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2022-08-25 20:29:11 +02:00

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<TITLE>Die neuen Behörden - Fortschritte in der Schweiz</TITLE>
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<P ALIGN="CENTER"><A HREF="me06_013.htm"><FONT SIZE=2>Das Exf&uuml;rstentum</FONT></A><FONT SIZE=2> | </FONT><A HREF="../me_nrz48.htm"><FONT SIZE=2>Inhalt</FONT></A><FONT SIZE=2> | </FONT><A HREF="me06_019.htm"><FONT SIZE=2>[Cavaignac und die Junirevoution]</FONT></A></P>
<SMALL>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 6, S. 15-18<BR>
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1959</SMALL></P>
<FONT SIZE=5><P>Die neuen Beh&ouml;rden - Fortschritte in der Schweiz</P>
</FONT><FONT SIZE=2><P>["Neue Rheinische Zeitung" Nr. 143 vom 15. November 1848]</P>
</FONT><B><P><A NAME="S15">&lt;15&gt;</A></B> **<I>Bern</I>, 9. November. Seit vorgestern sind nun die neuen gesetzgebenden Bundesstaaten, der schweizerische Nationalrat und der St&auml;nderat, hier versammelt. Die Stadt Bern hat ihr m&ouml;glichstes getan, um sie so gl&auml;nzend und so bestechend wie m&ouml;glich zu empfangen. Musik, Festz&uuml;ge, Kanonendonner und Glockengel&auml;ute, Illumination, nichts fehlte. Die Sitzungen wurden gleich vorgestern er&ouml;ffnet. Der Nationalrat, nach allgemeinem Stimmrecht und nach der Volkszahl gew&auml;hlt (Bern hat zwanzig, Z&uuml;rich zw&ouml;lf, die kleinsten Kantone je zwei bis drei Abgeordnete geschickt), ist seiner &uuml;berwiegenden Mehrzahl nach aus radikal-gef&auml;rbten Liberalen zusammengesetzt. Die entschieden radikale Partei ist sehr stark vertreten, die konservative hat nur sechs bis sieben Stimmen auf mehr als hundert. Der St&auml;nderat, aus je zwei Abgeordneten f&uuml;r jeden ganzen und je einem f&uuml;r jeden halben Kanton bestehend, gleicht so ziemlich der letzten Tagsatzung in Zusammensetzung und Charakter. Die Urkant&ouml;nli haben wieder einige echte Sonderb&uuml;ndler hineingeschickt, und infolge der indirekten Wahl ist bei den St&auml;nden das reaktion&auml;re Element, wenn auch in entschiedener Minorit&auml;t, doch bereits st&auml;rker vertreten als im Nationalrat. Der St&auml;nderat ist &uuml;berhaupt die durch Abschaffung der bindenden Mandate und der Ung&uuml;ltigkeit der halben Stimmen verj&uuml;ngte, durch Kreierung des Nationalrats in den Hintergrund gedr&auml;ngte Tagsatzung. Er spielt die undankbare Rolle des Senats oder der Pairskammer, des Hemmschuhs an der vorausgesetzten &uuml;berfliegenden Neuerungslust des Nationalrats, des Erben der reifen Weisheit und sorgf&auml;ltigen &Uuml;berlegung der V&auml;ter. Diese w&uuml;rdige und gesetzte Beh&ouml;rde teilt bereits jetzt das Schicksal ihrer Schwestern in England und Amerika und weiland in Frankreich; sie wird, noch eh' sie ein Lebenszeichen von sich gegeben, von der Presse &uuml;ber die Achseln angesehn und &uuml;ber dem Nationalrat vergessen. Kein Mensch spricht <A NAME="S16"><B>&lt;16&gt;</A></B> fast von ihr, und wenn sie von sich sprechen machen wird, so wird's um so schlimmer f&uuml;r sie sein.</P>
<P>Der Nationalrat, obwohl er die ganze schweizerische "Nation" repr&auml;sentieren soll, hat gleich in der ersten Sitzung eine Probe, zwar nicht grade von Kant&ouml;nligeist, aber doch von echt schweizerischer Uneinigkeit und Kleinigkeitskr&auml;merei gegeben. Um einen Pr&auml;sidenten zu w&auml;hlen, mu&szlig;te man dreimal abstimmen lassen, obwohl nur drei Kandidaten, und alle drei noch dazu Berner, ernsthaft in Betracht kamen. Es waren die Herren Ochsenbein, Funk und Neuhaus; die ersten beiden Repr&auml;sentanten der Berner altradikalen, der dritte Vertreter der altliberalen, halbkonservativen Partei. Endlich wurde Herr Ochsenbein mit 50 aus 93 Stimmen, also einer gar knappen Majorit&auml;t, erw&auml;hlt. Da&szlig; die Z&uuml;richer und andern Moderados dem Herrn Ochsenbein den weisen und vielerfahrenen Neuhaus entgegensetzten, begreift sich; da&szlig; aber Herr Funk, der ganz zu derselben Schattierung geh&ouml;rt wie Ochsenbein, mit ihm in Konkurrenz gebracht und in zwei Abstimmungen gehalten wurde, das beweist, wie wenig noch die Parteien sich geordnet und diszipliniert haben. Jedenfalls haben die Radikalen beim ersten Turnier der Parteien durch Ochsenbeins Wahl den Sieg davongetragen. Bei der darauf vorgenommenen Wahl des Vizepr&auml;sidenten kam erst heim f&uuml;nften Mal eine absolute Majorit&auml;t heraus! Der gesetzte und erfahrne St&auml;nderat dagegen w&auml;hlte gleich in der ersten Abstimmung fast einstimmig den Z&uuml;rcher Moderado Furrer zu seinem Pr&auml;sidenten. Diese beiden Wahlen bezeichnen schon hinreichend, wie verschieden der Geist der beiden Kammern ist und wie bald sie auseinandergehn und in Konflikte geraten werden.</P>
<P>Der n&auml;chste interessante Gegenstand der Debatte wird die Wahl der Bundesstadt sein. Interessant f&uuml;r die Schweizer, weil sehr viele von ihnen materiell dabei interessiert sind, f&uuml;r das Ausland, weil grade diese Debatte am klarsten zeigen wird, inwieweit der alte Lokalpatriotismus, die Kant&ouml;nli-Borniertheit verschlissen ist. Bern, Z&uuml;rich, Luzern konkurrieren am heftigsten. Bern m&ouml;chte Z&uuml;rich mit der Bundes-Universit&auml;t und Luzern mit dem Bundesgerichtshof abfinden, aber umsonst. Bern ist jedenfalls die einzig geeignete Stadt - als &Uuml;bergangspunkt der deutschen in die franz&ouml;sische Schweiz, als Hauptstadt des gr&ouml;&szlig;ten Kantons, als entstehender Zentralpunkt f&uuml;r die ganze Schweizer Bewegung. Nun mu&szlig; Bern, um etwas zu werden, auch die Universit&auml;t und das Bundesgericht haben. Aber das bringe einer den f&uuml;r ihre Kantonstadt fanatisierten Schweizern bei! Es ist sehr m&ouml;glich, da&szlig; der radikalere Nationalrat f&uuml;r das radikale Bern, der gesetzte St&auml;nderat f&uuml;r das gesetzte, hoch- und wohlweise Z&uuml;rich stimmt. Dann ist vollends guter Rat teuer.</P>
<B><P><A NAME="S17">&lt;17&gt;</A></B> In Genf sieht es seit drei Wochen sehr unruhig aus. Bei den Wahlen f&uuml;r den Nationalrat setzten die reaktion&auml;ren Patrizier und Bourgeois, die von ihren Villen aus die D&ouml;rfer um Genf in fast feudaler Abh&auml;ngigkeit halten, mit ihren Bauern alle drei Kandidaten durch. Aber das B&uuml;ro kassierte die Wahlen, weil mehr Stimmzettel eingegangen als ausgeteilt waren. Nur diese Kassation beruhigte die revolution&auml;ren Arbeiter von Saint-Gervais, die schon haufenweise durch die Stra&szlig;en zogen und riefen: "Aux armes!" &lt;"Zu den Waffen"!&gt; Die Haltung der Arbeiter w&auml;hrend der n&auml;chsten acht Tage war so drohend, da&szlig; die Bourgeois vorzogen, lieber gar nicht zu stimmen, als eine Revolution mit obligaten, bereits angedrohten Schreckensszenen zu provozieren. Um so mehr, als die Regierung drohte, ihre Entlassung einzureichen, wenn die reaktion&auml;ren Kandidaten nochmals durchgingen. Inzwischen &auml;nderten die Radikalen ihre Kandidatenliste, setzten weniger schroffe Namen darauf, holten die vers&auml;umte Agitation nach und erreichten bei der neuen Wahl 5.000-5.500, fast tausend Stimmen mehr als die Reaktion&auml;re bei der vorigen gehabt. Die drei reaktion&auml;ren Kandidaten erhielten fast gar keine Stimmen, am meisten hatte noch General Dufour, der es auf 1.500 brachte. Acht Tage sp&auml;ter waren die Wahlen f&uuml;r den Gro&szlig;en Rat. Die Stadt w&auml;hlte 44 Radikale, das Land, das 46 Gro&szlig;r&auml;te zu w&auml;hlen hat, fast lauter Reaktion&auml;re. Die "Revue de Gen&eacute;ve" streitet sich noch mit den Bourgeoisbl&auml;ttern herum, ob diese 46 alle reaktion&auml;r sind oder ob ein halbes Dutzend f&uuml;r die radikale Regierung stimmen werden. Es wird sich bald zeigen. Die Verwirrung in Genf kann gro&szlig; werden; denn wenn die Regierung, die hier direkt vom Volk gew&auml;hlt wird, abtreten mu&szlig;, so k&ouml;nnte es bei der Neuwahl leicht gehen wie bei der zweiten Nationalratswahl und einer reaktion&auml;ren Gro&szlig;rats-Majorit&auml;t eine radikale Regierung gegen&uuml;bergestellt werden. Es ist &uuml;brigens gewi&szlig;, da&szlig; die Genfer Arbeiter nur auf eine Gelegenheit warten, um durch eine neue Revolution die bedrohten Eroberungen von 1847 sicherzustellen.</P>
<P>Alles in allem genommen hat die Schweiz gegen die ersten vierziger Jahre bedeutende Fortschritte gemacht. Bei keiner Klasse ist dieser Fortschritt aber so auffallend wie bei den Arbeitern. W&auml;hrend bei der Bourgeoisie und namentlich in den altpatrizischen Familien der alte lokalbornierte Zopfgeist noch ziemlich allgemein herrscht und h&ouml;chstens modernere Formen angenommen hat, haben sich die Schweizer Arbeiter merkw&uuml;rdig entwickelt. Fr&uuml;her hielten sie sich getrennt von den Deutschen und stolzierten im absurdesten "freien Schweizer" Nationalhochmut einher, r&auml;sonierten &uuml;ber die "fremden Chaibe" &lt;"fremden Spitzbuben"&gt; und blieben bei der ganzen Zeitbewegung teilnahmslos. Jetzt ist das anders <A NAME="S18"><B>&lt;18&gt;</A></B> geworden. Seitdem die Arbeit schlechter geht, seitdem die Schweiz demokratisiert ist, namentlich aber seitdem an die Stelle der kleinen Putsche europ&auml;ische Revolutionen und Schlachten wie die Pariser Juni- und Wiener Oktoberschlacht getreten sind - seitdem haben die Schweizer Arbeiter mehr und mehr an der politischen und sozialistischen Bewegung teilgenommen, haben sich mit den fremden Arbeitern, besonders den deutschen, verbr&uuml;dert und ihr "fryes Schwyzerthum" an den Nagel geh&auml;ngt. In der franz&ouml;sischen und in vielen Gegenden der deutschen Schweiz sind Deutsche und deutsche Schweizer ohne allen Unterschied in demselben Arbeiterverein zusammen, und Vereine, deren Mehrzahl aus Schweizern besteht, haben beschlossen, sich an die projektierte und teilweise ausgef&uuml;hrte Organisation der deutschen demokratischen Vereine anzuschlie&szlig;en. W&auml;hrend die radikalsten Radikalen der offiziellen Schweiz h&ouml;chstens von der einen und unteilbaren helvetischen Republik tr&auml;umen, h&ouml;rt man nicht selten von Schweizer Arbeitern die Ansicht aussprechen, da&szlig; die ganze Selbst&auml;ndigkeit der kleinen Schweiz in dem europ&auml;ischen Sturm, der sich vorbereitet, wohl bald zum Teufel gehen werde. Und das sagen sie ganz kaltbl&uuml;tig und gleichg&uuml;ltig, ohne ein Wort des Bedauerns, diese proletarischen Landesverr&auml;ter! Die Teilnahme f&uuml;r die Wiener war gro&szlig; bei allen Schweizern, die ich gesehen, aber bei den Arbeitern stieg sie zum wahren Fanatismus. Von Nationalrat, St&auml;nderat, von dem Freiburger Pfaffenputsch h&ouml;rte man kein Wort; aber Wien, Wien war im Munde aller, vom Morgen bis zum Abend. Es war, als ob die Schweizer wieder, wie vor Tells Zeit, Wien zu ihrer Hauptstadt h&auml;tten, als ob sie wieder &ouml;streichisch seien. Hunderte von Ger&uuml;chten wurden verbreitet, diskutiert, bezweifelt, geglaubt, wieder umgesto&szlig;en, alle m&ouml;glichen F&auml;lle wurden durchgesprochen; und als endlich die Nachricht vom Unterliegen der heroischen Wiener Arbeiter und Studenten, von der &Uuml;bermacht und der Barbarei Windischgr&auml;tz' sich definitiv best&auml;tigte, da machte sie einen Eindruck auf diese Schweizer Arbeiter, als ob in Wien ihr eigen Los entschieden, die Sache ihres eigenen Landes erlegen sei. Diese Stimmung ist freilich noch nicht allgemein, aber sie greift t&auml;glich mehr um sich unter dem Schweizer Proletariat, und da&szlig; sie schon an vielen Orten besteht, das ist f&uuml;r ein Land wie die Schweiz ein ungeheurer Fortschritt.</P>
<FONT SIZE=2><P>Geschrieben von Friedrich Engels.</P>
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