szlig;en. Die Detachierung von 10.000 Mann nach Eupatoria w&uuml;rde die T&uuml;rken nicht bef&auml;higen, mit Erfolg ins Feld zu r&uuml;cken; zumal ihre Abwesenheit die franz&ouml;sische Armee gerade dann schw&auml;chen w&uuml;rde, wenn sie zusammen mit den im Fr&uuml;hjahr eintreffenden Verst&auml;rkungen ins Feld r&uuml;cken sollte.</P>
<P>Mit der Belagerung sieht es zur Zeit recht trostlos aus. Die Nachtattacke der Zuaven am 24. Februar war in ihren Resultaten sogar noch verheerender, als wir vor einer Woche berichteten. &lt;Siehe vorl. Band, S. 152/153&gt; Aus Canroberts eigener Depesche geht hervor, da&szlig; er selbst nicht verstand, was er vorhatte, als er diese Attacke befahl. Er sagt:</P>
<FONT SIZE=2><P>"Da der Zweck der Attacke nun erreicht war, zogen sich unsere Truppen zur&uuml;ck, weil niemand daran denken konnte, da&szlig; wir uns an einem Punkt festsetzen k&ouml;nnten, der so vollst&auml;ndig unter feindlichem Feuer lag."</P>
</FONT><P>Aber was f&uuml;r ein Zweck war denn erreicht? Was war da zu tun, wenn die Stellung nicht gehalten werden konnte? Absolut nichts. Die Zerst&ouml;rung der Redoute war nicht vollendet und konnte unter dem feindlichen Feuer auch nicht vollendet worden sein, selbst wenn die Zuaven, wie der erste Bericht vorgab, f&uuml;r kurze Zeit das Werk g&auml;nzlich genommen hatten. Aber das war nie der Fall; der russische Bericht stellt das ganz entschieden in Abrede, und Canrobert besteht auch auf nichts dergleichen. Aber was bezweckte dann diese Attacke? Einfach folgendes: Da Canrobert sah, da&szlig; sich die Russen in einer Position etablierten, die die Belagerer in eine sehr schwierige und zugleich erniedrigende Lege brachte, schickte er ohne &Uuml;berlegung, ohne sich auch nur die M&uuml;he zu machen, den m&ouml;glichen Ausgang der Aff&auml;re zu pr&uuml;fen, seine Truppen zum Angriff vor. Das war eine v&ouml;llig sinnlose Metzelei, die ein Schandfleck auf Canroberts milit&auml;rischer Reputation bleiben wird. Wenn sich &uuml;berhaupt eine Entschuldigung finden l&auml;&szlig;t, so liegt sie nur in der Annahme, da&szlig; die franz&ouml;sischen Truppen den Sturm nicht mehr erwarten konnten und der General ihnen deshalb einen leichten Vorgeschmack eines solchen Sturms geben wollte Aber diese Entschuldigung diskreditiert Canrobert ebenso wie der Angriff selbst.</P>
<P>Bei der Aff&auml;re am Malachow bewiesen die Russen ihre Superiorit&auml;t zu Lande unmittelbar vor ihren Defensivwerken. Das auf dem H&uuml;gelkamm gelegene und von den Zuaven vergeblich angegriffene Werk wird von ihnen nach dem Regiment, das es verteidigt, die Selenginsk-Redoute genannt. Sie machten sich sofort daran, ihren Vorteil auszubauen und die so gewonnene <A NAME="S171"><B>&lt;171&gt;</A></B> Siegesgewi&szlig;heit zu nutzen. Selenginsk wurde erweitert und verst&auml;rkt, Kanonen wurden hinaufgebracht, obwohl sie durch schwerstes Feuer der Belagerer hindurch mu&szlig;ten, und Konterapprochen wurden von dort aus angelegt, wahrscheinlich, um vor der Redoute ein oder zwei kleinere Werke zu errichten. Ebenso ist auf einem anderen Platze, in der Front der Kornilow-Bastion, eine Reihe von neuen Redouten aufgeworfen worden, 300 Yards weiter als die alten russischen Befestigungswerke. Auf Grund fr&uuml;herer britischer Berichte scheint eine solche Ma&szlig;nahme recht erstaunlich, denn es war uns immer gesagt worden, die Alliierten h&auml;tten ihre eigenen Laufgr&auml;ben in einer geringeren Entfernung von den russischen Linien aufgeworfen. Aber wie wir vor ungef&auml;hr einem Monat aus bester kriegswissenschaftlicher Quelle &#9;feststellen konnten, waren die franz&ouml;sischen Linien noch einige 400 Yards von den russischen Vorwerken entfernt und die britischen sogar doppelt so weit. Jetzt endlich, im Brief vom 16. M&auml;rz, gesteht der "Times"-Korrespondent, da&szlig; selbst an letzteren Daten die britischen Trancheen noch 600 bis 800 Yards entfernt waren, und da&szlig; <I>in der Tat die Batterien, die im Begriff stehen, auf den Feind zu spielen, dieselben sind, die ihr Feuer am vergangenen 17. Oktober er&ouml;ffneten!</I> Das also ist der gro&szlig;e Fortschritt in der Belagerung - das das Voransto&szlig;en der Laufgr&auml;ben, das zwei Dritteilen der britischen Armee das Leben gekostet hat!</P>
<P>Unter diesen Umst&auml;nden war Platz genug vorhanden in dem Zwischenraum zwischen den beiden Batterielinien zur Errichtung der neuen russischen Werke; aber dennoch bleibt es ein Unternehmen sondergleichen, das k&uuml;hnste und geschickteste, das je eine belagerte Garnison unternommen hat. Es l&auml;uft auf nichts anderes hinaus als auf das Er&ouml;ffnen einer neuen Parallele gegen die Alliierten auf einer Distanz von 300 - 400 Yards von ihren Werken; auf eine Konterapproche auf der gr&ouml;&szlig;ten Stufenleiter gegen die Belagerer, die dadurch mit einemmal in die Defensive geworfen werden, w&auml;hrend die erste wesentliche Bedingung einer Belagerung die ist, da&szlig; die Belagerer die Belagerten in die Defensive werfen. So hat sich das Blatt v&ouml;llig gewendet, und die Russen sind stark im Aufstieg.</P>
<P>Was f&uuml;r Fehler und phantastische Experimente die russischen Ingenieure unter Schilder bei Silistria auch immer gemacht haben m&ouml;gen, hier bei Sewastopol haben die Alliierten es augenscheinlich mit einem ganz anderen Menschenschlag zu tun. Die genaue und rasche Orientierung, die unverz&uuml;gliche, k&uuml;hne und fehlerfreie Ausf&uuml;hrung, die die russischen Ingenieure beim Aufwerfen ihrer Linien um Sewastopol an den Tag gelegt haben, die unerm&uuml;dliche Aufmerksamkeit, mit der jeder schwache Punkt gesch&uuml;tzt wurde, sobald der Feind ihn entdeckt hatte, die ausgezeichnete Anordnung der Feuer- <A NAME="S172"><B>&lt;172&gt;</A></B> linie, die es m&ouml;glich macht, auf jeden gegebenen Punkt des Frontgel&auml;ndes ein dem Belagerer &uuml;berlegeneres Feuer zu konzentrieren - die Vorbereitung einer zweiten, dritten und vierten Fortifikationslinie hinter der ersten -, mit einem Wort, die ganze F&uuml;hrung dieser Verteidigung war klassisch. Das letzte offensive Vorr&uuml;cken am Malachow-H&uuml;gel und vor der Kornilow-Bastion findet in der Geschickte der Belagerungen nicht ihresgleichen und stempelt ihre Urheber zu erstklassigen Gr&ouml;&szlig;en auf ihrem Gebiet. Es ist nur recht und billig, hinzuzuf&uuml;gen, da&szlig; Oberst Todtleben, Chef des Ingenieurwesens in Sewastopol, eine verh&auml;ltnism&auml;&szlig;ig unbekannte Gestalt im russischen Kriegsdienst ist. Aber wir d&uuml;rfen die Verteidigung Sewastopols nicht f&uuml;r ein typisches Beispiel der russischen Ingenieurkunst halten. Der Durchschnitt von Silistria und Sewastopol kommt den wahren Verh&auml;ltnissen n&auml;her.</P>
<P>Sowohl auf der Krim als auch in England und Frankreich beginnt man nun - wenn auch nur allm&auml;hlich - zu entdecken, da&szlig; keine Chance vorhanden ist, Sewastopol im Sturm zu nehmen. In dieser peinlichen Verlegenheit hat sich die Londoner "Times" an eine "hohe kriegswissenschaftliche Autorit&auml;t! gewandt und erfahren, da&szlig; das einzig Vern&uuml;nftige sei, die Offensive zu ergreifen entweder durch &Uuml;berschreiten der Tschornaja und Bewirken einer Vereinigung mit den T&uuml;rken unter Omer Pascha, sei es vor oder nach einer Schlacht gegen die russische Observationsarmee, oder durch eine Diversion nach Kaffa, die die Russen zwingen w&uuml;rde, sich zu zersplittern. Da die alliierte Armee nun 110.000-120.000 Mann z&auml;hlt, so m&uuml;ssen solche Bewegungen in ihrer Gewalt sein. Nun wei&szlig; niemand besser als Canrobert und Raglan, da&szlig; ein &Uuml;berschreiten der Tschornaja und eine Vereinigung mit Omer Paschas Armee sehr w&uuml;nschenswert w&auml;re; aber wie wir schon immer wieder bewiesen haben &lt;Siehe vorl. Band, S. 76/77&gt;, gibt es ungl&uuml;cklicherweise auf den H&ouml;hen vor Sewastopol die 110.000 bis 120.000 Mann der Alliierten gar nicht und hat es auch nie gegeben. Am 1. M&auml;rz ging ihre Zahl nickt &uuml;ber 90.000 dienstf&auml;hige Mann hinaus. Was aber eine Expedition nach Kaffa betrifft, so k&ouml;nnten die Russen nichts Besseres w&uuml;nschen als die alliierten Truppen nach drei verschiedenen Punkten 60-150 Meilen von dem Zentralpunkt entfernt zerstreut zu sehen, w&auml;hrend sie an keinem der zwei Punkte, die sie nun innehaben, hinreichend stark sind, um die Aufgabe vor ihnen zu l&ouml;sen! Offensichtlich hat die "hohe kriegswissenschaftliche Autorit&auml;t" der "Times" einen B&auml;ren aufgebunden, wenn sie ihr ernstlich den Rat gibt, sich f&uuml;r eine Neuauflage der Eupatoria-Expedition einzusetzen!</P>
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