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2022-08-25 20:29:11 +02:00

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<TITLE>Rosa Luxemburg - Einf&uuml;hrung in die National&ouml;konomie - I. 6</TITLE>
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<!--Hier war ein unzureichend terminierter Kommentar -->
<P ALIGN="CENTER"><A HREF="lu05_563.htm"><FONT SIZE=2>I. 5</FONT></A><FONT SIZE=2> | </FONT><A HREF="lu05_en.htm"><FONT SIZE=2>Inhalt</FONT></A><FONT SIZE=2> | </FONT><A HREF="lu05_593.htm"><FONT SIZE=2>III. 1</FONT></A></P>
<FONT SIZE=2><P>Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut f&uuml;r Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 5. Berlin/DDR. 1975. "Einf&uuml;hrung in die National&ouml;konomie", S. 580-593.</P>
<P>1. Korrektur<BR>
Erstellt am 06.01.1999.</FONT> </P>
<FONT SIZE=4><P ALIGN="CENTER">I. 6</P>
</FONT><B><P><A NAME="S580">|580|</A></B> Stellen wir uns auf den oben gewonnenen Standpunkt, dann wird uns verschiedenes klar, was zuerst fraglich erschien.</P>
<P>Vor allem wird das Alter der National&ouml;konomie klar. Eine Wissenschaft, die Gesetze der anarchischen kapitalistischen Produktionsweise aufzudecken zur Aufgabe hat, konnte offenbar nicht eher entstehen als diese Produktionsweise selbst, nicht eher, als die geschichtlichen Bedingungen f&uuml;r die Klassenherrschaft der modernen Bourgeoisie nach und nach durch politische und wirtschaftliche Verschiebungen in einer Arbeit von Jahrhunderten zusammengetragen waren.</P>
<P>Nach Professor B&uuml;cher war die Entstehung der heutigen Gesellschaftsordnung freilich eine h&ouml;chst einfache Sache, die mit der vorhergegangenen wirtschaftlichen Entwicklung wenig zu tun hat. Sie ist n&auml;mlich einfach eine Frucht des h&ouml;heren Willens und der erhabenen Weisheit absolutistischer F&uuml;rsten.</P>
<P>"Die Ausbildung der <I>Volkswirtschaft</I>", erz&auml;hlt uns B&uuml;cher - und wir wissen bereits, da&szlig; f&uuml;r einen b&uuml;rgerlichen Professor der Begriff "Volkswirtschaft" nur eine mystifizierende Umschreibung der kapitalistischen Produktion ist -, "ist im wesentlichen eine Frucht der politischen Zentralisation, welche gegen Ende des Mittelalters mit der Entstehung territorialer Staatsgebilde beginnt und in der Gegenwart mit der Sch&ouml;pfung des nationalen Einheitsstaates ihren Abschlu&szlig; findet. Die Zusammenfassung der wirtschaftlichen Kr&auml;fte geht Hand in Hand mit der Beugung der politischen Sonderinteressen unter die h&ouml;heren Zwecke der Gesamtheit. In Deutschland sind es die gr&ouml;&szlig;eren Territorialf&uuml;rsten, welche die moderne Staatsidee im Kampfe mit dem Landadel und den St&auml;dten zum Ausdruck zu bringen suchen."<A NAME="ZF1"><A HREF="lu05_580.htm#F1">[1]</A></A></P>
<P>Aber auch im &uuml;brigen Europa, in Spanien, Portugal, England, Frankreich, in den Niederlanden, hat die f&uuml;rstliche Gewalt solche Gro&szlig;taten vollbracht.</P>
<P>"In allen diesen L&auml;ndern tritt, wenn auch in verschiedener St&auml;rke, der <A NAME="S581"><B>|581|</A></B> Kampf mit den Sondergewalten des Mittelalters hervor; dem gro&szlig;en Adel, den St&auml;dten, Provinzen, geistlichen und weltlichen Korporationen. Zun&auml;chst handelt es sich ja gewi&szlig; um Vernichtung der selbst&auml;ndigen Kreise, welche sich der politischen Zusammenfassung hemmend in den Weg stellten. Aber im tiefsten Grunde der Bewegung, welche zur Ausbildung des f&uuml;rstlichen Absolutismus f&uuml;hrte, schlummert doch der weltgeschichtliche Gedanke, da&szlig; die neuen gr&ouml;&szlig;eren Kulturaufgaben der Menschheit eine einheitliche Organisation ganzer V&ouml;lker, eine gro&szlig;e lebendige Interessengemeinschaft erforderten, und diese konnte erst auf dem Boden gemeinsamer Wirtschaft erwachsen."<A NAME="ZF2"><A HREF="lu05_580.htm#F2">[2]</A></A></P>
<P>Hier haben wir die sch&ouml;nste Bl&uuml;te jener Bedientenhaftigkeit der Gedanken, die wir bei den deutschen Professoren der National&ouml;konomie bereits kennengelernt haben. Nach Professor Schmoller ist die national&ouml;konomische Wissenschaft auf Kommando des aufgekl&auml;rten Absolutismus entstanden. Nach Professor B&uuml;cher ist gar die ganze kapitalistische Produktionsweise nur eine Frucht des souver&auml;nen Willens und der himmelst&uuml;rmenden Pl&auml;ne absolutistischer F&uuml;rsten. Nun hei&szlig;t es den gro&szlig;en spanischen und franz&ouml;sischen Despoten wie den kleinen deutschen Desp&ouml;tlein bitter unrecht tun, wenn man sie in Verdacht bringt, da&szlig; sie sich bei ihren Katzbalgereien mit den &uuml;berm&uuml;tigen Feudalherzen am Ausgang des Mittelalters oder bei den blutigen Kreuzz&uuml;gen gegen die niederl&auml;ndischen St&auml;dte um irgendwelche "weltgeschichtlichen Gedanken" und "Kulturaufgaben der Menschheit" gek&uuml;mmert h&auml;tten. Ja, es hei&szlig;t die geschichtlichen Dinge sogar auf den Kopf stellen.</P>
<P>Freilich war die Herstellung der zentralisierten b&uuml;rokratischen Gro&szlig;staaten eine unumg&auml;ngliche Voraussetzung der kapitalistischen Produktionsweise, sie war aber ihrerseits in demselben Ma&szlig;e nur eine <I>Folge </I>der neuen wirtschaftlichen Bed&uuml;rfnisse, so da&szlig; man mit viel mehr Recht den B&uuml;cherschen Satz umdrehen und erkl&auml;ren k&ouml;nnte: die Ausbildung der politischen Zentralisation sei "im wesentlichen" eine Frucht der heranreifenden "Volkswirtschaft", das hei&szlig;t der kapitalistischen Produktion.</P>
<P>Insofern aber der Absolutismus sein unbestreitbar Teil an diesem historischen Vorbereitungsproze&szlig; gehabt hat, so hat er doch diese Rolle mit derselben stupiden Gedankenlosigkeit eines blinden Werkzeugs der geschichtlichen Entwicklungstendenzen gespielt, mit der er sich diesen Tendenzen auch bei jeder passenden Gelegenheit zu widersetzen wu&szlig;te. So, wenn die mittelalterlichen Despoten von Gottesgnaden die mit ihnen gegen die Feudalherren verb&uuml;ndeten St&auml;dte als blo&szlig;e Erpressungsobjekte <A NAME="S582"><B>|582|</A></B> betrachteten, die sie bei der ersten M&ouml;glichkeit wieder an die Feudalen verrieten. So, wenn sie den neuentdeckten Weltteil mit all seiner Menschheit und Kultur sofort und ausschlie&szlig;lich als das geeignete Feld f&uuml;r die brutalste, t&uuml;ckischste und roheste Auspl&uuml;nderung ansahen, zu dem "h&ouml;heren Kulturzwecke", die "f&uuml;rstlichen Schatzkammern" in k&uuml;rzester Frist mit Goldklumpen zu f&uuml;llen. So namentlich auch sp&auml;ter in dem hartn&auml;ckigen Widerstand, zwischen das Gottesgnadentum und seine "treuen V&ouml;lker" das Blatt Papier, genannt b&uuml;rgerlich-parlamentarische Verfassung, zu schieben, die ja f&uuml;r die ungehinderte Entwicklung der Kapitalsherrschaft ebenso unumg&auml;nglich ist wie die politische Einheit und die zentralisierten&#9;Gro&szlig;staaten selbst.</P>
<P>Tats&auml;chlich waren ganz andere M&auml;chte, waren gro&szlig;e Verschiebungen im wirtschaftlichen Leben der europ&auml;ischen V&ouml;lker am Ausgang des Mittelalters am Werk, um den Einzug der neuen Wirtschaftsweise zu inaugurieren.</P>
<P>Nachdem die Entdeckung Amerikas und die Umsegelung Afrikas, das hei&szlig;t die Entdeckung des Seeweges nach Indien, einen ungeahnten Aufschwung und eine Verschiebung des Handels mit sich gebracht hatte, setzte die Aufl&ouml;sung des Feudalismus wie des Zunftregiments in den St&auml;dten kr&auml;ftig ein. Die gewaltigen Eroberungen, Landerwerbungen und Pl&uuml;nderungsz&uuml;ge in den entdeckten L&auml;ndern, der pl&ouml;tzliche starke Zustrom des Edelmetalls aus dem neuen Weltteil, der gro&szlig;e Gew&uuml;rzhandel mit Indien, der ausgedehnte Sklavenhandel, der Afrikaneger f&uuml;r die amerikanischen Plantagen lieferte, all das schuf in Westeuropa in kurzer Zeit neuen Reichtum und neue Bed&uuml;rfnisse. Die kleine Werkstatt des Zunfthandwerkers mit ihren tausend Fesseln erwies sich als ein Hemmschuh f&uuml;r die n&ouml;tige Erweiterung der Produktion und ihren raschen Fortschritt. Die gro&szlig;en Kaufherren schufen sich einen Ausweg, indem sie die Handwerker in gro&szlig;en Manufakturen au&szlig;erhalb des Weichbildes der St&auml;dte sammelten, um sie hier unbek&uuml;mmert um die engherzigen Zunftvorschriften unter eigenem Kommando rascher und besser produzieren zu lassen.</P>
<P>In <I>England </I>wurde die neu Produktionsweise durch eine Revolution in der Landwirtschaft eingeleitet. Das Aufbl&uuml;hen der Wollmanufaktur in <I>Flandern </I>gab mit seiner gro&szlig;en Nachfrage nach Wolle dem englischen Feudaladel den Ansto&szlig;, auf gewaltigen Strecken das Ackerland in Schafweide zu verwandeln, wobei das englische Bauerntum in gr&ouml;&szlig;tem Ma&szlig;stabe von Haus und Hof vertrieben wurde. Dadurch wurden massenhaft besitzlose Arbeiter, Proletarier, geschaffen, die zur Disposition der aufkommenden kapitalistischen Manufaktur stehen sollten. In derselben Rich- <A NAME="S583"><B>|583|</A></B> tung hatte die Reformation gewirkt, die zur Konfiskation der Kircheng&uuml;ter f&uuml;hrte, welche an den Hofadel und an Spekulanten teils verschenkt, teils verschleudert wurden und deren b&auml;uerliche Bev&ouml;lkerung zum gr&ouml;&szlig;ten Teil gleichfalls von der Scholle vertrieben ward. So fanden die Manufakturisten wie die kapitalistischen Landp&auml;chter massenhaft eine arme proletarisierte Bev&ouml;lkerung vor, die au&szlig;erhalb der feudalen wie der Zunftfesseln stand und die nach einem l&auml;ngeren Martyrium im Vagabundenleben, im &ouml;ffentlichen Arbeitshaus und unter blutiger Verfolgung durch Gesetz und Polizeib&uuml;ttel in der Lohnsklaverei bei der neuen Klasse von Ausbeutern den rettenden Hafen erblickte. Alsbald folgten auch die gro&szlig;en technischen Umw&auml;lzungen in den Manufakturen, die immer mehr an Stelle des gelernten Handwerkers und neben ihm die Verwendung der ungelernten Lohnproletarier in gr&ouml;&szlig;eren Massen erm&ouml;glichte.</P>
<P>All dies Streben und Dr&auml;ngen neuer Verh&auml;ltnisse stie&szlig; allenthalben auf feudale Schranken und die Misere verrotteter Zust&auml;nde. Die durch den Feudalismus bedingte und in seinem Wesen liegende Naturalwirtschaft sowie die Verelendung der Volksmasse durch den schrankenlosen Druck der Leibeigenschaft schn&uuml;rten naturgem&auml;&szlig; den inneren Markt f&uuml;r die Manufakturwaren ein, w&auml;hrend gleichzeitig die Z&uuml;nfte die wichtigste Produktionsbedingung: die Arbeitskraft, in den St&auml;dten immer noch fesselten. Der staatliche Apparat mit seiner unendlichen politischen Zersplitterung, seiner mangelnden &ouml;ffentlichen Sicherheit, seinem Wust an zoll- und handelspolitischen Verkehrtheiten hemmte und bel&auml;stigte den neuen Verkehr und die neue Produktion auf Schritt und Tritt.</P>
<P>Es war klar, da&szlig; das aufstrebende B&uuml;rgertum in Westeuropa als Vertreter des freien Welthandels und der Manufaktur all diese Hindernisse so oder anders aus dem Wege r&auml;umen mu&szlig;te, wollte es anders nicht auf seine weltgeschichtliche Mission g&auml;nzlich verzichten. Bevor es nun den Feudalismus in der Gro&szlig;en Franz&ouml;sischen Revolution in St&uuml;cke schlug, setzte es sich mit ihm erst kritisch auseinander, und die neue Wissenschaft der National&ouml;konomie entsteht so als eine der wichtigsten ideologischen Waffen der Bourgeoisie im Kampfe gegen den mittelalterlichen Feudalstaat und f&uuml;r den modernen kapitalistischen Klassenstaat. Die heranbrechende Wirtschaftsordnung bot sich zun&auml;chst unter der Form eines neuen, rasch entstandenen Reichtums, der sich &uuml;ber die Gesellschaft in Westeuropa ergo&szlig; und der ganz anderen, ergiebigeren und scheinbar unersch&ouml;pflichen Quellen entstammte als die patriarchalischen Methoden der feudalen Bauernschinderei, die &uuml;brigens bereits am Ende ihres Lateins angelangt waren. Die frappanteste Quelle der neuen Bereicherung war <A NAME="S584"><B>|584|</A></B> zuerst nicht die aufkommende neue Produktionsweise, sondern ihr Schrittmacher: der m&auml;chtige Aufschwung des Handels. Es ist auch in den wichtigsten Sitzen des Welthandels am Ausgang des Mittelalters: in den reichen italienischen Handelsrepubliken am Mittelmeer, in Spanien, wo die ersten Fragen der National&ouml;konomie und die ersten Versuche zu ihrer Beantwortung auftauchen.</P>
<P>Was ist Reichtum? Wodurch werden Staaten reich, wodurch arm gemacht? Dies war das neue Problem, nachdem die alten Begriffe der feudalen Gesellschaft in dem Strudel neuer Verh&auml;ltnisse ihre &uuml;berlieferte G&uuml;ltigkeit verloren hatten. Reichtum ist Gold, f&uuml;r das man alles kaufen kann. Also schafft der Handel Reichtum. Also werden die Staaten reich, die in der Lage sind, viel Gold einzuf&uuml;hren und keines aus dem Lande herauszulassen. Also m&uuml;ssen Welthandel, Kolonialeroberungen im neuen Weltteil, Manufakturen, die Ausfuhrartikel herstellen, vom Staate gef&ouml;rdert, die Einfuhr fremder Produkte, die das Gold aus dem Lande lockt, verboten werden. Dies war die erste national&ouml;konomische Lehre, die schon am Ausgang des 16. Jahrhunderts in Italien auftaucht und im 17. Jahrhundert in England, in Frankreich zur gro&szlig;en Geltung kommt. Und so roh diese Lehre noch ist, so bietet sie doch den ersten schroffen Bruch mit der Begriffswelt der feudalen Naturalwirtschaft, die erste k&uuml;hne Kritik an ihr, die erste Idealisierung des Handels, der Warenproduktion, und in dieser Form - des Kapitals, endlich das erste Programm einer Staatspolitik nach dem Herzen der aufstrebenden jungen Bourgeoisie.</P>
<P>Bald schiebt sich an Stelle des Kaufmanns der warenproduzierende Kapitalist in den Mittelpunkt, aber noch vorsichtig, unter der Maske des sch&auml;bigen Dieners im Vorzimmer der feudalen Herrschaften. Reichtum ist mitnichten Gold, das ja nur der Vermittler im Handel mit Waren ist, verk&uuml;nden die franz&ouml;sischen Aufkl&auml;rer im 18. Jahrhundert. Welche kindische Verblendung, im glei&szlig;enden Metall das Gl&uuml;ckspfand der V&ouml;lker und Staaten zu sehen! Kann mich das Metall s&auml;ttigen, wenn ich Hunger sp&uuml;re, kann es mich vor K&auml;lte sch&uuml;tzen, wenn ich nackt friere? Litt nicht der persische K&ouml;nig Darius mit Goldsch&auml;tzen in seiner Hand H&ouml;llenqualen des Durstes im Felde, und h&auml;tte er sie nicht willig f&uuml;r einen Schluck Wasser hingegeben? Nein, Reichtum sind all die Geschenke der Natur an Nahrung und Stoff, womit wir alle, K&ouml;nig wie Bettler, unsere Bed&uuml;rfnisse befriedigen. Je &uuml;ppiger die Bev&ouml;lkerung ihre Bed&uuml;rfnisse befriedigt, je reicher auch der Staat, weil um so mehr auch an Steuer f&uuml;r ihn abfallen kann. Wer entlockt aber der Natur das Korn zum Brot, die Faser, woraus wir unsere Kleidung spinnen, das Holz und das Erz, woraus wir unser Haus und <A NAME="S585"><B>|585|</A></B> Ger&auml;t bauen? Die Landwirtschaft! Sie ist es, nicht der Handel, die den wahren Born des Reichtums bildet. Also mu&szlig; die Masse der landwirtschaftlichen Bev&ouml;lkerung, die Bauernmasse, deren H&auml;nde den Reichtum aller schaffen, aus ihrem grenzenlosen Elend gerettet, vor der feudalen Ausbeutung gesch&uuml;tzt, zum Wohlstand emporgehoben werden! (Damit ich einen Absatzmarkt f&uuml;r meine Waren finde, f&uuml;gte der Manufakturkapitalist leise hinzu.) Also m&uuml;ssen die gro&szlig;en Grundherren, die Feudalbarone, in deren H&auml;nden der ganze Reichtum aus der Landwirtschaft zusammenflie&szlig;t, auch die einzigen sein, die Steuern zahlen und den Staat erhalten! (Damit ich, der ich ja angeblich keinen Reichtum schaffe, auch keine Steuern zu zahlen brauche, murmelte sich wieder der Kapitalist schmunzelnd in den Bart.) Also braucht die Landwirtschaft, die Arbeit am Scho&szlig;e der Natur, nur von allen Fesseln des Feudalismus befreit zu werden, damit die Springquellen des Reichtums f&uuml;r Volk und Staat in ihrer nat&uuml;rlichen &Uuml;ppigkeit str&ouml;men und damit das h&ouml;chste Gl&uuml;ck aller Menschen sich von selbst mit Notwendigkeit in nat&uuml;rlicher Harmonie zum Ganzen f&uuml;gt.</P>
<P>War in diesen Lehren der Aufkl&auml;rer schon das nahende Grollen des Sturms auf die Bastille deutlich zu h&ouml;ren, so f&uuml;hlte sich bald die kapitalistische Bourgeoisie stark genug, die Maske der Unterw&uuml;rfigkeit abzulegen, sich st&auml;mmig in den Vordergrund zu stellen und ohne Umschweife die Ummodelung des ganzen Staates nach ihrem Vorbild zu fordern. Landwirtschaft ist mitnichten die einzige Quelle des Reichtums, erkl&auml;rt Adam Smith in England am Ausgang des 18. Jahrhunderts. Jegliche Lohnarbeit, die man zur Warenproduktion anspannt, ob auf dem landwirtschaftlichen Gut oder in der Manufaktur, schafft Reichtum! (Jegliche <I>Arbeit</I>, sagte Adam Smith; aber f&uuml;r ihn wie f&uuml;r seine Nachfolger - so sehr waren sie bereits nur noch Mundst&uuml;ck der aufkommenden Bourgeoisie - war der arbeitende Mensch von Natur kapitalistischer Lohnarbeiter!) Denn jegliche Lohnarbeit schafft au&szlig;er dem notwendigsten Lohn zur eigenen Erhaltung des Arbeiters auch noch die Rente zur Erhaltung des Grundherrn und einen Profit als den Reichtum des Kapitalbesitzers, des Unternehmers. Und der Reichtum ist um so gr&ouml;&szlig;er, je gr&ouml;&szlig;ere Massen Arbeiter in einer Werkstatt, unter dem Kommando eines Kapitals an die Arbeit gespannt werden, je genauer und sorgf&auml;ltiger die Arbeitsteilung unter ihnen durchgef&uuml;hrt ist. Dies also ist erst die wahre nat&uuml;rliche Harmonie, der wahre Reichtum der Nationen: aus jeglicher Arbeit f&uuml;r die Arbeitenden ein Lohn, der sie am Leben und zur weiteren Lohnarbeit gezwungen erh&auml;lt, eine Rente, die zum sorglosen Leben der Grundherren ausreicht, <A NAME="S586"><B>|586|</A></B> und ein Profit, der den Unternehmer bei guter Lust erh&auml;lt, weiter das Gesch&auml;ft zu treiben. So ist f&uuml;r <I>alle </I>gesorgt ohne die alten plumpen Mittel des Feudalismus. Also hei&szlig;t es den "Reichtum der Nationen" f&ouml;rdern, wenn man den Reichtum des kapitalistischen Unternehmers f&ouml;rdert, der das Ganze im Betrieb erh&auml;lt und die goldene Ader des Reichtums: die Lohnarbeit, zur Ader l&auml;&szlig;t. Also fort mit allen Fesseln und Hindernissen des alten guten Zeit wie auch mir den neuersonnenen v&auml;terlichen Begl&uuml;ckungsmethoden des Staates. Freie Konkurrenz, freies Ausleben des Privatkapitals, der ganze Steuer- und Staatsapparat im Dienste der kapitalistischen Unternehmer - und alles wird zum besten gehen in dieser besten der Welten!</P>
<P>Dies war das &ouml;konomische Evangelium der Bourgeoisie, herausgesch&auml;lt aus allen H&uuml;llen, und damit war die National&ouml;konomie in ihrem Kern und ihrer wahren Gestalt endg&uuml;ltig aus der Taufe gehoben. Freilich, die praktischen Reformvorschl&auml;ge und Mahnungen der Bourgeoisie an den Feudalstaat scheiterten in ihren Versuchen so hoffnungslos, wie die historischen Versuche, neuen Wein in alte Schl&auml;uche zu gie&szlig;en, noch allemal gescheitert sind. Der Hammer der Revolution brachte in 24 Stunden fertig, was ein halbes Jahrhundert reformerischer Flickversuche nicht vermocht hatte. Es war die Tat der politischen Machteroberung, was der Bourgeoisie die Bedingungen ihrer Herrschaft in die Hand gab. Aber die National&ouml;konomie war neben philosophischen, naturrechtlichen und sozialen Theorien des Aufkl&auml;rungszeitalters und an erster Stelle unter ihnen ein Mittel der Selbstbesinnung, eine Formulierung des Klassenbewu&szlig;tseins der Bourgeoisie und als solche Vorbedingung und Ansporn zur revolution&auml;ren Tat. Bis in seine blassesten Ausl&auml;ufer war das Werk der b&uuml;rgerlichen Welterneuerung in Europa von dem Gedankeninhalt der klassischen National&ouml;konomie gespeist. In England holt sich die Bourgeoisie in ihrer Sturm-und-Drang-Periode des Kampfes um den Freihandel, mit dem sie ihre Herrschaft auf dem Weltmarkt inaugurierte, die Waffen aus dem Arsenal von Smith-Ricardo. Und auch die Reformen der Stein-Hardenberg-Scharnhorstschen Periode, die den feudalen Plunder Preu&szlig;ens nach den bei Jena empfangenen Schl&auml;gen etwas modern zurechtputzen und lebensf&auml;hig machen wollten, sch&ouml;pften ihre Ideen aus den Lehren der eng- <A NAME="S587"><B>|587|</A></B> lischen Klassiker, so da&szlig; der junge deutsche National&ouml;konom Marwitz im Jahre 1810 schreiben konnte: nebst Napoleon sei Adam Smith der m&auml;chtigste Herrscher in Europa.</P>
<P>Begreifen wir nun, warum die National&ouml;konomie erst ungef&auml;hr vor anderthalb Jahrhunderten entstanden ist, so werden von demselben Standpunkt auch ihre weiteren Schicksale klar. Wenn die National&ouml;konomie einmal eine Wissenschaft &uuml;ber die besonderen Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise darstellt, so ist ihre Existenz und Funktion offenbar an das Dasein jener gekn&uuml;pft und verliert ihre Basis, sobald jene Produktionsweise aufgeh&ouml;rt hat zu bestehen. Mit anderen Worten: Die National&ouml;konomie als Wissenschaft hat ihre Rolle ausgespielt, sobald die anarchische Wirtschaft des Kapitalismus einer planm&auml;&szlig;igen, von der gesamten arbeitenden Gesellschaft bewu&szlig;t organisierten und geleiteten Wirtschaftsordnung Platz gemacht hat. Der Sieg der modernen Arbeiterklasse und die Verwirklichung des Sozialismus bedeuten somit das Ende der National&ouml;konomie als Wissenschaft. Hier kn&uuml;pft sich der besondere Zusammenhang zwischen der National&ouml;konomie und dem Klassenkampf des modernen Proletariats.</P>
<P>Wenn es Aufgabe und Gegenstand der National&ouml;konomie ist, die Gesetze der Entstehung, Entwicklung und Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise zu erkl&auml;ren, so ist eine unabweisbare Folge, da&szlig; sie in weiterer Konsequenz auch die Gesetze des Verfalls des Kapitalismus aufdecken mu&szlig;, der ebenso wie die fr&uuml;heren Wirtschaftsformen nicht von ewiger Dauer, sondern nur eine vor&uuml;bergehende Geschichtsphase, eine Staffel auf der unendlichen Leiter der gesellschaftlichen Entwicklung ist. Die Lehre von dem Aufkommen des Kapitalismus schl&auml;gt so logischerweise in die Lehre vom Untergang des Kapitalismus, die Wissenschaft &uuml;ber die Produktionsweise des Kapitals in die wissenschaftliche Begr&uuml;ndung des Sozialismus, das theoretische Herrschaftsmittel der Bourgeoisie in eine Waffe des revolution&auml;ren Klassenkampfes f&uuml;r die Befreiung des Proletariats um.</P>
<P>Diesen zweiten Teil des allgemeinen Problems der National&ouml;konomie haben freilich weder die franz&ouml;sischen noch die englischen und noch weniger die deutschen Gelehrten der b&uuml;rgerlichen Klassen gel&ouml;st. Die letzten Konsequenzen aus der Theorie der kapitalistischen Produktionsweise hat ein Mann gezogen, der von vornherein auf dem Standpunkte des <A NAME="S588"><B>|588|</A></B> revolution&auml;ren Proletariats stand: Karl Marx. Damit wurde der Sozialismus und die moderne Arbeiterbewegung zum erstenmal auf eine unersch&uuml;tterliche Grundlage der wissenschaftlichen Erkenntnis gestellt.</P>
<P>Als das Ideal einer Gesellschaftsordnung, die auf Gleichheit und Br&uuml;derlichkeit der Menschen beruht, als das Ideal einer kommunistischen Gemeinschaft war der Sozialismus Jahrtausende alt. Bei den ersten Aposteln des Christentums, bei verschiedenen religi&ouml;sen Sekten des Mittelalters, im Bauernkrieg blitzte die sozialistische Idee immer als radikalste &Auml;u&szlig;erung der Emp&ouml;rung gegen die bestehende Gesellschaft auf. Allein gerade als ein Ideal, das zu jeder Zeit, in jedem geschichtlichen Milieu empfohlen werden konnte, war der Sozialismus nichts als ein sch&ouml;ner Traum vereinzelter Schw&auml;rmer, eine goldene Phantasie, unerreichbar wie der luftige Schein des Regenbogens an der Wolkenwand.</P>
<P>Am Ausgang des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts tritt die sozialistische Idee zuerst mit Kraft und Nachdruck auf, losgel&ouml;st von religi&ouml;s-sektierischer Schw&auml;rmerei, vielmehr als ein Widerschein der Schrecken und Verheerungen, die der aufkommende Kapitalismus in der Gesellschaft anrichtete. Doch auch jetzt ist der Sozialismus im Grunde genommen nichts anderes als ein Traum, eine Erfindung einzelner k&uuml;hner K&ouml;pfe. H&ouml;ren wir den ersten Vork&auml;mpfer der revolution&auml;ren Erhebungen des Proletariats, Gracchus Babeuf, der w&auml;hrend der Gro&szlig;en Franz&ouml;sischen Revolution einen Handstreich zur gewaltsamen Einf&uuml;hrung der sozialen Gleichheit unternahm, so ist die einzige Tatsache, auf die er sich in seinen kommunistischen Bestrebungen zu st&uuml;tzen wei&szlig;, die schreiende Ungerechtigkeit der bestehenden Gesellschaftsordnung. Diese in den d&uuml;stersten Farben auszumalen, wird er nicht m&uuml;de in seinen leidenschaftlichen Artikeln, Pamphleten wie in seiner Verteidigungsrede vor dem Tribunal, das ihm das Todesurteil gesprochen hat. Sein Evangelium des Sozialismus ist eine eint&ouml;nige Wiederholung von Anklagen gegen die Ungerechtigkeit des Bestehenden, gegen die Leiden und Qualen, das Elend und die Erniedrigung der arbeitenden Massen, auf deren Kosten sich eine Handvoll M&uuml;&szlig;iger bereichert und herrscht. Es gen&uuml;gte nach Babeuf, da&szlig; die bestehende Gesellschaftsordnung wert ist, zugrunde zu gehen, damit sie auch schon vor hundert Jahren wirklich gest&uuml;rzt werden konnte, sobald sich nur eine Gruppe entschlossener M&auml;nner f&auml;nde, die sich der Staatsgewalt bem&auml;chtigte und das Regime der Gleichheit einf&uuml;hrte, so wie die Jakobiner 1793 die politische Macht ergriffen und die Republik eingef&uuml;hrt hatten.</P>
<P>Auf ganz anderen Methoden und doch im wesentlichen auf derselben Grundlage beruhen die sozialistischen Ideen, die von den drei gro&szlig;en <A NAME="S589"><B>|589|</A></B> Denkern: Saint-Simon und Fourier in Frankreich, Owen in England in den zwanziger und drei&szlig;iger Jahren des vorigen Jahrhunderts mit viel mehr Genie und Glanz vertreten wurden. Freilich, an eine revolution&auml;re Machtergreifung zur Verwirklichung des Sozialismus dachte auch nicht entfernt einer von den genannten M&auml;nnern mehr; im Gegenteil waren sie, wie die ganze Generation, die der gro&szlig;en Revolution nachfolgte, entt&auml;uscht von allem sozialen Umsturz und aller Politik, ausgesprochene Anh&auml;nger rein friedlicher Propagandamittel. Allein die Basis der sozialistischen Idee war bei allen ihnen dieselbe: Sie war in ihrem Wesen nur Projekt, Erfindung eines genialen Kopfes, der ihn der geplagten Menschheit zur Verwirklichung empfahl, um sie aus der H&ouml;lle der b&uuml;rgerlichen Gesellschaftsordnung zu erl&ouml;sen.</P>
<P>So blieben denn jene sozialistischen Theorien trotz aller Kraft ihrer Kritiken und des Zaubers ihrer Zukunftsideale ohne namhaften Einflu&szlig; auf die wirklichen Bewegungen und K&auml;mpfe der Zeitgeschichte. Babeuf ging mit einem H&auml;uflein Freunde in der konterrevolution&auml;ren Sturzwelle unter wie ein schwankes Schifflein, ohne zun&auml;chst eine andere Spur als eine kurze leuchtende Zeile auf den Bl&auml;ttern der Revolutionsgeschichte zu hinterlassen. Saint-Simon und Fourier haben es nur zu Sekten begeisterter und begabter Anh&auml;nger gebracht, die sich nach einiger Zeit zerstreuten oder neue Richtungen einschlugen, nachdem sie reiche und fruchtbare Anregungen an sozialen Ideen, Kritiken und Versuchen ausgestreut hatten. Am meisten hat Owen auf die Massen des Proletariats gewirkt, doch gehen auch seine Einfl&uuml;sse, nachdem sie eine Elitetruppe der englischen Arbeiter in den drei&szlig;iger und vierziger Jahren begeistert hatten, nachmals spurlos verloren.</P>
<P>Eine neue Generation sozialistischer F&uuml;hrer trat in den vierziger Jahren auf: Weitling in Deutschland, Proudhon, Louis Blanc, Blanqui in Frankreich. Die Arbeiterklasse hatte bereits ihrerseits den Kampf gegen die Kapitalsherrschaft aufgenommen, sie hat in den elementaren Aufst&auml;nden der Lyoner Seidenweber in Frankreich, in der Chartistenbewegung in England das Signal zum Klassenkampf gegeben. Aber zwischen diesen spontanen Regungen der ausgebeuteten Massen und den verschiedenen sozialistischen Theorien bestand kein unmittelbarer Zusammenhang. Weder hatten die revolutionierten Proletariermassen ein bestimmtes sozialistisches Ziel im Auge, noch suchten die sozialistischen Theoretiker ihre Ideen auf einen politischen Kampf der Arbeiterklasse zu st&uuml;tzen. Ihr Sozialismus sollte durch gewisse schlau ersonnene Einrichtungen, wie die <A NAME="S590"><B>|590|</A></B> Proudhonsche Volksbank f&uuml;r gerechten Warenaustausch oder die Produktivassoziationen Louis Blancs, realisiert werden. Der einzige Sozialist, der auf den politischen Kampf als Mittel zur Verwirklichung der sozialen Revolution rechnete, war Blanqui, dadurch der einzige wirkliche Vertreter des Proletariats und seiner revolution&auml;ren Klasseninteressen in jener Periode. Allein auch sein Sozialismus war im Grunde genommen ein Projekt, das, jederzeit realisierbar, als eine Frucht des entschlossenen Willens einer revolution&auml;ren Minderheit und eines von ihr durchgef&uuml;hrten pl&ouml;tzlichen Umsturzes ins Werk gesetzt werden konnte.</P>
<P>Das Jahr 1848 sollte der Kulminationspunkt und zugleich die Krise des &auml;lteren Sozialismus in all seinen Spielarten werden. Das Pariser Proletariat, beeinflu&szlig;t durch Traditionen der fr&uuml;heren revolution&auml;ren K&auml;mpfe, aufgew&uuml;hlt durch verschiedene sozialistische Systeme, hing mit Leidenschaft verschwommenen Ideen von einer gerechten Gesellschaftsordnung nach. Sobald das B&uuml;rgerk&ouml;nigtum Louis-Philippes gest&uuml;rzt war, benutzten die Pariser Arbeiter ihre Machtstellung, um von der erschrockenen Bourgeoisie diesmal die Verwirklichung der "sozialen Republik und einer neuen "Organisation der Arbeit" zu fordern. Zur Durchf&uuml;hrung dieses Programms wurde der provisorischen Regierung vom Proletariat die ber&uuml;hmte Frist von drei Monaten gew&auml;hrt, w&auml;hrend der die Arbeiter hungerten und warteten, die Bourgeoisie aber und das Kleinb&uuml;rgertum sich im stillen bewaffneten und die Niederwerfung der Arbeiter vorbereiteten. Die Frist endete mit der denkw&uuml;rdigen Junischl&auml;chterei, in der das Ideal einer jederzeit realisierbaren "sozialen Republik" in Blutstr&ouml;men des Pariser Proletariats erstickt wurde. Die Revolution von 1848 f&uuml;hrte nicht das Reich der sozialen Gleichheit herbei, sondern die politische Herrschaft der Bourgeoisie und einen ungeahnten Aufschwung der kapitalistischen Ausbeutung unter dem Zweiten Kaiserreich.</P>
<P>Doch um dieselbe Zeit, wo der Sozialismus alter Schulen unter den zerschmetterten Barrikaden der Juniinsurrektion auf immer begraben schien, wurde die sozialistische Idee von Marx und Engels auf eine ganz neue Basis gestellt. Die beiden suchten St&uuml;tzpunkte f&uuml;r den Sozialismus nicht in der moralischen Verwerflichkeit der bestehenden Gesellschaftsordnung noch im Auskl&uuml;geln m&ouml;glichst einnehmender und verlockender Projekte, wie die soziale Gleichheit im heutigen Staate eingeschmuggelt werden k&ouml;nnte. Sie wandten sich an die Untersuchung der <I>wirtschaftlichen </I>Verh&auml;ltnisse der heutigen Gesellschaft. Hier, in den Gesetzen der kapitalistischen Anarchie selbst, deckte Marx den wirklichen Ansatzpunkt f&uuml;r die <A NAME="S591"><B>|591|</A></B> sozialistischen Bestrebungen auf. Hatten die franz&ouml;sischen und englischen Klassiker der National&ouml;konomie die Gesetze aufgefunden, nach denen die kapitalistische Wirtschaft lebt und sich entwickelt, so nahm Marx ihr Werk ein halbes Jahrhundert sp&auml;ter genau dort auf, wo jene es abgebrochen hatten. Er deckte seinerseits auf, wie dieselben Gesetze der heutigen Wirtschaftsordnung auf ihren eigenen Untergang hinarbeiten, indem sie durch das Umsichgreifen der Anarchie immer mehr die Existenz der Gesellschaft bedrohen und zu einer Kette vernichtender wirtschaftlicher und politischer Katastrophen [sich] gestalten. Es sind also, wie Marx nachgewiesen hat, die eigenen Entwicklungstendenzen der Kapitalsherrschaft, die auf einer gewissen Stufe ihrer Reife den &Uuml;bergang zu einer planm&auml;&szlig;igen, von der gesamten arbeitenden Gesellschaft bewu&szlig;t organisierten Wirtschaftsweise notwendig machen, wenn die gesamte Gesellschaft und die menschliche Kultur nicht in den Konvulsionen der ungez&uuml;gelten Anarchie ihren Untergang finden soll. Und diese Schicksalsstunde beschleunigt das herrschende Kapital selbst immer energischer, indem es seine k&uuml;nftigen Totengr&auml;ber, die Proletarier, in immer gr&ouml;&szlig;eren Massen zusammenf&uuml;hrt, indem es sich &uuml;ber alle L&auml;nder der Erde ausbreitet, eine anarchische Weltwirtschaft herstellt und damit zugleich die Basis schafft f&uuml;r den Zusammenschlu&szlig; des Proletariats aller L&auml;nder in einer revolution&auml;ren Weltmacht zur Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft. Damit h&ouml;rte der Sozialismus auf, ein Projekt, eine sch&ouml;ne Phantasie oder auch ein Experiment einzelner Arbeitergruppen in jedem Lande auf eigene Faust zu sein. Als gemeinsames politisches Aktionsprogramm des internationalen Proletariats ist der Sozialismus <I>eine historische Notwendigkeit</I>, weil eine Frucht der &ouml;konomischen Entwicklungstendenzen des Kapitalismus.</P>
<P>Es ist nun klar, weshalb Marx seine eigene &ouml;konomische Lehre au&szlig;erhalb der offiziellen National&ouml;konomie gestellt, sie "eine Kritik der politischen &Ouml;konomie" genannt hat. Die von Marx entwickelten Gesetze der kapitalistischen Anarchie und ihres k&uuml;nftigen Untergangs sind freilich selbst nur eine Fortsetzung der National&ouml;konomie, wie sie von den b&uuml;rgerlichen Gelehrten geschaffen worden ist, aber eine Fortsetzung, die sich in ihren Schlu&szlig;ergebnissen in sch&auml;rfsten Gegensatz zu den Ausgangspunkten jener setzt. Die Marxsche Lehre ist ein Kind der b&uuml;rgerlichen &Ouml;konomie, aber ein Kind, dessen Geburt die Mutter das Leben gekostet hat. In der Marxschen Theorie hat die National&ouml;konomie ihre Vollendung, aber auch ihren Abschlu&szlig; als Wissenschaft gefunden. Was weiter zu folgen hat, ist - au&szlig;er dem Ausbau der Marxschen Lehre in Einzelheiten - nur noch die Umsetzung dieser Lehre in die Tat, das hei&szlig;t der Kampf des inter- <A NAME="S592"><B>|592|</A></B> nationalen Proletariats um die Verwirklichung der sozialistischen Wirtschaftsordnung. Der Ausgang der National&ouml;konomie als Wissenschaft bedeutet so eine welthistorische Tat: ihre Umsetzung in die Praxis einer planm&auml;&szlig;ig organisierten Weltwirtschaft. Das letzte Kapitel der national&ouml;konomischen Lehre ist die soziale Revolution des Weltproletariats.</P>
<P>Der besondere Zusammenhang zwischen der National&ouml;konomie und der modernen Arbeiterklasse erweist sich somit als ein gegenseitiges Verh&auml;ltnis. Wenn einerseits die National&ouml;konomie, so wie sie von Marx ausgebaut worden ist, mehr denn jede andere Wissenschaft die unentbehrliche Grundlage der proletarischen Aufkl&auml;rung ist, so bildet andererseits das klassenbewu&szlig;te Proletariat heutzutage die einzige verst&auml;ndnisf&auml;hige und empf&auml;ngliche Zuh&ouml;rerschaft f&uuml;r die Lehre der National&ouml;konomie. Erst noch die verfallenden Ruinen der alten feudalen Gesellschaft vor den Augen, blickten einst die Quesnay und Boisguillebert in Frankreich, die Adam Smith und Ricardo in England voll Stolz und Begeisterung auf die junge b&uuml;rgerliche Gesellschaft und lie&szlig;en in festem Glauben an das aufsteigende Tausendj&auml;hrige Reich der Bourgeoisie und seine "nat&uuml;rliche" soziale Harmonie ihre Adlerblicke unerschrocken in die Tiefen der kapitalistischen Gesetze dringen.</P>
<P>Seitdem hatte der immer m&auml;chtiger anschwellende proletarische Klassenkampf und besonders die Juniinsurrektion des Pariser Proletariats den Glauben der b&uuml;rgerlichen Gesellschaft an ihre eigene Gott&auml;hnlichkeit l&auml;ngst zerst&ouml;rt. Seit sie vom Baume der Erkenntnis moderner Klassengegens&auml;tze gegessen, verabscheut sie die klassische Nacktheit, in der sie die Sch&ouml;pfer ihrer eigenen National&ouml;konomie einst der Welt gezeigt hatten. Ist es doch heute klar, da&szlig; jene wissenschaftlichen Entdeckungen es waren, aus denen die Wortf&uuml;hrer des modernen Proletariats ihre t&ouml;dlichsten Waffen entnommen haben.</P>
<P>So kommt es, da&szlig; seit Jahrzehnten nicht blo&szlig; die sozialistische, sondern auch die b&uuml;rgerliche National&ouml;konomie, sofern sie einst wirkliche Wissenschaft war, in den besitzenden Klassen tauben Ohren predigt. Unf&auml;hig, die Lehren ihrer eigenen gro&szlig;en Ahnen zu verstehen und noch weniger die aus ihnen hervorgegangene Marxsche Lehre anzunehmen, die der b&uuml;rgerlichen Gesellschaft die Totenglocke l&auml;utet, tragen die heutigen b&uuml;rgerlichen Gelehrten unter dem Namen der National&ouml;konomie einen formlosen Brei von Abf&auml;llen allerlei wissenschaftlicher Gedanken und interessierter Verirrungen vor, wobei sie nicht mehr den Zweck verfolgen, die wirklichen Tendenzen des Kapitalismus zu erforschen, sondern nur noch dem umgekehrten Zweck nachstreben, jene Tendenzen zu ver- <B>|593|</B> schleiern, um den Kapitalismus als die beste, einzig m&ouml;gliche, ewige Wirtschaftsordnung zu verteidigen.</P>
<P>Vergessen und verraten von der b&uuml;rgerlichen Gesellschaft, sucht die wissenschaftliche National&ouml;konomie ihre Zuh&ouml;rer nur noch unter den klassenbewu&szlig;ten Proletariern, um bei ihnen nicht blo&szlig; theoretisches Verst&auml;ndnis, sondern auch tatkr&auml;ftige Erf&uuml;llung zu finden. Die National&ouml;konomie ist es in erster Linie, auf die das bekannte Wort Lassalles zutrifft:</P>
<FONT SIZE=2><P>"Wenn sich die Wissenschaft und die Arbeiter, diese beiden entgegengesetzten Pole der Gesellschaft, umarmen, werden sie in ihren Armen alle Kulturhindernisse erdr&uuml;cken."<A NAME="ZF3"></FONT><A HREF="lu05_580.htm#F3"><FONT SIZE=2>[3]</FONT></A></A></P>
<P><HR></P>
<P>Redaktionelle Anmerkungen</P>
<P><A NAME="F1">[1]</A> Karl B&uuml;cher: Die Entstehung der Volkswirtschaft. Vortr&auml;ge und Versuche, T&uuml;bingen 1906, S. 135. <A HREF="lu05_580.htm#ZF1">&lt;=</A></P>
<P><A NAME="F2">[2]</A> Karl B&uuml;cher: Die Entstehung der Volkswirtschaft. Vortr&auml;ge und Versuche, T&uuml;bingen 1906, S. 136. <A HREF="lu05_580.htm#ZF2">&lt;=</A></P>
<P><A NAME="F3">[3]</A> "Die Allianz der <I>Wissenschaft </I>und der <I>Arbeiter</I>, dieser beiden entgegengesetzten Pole der Gesellschaft, die, <I>wenn </I>sie sich umarmen, alle Kulturhindernisse in ihren ehernen Armen <I>erdr&uuml;cken </I>werde." Ferdinand Lassalle: Die Wissenschaft und die Arbeiter. Eine Verteidigungs-Rede vor dem Berliner Kriminalgericht. In: Ferd. Lassalle's Reden und Schriften. Neue Gesammt-Ausgabe. Mit einer biographischen Einleitung hrsg. von Ed. Bernstein, Zweiter Band, Berlin 1893, S. 83 <A HREF="lu05_580.htm#ZF3">&lt;=</A></P>
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