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<TITLE>Friedrich Engels - Nachwort (1894) zu &quot;Soziales aus Ru&szlig;land&quot;</TITLE>
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<META name="description" content="Nachwort zu &quot;Soziales aus Ru&szlig;land&quot;">
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<TD ALIGN="center" width="299" height=20 valign=middle bgcolor="#99CC99"><A href="../default.htm"><FONT size=2 color="#006600">Marx/Engels - Werke</A></TD>
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bgcolor="#99CC99"><A HREF="../me18/me18_519.htm#Kap_V"><FONT size="2" color="#006600">Soziales aus Ru&szlig;land</A></FONT></TD>
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<TD valign="top"><SMALL>Seitenzahlen verweisen auf: </SMALL></TD>
<TD><SMALL>&nbsp;&nbsp;</SMALL></TD>
<TD><SMALL>Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 22, 3. Auflage 1972, unver&auml;nderter Nachdruck der 1. Auflage 1963, Berlin/DDR. S. 421-435.</SMALL></TD>
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<TD><SMALL>Korrektur:</SMALL></TD>
<TD><SMALL>&nbsp;&nbsp;</SMALL></TD>
<TD><SMALL>1</SMALL></TD>
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<TD><SMALL>Erstellt:</SMALL></TD>
<TD><SMALL>&nbsp;&nbsp;</SMALL></TD>
<TD><SMALL>06.04.1999</SMALL></TD>
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<H2>Friedrich Engels </H2>
<H1>Nachwort (1894) [zu "Soziales aus Ru&szlig;land"]</H1>
<FONT SIZE=2><P>Nach: "Internationales aus dem 'Volksstaat' (1871-75)", Berlin 1894.</P>
</FONT><P><HR size="1"></P>
<B><P><A NAME="S421">|421|</A></B> Zun&auml;chst habe ich zu berichtigen, da&szlig; Herr P. Tkatschow, genau gesprochen, nicht ein Bakunist, d.h. Anarchist, war, sondern sich f&uuml;r einen "Blanquisten" ausgab. Der Irrtum war nat&uuml;rlich, da besagter Herr, nach der damaligen russischen Fl&uuml;chtlingssitte, sich dem Westen gegen&uuml;ber mit der ganzen russischen Emigration solidarisch machte und in der Tat in seiner Brosch&uuml;re auch Bakunin und Genossen gegen meine Angriffe verteidigte, als wenn diese ihm selbst gegolten h&auml;tten.</P>
<P>Die Ansichten &uuml;ber die russische kommunistische Bauerngemeinde, die er mir gegen&uuml;ber vertrat, waren im wesentlichen die von Herzen. Dieser zum Revolution&auml;r aufgebauschte panslawistische Belletrist hatte aus Haxthausens "Studien &uuml;ber Ru&szlig;land" erfahren, da&szlig; die leibeignen Bauern auf seinen G&uuml;tern kein Privateigentum am Boden kennen, sondern das Acker - und Wiesenland von Zeit zu Zeit unter sich neu umteilen. Als Belletrist brauchte er nicht zu lernen, was bald darauf allgemein bekannt wurde, da&szlig; das Gemeineigentum am Boden eine bei Deutschen, Kelten, Indiern, kurz, allen indogermanischen V&ouml;lkern in der Urzeit herrschende, in Indien noch bestehende, in Irland und Schottland erst neuerdings gewaltsam unterdr&uuml;ckte, in Deutschland sogar hie und da noch vorkommende, eben aussterbende Besitzform ist, die in der Tat auf einer gewissen Entwicklungsstufe allen V&ouml;lkern gemeinsam ist. Aber als Panslawist fand er, der h&ouml;chstens der Phrase nach Sozialist war, hierin einen neuen Vorwand, sein "heiliges" Ru&szlig;land und dessen Mission, den verrotteten, abgelebten Westen, n&ouml;tigenfalls durch Waffengewalt, zu verj&uuml;ngen und wiederzugeb&auml;ren, diesem selbigen faulen Westen gegen&uuml;ber in noch gl&auml;nzenderes Licht zu stellen. Was die verschlissenen Franzosen und Engl&auml;nder mit aller M&uuml;he nicht fertigbringen k&ouml;nnen, das haben die Russen fertig bei sich zu Hause.</P>
<FONT SIZE=2><P>"Die Bauerngemeinde aufrechterhalten und die Freiheit der Person herstellen, die Selbstverwaltung des Dorfes auf die St&auml;dte und den ganzen Staat ausdehnen, unter <A NAME="S422"><B>|422|</A></B> Bewahrung der nationalen Einheit - darin ist die ganze Frage von der Zukunft Ru&szlig;lands zusammengefa&szlig;t, d.h. die Frage derselben sozialen Antinomie, deren L&ouml;sung die Geister des Westens besch&auml;ftigt und bewegt." (Herzen, "Briefe an Linton".)</P>
</FONT><P>Also eine politische Frage mag es f&uuml;r Ru&szlig;land geben; die "soziale Frage" ist f&uuml;r Ru&szlig;land bereits gel&ouml;st.</P>
<P>Ebenso leicht wie Herzen machte es sich sein Nachtreter Tkatschow. Wenn er auch im Jahr 1875 nicht mehr behaupten konnte, die "soziale Frage" sei in Ru&szlig;land schon gel&ouml;st, so stehn nach ihm die russischen Bauern als geborne Kommunisten doch unendlich n&auml;her zum Sozialismus und befinden sich obendrein unendlich wohler als die armen, gottverlassenen westeurop&auml;ischen Proletarier. Wenn die franz&ouml;sischen Republikaner kraft ihrer hundertj&auml;hrigen revolution&auml;ren T&auml;tigkeit ihr Volk f&uuml;r das politisch auserw&auml;hlte Volk halten, so erkl&auml;rten manche damalige russische Sozialisten Ru&szlig;land f&uuml;r das sozial auserw&auml;hlte Volk; nicht aus den K&auml;mpfen des westeurop&auml;ischen Proletariats, sondern aus dem innersten Innern des russischen Bauern heraus sollte der alten &ouml;konomischen Welt ihre Wiedergeburt kommen. Gegen diese kindische Auffassung wandte sich mein Angriff.</P>
<P>Nun aber hat die russische Gemeinde auch Beachtung und Anerkennung gefunden unter Leuten, die unendlich h&ouml;her stehn als die Herzen und Tkatschow. Darunter auch Nikolai Tschernyschewski, jener gro&szlig;e Denker, dem Ru&szlig;land so unendlich viel verdankt und dessen langsamer Mord durch jahrelange Verbannung unter sibirische Jakuten ein ewiger Schandfleck bleiben wird auf dem Ged&auml;chtnis Alexanders II., des "Befreiers".</P>
<P>Tschernyschewski, infolge der russischen intellektuellen Grenzsperre, hat nie die Werke von Marx gekannt, und als "Das Kapital" erschien, sa&szlig; er l&auml;ngst in Mittel-Wiljuisk unter den Jakuten. Seine ganze geistige Entwicklung hatte stattzufinden in dem umgebenden Mittel, das durch diese intellektuelle Grenzsperre geschaffen wurde. Was die russische Zensur nicht hineinlie&szlig;, das existierte f&uuml;r Ru&szlig;land kaum oder gar nicht. Finden sich da einzelne Schw&auml;chen, einzelne Schranken des Ausblicks, so mu&szlig; man nur bewundern, da&szlig; ihrer nicht mehr sind.</P>
<P>Auch Tschernyschewski sieht in der russischen Bauerngemeinde ein Mittel, um aus der bestehenden Gesellschaftsform zu einer neuen Entwicklungsstufe zu kommen, die h&ouml;her ist als einerseits die russische Gemeinde und andrerseits die westeurop&auml;ische kapitalistische Gesellschaft mit ihren Klassengegens&auml;tzen. Und darin, da&szlig; Ru&szlig;land dies Mittel besitzt, w&auml;hrend es dem Westen abgeht, darin sieht er einen Vorzug.</P>
<FONT SIZE=2><P>"Die Einr&uuml;hrung einer bessern Gesellschaftsordnung wird in Westeuropa &uuml;beraus erschwert durch die grenzenlose Erweiterung der Rechte der einzelnen Pers&ouml;nlichkeit <A NAME="S425"><B>|425|</A></B> ... man verzichtet nicht so leicht auch nur auf einen kleinen Teil dessen, was man gewohnt ist zu genie&szlig;en; in Westeuropa ist der einzelne schon gew&ouml;hnt an die Unbegrenztheit der Privatrechte. Den Vorteil und die Unvermeidlichkeit gegenseitiger Konzessionen lehrt nur bittre Erfahrung und lange &Uuml;berlegung. Im Westen ist eine be&szlig;re Ordnung der &ouml;konomischen Verh&auml;ltnisse mit Opfern verbunden und daher schwer herzustellen. Sie geht gegen die Gewohnheiten des englischen und franz&ouml;sischen Landmanns." Aber: "Was dort eine Utopie scheint, existiert hier als Tatsache ... jene Gewohnheiten, deren &Uuml;berf&uuml;hrung ins Volksleben dem Engl&auml;nder und Franzosen unerme&szlig;lich schwierig erscheint, bestehn bei dem Russen als Tatsache seines Volkslebens ... die Ordnung der Dinge, zu der der Westen auf einem langen und schwierigen Weg erst hinstrebt, besteht schon bei uns in der machtvollen Volkssitte unsres l&auml;ndlichen Daseins ... Wir sehn, welche traurigen Folgen im Westen der Untergang des Gemeineigentums am Boden erzeugt hat und wie schwierig es den westlichen V&ouml;lkern wird, das Verlorne wiederherzustellen. Das Beispiel des Westens darf uns nicht umsonst gegeben sein." (Tschernyschewski, Werke, Genfer Ausgabe, V, p. 16-19; zitiert bei Plechanow, "Na<4E>i raznoglasija", Genf 1885.)</P>
</FONT><P>Und von den uralischen Kosaken, bei denen noch gemeinsame Bebauung des Bodens und nachherige Teilung des Produkts unter die Einzelfamilien herrschte, sagt er:</P>
<FONT SIZE=2><P>"Wenn diese Uralier mit ihren jetzigen Einrichtungen fortbestehn bis zu der Zeit, wo in die Kornproduktion Maschinen eingef&uuml;hrt werden, dann werden sie sehr froh sein, da&szlig; sie eine Eigentumsordnung beibehalten haben, die ihnen die Anwendung auch solcher Maschinen gestattet, welche Wirtschaftseinheiten von kolossalem Ma&szlig;stab, von Hunderten von De&szlig;jatinen voraussetzen" (ib., p. 131).</P>
</FONT><P>Wobei nur nicht zu vergessen, da&szlig; die Uralier mit ihrer - durch milit&auml;rische R&uuml;cksichten (wir haben ja auch den Kasernenkommunismus) vor dem Untergang bewahrten - gemeinsamen Bebauung ganz einsam in Ru&szlig;land dastehn, ungef&auml;hr wie die Geh&ouml;ferschaften an der Mosel bei uns mit ihren zeitweiligen Neuteilungen. Und bleiben sie bei ihrer jetzigen Verfassung, bis sie reif sind zur Einf&uuml;hrung der Maschinen, so haben nicht sie den Vorteil davon, sondern der russische Milit&auml;rfiskus, dessen Knechte sie sind.</P>
<P>Jedenfalls war die Tatsache da: Um dieselbe Zeit, wo in Westeuropa die kapitalistische Gesellschaft zerf&auml;llt und an den notwendigen Widerspr&uuml;chen ihrer eignen Entwicklung zugrunde zu gehn droht, um dieselbe Zeit findet sich in Ru&szlig;land noch ungef&auml;hr die H&auml;lfte des ganzen bebauten Bodens im Gemeineigentum der Bauerngemeinden. Wenn nun im Westen die Losung der Widerspr&uuml;che durch eine Neuorganisation der Gesellschaft zur Voraussetzung hat die &Uuml;bernahme s&auml;mtlicher Produktionsmittel, also auch des <A NAME="S426"><B>|426|</A></B> Bodens, in das Gemeineigentum der Gesellschaft, wie verh&auml;lt sich zu diesem erst zu schaffenden Gemeineigentum des Westens das schon oder vielmehr noch bestehende Gemeineigentum in Ru&szlig;land? Kann es nicht dienen als Ausgangspunkt einer nationalen Aktion, die, unter &Uuml;berspringung der ganzen kapitalistischen Periode, den russischen Bauernkommunismus sofort hin&uuml;berf&uuml;hrt in das moderne sozialistische Gemeineigentum an allen Produktionsmitteln, indem sie ihn bereichert mit den s&auml;mtlichen technischen Errungenschaften der kapitalistischen &Auml;ra? Oder, um die Worte zu gebrauchen, worin Marx in einem weiter unten zu zitierenden Brief die Auffassung Tschernyschewskis zusammenfa&szlig;t: "soll Ru&szlig;land zun&auml;chst die Bauernkommune zerst&ouml;ren, wie die Liberalen dies verlangen, um dann zum kapitalistischen System &uuml;berzugehn, oder kann es, im Gegenteil, ohne die Qualen dieses Systems durchzumachen, sich alle Fr&uuml;chte desselben aneignen, indem es seine eignen, geschichtlich gegebnen Voraussetzungen weiter entwickelt?"</P>
<P>Die Stellung der Frage selbst gibt schon die Richtung an, in der ihre L&ouml;sung zu suchen ist. Die russische Gemeinde hat Hunderte von Jahren bestanden, ohne da&szlig; aus ihr je ein Antrieb hervorgegangen w&auml;re, aus ihr selbst eine h&ouml;here Form des Gemeineigentums zu entwickeln; ebensowenig wie dies der Fall war mit der deutschen Markverfassung, den keltischen Clans, den indischen und sonstigen Gemeinden mit primitiv-kommunistischen Einrichtungen. Sie alle haben im Laufe der Zeit, unter dem Einflu&szlig; der sie umgebenden resp. in ihrer eignen Mitte entspringenden und sie allm&auml;hlich durchdringenden Warenproduktion und des Austausches zwischen Einzelfamilien und Einzelpersonen mehr und mehr von ihrem kommunistischen Charakter verloren und sich in Gemeinden gegeneinander selbst&auml;ndiger Grundbesitzer aufgel&ouml;st. Wenn also &uuml;berhaupt die Frage aufgeworfen werden kann, ob die russische Gemeinde ein andres und besseres Schicksal haben wird, so ist nicht sie selbst schuld daran, sondern einzig der Umstand, da&szlig; sie sich in einem europ&auml;ischen Land in relativer Lebenskraft erhalten hatte bis zu einer Zeit, wo nicht nur die Warenproduktion &uuml;berhaupt, sondern selbst deren h&ouml;chste und letzte Form, die kapitalistische Produktion, in Westeuropa in Widerspruch geraten ist mit den von ihr selbst erzeugten Produktivkr&auml;ften, wo sie sich unf&auml;hig beweist, diese Kr&auml;fte fernerhin zu leiten, und wo sie an diesen innern Widerspr&uuml;chen und den ihnen entsprechenden Klassenkonflikten zugrunde geht. Schon hieraus geht hervor, da&szlig; die Initiative zu einer solchen etwaigen Umgestaltung der <A NAME="S427"><B>|427|</A></B> russischen Gemeinde nur ausgehn kann nicht von ihr selbst, sondern einzig von den industriellen Proletariern des Westens. Der Sieg des westeurop&auml;ischen Proletariats &uuml;ber die Bourgeoisie, die damit verkn&uuml;pfte Ersetzung der kapitalistischen Produktion durch die gesellschaftlich geleitete, das ist die notwendige Vorbedingung einer Erhebung der russischen Gemeinde auf dieselbe Stufe.</P>
<P>In der Tat: Nie und nirgends hat der aus der Gentilgesellschaft &uuml;berkommene Agrarkommunismus aus sich selbst heraus etwas andres entwickelt als seine eigne Zersetzung. Die russische Bauerngemeinde selbst war schon 1861 eine relativ abgeschw&auml;chte Form dieses Kommunismus; die in einzelnen Gegenden Indiens und in der s&uuml;dslawischen Hausgenossenschaft (Z&aacute;druga), der wahrscheinlichen Mutter der russischen Gemeinde, noch bestehende gemeinsame Bebauung des Bodens hatte der Bewirtschaftung durch Einzelfamilien Platz machen m&uuml;ssen; das Gemeineigentum machte sich nur noch geltend bei den je nach den verschiedenen Lokalit&auml;ten in sehr verschiedenen Zeitr&auml;umen wiederholten Neuteilungen des Bodens. Diese Neuteilungen brauchen nur einzuschlafen oder durch Beschlu&szlig; abgeschafft zu werden, und das Dorf von Parzellenbauern ist fertig.</P>
<P>Die blo&szlig;e Tatsache aber, da&szlig; neben der russischen Bauerngemeinde gleichzeitig in Westeuropa die kapitalistische Produktion sich dem Punkt n&auml;hert, wo sie in die Br&uuml;che geht und wo sie selbst schon auf eine neue Produktionsform hinweist, bei der die Produktionsmittel als gesellschaftliches Eigentum planm&auml;&szlig;ig angewandt werden - diese blo&szlig;e Tatsache kann der russischen Gemeinde nicht die Kraft verleihen, aus sich selbst diese neue Gesellschaftsform zu entwickeln. Wie sollte sie die riesigen Produktivkr&auml;fte der kapitalistischen Gesellschaft sich als gesellschaftliches Eigentum und Werkzeug aneignen k&ouml;nnen, noch ehe die kapitalistische Gesellschaft selbst diese Revolution vollbracht; wie sollte die russische Gemeinde der Welt zeigen k&ouml;nnen, wie man gro&szlig;e Industrie f&uuml;r gemeinsame Rechnung betreibt, nachdem sie schon verlernt hat, ihren Boden f&uuml;r gemeinsame Rechnung zu bebauen ?</P>
<P>Allerdings gibt es in Ru&szlig;land Leute genug, die die westliche kapitalistische Gesellschaft mit all ihren unvers&ouml;hnlichen Gegens&auml;tzen und Konflikten genau kennen und auch &uuml;ber den Ausweg mit sich im reinen sind, der aus dieser scheinbaren Sackgasse f&uuml;hrt. Aber erstens leben die paar tausend Leute, die dies begreifen, nicht in der Gemeinde, und die vielleicht f&uuml;nfzig Millionen, die in Gro&szlig;ru&szlig;land noch im Gemeineigentum am Boden leben, haben von alledem nicht die entfernteste Ahnung. Die stehn jenen paar <A NAME="S428"><B>|428|</A></B> tausend mindestens ebenso fremd und verst&auml;ndnislos gegen&uuml;ber, wie die englischen Proletarier 1800-1840 den Pl&auml;nen gegen&uuml;berstanden, die Robert Owen zu ihrer Rettung ersann. Und unter den Arbeitern, die Owen in seiner Fabrik in New-Lanark besch&auml;ftigte, bestand die Mehrzahl ebenfalls aus Leuten, die in den Einrichtungen und Gewohnheiten einer zerfallenden kommunistischen Gentilgesellschaft, im keltisch-schottischen Clan, herangewachsen waren; aber mit keiner Silbe berichtet er, da&szlig; er bei diesen be&szlig;res Verst&auml;ndnis gefunden. Und zweitens ist es eine historische Unm&ouml;glichkeit, da&szlig; eine niedrigere &ouml;konomische Entwicklungsstufe die R&auml;tsel und Konflikte l&ouml;sen soll, die erst auf einer weit h&ouml;hern Stufe entsprungen sind und entspringen konnten. Alle vor der Warenproduktion und dem Einzelaustausch entstandnen Formen der Gentilgenossenschaft haben mit der k&uuml;nftigen sozialistischen Gesellschaft dies eine gemein: da&szlig; gewisse Dinge, Produktionsmittel, im gemeinsamen Eigentum und gemeinsamer Nutzung gewisser Gruppen sind. Diese eine gemeinschaftliche Eigenschaft bef&auml;higt aber nicht die niedre Gesellschaftsform, die k&uuml;nftige sozialistische Gesellschaft, dies eigenste und letzte Produkt des Kapitalismus, aus sich zu erzeugen. Jede gegebne &ouml;konomische Formation hat ihre eignen, aus ihr selbst entspringenden Probleme zu l&ouml;sen; die einer andern, wildfremden Formation l&ouml;sen zu wollen, w&auml;re absoluter Widersinn. Und dies gilt von der russischen Gemeinde nicht minder als von der s&uuml;dslawischen Z&aacute;druga, von der indischen Gentilhaushaltung oder jeder andern durch Gemeinbesitz an Produktionsmitteln gekennzeichneten Gesellschaftsform der Wildheit oder Barbarei.</P>
<P>Dagegen ist es nicht nur m&ouml;glich, sondern gewi&szlig;, da&szlig;, nach dem Sieg des Proletariats und nach &Uuml;berf&uuml;hrung der Produktionsmittel in Gemeinbesitz bei den westeurop&auml;ischen V&ouml;lkern, den L&auml;ndern, die der kapitalistischen Produktion erst eben verfallen und noch Gentileinrichtungen oder Reste davon gerettet haben, in diesen Resten von Gemeinbesitz und in den entsprechenden Volksgewohnheiten ein m&auml;chtiges Mittel gegeben ist, ihren Entwicklungsproze&szlig; zur sozialistischen Gesellschaft bedeutend abzuk&uuml;rzen und sich den gr&ouml;&szlig;ten Teil der Leiden und K&auml;mpfe zu ersparen, durch die wir in Westeuropa uns durcharbeiten m&uuml;ssen. Aber dazu ist das Beispiel und der aktive Beistand des bisher kapitalistischen Westens eine unumg&auml;ngliche Bedingung. Nur wenn die kapitalistische Wirtschaft in ihrer Heimat und in den L&auml;ndern ihrer Bl&uuml;te &uuml;berwunden ist, nur wenn die zur&uuml;ckgebliebnen L&auml;nder an diesem Beispiel sehn, "wie man's macht", wie man die modernen industriellen Produktivkr&auml;fte als gesellschaftliches Eigentum in den Dienst der Gesamtheit stellt, nur dann k&ouml;nnen sie diesen abgek&uuml;rzten <A NAME="S429"><B>|429|</A></B> Entwicklungsproze&szlig; in Angriff nehmen. Dann aber auch mit sicherm Erfolg. Und dies gilt von allen L&auml;ndern vorkapitalistischer Stufe, nicht nur von Ru&szlig;land. In Ru&szlig;land aber wird es verh&auml;ltnism&auml;&szlig;ig am leichtesten sein, weil hier ein Teil der einheimischen Bev&ouml;lkerung sich bereits die intellektuellen Resultate der kapitalistischen Entwicklung angeeignet hat und es dadurch m&ouml;glich wird, in revolution&auml;rer Zeit hier die gesellschaftliche Umgestaltung ziemlich gleichzeitig mit dem Westen zu vollziehn.</P>
<P>Dies wurde bereits ausgesprochen von Marx und mir am 21. Januar 1882 in der Vorrede zu der von Plechanow verfa&szlig;ten russischen &Uuml;bersetzung des "Kommunistischen Manifests". Es hei&szlig;t dort: "Neben einem sich rasch entwickelnden kapitalistischen Schwindel und einem sich erst eben bildenden b&uuml;rgerlichen Grundeigentum finden wir in Ru&szlig;land die gr&ouml;&szlig;re H&auml;lfte des Bodens im Gemeineigentum der Bauern. Es fragt sich nun: Kann die russische Gemeinde, diese in der Tat schon stark in der Zersetzung begriffene Form des urspr&uuml;nglichen gemeinsamen Eigentums am Boden, unmittelbar &uuml;bergehn in eine h&ouml;here kommunistische Form des Grundeigentums - oder mu&szlig; sie vorher denselben Aufl&ouml;sungsproze&szlig; durchmachen, der die geschichtliche Entwicklung des Westens charakterisiert? - Die einzige, heute m&ouml;gliche Antwort auf diese Frage ist folgende: Wenn die russische Revolution das Signal gibt zu einer Arbeiterrevolution im Westen, so da&szlig; beide einander erg&auml;nzen, dann kann das russische Grundeigentum zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung werden."</P>
<P>Nun aber ist nicht zu vergessen, da&szlig; die hier erw&auml;hnte starke Zersetzung des russischen Gemeineigentums seitdem bedeutende Fortschritte gemacht hat. Die Niederlagen im Krimkrieg hatten die Notwendigkeit rascher industrieller Entwicklung f&uuml;r Ru&szlig;land klargelegt. Vor allem brauchte man Eisenbahnen, und diese sind ohne einheimische gro&szlig;e Industrie nicht auf gro&szlig;em Ma&szlig;stab m&ouml;glich. Die Vorbedingung f&uuml;r diese war die sog. Bauernbefreiung; mit ihr brach die kapitalistische &Auml;ra f&uuml;r Ru&szlig;land an; damit aber auch die &Auml;ra der raschen Untergrabung des Gemeineigentums am Boden. Die den Bauern auferlegten Abl&ouml;sungszahlungen, neben erh&ouml;hten Steuern und gleichzeitiger Verkleinerung und Verschlechterung des ihnen zugeteilten Bodens, warfen sie unfehlbar in die H&auml;nde der Wucherer, meist reichgewordner Mitglieder der Bauerngemeinde. Die Eisenbahnen er&ouml;ffneten vielen bisher abgelegnen Gegenden einen Absatzmarkt f&uuml;r ihr Korn, brachten aber auch die wohlfeilen Produkte der gro&szlig;en Industrie dahin und verdr&auml;ngten durch diese die Hausindustrie der Bauern, die bisher &auml;hnliche Erzeugnisse teils f&uuml;r Selbstbedarf, teils f&uuml;r Verkauf angefertigt hatten. Die <A NAME="S430"><B>|430|</A></B> altgewohnten Erwerbsverh&auml;ltnisse wurden in Unordnung gebracht, die Zerr&uuml;ttung trat ein, die &uuml;berall den &Uuml;bergang der Naturalwirtschaft in die Geldwirtschaft begleitet, in der Gemeinde traten gro&szlig;e Verm&ouml;gensunterschiede zwischen den Mitgliedern hervor - die Armem wurden die Schuldsklaven der Reichen. Kurz, derselbe Proze&szlig;, der in der Zeit vor Solon die athenische Gens vermittelst des Einbruchs der Geldwirtschaft zersetzt hatte<FONT SIZE=4> <A NAME="ZF1"></FONT><A HREF="me22_421.htm#F1">(1)</A></A>, begann hier die russische Gemeinde zu zersetzen. Solon konnte zwar durch einen revolution&auml;ren Eingriff in das, damals noch ziemlich junge, Recht des Privateigentums die Schuldsklaven befreien, indem er die Schulden einfach annullierte. Aber die altathenische Gens konnte er nicht wieder ins Leben zur&uuml;ckrufen, und ebensowenig wird irgendeine Macht der Welt imstande sein, die russische Gemeinde wiederherzustellen, sobald deren Zerr&uuml;ttung einen bestimmten H&ouml;hepunkt erreicht hat. Und obendrein hat die russische Regierung verboten, die Umteilungen des Bodens unter den Gemeindemitgliedern &ouml;fter als alle 12 Jahre zu wiederholen, damit der Bauer sich mehr und mehr davon entw&ouml;hnen und anfangen soll, sich als Privateigent&uuml;mer seines Anteils anzusehn.</P>
<P>In diesem Sinne sprach sich auch <FONT FACE="Times New Roman">bereits im Jahre 1877 Marx aus in einem Brief nach Ru<52>land. Ein Herr Shukowski, derselbe, der jetzt als Kassierer der Staatsbank mit seiner Unterschrift die russischen Kreditbilletts einweiht, hatte im "Europ<6F>ischen Boten" (Vstnik Jevropy) etwas <20>ber Mar</FONT>x<FONT FACE="Times New Roman"> geschrieben, worauf ein anderer Schriftsteller |N. K. Michailowski| geantwortet hatte in den "Vaterl<72>ndischen Denkschriften" (Oteestvennija Zapiski). Zur Berichtigung dieses Artikels schrieb Marx einen Brief an den Redakteur der "Denkschriften", der, na</FONT>c<FONT FACE="Times New Roman">hdem er in Abschriften des franz<6E>sischen Originals lange in Ru<52>land zirkuliert hatte, im "Boten des Volkswillens" (Vstnik Narodnoj Voli) 1886 in Genf und sp<73>ter auch in Ru<52>land selbst in russischer <20>bersetzung erschien. Der Brief hat in russischen Kreise</FONT>n, wie alles, was von Marx ausging, gro&szlig;e Beachtung und verschiedenartige Deutung gefunden; und deshalb gebe ich hier seinen wesentlichen Inhalt.</P>
<P>Zun&auml;chst weist Marx die ihm in den "Denkschriften" untergeschobene Ansicht zur&uuml;ck, als sei er der Ansicht der russischen Liberalen, wonach Ru&szlig;land nichts Eiligeres zu tun habe, als das Gemeineigentum der Bauern <A NAME="S431"><B>|431|</A></B> aufzul&ouml;sen und sich in den Kapitalismus zu st&uuml;rzen. Seine kurze Notiz &uuml;ber Herzen im Anhang zur ersten Ausgabe des "Kapital" beweise nichts. Diese Notiz lautet: "Wenn auf dem Kontinent von Europa der Einflu&szlig; der kapitalistischen Produktion, welche die Menschenrace unterw&uuml;hlt ..., sich, wie bisher, Hand in Hand entwickelt mit der Konkurrenz in Gr&ouml;&szlig;e der nationalen Soldateska, Staatsschulden, Steuern, eleganter Kriegsf&uuml;hrung usw., m&ouml;chte die vom Halbrussen und ganzen Moskowiter Herzen (dieser Belletrist hat, nebenbei bemerkt, seine Entdeckungen &uuml;ber den 'russischen Kommunismus' nicht in Ru&szlig;land gemacht, sondern in dem Werk des preu&szlig;ischen Regierungsrats Haxthausen) so ernst prophezeite Verj&uuml;ngung Europas durch die Knute und obligate Infusion von Kalm&uuml;ckenblut schlie&szlig;lich unvermeidlich werden." ("Kapital", I, erste Ausgabe, p. 763.) - Dann f&auml;hrt Marx fort: Diese Stelle "kann in keinem Fall den Schl&uuml;ssel liefern zu meiner Ansicht &uuml;ber die Bem&uuml;hungen" (das Folgende ist im Original in russischer Sprache zitiert) "'russischer M&auml;nner, f&uuml;r ihr Vaterland einen Entwicklungsgang zu finden, verschieden von dem, den das westliche Europa gegangen ist und noch geht', usw. - Im Nachwort zur zweiten deutschen Auflage des 'Kapitals' spreche ich von einem 'gro&szlig;en russischen Gelehrten und Kritiker'" (Tschernyschewski) "mit der Hochachtung, die er verdient. Dieser hat in bemerkenswerten Artikeln die Frage behandelt, ob Ru&szlig;land, wie die liberalen &Ouml;konomen verlangen, mit der Zerst&ouml;rung der Bauerngemeinde anfangen und dann zum kapitalistischen Regime &uuml;bergehn mu&szlig;, oder ob es im Gegenteil, ohne die Qualen dieses Systems durchzumachen, sich alle Fr&uuml;chte desselben aneignen kann, indem es seine eignen geschichtlich gegebnen Voraussetzungen weiterentwickelt. Er spricht sich in diesem letztern Sinn aus.</P>
<P>Kurzum, da ich nicht gern 'etwas zu erraten' lassen m&ouml;chte, will ich ohne R&uuml;ckhalt sprechen. Um die &ouml;konomische Entwicklung Ru&szlig;lands in voller Sachkenntnis beurteilen zu k&ouml;nnen, habe ich Russisch gelernt und dann lange Jahre hindurch die darauf bez&uuml;glichen offiziellen und sonstigen Druckschriften studiert. Das Resultat, wobei ich angekommen bin, ist dies: <I>F&auml;hrt Ru&szlig;land fort, den</I> Weg <I>zu verfolgen, den es seit 1861 eingeschlagen hat, so wird es die sch&ouml;nste Chance verlieren, die die Geschichte jemals einem Volk dargeboten hat, um daf&uuml;r alle verh&auml;ngnisvollen Wechself&auml;lle des kapitalistischen Systems durchzumachen.</I>"</P>
<P>Weiterhin kl&auml;rt Marx einige fernere Mi&szlig;verst&auml;ndnisse seines Kritikers auf; die einzige auf unsre vorliegende Frage bez&uuml;gliche Stelle lautet:</P>
<B><P><A NAME="S432">|432|</A></B> "Welche Anwendung auf Ru&szlig;land konnte nun mein Kritiker machen von dieser geschichtlichen Skizze?" (Der Darstellung der urspr&uuml;nglichen Akkumulation im "Kapital".) "Einfach nur diese: Strebt Ru&szlig;land dahin, eine kapitalistische Nation nach westeurop&auml;ischem Vorbild zu werden - und in den letzten Jahren hat es sich in dieser Richtung sehr viel M&uuml;he kosten lassen -, so wird es dies nicht fertigbringen, ohne vorher einen guten Teil seiner Bauern in Proletarier verwandelt zu haben; und dann, einmal hineingerissen in den Wirbel der kapitalistischen Wirtschaft, wird es die unerbittlichen Gesetze dieses Systems zu ertragen haben, genauso wie die andern profanen V&ouml;lker. Das ist alles."</P>
<P>So schrieb Marx 1877. Damals gab es in Ru&szlig;land zwei Regierungen: die des Zaren und die des geheimen Vollziehungsausschusses (ispolnitel'nyj komitet) der terroristischen Verschw&ouml;rer. Die Macht dieser geheimen Nebenregierung stieg von Tag zu Tag. Der Sturz des Zarentums schien bevorzustehn; eine Revolution in Ru&szlig;land mu&szlig;te die gesamte europ&auml;ische Reaktion ihrer st&auml;rksten St&uuml;tze, ihrer gro&szlig;en Reservearmee berauben und dadurch auch der politischen Bewegung des Westens einen neuen, gewaltigen Ansto&szlig; und obendrein unendlich g&uuml;nstigere Operationsbedingungen geben. Kein Wunder, da&szlig; Marx da den Russen r&auml;t, es weniger eilig zu haben mit dem Sprung in den Kapitalismus.</P>
<P>Die russische Revolution ist nicht gekommen. Das Zarentum ist Herr geworden &uuml;ber den Terrorismus, der jenem sogar alle besitzenden, "ordnungsliebenden" Klassen f&uuml;r den Augenblick wieder in die Arme getrieben hat. Und w&auml;hrend der 17 Jahre, die seit jenem Brief verflossen, hat sowohl der Kapitalismus wie die Aufl&ouml;sung der Bauerngemeinde in Ru&szlig;land enorme Fortschritte gemacht. Wie steht die Frage nun heute, 1894?</P>
<P>Als nach den Niederlagen des Krimkriegs und dem Selbstmord des Kaisers Nikolaus der alte zarische Despotismus unver&auml;ndert fortbestand, war nur ein Weg offen: der m&ouml;glichst rasche &Uuml;bergang zur kapitalistischen Industrie. Die Armee war zugrunde gegangen an den Riesendimensionen des Reichs, auf den langen M&auml;rschen nach dem Kriegsschauplatz; die Entfernungen mu&szlig;ten vernichtet werden durch ein strategisches Eisenbahnnetz. Aber Eisenbahnen, die bedeuten kapitalistische Industrie und Revolutionierung des primitiven Ackerbaus. Einerseits tritt das Ackerbauprodukt auch der entlegensten Striche in direkte Verbindung mit dem Weltmarkt, andrerseits ist ein ausgedehntes Eisenbahnsystem nicht zu bauen und in Betrieb zu halten ohne eine einheimische Industrie, die Schienen, Lokomotiven, Waggons etc. liefert. Man kann aber nicht einen Zweig der gro&szlig;en Industrie einf&uuml;hren, ohne das ganze System mit in den Kauf zu nehmen; die <A NAME="S433"><B>|433|</A></B> Textilindustrie auf relativ modernem Fu&szlig;, die schon vorher in der Gegend von Moskau und Wladimir sowie an den Ostseek&uuml;sten Wurzel gefa&szlig;t, erhielt einen neuen Aufschwung. Den Eisenbahnen und Fabriken schlossen sich die Ausdehnungen schon bestehender und Gr&uuml;ndungen neuer Banken an; die Freisetzung der Bauern aus der Leibeigenschaft stellte die Freiz&uuml;gigkeit her, in Erwartung der bald von selbst erfolgenden Freisetzung eines gro&szlig;en Teils dieser Bauern auch vom Bodenbesitz. Damit waren in kurzer Zeit alle Grundlagen der kapitalistischen Produktionsweise in Ru&szlig;land gelegt. Aber es war auch die Axt gelegt an die Wurzel der russischen Bauerngemeinde.</P>
<P>Dar&uuml;ber jetzt zu wehklagen, ist nutzlos. H&auml;tte man nach dem Krimkrieg den Zarendespotismus ersetzt durch eine direkte parlamentarische Adels- und B&uuml;rokratenherrschaft, so w&auml;re der Proze&szlig; vielleicht etwas verlangsamt worden; kam das aufkeimende B&uuml;rgertum ans Ruder, so wurde er sicher noch beschleunigt. Wie die Dinge lagen, war keine andre Wahl. Neben dem Zweiten Kaiserreich in Frankreich, neben dem gl&auml;nzendsten Aufschwung der kapitalistischen Industrie in England, konnte doch wahrlich nicht von Ru&szlig;land verlangt werden, es solle sich auf Grund der Bauerngemeinde in staatssozialistische Experimente von oben herab st&uuml;rzen. Etwas mu&szlig;te geschehen. Was unter den Umst&auml;nden m&ouml;glich war, geschah, wie &uuml;berall und immer in L&auml;ndern der Warenproduktion, meist mit nur halbem Bewu&szlig;tsein oder ganz mechanisch und ohne zu wissen, was man tat.</P>
<P>Nun kam die neue Zeit der Revolutionen von oben, die von Deutschland ausging, und damit die Zeit des raschen Wachstums des Sozialismus in allen europ&auml;ischen L&auml;ndern. Ru&szlig;land nahm teil an der allgemeinen Bewegung. Hier erhielt diese - wie selbstverst&auml;ndlich - die Form des Ansturms zum Sturz des zarischen Despotismus, zur Eroberung intellektueller und politischer Bewegungsfreiheit f&uuml;r die Nation. Der Glaube an die Wunderkraft der Bauerngemeinde, aus der die soziale Wiedergeburt kommen k&ouml;nne und m&uuml;sse - ein Glaube, an dem, wie wir sehn, Tschernyschewski nicht ganz unschuldig war -, dieser Glaube tat das Seinige, die Begeisterung und die Tatkraft der heroischen russischen Vork&auml;mpfer zu steigern. Mit den Leuten, die, kaum ein paar Hundert an Zahl, durch ihre Aufopferung und ihren Heldenmut das absolute Zarentum dahin brachten, da&szlig; es schon die M&ouml;glichkeit und die Bedingungen einer Kapitulation in Erw&auml;gung ziehn mu&szlig;te - mit diesen Leuten rechten wir nicht, wenn sie ihr russisches Volk hielten f&uuml;r das auserw&auml;hlte Volk der sozialen Revolution. Aber ihre Illusion brauchen wir deshalb nicht zu teilen. Die Zeit der auserw&auml;hlten V&ouml;lker ist f&uuml;r immer vorbei.</P>
<B><P><A NAME="S434">|434|</A></B> W&auml;hrend dieses Kampfs aber ging der Kapitalismus flott voran in Ru&szlig;land und erreichte mehr und mehr das, was der Terrorismus nicht fertiggebracht: das Zarentum zur Kapitulation zu bringen.</P>
<P>Das Zarentum brauchte Geld. Nicht nur f&uuml;r seinen Hofluxus, seine B&uuml;rokratie, vor allem f&uuml;r seine Armee und seine auf Bestechung beruhende ausw&auml;rtige Politik, sondern namentlich auch f&uuml;r seine elende Finanzwirtschaft und die ihr entsprechende alberne Eisenbahnpolitik. Das Ausland wollte und konnte nicht l&auml;nger f&uuml;r alle Defizits des Zaren aufkommen; das Inland mu&szlig;te helfen. Ein Teil der Eisenbahnaktien mu&szlig;te im Lande selbst untergebracht werden, ein Teil der Anleihen ebenfalls. Der erste Sieg der russischen Bourgeoisie bestand in den Eisenbahnkonzessionen, die den Aktion&auml;ren alle k&uuml;nftigen Gewinne, dem Staat aber alle k&uuml;nftigen Verluste aufluden. Dann kamen die Subventionen und Pr&auml;mien f&uuml;r industrielle Unternehmungen, die Schutzz&ouml;lle zugunsten der einheimischen Industrie, die zuletzt die Einfuhr vieler Artikel gradezu unm&ouml;glich machten. Der russische Staat hat bei seiner grenzenlosen Verschuldung und bei seinem fast total ruinierten Kredit im Auslande ein direkt fiskalisches Interesse an einer treibhausm&auml;&szlig;igen Entwicklung der einheimischen Industrie. Er braucht fortw&auml;hrend Gold zur Zahlung der Schuldzinsen ans Ausland. Aber in Ru&szlig;land ist kein Gold, da zirkuliert nur Papier. Ein Teil wird geliefert durch die vorschriftsm&auml;&szlig;ige Zahlung der Z&ouml;lle in Gold, die beil&auml;ufig auch diese Z&ouml;lle um 50% erh&ouml;ht. Aber der gr&ouml;&szlig;te Teil soll geliefert werden durch den &Uuml;berschu&szlig; der Ausfuhr russischer Rohstoffe &uuml;ber die Einfuhr fremder Industrieprodukte; die f&uuml;r diesen &Uuml;berschu&szlig; gezognen Wechsel aufs Ausland kauft die Regierung im Inland f&uuml;r Papier auf und erh&auml;lt Gold daf&uuml;r. Will also die Regierung die Zinsenzahlung ans Ausland anders als durch neue ausl&auml;ndische Anleihen bestreiten, so hat sie daf&uuml;r zu sorgen, da&szlig; die russische Industrie rasch so weit erstarkt, um den ganzen inl&auml;ndischen Bedarf zu befriedigen. Daher die Forderung, Ru&szlig;land m&uuml;sse ein vom Ausland unabh&auml;ngiges, sich selbst gen&uuml;gendes Industrieland werden, daher die krampfhaften Anstrengungen der Regierung, die kapitalistische Entwicklung Ru&szlig;lands in wenigen Jahren auf den H&ouml;hepunkt zu bringen. Denn geschieht dies nicht, so bleibt nichts, als den in der Staatsbank und im Staatsschatz angeh&auml;uften metallischen Kriegsfonds anzugreifen, oder aber der Staatsbankerott. Und in beiden F&auml;llen w&auml;re es aus mit der russischen ausw&auml;rtigen Politik.</P>
<P>Das eine ist klar: Unter solchen Umst&auml;nden hat die junge russische Bourgeoisie den Staat vollkommen in der Gewalt. In allen wichtigen &ouml;konomischen Fragen mu&szlig; er ihr zu Willen sein. Wenn sie sich inzwischen die <A NAME="S435"><B>|435|</A></B> despotische Selbstherrlichkeit des Zaren und seiner Beamten noch gefallen l&auml;&szlig;t, so nur, weil diese Selbstherrlichkeit, ohnehin gemildert durch die Bestechlichkeit der B&uuml;rokratie, ihr mehr Garantien bietet als Ver&auml;nderungen selbst im b&uuml;rgerlich-liberalen Sinn, deren Folgen, bei der innern Lage Ru&szlig;lands, niemand absehn kann. Und so geht die Umwandlung des Landes in ein kapitalistisch-industrielles, die Proletarisierung eines gro&szlig;en Teils der Bauern und der Verfall der alten kommunistischen Gemeinde in immer rascherem Tempo voran.</P>
<P>Ob von dieser Gemeinde noch so viel gerettet ist, da&szlig; sie gegebenenfalls, wie Marx und ich 1882 noch hofften, im Einklang mit einem Umschwung in Westeuropa zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung werden kann, das zu beantworten ma&szlig;e ich mir nicht an. Das aber ist sicher: Soll noch ein Rest von dieser Gemeinde erhalten bleiben, so ist die erste Bedingung daf&uuml;r der Sturz des zarischen Despotismus, die Revolution in Ru&szlig;land. Diese wird nicht nur die gro&szlig;e Masse der Nation, die Bauern, aus der Isolierung ihrer D&ouml;rfer, die ihren "mir", ihre "Welt" bilden, herausrei&szlig;en und auf die gro&szlig;e B&uuml;hne f&uuml;hren, wo sie die Au&szlig;enwelt und damit sich selbst, ihre eigne Lage und die Mittel zur Rettung aus der gegenw&auml;rtigen Not kennenlernt, sondern sie wird auch der Arbeiterbewegung des Westens einen neuen Ansto&szlig; und neue, bessere Kampfesbedingungen geben und damit den Sieg des modernen industriellen Proletariats beschleunigen, ohne den das heutige Ru&szlig;land weder aus der Gemeinde noch aus dem Kapitalismus heraus zu einer sozialistischen Umgestaltung kommen kann.</P>
<P><HR size="1"></P>
<P>Fu&szlig;noten von Engels</P>
<P><A NAME="F1"><A HREF="me22_421.htm#ZF1"><SMALL><SUP>(1)</SMALL></SUP></A></A> Vgl. Engels, "Der Ursprung der Familie etc.", 5. Aufl., Stuttgart 1892. S. 109 bis 113. <A HREF="me22_421.htm#ZF1">&lt;=</A></P>
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bgcolor="#99CC99"><A HREF="../me18/me18_519.htm#Kap_V"><FONT size="2" color="#006600">Soziales aus Ru&szlig;land</A></FONT></TD>
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