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<title>"Neue Rheinische Zeitung" - Der 25. Juni</title>
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<p align="center"><a href="me05_123.htm"><font size="2">Der 24. Juni</font></a> <font size=
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"2">|</font> <a href="../me_nrz48.htm"><font size="2">Inhalt</font></a> <font size="2">|</font>
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<a href="me05_133.htm"><font size="2">Die Junirevolution</font></a></p>
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<small>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 5, S. 128-132<br>
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Dietz Verlag, Berlin/DDR 1971</small> <br>
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<h1>Der 25. Juni</font></p>
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<p><font size="2">["Neue Rheinische Zeitung" Nr. 29 vom 29. Juni 1848]</font></p>
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<p><b><a name="S128"><128></a></b> * Mit jedem Tage nahm die Heftigkeit, die Erbitterung,
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die Wut des Kampfes zu. Die Bourgeoisie wurde immer fanatisierter gegen die Insurgenten, je
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weniger ihre Brutalitäten sofort zum Ziele führten, je mehr sie selbst im Kampf,
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Nachtwachen und Biwakieren ermattete, je näher sie ihrem endlichen Siege rückte.</p>
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<p>Die Bourgeoisie erklärte die Arbeiter nicht für gewöhnliche Feinde, die man
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besiegt, sondern für <i>Feinde der Gesellschaft</i>, die man vernichtet. Sie verbreiteten
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die absurde Behauptung, es sei den von ihnen selbst mit Gewalt in den Aufstand hineingejagten
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Arbeitern nur um Plünderung, Brandstiftung und Mord zu tun, sie seien eine Bande
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Räuber, die man niederschießen müsse wie die Tiere des Waldes. Und doch hatten
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die Insurgenten während 3 Tagen einen großen Teil der Stadt inne und benahmen sich
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höchst anständig. Hätten sie dieselben gewaltsamen Mittel angewandt wie die von
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Cavaignac kommandierten Bourgeois und Bourgeoisknechte, Paris läge in Trümmern, aber
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sie hätten triumphiert.</p>
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<p>Wie barbarisch die Bourgeois in diesem Kampfe verfuhren, geht aus allen Einzelnheiten
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hervor. Von den Kartätschen, den Granaten, den Brandraketen gar nicht zu sprechen, steht
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es fest, daß <i>auf den meisten erstürmten Barrikaden kein Quartier gemacht</i>
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<<i>kein Pardon gegeben</i>> <i>wurde</i>. Die Bourgeois schlugen alles ohne Ausnahme
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nieder, was sie vorfanden. Am 24. abends wurden in der Allee des Observatoire über 50
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gefangene Insurgenten ohne alle Prozeßform erschossen. "Es ist ein Vernichtungskrieg",
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schreibt ein Korrespondent der "Indépendance Belge", die selbst ein Bourgeoisblatt ist.
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Auf allen Barrikaden herrschte der Glaube, daß alle Insurgenten ohne Ausnahme
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niedergemacht würden. <a name="S129"><b><129></b></a> Als Larochejaquelein in der
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Nationalversammlung davon sprach, daß man etwas tun müsse, um diesem Glauben
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entgegenzuwirken, ließen ihn die Bourgeois gar nicht aussprechen und machten einen
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solchen Lärm, daß der Präsident sich bedecken und die Sitzung unterbrechen
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mußte. Als Herr Senard selbst später (s. unten Sitzung der Versammlung) einige
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heuchlerische Worte der Milde und Versöhnung sprechen wollte, entstand derselbe Lärm.
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Die Bourgeois wollten von Schonung nichts wissen. Selbst auf die Gefahr hin, einen Teil ihres
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Eigentums durch ein Bombardement zu verlieren, waren sie entschlossen, ein für allemal ein
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Ende zu machen mit den Feinden der Ordnung, den Plünderern, Räubern, Brandstiftern
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und Kommunisten.</p>
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<p>Dabei hatten sie nicht einmal den Heldenmut, den ihre Journale sich bemühen ihnen
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zuzuschreiben. Aus der heutigen Sitzung der Nationalversammlung geht hervor, daß beim
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Ausbruch des Aufstandes die Nationalgarde vor Schrecken betäubt war; aus den Berichten
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aller Journale der verschiedensten Farben leuchtet trotz aller pomphaften Phrasen hervor,
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daß am ersten Tage die Nationalgarde sehr schwach erschien, daß am zweiten und
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dritten Cavaignac sie aus den Betten mußte holen und durch einen Gefreiten und vier Mann
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ins Feuer führen lassen. Der fanatische Haß der Bourgeois gegen die
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aufständischen Arbeiter war nicht imstande, ihre natürliche Feigheit zu
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überwinden.</p>
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<p>Die Arbeiter dagegen schlugen sich mit einer Tapferkeit ohnegleichen. Immer weniger
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imstande, ihre Verluste zu ersetzen, immer mehr durch die Übermacht
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zurückgedrängt, ermüdeten sie keinen Augenblick. Vom 25. morgens an mußten
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sie schon einsehen, daß die Chancen des Siegs sich entschieden gegen sie kehrten. Massen
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auf Massen neuer Truppen kamen an aus allen Gegenden; die Nationalgarde der Banlieue, die der
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entfernteren Städte kam in großen Trupps nach Paris. Die Linientruppen, die sich
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schlugen, betrugen am 25. über 40.000 Mann mehr als die gewöhnliche Garnison; die
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Mobilgarde kam mit 20.000 bis 25.000 Mann hinzu; dann die Pariser und auswärtige
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Nationalgarde. Dazu noch mehrere tausend Mann republikanische Garde. Die ganze bewaffnete
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Macht, die gegen die Insurrektion zu Felde zog, betrug am 25. gewiß an 150.000 bis
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200.000 Mann, die Arbeiter waren höchstens den vierten Teil so stark, hatten weniger
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Munition, gar keine militärische Direktion und keine brauchbaren Kanonen. Aber sie
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schlugen sich schweigend und verzweifelt gegen die kolossale Übermacht. Massen auf Massen
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rückten heran auf die Breschen, die das schwere Geschütz in die Barrikaden
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geschossen; ohne einen Ruf auszustoßen, empfingen sie die Arbeiter und kämpften
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überall bis auf den letzten Mann, ehe sie eine Barrikade in die Hände der Bourgeois
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fallen ließen. Auf dem Montmartre riefen die Insurgenten den <a name=
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"S130"><b><130></b></a> Einwohnern zu: Wir werden entweder in Stücke gehauen oder
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wir hauen die andern in Stücke; wir werden aber nicht weichen, und bittet Gott, daß
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wir Siegen, denn sonst brennen wir ganz Montmartre nieder. Diese nicht einmal erfüllte
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Drohung gilt natürlich als ein "abscheuliches Projekt", während die Granaten und
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Brandraketen Cavaignacs "geschickte militärische Maßregeln sind, denen jedermann
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Bewunderung zollt"!</p>
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<p>Am 25. morgens hatten die Insurgenten folgende Positionen inne: das Clos Saint Lazare, die
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Vorstädte St. Antoine und du Temple, den Marais und das Viertel Saint Antoine.</p>
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<p>Das Clos Saint Lazare (das ehemalige Klostergehege) ist eine große Fläche Landes,
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teilweise bebaut, teilweise erst mit angefangenen Häusern, projektierten Straßen
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etc. bedeckt. Der Nordbahnhof liegt gerade in seiner Mitte. In diesem an
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unregelmäßig liegenden Gebäuden reichen Viertel, das außerdem eine Menge
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Baumaterial umfaßt, hatten die Insurgenten eine gewaltige Festung aufgeworfen. Das im Bau
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begriffene Hospital Louis-Philippe war ihr Zentrum, sie hatten furchtbare Barrikaden
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aufgeworfen, die von Augenzeugen als ganz uneinnehmbar geschildert werden. Dahinter lag die von
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ihnen zernierte und besetzte Ringmauer der Stadt. Von da gingen ihre Verschanzungen bis in die
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Rue Rochechouart oder in die Gegend der Barrieren. Die Barrieren des Montmartre waren stark
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verteidigt, Montmartre war ganz von ihnen besetzt. Vierzig Kanonen, seit zwei Tagen gegen sie
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donnernd, hatten sie noch nicht reduziert.</p>
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<p>Man schoß wieder den ganzen Tag mit 40 Kanonen auf diese Verschanzungen; endlich
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abends 6 Uhr wurden die zwei Barrikaden der Rue Rochechouart genommen und bald darauf fiel auch
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das Clos Saint Lazare.</p>
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<p>Auf dem Boulevard du Temple nahm die Mobilgarde morgens 10 Uhr mehrere Häuser, von wo
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aus die Insurgenten ihre Kugeln in die Reihen der Angreifer sandten. Die "Verteidiger der
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Ordnung" waren etwa bis zum Boulevard des Filles du Calvaire vorgerückt. Inzwischen wurden
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die Insurgenten im Faubourg du Temple immer höher hinaufgetrieben, der Kanal Saint Martin
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stellenweise besetzt und von hier sowie vom Boulevard aus die breiteren und geraden
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Straßen mit Artillerie stark beschossen. Der Kampf war ungemein heftig. Die Arbeiter
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wußten sehr gut, daß man sie hier im Herzen ihrer Stellung angreife. Sie
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verteidigten sich wie Rasende. Sie nahmen sogar Barrikaden wieder, aus denen man sie schon
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vertrieben hatte. Aber nach langem Kampfe wurden sie von der Übermacht der Zahl und der
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Waffen erdrückt. Eine Barrikade nach der andern fiel; bei Anbruch der Nacht war nicht nur
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das Faubourg du Temple, sondern auch vermittelst des Boulevards und <a name=
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"S131"><b><131></b></a> des Kanals die Zugänge zum Faubourg Saint Antoine und
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mehrere Barrikaden in diesem Faubourg erobert.</p>
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<p>Am Hôtel de Ville machte General Duvivier langsame aber gleichmäßige
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Fortschritte. Von den Quais aus kam er den Barrikaden der Rue Saint Antoine in die Flanken und
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beschoß zugleich die Insel St. Louis und die ehemalige Insel Louvier mit schwerem
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Geschütz. Hier wurde ebenfalls ein sehr erbitterter Kampf geführt, über den
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jedoch die Details mangeln und von dem man nur weiß, daß um vier Uhr die Mairie des
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neunten Arrondissements nebst den umliegenden Straßen genommen, daß eine Barrikade
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der Rue Saint Antoine nach der andern erstürmt und die Brücke Damiette genommen
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wurde, die den Zugang auf die Ile Saint Louis bildete. Mit Anbruch der Nacht waren die
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Insurgenten hier überall vertrieben und alle Zugänge des Bastillenplatzes
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befreit.</p>
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<p>Damit waren die Insurgenten aus allen Teilen der Stadt geschlagen, mit Ausnahme des Faubourg
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Saint Antoine. Dies war ihre stärkste Stellung. Die vielen Zugänge dieses Faubourg,
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des eigentlichen Herdes aller Pariser Aufstände, waren mit besonderem Geschick gedeckt.
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Schräge, einander gegenseitig deckende Barrikaden, noch verstärkt durch das
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Kreuzfeuer der Häuser, boten eine furchtbare Angriffsfronte dar. Ihr Sturm würde eine
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unendliche Menge Leben gekostet haben.</p>
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<p>Vor diesen Schanzen lagerten sich die Bourgeois oder vielmehr ihre Knechte. Die
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Nationalgarde hatte an diesem Tage wenig getan. Die Linie und die Mobilgarde hatten die meiste
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Arbeit vollzogen; die Nationalgarde besetzte die ruhigen und eroberten Stadtteile.</p>
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<p>Am schlechtesten hat sich benommen die republikanische und die Mobilgarde. Die
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republikanische Garde, neu organisiert und epuriert wie sie war, schlug sich mit großer
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Erbitterung gegen die Arbeiter, an denen sie ihre Sporen als republikanische Munizipalgarde
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verdiente.</p>
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<p>Die Mobilgarde, die zum größten Teil aus dem Pariser Lumpenproletariat rekrutiert
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ist, hat sich in der kurzen Zeit ihres Bestehens vermittelst guter Zahlung schon sehr in eine
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prätorianische Garde <kaiserliche Leibwache im alte Rom> der jedesmaligen Machthaber
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verwandelt. Das organisierte Lumpenproletariat hat dem nichtorganisierten arbeitenden
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Proletariat seine Schlacht geliefert. Es hat sich, wie zu erwarten war, der Bourgeoisie zur
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Verfügung gestellt, gerade wie die Lazzaroni in Neapel zur Verfügung Ferdinands
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<Siehe <a href="me05_019.htm">"[Die neueste Heldetat das Hauses Bourbon]"</a>>. Nur die
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Abteilungen der Mobilgarde, die aus <i>wirklichen</i> Arbeitern bestanden, gingen
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über.</p>
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<p>Aber wie verächtlich erscheint die ganze jetzige Wirtschaft in Paris, <a name=
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"S132"><b><132></b></a> wenn man sieht, wie diese ehemaligen Bettler, Vagabunden, Gauner,
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Gamins <Gassenjungen> und kleinen Diebe der Mobilgarde, die jeder Bourgeois im März
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und April als eine nicht länger zu duldende, spitzbübische, aller Verwerflichkeiten
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fähige Räuberbande bezeichnete, wenn diese Räuberbande jetzt gehätschelt,
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gepriesen, belohnt, dekoriert wird, weil diese "jungen Helden", diese "Kinder von Paris", deren
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Tapferkeit unvergleichlich ist, die mit dem brillantesten Mute die Barrikaden erklettern usw. -
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weil diese gedankenlosen Barrikadenkämpfer des Februar jetzt ebenso gedankenlos auf das
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arbeitende Proletariat schießen, wie sie früher auf die Soldaten schossen, weil sie
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sich zur Niedermetzelung ihrer Brüder haben bestechen lassen mit dreißig Sous per
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Tag! Ehre diesen bestochenen Vagabunden, weil sie um dreißig Sous per Tag den besten,
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revolutionärsten Teil der Pariser Arbeiter niedergeschossen haben!</p>
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<p>Die Tapferkeit, mit der die Arbeiter sich geschlagen haben, ist wahrhaft wunderbar.
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Dreißig- bis vierzigtausend Arbeiter, die sich drei volle Tage halten gegen mehr als
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achtzigtausend Mann Soldaten und hunderttausend Mann Nationalgarde, gegen Kartätschen,
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Granaten und Brandraketen, gegen die noble Kriegserfahrung von Generälen, die sich nicht
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scheuen, algierische Mittel anzuwenden! Sie sind erdrückt und großenteils
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niedergemetzelt worden. Ihren Toten werden nicht die Ehren erwiesen werden, wie den Toten des
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Juli und des Februar; aber die Geschichte wird ihnen einen ganz andern Platz anweisen, den
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Opfern der ersten entscheidenden Feldschlacht des Proletariats.</p>
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<p><font size="2">Geschrieben von Friedrich Engels.</font></p>
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