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<title>Friedrich Engels - Die deutsche Reichsverfassungskampagne - I</title>
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<body bgcolor="#FFFFFC">
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<p align="center"><a href="me07_111.htm"><font size="2">Einleitung</font></a> | <a href=
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"me07_109.htm"><font size="2">Inhalt</font></a> | <a href="me07_133.htm"><font size="2">II -
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Karlsruhe</font></a></p>
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<p><small>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 7, "Die deutsche
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Reichsverfassungskampagne", S. 115-132<br>
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Dietz Verlag, Berlin/DDR 1960</small></p>
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<p align="center"><font size="5">I<br>
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Rheinpreußen</font></p>
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<p><b><a name="S115"><115></a></b> Man erinnert sich, wie der bewaffnete Aufstand für
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die Reichsverfassung anfangs Mai zuerst in <i>Dresden</i> zum Ausbruch kam. Man weiß, wie
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die Dresdner Barrikadenkämpfer, vom Landvolk unterstützt, von den Leipziger
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Spießbürgern verraten, nach sechstägigem Kampfe der Übermacht erlagen. Sie
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hatten nie mehr als 2.500 Kombattanten mit sehr gemischten Waffen und als ganze Artillerie zwei
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oder drei kleine Böller. Die königlichen Truppen bestanden, außer den
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sächsischen Bataillonen, aus zwei Regimentern Preußen. Sie hatten Kavallerie,
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Artillerie, Büchsenschützen und ein Bataillon mit Zündnadelgewehren zu ihrer
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Verfügung. Die königlichen Truppen scheinen sich in Dresden noch feiger als anderswo
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aufgeführt zu haben; zu gleicher Zeit aber steht fest, daß die Dresdner Kämpfer
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sich gegen diese Übermacht tapferer geschlagen haben, als es sonst wohl in der
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Reichsverfassungskampagne geschehen ist. Aber freilich, ein Straßenkampf ist auch etwas
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ganz andres als ein Gefecht im offenen Felde.</p>
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<p>Berlin blieb ruhig unter dem Belagerungszustand und der Entwaffnung. Nicht einmal die
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Eisenbahn wurde aufgerissen, um den preußischen Zuzug bei Berlin schon aufzuhalten. Breslau
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versuchte einen schwachen Barrikadenkampf, auf den die Regierung längst vorbereitet war, und
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geriet nur dadurch um so sichrer unter die Säbeldiktatur. Das übrige Norddeutschland,
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ohne revolutionäre Zentren, war gelähmt. Auf Rheinpreußen und Süddeutschland
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allein war noch zu rechnen, und in Süddeutschland setzte sich soeben schon die Pfalz in
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Bewegung.</p>
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<p>Rheinpreußen hat seit 1815 als eine der fortgeschrittensten Provinzen Deutschlands
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gegolten, und mit Recht. Es vereinigt zwei Vorzüge, die sich in keinem andern Teil
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Deutschlands vereinigt finden.</p>
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<p>Rheinpreußen teilt mit Luxemburg, Rheinhessen und der Pfalz den Vorteil, seit 1795 die
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Französische Revolution und die gesellschaftliche, administrative und legislative
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Konsolidierung ihrer Resultate unter Napoleon mitgemacht zu haben. Als die revolutionäre
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Partei in Paris erlag, trugen die <a name="S116"><b><116></b></a> Armeen die Revolution
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über die Grenzen. Vor diesen kaum befreiten Bauernsöhnen zerstoben nicht nur die Armeen
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des Heiligen Römischen Reichs, sondern auch die Feudalherrschaft des Adels und der Pfaffen.
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Seit zwei Generationen kennt das linke Rheinufer keinen Feudalismus mehr; der Adlige ist seiner
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Privilegien beraubt, der Grundbesitz ist aus seinen Händen und denen der Kirche in die
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Hände des Bauern übergegangen; der Boden ist parzelliert, der Bauer ist freier
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Grundbesitzer wie in Frankreich. In den Städten verschwanden die Zünfte und die
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patriarchalische Patrizierherrschaft zehn Jahre früher als irgendwo in Deutschland vor der
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freien Konkurrenz, und der Code Napoléon sanktionierte schließlich den ganzen
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veränderten Zustand in der Zusammenfassung der gesamten revolutionären
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Institutionen.</p>
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<p>Rheinpreußen besitzt aber zweitens - und darin liegt sein Hauptvorzug vor den
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übrigen Ländern des linken Rheinufers - die ausgebildetste und mannigfachste Industrie
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von ganz Deutschland. In den drei Regierungsbezirken Aachen, Köln und Düsseldorf sind
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fast alle Industriezweige vertreten: Baumwollen-, Wollen- und Seidenindustrie aller Art nebst den
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davon abhängigen Branchen der Bleicherei, Druckerei und Färberei, der
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Eisengießerei und Maschinenfabrikation, ferner Bergbau, Waffenschmieden und sonstige
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Metallindustrie finden sich hier auf dem Raum weniger Quadratmeilen konzentriert und
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beschäftigen eine Bevölkerung von in Deutschland unerhörter Dichtigkeit. An die
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Rheinprovinz schließt sich unmittelbar, sie mit einem Teil der Rohstoffe versorgend und
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industriell zu ihr gehörend, der märkische Eisen-und Kohlendistrikt an. Die beste
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Wasserstraße Deutschlands, die Nähe des Meeres, der mineralische Reichtum der Gegend
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begünstigen die Industrie, die außerdem zahlreiche Eisenbahnen erzeugt hat und ihr
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Eisenbahnnetz noch täglich vervollständigt. Mit der Industrie in Wechselwirkung steht
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ein für Deutschland sehr ausgedehnter Ausfuhr- und Einfuhrhandel nach allen Weltteilen, ein
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bedeutender direkter Verkehr mit allen großen Stapelplätzen des Weltmarkts und eine
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verhältnismäßige Spekulation in Rohprodukten und Eisenbahnaktien. Kurz, die
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industrielle und kommerzielle Entwicklungsstufe der Rheinprovinz ist, wenn auch auf dem Weltmarkt
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ziemlich unbedeutend, doch für Deutschland einzig.</p>
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<p>Die Folge dieser - ebenfalls unter der revolutionären französischen Herrschaft
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aufgeblühten - Industrie und des mit ihr zusammenhängenden Handels in
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Rheinpreußen ist die Erzeugung einer mächtigen industriellen und kommerziellen
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großen <i>Bourgeoisie</i> und, im Gegensatz zu ihr, eines zahlreichen industriellen
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<i>Proletariats</i>, zweier Klassen, die im übrigen Deutschland nur sehr stellenweise und
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embryonisch existieren, die aber die besondre politische Entwicklung der Rheinprovinz fast
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ausschließlich beherrschen.</p>
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<p><b><a name="S117"><117></a></b> Vor den übrigen durch die Franzosen
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revolutionierten deutschen Ländern hat Rheinpreußen die <i>Industrie</i>, vor den
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übrigen deutschen Industriebezirken (Sachsen und Schlesien) die <i>Französische
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Revolution</i> voraus. Es ist der einzige Teil Deutschlands, dessen gesellschaftliche
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Entwickelung fast ganz die Höhe der modernen bürgerlichen Gesellschaft erreicht hat:
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ausgebildete Industrie, ausgedehnter Handel, Anhäufung der Kapitalien, Freiheit des
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Grundeigentums; starke Bourgeoisie und massenhaftes Proletariat in den Städten, zahlreiche
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und verschuldete Parzellenbauern auf dem Lande vorherrschend; Herrschaft der Bourgeoisie
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über das Proletariat durch das Lohnverhältnis, über den Bauern durch die Hypothek,
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über den Kleinbürger durch die Konkurrenz und endlich Sanktion der Bourgeoisherrschaft
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durch die Handelsgerichte, die Fabrikgerichte, die Bourgeoisjury und die ganze materielle
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Gesetzgebung.</p>
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<p>Begreift man jetzt den Haß des Rheinländers gegen alles, was preußisch
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heißt? Preußen hatte mit der Rheinprovinz die Französische Revolution seinen
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Staaten inkorporiert und behandelte die Rheinländer nicht nur wie Unterjochte und Fremde,
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sondern sogar wie besiegte Rebellen. Weit entfernt, die rheinische Gesetzgebung im Sinne der sich
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immer weiter entwickelnden modernen bürgerlichen Gesellschaft auszubilden, wollte es den
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Rheinländern sogar den pedantisch-feudal-spießbürgerlichen Mischmasch des
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preußischen Landrechts aufbürden, der selbst kaum noch für Hinterpommern
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paßt.</p>
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<p>Der Umschwung nach dem Februar 1848 zeigte deutlich die exzeptionelle Stellung der
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Rheinprovinz. Sie lieferte nicht nur der preußischen, sondern überhaupt der deutschen
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Bourgeoisie ihre klassischen Vertreter: <i>Camphausen</i> und <i>Hansemann</i>; sie lieferte dem
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deutschen Proletariat das einzige Organ, in dem es nicht nur der Phrase oder dem guten Willen,
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sondern seinen wirklichen Interessen nach vertreten war: die <i>"Neue Rheinische
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Zeitung"</i>.</p>
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<p>Wie kommt es aber, daß Rheinpreußen sich trotz alledem so wenig bei den
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revolutionären Bewegungen Deutschlands beteiligt hat?</p>
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<p>Man vergesse nicht, daß die 1830er Bewegung im Interesse des Phrasen- und
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Advokatenkonstitutionalismus für die mit viel reelleren, industriellen Unternehmungen
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beschäftigte rheinische Bourgeoisie Deutschlands kein Interesse haben konnte; daß,
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während man in den deutschen Kleinstaaten noch von einem deutschen Kaiserreiche
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träumte, in Rheinpreußen das Proletariat schon anfing, gegen die Bourgeoisie offen
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aufzutreten; daß von 1840 bis 1847 zur Zeit der bürgerlichen, wirklich
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konstitutionellen Bewegung die rheinische Bourgeoisie an der Spitze stand und daß sie im
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März 1848 in Berlin ein entscheidendes Gewicht in die Waagschale legte. Warum aber
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Rheinpreußen nie in einer offenen Insurrektion etwas durchsetzen, warum es nicht <a name=
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"S118"><b><118></b></a> einmal eine allgemeine Insurrektion der ganzen Provinz zustande
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bringen konnte, das wird die einfache Darstellung der rheinischen Reichsverfassungskampagne am
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besten nachweisen.</p>
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<p>Der Kampf in Dresden kam eben zum Ausbruch; in der Pfalz konnte er jeden Augenblick
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losbrechen. In Baden, in Württemberg, in Franken wurden Monsterversammlungen angesetzt, und
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man verhehlte kaum noch, daß man entschlossen sei, es auf Entscheidung durch die Waffen
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ankommen zu lassen. In ganz Süddeutschland waren die Truppen schwankend. Preußen war
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nicht minder aufgeregt. Das Proletariat wartete nur auf eine Gelegenheit, Rache zu nehmen
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für die Eskamotierung der Vorteile, die es im März 1848 erobert zu haben glaubte. Die
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Kleinbürgerschaft war überall in Tätigkeit, sämtliche unzufriedenen Elemente
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zu einer großen Reichsverfassungspartei zu kondensieren, deren Leitung sie zu erhalten
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hoffte. Die Schwüre, mit der Frankfurter Versammlung zu stehen und zu fallen, Gut und Blut
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für die Reichsverfassung einzusetzen, füllten alle Zeitungen, ertönten in allen
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Klubsälen und Bierlokalen.</p>
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<p>Da eröffnete die preußische Regierung die Feindseligkeiten, indem sie einen
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großen Teil der Landwehr, namentlich in Westfalen und am Rhein, einberief. Die
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Einberufungsordre war mitten im Frieden ungesetzlich, und nicht nur die kleine, auch die
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größere Bourgeoisie erhob sich dagegen.</p>
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<p>Der Kölner Gemeinderat schrieb einen Kongreß von Deputierten der rheinischen
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Gemeinderäte aus. Die Regierung verbot ihn; man ließ die Form fallen und hielt den
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Kongreß trotz des Verbots ab. Die Gemeinderäte, Vertreter der großen und
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mittleren Bourgeoisie, erklärten ihre Anerkennung der Reichsverfassung, forderten Annahme
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derselben durch die preußische Regierung und Entlassung des Ministeriums sowie
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Zurücknahme der Einberufung der Landwehr und drohten im Falle der Verweigerung ziemlich
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deutlich mit dem Abfall der Rheinprovinzen von Preußen.</p>
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<p><font size="2">"Da die preußische Regierung die zweite Kammer, nachdem dieselbe sich
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für die unbedingte Annahme der deutschen Verfassung vom 28. März d.J. ausgesprochen
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hatte, aufgelöst und dadurch das Volk seiner Vertretung und Stimme in dem gegenwärtigen
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entscheidenden Augenblicke beraubt hat, sind die unterzeichneten Verordneten der Städte und
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Gemeinden der Rheinprovinz zusammengetreten, um zu beraten, was dem Vaterlande not
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tue.</font></p>
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<p><font size="2">Die Versammlung hat unter dem Vorsitze der Stadtverordneten Zell von Trier und
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Werner von Koblenz und in Assistenz der Protokollführer, der Stadtverordneten Boekker von
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Köln und Bloem II von Düsseldorf,</font></p>
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<p align="center"><font size="2"><i>beschlossen, wie folgt</i>:</font></p>
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<p><font size="2">1. Sie erklärt, daß sie die Verfassung des deutschen Reiches, wie
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solche am 28. März d. J. von der Reichsversammlung verkündet worden, als
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endgültiges Gesetz anerkennt <a name="S119"><b><119></b></a></font> und bei dem von
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der preußischen Regierung erhobenen Konflikte auf der Seite der deutschen Reichsversammlung
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steht.</p>
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<p>2. Die Versammlung fordert das gesamte Volk der Rheinlande und namentlich alle
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waffenfähigen Männer auf, durch Kollektiverklärungen in kleineren und
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größeren Kreisen seine Verpflichtung und seinen unverbrüchlichen Willen, an der
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deutschen Reichsverfassung festzuhalten und den Anordnungen der Reichsverfassung Folge zu
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leisten, auszusprechen.</p>
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<p>3. Die Versammlung fordert die deutsche Reichsversammlung auf, nunmehr schleunigst
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kräftigere Anstrengungen <In der "Kölnischen Zeitung": Anordnungen> zu treffen,
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um dem Widerstande des Volkes in den einzelnen deutschen Staaten und namentlich auch in der
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Rheinprovinz jene Einheit und Stärke zu gehen, die allein imstande ist, die wohlorganisierte
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Gegenrevolution zuschanden [zu] machen.</p>
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<p>4. Sie fordert die Reichsgewalt auf, die Reichstruppen baldmöglichst auf die Verfassung
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zu beeidigen und eine Zusammenziehung derselben anzuordnen.</p>
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<p>5. Die Unterzeichneten verpflichten sich, der Reichsverfassung durch alle ihnen zu Gebote
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stehenden Mittel in dem Bereiche ihrer Gemeinden Geltung zu verschaffen.</p>
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<p>6. Die Versammlung erachtet die Entlassung des Ministeriums Brandenburg-Manteuffel und die
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Einberufung der Kammern ohne Abänderung des bestehenden Wahlmodus für unbedingt
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notwendig.</p>
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<p>7. Sie erblickt insbesondere in der jüngst erfolgten, teilweisen Einberufung der Landwehr
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eine unnötige, den inneren Frieden in hohem Grade gefährdende Maßregel und
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erwartet deren sofortige Zurücknahme.</p>
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<p>8. Die Unterzeichneten sprechen schließlich ihre Überzeugung dahin aus, daß
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bei Nichtbeachtung des Inhaltes dieser Erklärung dem Vaterlande die größten
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Gefahren drohen, durch die selbst dar Bestand Preußens in seiner gegenwärtigen
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Zusammensetzung gefährdet werden kann.</p>
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<p>Beschlossen am 8. Mai 1849 zu Köln."</p>
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<p align="right">(Folgen die Unterschriften.)</p>
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<p>Wir fügen nur noch hinzu, daß derselbe Herr Zell, der dieser Versammlung
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präsidierte, wenige Wochen später als Reichskommissär des Frankfurter
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Reichsministeriums nach Baden ging, um dort nicht nur abzuwiegeln, sondern auch um mit den
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dortigen Reaktionären jene kontrerevolutionären Coups zu verabreden, die später in
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Mannheim und Karlsruhe zum Ausbruch kamen. Daß er auch dem Reichsgeneral Peucker zu
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gleicher Zeit als militärischer Spion Dienste geleistet, ist wenigstens wahrscheinlich.</p>
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<p>Wir halten darauf, dies Faktum wohl zu konstatieren. Die große Bourgeoisie, die
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Blüte des vormärzlichen rheinischen Liberalismus, suchte sich in Rhein- <a name=
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"S120"><b><120></b></a> preußen gleich anfangs an die Spitze der Bewegung für
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die Reichsverfassung zu stellen. Ihre Reden, ihre Beschlüsse, ihr ganzes Auftreten machte
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sie solidarisch für die späteren Ereignisse. Es gab Leute genug, die die Phrasen der
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Herren Gemeinderäte, namentlich die Drohung mit dem Abfall der Rheinprovinz, ernsthaft
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nahmen. Ging die große Bourgeoisie mit, so war die Sache von vornherein so gut wie
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gewonnen, so hatte man alle Klassen der Bevölkerung mit sich, so konnte man schon etwas
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riskieren. So kalkulierte der Kleinbürger und beeilte sich, eine heroische Positur
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anzunehmen. Es versteht sich, daß sein angeblicher Associé, der große
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Bourgeois, sich dadurch keineswegs abhalten ließ, ihn bei der ersten Gelegenheit zu
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verraten und nachher, als die ganze Sache höchst kläglich geendet hatte, ihn
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nachträglich wegen seiner Dummheit zu verspotten.</p>
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<p>Die Aufregung wuchs inzwischen fortwährend; die Nachrichten aus allen Gegenden
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Deutschlands lauteten höchst kriegerisch. Endlich sollte zur Einkleidung der Landwehr
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geschritten werden. Die Bataillone traten zusammen und erklärten kategorisch, daß sie
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sich nicht einkleiden lassen würden. Die Majore, ohne hinreichende militärische
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Unterstützung, konnten nichts ausrichten und waren froh, wenn sie ohne Drohungen und
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tätliche Angriffe davonkamen. Sie entließen die Leute und setzten einen neuen Termin
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zur Einkleidung fest.</p>
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<p>Die Regierung, die den Landwehroffizieren leicht die nötige Unterstützung hätte
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geben können, ließ es absichtlich so weit kommen. Sie wandte jetzt sofort Gewalt
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an.</p>
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<p>Die widersetzlichen Landwehren gehörten namentlich dem bergisch-märkischen
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Industriebezirk an. Elberfeld und Iserlohn, Solingen und die Enneper Straße waren die
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Zentren des Widerstandes. Sofort wurden nach den beiden ersteren Städten Truppen
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beordert.</p>
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<p>Nach Elberfeld zogen ein Bataillon Sechzehner, eine Schwadron Ulanen und zwei Geschütze.
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Die Stadt war in der höchsten Verwirrung. Die Landwehr hatte bei reiflicher Überlegung
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doch gefunden, daß sie ein gewagtes Spiel spiele. Viele Bauern und Arbeiter waren politisch
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indifferent und hatten nur keine Lust gehabt, irgendwelchen Regierungslaunen zu Gefallen auf
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unbestimmte Zeit sich vom Hause zu entfernen. Die Folgen der Widersetzlichkeit fielen ihnen
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schwer aufs Herz: species facti <Tatbestand>, Kriegsrecht, Kettenstrafe und vielleicht gar
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Pulver und Blei! Genug, die Anzahl der Landwehrmänner, die unter den Waffen standen - ihre
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Waffen hatten sie -, schmolz immer mehr zusammen, und es blieben ihrer zuletzt noch etwa vierzig
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übrig. Sie hatten <a name="S121"><b><121></b></a> in einem öffentlichen
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Lokal vor der Stadt ihr Hauptquartier aufgeschlagen und warteten dort auf die Preußen. Um
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das Rathaus stand die Bürgerwehr und zwei Bürgerschützenkorps, schwankend, mit der
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Landwehr unterhandelnd, jedenfalls entschlossen, ihr Eigentum zu schützen. In den
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Straßen wogte die Bevölkerung, Kleinbürger, die im politischen Klub der
|
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Reichsverfassung Treue geschworen hatten, Proletarier aller Stufen, vom entschiedenen,
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|
revolutionären Arbeiter bis zum schnapstrunkenen Karrenbinder. Kein Mensch wußte, was
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zu tun sei, keiner, was kommen werde.</p>
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<p>Der Stadtrat wollte mit den Truppen unterhandeln. Der Kommandierende wies alles ab und
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marschierte in die Stadt. Die Truppen paradieren durch die Straßen und stellen sich am
|
|
Rathause auf, gegenüber der Bürgerwehr. Man unterhandelt. Aus der Menge fallen
|
|
Steinwürfe auf das Militär. Die Landwehr, wie gesagt, etwa vierzig Mann stark, zieht
|
|
von der andern Seite der Stadt her nach langem Beraten ebenfalls dem Militär entgegen.</p>
|
|
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|
<p>Auf einmal ruft man im Volk nach Befreiung der Gefangenen. Im Arresthaus, das dicht am Rathaus
|
|
liegt, saßen nämlich seit einem Jahr 69 Solinger Arbeiter in Verhaft wegen Demolierung
|
|
der Stahlgußfabnk an der Burg. Ihr Prozeß sollte in wenig Tagen verhandelt werden.
|
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Diese zu befreien, stürzt das Volk nach dem Gefängnis. Die Türen weichen, das Volk
|
|
dringt ein, die Gefangenen sind frei. Aber zu gleicher Zeit rückt das Militär vor, eine
|
|
Salve fällt, und der letzte Gefangene, der aus der Tür eilt, stürzt mit
|
|
zerschmettertem Schädel nieder.</p>
|
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|
|
<p>Das Volk weicht zurück, aber mit dem Ruf: Zu den Barrikaden! In einem Nu sind die
|
|
Zugänge zur innern Stadt verschanzt. Unbewaffnete Arbeiter sind genug vorhanden, bewaffnete
|
|
sind höchstens fünfzig hinter den Barrikaden.</p>
|
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<p>Die Artillerie rückt vor. Wie vorher die Infanterie, so feuert auch sie zu hoch,
|
|
wahrscheinlich mit Absicht. Beide Truppenteile bestanden aus Rheinländern oder Westfalen und
|
|
waren gut. Endlich rückt der Hauptmann von Uttenhoven an der Spitze der 8. Kompanie des 16.
|
|
Regiments vor.</p>
|
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<p>Drei Bewaffnete waren hinter der ersten Barrikade. "Schießt nicht auf uns", rufen sie,
|
|
"wir schießen nur auf die Offiziere!" - Der Hauptmann kommandiert Halt. "Kommandierst du
|
|
Fertig, so liegst du da", ruft ihm ein Schütze hinter der Barrikade zu. - "Fertig - An -
|
|
Feuer!" - Die Salve kracht, aber auch in demselben Augenblick stürzt der Hauptmann zusammen.
|
|
Die Kugel hatte ihn mitten durchs Herz getroffen.</p>
|
|
|
|
<p>Das Peloton zieht sich eiligst zurück; nicht einmal die Leiche des Hauptmanns wird
|
|
mitgenommen. Noch einige Schüsse fallen, einige Soldaten werden verwundet, und der
|
|
kommandierende Offizier, der die Nacht nicht in der empörten Stadt zubringen will, zieht
|
|
wieder hinaus, um mit seinen Truppen <a name="S122"><b><122></b></a> eine Stunde vor der
|
|
Stadt zu biwakieren. Hinter den Soldaten erheben sich sogleich von allen Seiten Barrikaden.</p>
|
|
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|
<p>Noch denselben Abend kam die Nachricht vom Rückzuge der Preußen nach
|
|
Düsseldorf. Zahlreiche Gruppen bildeten sich auf den Straßen; die kleine Bourgeoisie
|
|
und die Arbeiter waren in der höchsten Aufregung. Da gab das Gerücht, daß neue
|
|
Truppen nach Elberfeld abgeschickt werden sollten, das Signal zum Losbruch. Ohne den Mangel an
|
|
Waffen - die Bürgerwehr war seit November 1848 entwaffnet -, ohne die
|
|
verhältnismäßig starke Garnison und die ungünstigen breiten und graden
|
|
Straßen der kleinen Exresidenz zu bedenken, riefen einige Arbeiter zu den Barrikaden. In
|
|
der Neustraße, Bolkerstraße kamen einige Verschanzungen zustande; die übrigen
|
|
Teile der Stadt wurden teils durch die schon im voraus konsignierten Truppen, teils durch die
|
|
Furcht der großen und kleinen Bürgerschaft frei gehalten.</p>
|
|
|
|
<p>Gegen Abend entspann sich der Kampf. Die Barrikadenkämpfer waren, hier wie überall,
|
|
wenig zahlreich. Wo sollten sie auch Waffen und Munition hernehmen? Genug, sie leisteten der
|
|
Übermacht langen und tapfern Widerstand, und erst nach ausgedehnter Anwendung der
|
|
Artillerie, gegen Morgen, war das halbe Dutzend Barrikaden, das sich verteidigen ließ, in
|
|
den Händen der Preußen. Man weiß, daß diese vorsichtigen Helden am
|
|
folgenden Tage an Dienstmädchen, Greisen und friedlichen Leuten überhaupt blutige
|
|
Revanche nahmen.</p>
|
|
|
|
<p>An demselben Tage, an dem die Preußen aus Elberfeld zurückgeschlagen wurden, sollte
|
|
auch ein Bataillon, wenn wir nicht irren des 13. Regiments, nach Iserlohn einrücken und die
|
|
dortige Landwehr zur Räson bringen. Aber auch hier wurde dieser Plan vereitelt; sowie die
|
|
Nachricht vom Anrücken des Militärs bekannt wurde, verschanzte Landwehr und Volk alle
|
|
Zugänge der Stadt und erwartete den Feind mit geladener Büchse. Das Bataillon wagte
|
|
keinen Angriff und zog sich wieder zurück.</p>
|
|
|
|
<p>Der Kampf in Elberfeld und Düsseldorf und die Verbarrikadierung Iserlohns gaben das
|
|
Signal zum Aufstand des größten Teils der bergisch-märkischen Industriegegend.
|
|
Die Solinger stürmten das Gräfrather Zeughaus und bewaffneten sich mit den daraus
|
|
entnommenen Gewehren und Patronen; die Hagener schlossen sich in Masse der Bewegung an,
|
|
bewaffneten sich, besetzten die Zugänge der Ruhr und schickten Rekognoszierungspatrouillen
|
|
aus; Solingen, Ronsdorf, Remscheid, Barmen usw. stellten ihre Kontingente nach Elberfeld. An den
|
|
übrigen Orten der Gegend erklärte sich die Landwehr für die Bewegung und stellte
|
|
sich zur Verfügung der Frankfurter Versammlung. Elberfeld, Solingen, Hagen, Iserlohn setzten
|
|
Sicherheitsausschüsse an die Stelle der vertriebenen Kreis- und Lokalbehörden.</p>
|
|
|
|
<p><b><a name="S123"><123></a></b> Die Nachrichten von diesen Ereignissen wurden
|
|
natürlich noch ungeheuer übertrieben. Man schilderte die ganze Wupper- und Ruhrgegend
|
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als ein großes, organisiertes Lager des Aufstandes, man sprach von fünfzehntausend
|
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Bewaffneten in Elberfeld, von ebensoviel in Iserlohn und Hagen. Der plötzliche Schreck der
|
|
Regierung, der alle ihre Tätigkeit gegenüber diesem Aufstande der treuesten Bezirke mit
|
|
einem Schlage lähmte, trug nicht wenig dazu bei, diesen Übertreibungen Glauben zu
|
|
verschaffen.</p>
|
|
|
|
<p>Alle billigen Abzüge für wahrscheinliche Übertreibungen gemacht, blieb das eine
|
|
Faktum unleugbar, daß die Hauptorte des bergisch-märkischen Industriebezirks im offnen
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und bis dahin siegreichen Aufstande begriffen waren. Dies Faktum war da. Dazu kamen die
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Nachrichten, daß Dresden sich noch hielt, daß Schlesien gäre, daß die
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Pfälzer Bewegung sich konsolidiere, daß in Baden eine siegreiche Militärrevolte
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ausgebrochen und der Großherzog geflohen sei, daß die Magyaren am Jablunka und der
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Leitha ständen. Kurz, von allen revolutionären Chancen, die sich der demokratischen und
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Arbeiterpartei seit März 1848 geboten hatten, war dies bei weitem die vorteilhafteste, und
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sie mußte natürlich ergriffen werden. Das linke Rheinufer durfte das rechte nicht im
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Stich lassen,</p>
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<p>Was war nun zu tun?</p>
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<p>Alle größeren Städte der Rheinprovinz sind entweder von starken Zitadellen und
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Forts beherrschte Festungen, wie Köln und Koblenz, oder haben zahlreiche Garnisonen, wie
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Aachen, Düsseldorf und Trier. Außerdem wird die Provinz noch durch die Festungen
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Wesel, Jülich, Luxemburg, Saarlouis und selbst durch Mainz und Minden im Zaum gehalten. In
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diesen Festungen und Garnisonen lagen zusammen mindestens dreißigtausend Mann. Köln,
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Düsseldorf, Aachen, Trier waren endlich seit längerer Zeit entwaffnet. Die
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revolutionären Zentren der Provinz waren also gelähmt. Jeder Aufstandsversuch
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mußte hier, wie dies sich schon in Düsseldorf gezeigt, mit dem Siege des Militärs
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endigen; noch ein solcher Sieg, z.B. in Köln, und der bergisch-märkische Aufstand war
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trotz der sonst günstigen Nachrichten moralisch vernichtet. Auf dem linken Rheinufer war an
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der Mosel, in der Eifel und dem Krefelder Industriebezirk eine Bewegung möglich; aber diese
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Gegend war von sechs Festungen und drei Garnisonsstädten umzingelt. Das rechte Rheinufer bot
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dagegen in den bereits insurgierten Bezirken ein dichtbevölkertes, ausgedehntes, durch Wald
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und Gebirge zum Insurrektionskriege wie geschaffenes Terrain dar.</p>
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<p>Wollte man also die aufgestandenen Bezirke unterstützen, so war nur eins
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möglich:</p>
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<p>vor allen Dingen in den Festungen und Garnisonsstädten jeden unnützen Krawall
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vermeiden;</p>
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<p><b><a name="S124"><124></a></b> auf dem linken Rheinufer in den kleineren Städten,
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in den Fabrikorten und auf dem Lande eine Diversion machen, um die rheinischen Garnisonen im
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Schach zu halten;</p>
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<p>endlich alle disponiblen Kräfte in den insurgierten Bezirk des rechten Rheinufers werfen,
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die Insurrektion weiter verbreiten und versuchen, hier vermittelst der Landwehr den Kern einer
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revolutionären Armee zu organisieren.</p>
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<p>Die neuen preußischen Enthüllungshelden mögen nicht zu früh frohlocken
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über das hier enthüllte hochverräterische Komplott. Leider hat kein Komplott
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existiert. Die obigen drei Maßregeln sind kein Verschwörungsplan, sondern ein
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einfacher Vorschlag, der vom Schreiber dieser Zeilen ausging, und zwar in dem Augenblick, als er
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selbst nach Elberfeld abreiste, um die Ausführung des dritten Punkts zu betreiben. Dank der
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zerfallenen Organisation der demokratischen und Arbeiterpartei, dank der Unschlüssigkeit und
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klugen Zurückhaltung der meisten aus der kleinen Bourgeoisie hervorgegangenen
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Lokalführer, dank endlich dem Mangel an Zeit kam es gar nicht zum Konspirieren. Wenn daher
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auf dem linken Rheinufer allerdings der Anfang einer Diversion zustande kam, wenn in Kempen,
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Neuß und Umgegend Unruhen ausbrachen und in Prüm das Zeughaus gestürmt wurde, so
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waren diese Tatsachen keineswegs Folgen eines gemeinsamen Plans, sie wurden nur durch den
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revolutionären Instinkt der Bevölkerung hervorgerufen.</p>
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<p>In den insurgierten Bezirken sah es inzwischen ganz anders aus, als die übrige Provinz
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voraussetzte. Elberfeld mit seinen - übrigens höchst planlosen und eilig
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zusammengerafften - Barrikaden, mit den vielen Wachtposten, Patrouillen und sonstigen
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Bewaffneten, mit der ganzen Bevölkerung auf den Straßen, wo nur die große
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Bourgeoisie zu fehlen schien, mit den roten und trikoloren Fahnen nahm sich zwar gar nicht
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übel aus, im übrigen aber herrschte in der Stadt die größte Verwirrung. Die
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kleine Bourgeoisie hatte durch den gleich im ersten Moment gebildeten Sicherheitsausschuß
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die Leitung der Angelegenheiten in die Hand genommen. Kaum war sie soweit, als sie auch schon vor
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ihrer eignen Macht, so gering sie war, erschrak. Ihre erste Handlung war, sich durch den
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Stadtrat, d.h. durch die große Bourgeoisie, legitimieren zu lassen und zum Dank für
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die Gefälligkeit des Stadtrats fünf seiner Mitglieder in den Sicherheitsausschuß
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aufzunehmen. Dieser so verstärkte Sicherheitsausschuß entledigte sich denn sofort
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aller gefährlichen Tätigkeit, indem er die Sorge für die Sicherheit nach
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außen einer Militärkommission überwies, sich selbst aber über diese
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Kommission eine mäßigende und hemmende Aufsicht vorbehielt. Somit vor aller
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Berührung mit dem Aufstande gesichert, durch die Väter der Stadt selbst auf den
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Rechtsboden verpflanzt, <a name="S125"><b><125></b></a> konnten die zitternden
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Kleinbürger des Sicherheitsausschusses sich darauf beschränken, die Gemüter zu
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beruhigen, die laufenden Geschäfte zu besorgen, "Mißverständnisse"
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aufzuklären, abzuwiegeln, die Sache in die Lange zu ziehn und jede energische Tätigkeit
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unter dem Vorwande zu lähmen, man müsse vorerst die Antwort auf die nach Berlin und
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Frankfurt geschickten Deputationen abwarten. Die übrige Kleinbürgerschaft ging
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natürlich Hand in Hand mit dem Sicherheitsausschuß, wiegelte überall ab,
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verhinderte möglichst alle Fortführung der Verteidigungsmaßregeln und der
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Bewaffnung und schwankte fortwährend über die Grenze ihrer Beteiligung am Aufstande.
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Nur ein kleiner Teil dieser Klasse war entschlossen, sich mit den Waffen in der Hand zu
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verteidigen, falls die Stadt angegriffen würde. Die große Mehrzahl suchte sich selbst
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einzureden, ihre bloßen Drohungen und die Scheu vor dem fast unvermeidlichen Bombardement
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Elberfelds werde die Regierung zu Konzessionen bewegen; im übrigen aber hielt sie sich
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für alle Fälle den Rücken frei.</p>
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<p>Die große Bourgeoisie war im ersten Augenblick nach dem Gefecht wie niedergedonnert. Sie
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sah Brandstiftung, Mord, Plünderung und wer weiß welche Greuel vor ihrer erschreckten
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Phantasie aus der Erde wachsen. Die Konstituierung des Sicherheitsausschusses, dessen
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Majorität - Stadträte, Advokaten, Staatsprokuratoren, gesetzte Leute - ihr
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plötzlich eine Garantie für Leben und Eigentum bot, erfüllte sie daher mit einem
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mehr als fanatischen Entzücken. Dieselben großen Kaufleute,
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Türkischrotfärber, Fabrikanten, die bisher die Herren Karl Hecker, Riotte,
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Höchster usw. als blutdürstige Terroristen verschrien hatten, stürzten jetzt in
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Masse aufs Rathaus, umarmten ebendieselbigen angeblichen Blutsäufer mit der fieberhaftesten
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Innigkeit und deponierten Tausende von Talern auf dem Tische des Sicherheitsausschusses. Es
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versteht sich von selbst, daß ebendieselben begeisterten Bewunderer und Unterstützer
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des Sicherheitsausschusses nach dem Ende der Bewegung nicht nur über die Bewegung selbst,
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sondern auch über den Sicherheitsausschuß und seine Mitglieder die abgeschmacktesten
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und gemeinsten Lügen verbreiteten und den Preußen mit derselben Innigkeit für die
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Befreiung von einem Terrorismus dankten, der nie existiert hatte. Unschuldige konstitutionelle
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Bürger, wie die Herren Heeker, Höchster und der Staatsprokurator Heintzmann, wurden
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wieder als Schreckensmänner und Menschenfresser geschildert, denen die Verwandtschaft mit
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Robespierre und Danton auf dem Gesicht geschrieben stand. Wir halten es für unsre
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Schuldigkeit, unsrerseits genannte Biedermänner von dieser Anklage vollständig
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freizusprechen. Im übrigen begab sich der größte Teil der hohen Bourgeoisie
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möglichst rasch mit Weib und Kind unter den Schutz des Düsseldorfer
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Belagerungszustandes, und nur der kleinere couragiertere Teil blieb zurück, um sein Eigentum
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auf <a name="S126"><b><126></b></a> alle Fälle zu schützen. Der
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Oberbürgermeister saß während des Aufstandes verborgen in einer umgeworfenen, mit
|
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Mist bedeckten Droschke. Das Proletariat, einig im Moment des Kampfes, spaltete sich, sobald das
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Schwanken des Sicherheitsausschusses und der Kleinbürgerschaft hervortrat. Die Handwerker,
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die eigentlichen Fabrikarbeiter, ein Teil der Seidenweber waren entschieden für die
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Bewegung; aber sie, die den Kern des Proletariats bildeten, hatten fast gar keine Waffen. Die
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Rotfärber, eine robuste, gut bezahlte Arbeiterklasse, roh und deshalb reaktionär wie
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alle Fraktionen von Arbeitern, bei deren Geschäft es mehr auf Körperkraft als auf
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Geschicklichkeit ankommt, waren schon in den ersten Tagen gänzlich gleichgültig
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geworden. Sie allein von allen Industriearbeitern arbeiteten während der Barrikadenzeit
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fort, ohne sich stören zu lassen. Das Lumpenproletariat endlich war wie überall vom
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zweiten Tage der Bewegung an käuflich, verlangte morgens vom Sicherheitsausschuß
|
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Waffen und Sold und ließ sich nachmittags von der großen Bourgeoisie erkaufen, um
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ihre Gebäude zu schützen oder um abends die Barrikaden niederzureißen. Im ganzen
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stand es auf der Seite der Bourgeoisie, die ihm am besten zahlte und mit deren Geld es
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während der Dauer der Bewegung sich flotte Tage machte.</p>
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<p>Die Nachlässigkeit und Feigheit des Sicherheitsausschusses, die Uneinigkeit der
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Militärkommission, in der die Partei der Untätigkeit anfangs die Majorität hatte,
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verhinderten von vornherein jedes entschiedene Auftreten. Vom zweiten Tage an trat die Reaktion
|
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ein. Von Anfang an zeigte es sich, daß in Elberfeld nur unter der Fahne der
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Reichsverfassung, nur im Einverständnisse mit der kleinen Bourgeoisie auf Erfolg zu rechnen
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war. Das Proletariat war einerseits gerade hier erst zu kurze Zeit aus der Versumpfung des
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Schnapses und des Pietismus herausgerissen, als daß die geringste Anschauung von den
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Bedingungen seiner Befreiung hätte in die Massen dringen können, andrerseits hatte es
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einen zu instinktiven Haß gegen die Bourgeoisie, war es viel zu gleichgültig gegen die
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bürgerliche Frage der Reichsverfassung, als daß es sich für dergleichen trikolore
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Interessen hätte enthusiasmieren können. Die entschiedene Partei, die einzige, der es
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mit der Verteidigung Ernst war, kam dadurch in eine schiefe Stellung. Sie erklärte sich
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für die Reichsverfassung. Aber die kleine Bourgeoisie traute ihr nicht, verlästerte sie
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in jeder Weise beim Volke, hemmte alle ihre Maßregeln zur Bewaffnung und Befestigung. Jeder
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Befehl, der dazu dienen konnte, die Stadt wirklich in Verteidigungszustand zu setzen, wurde
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sofort kontremandiert vom ersten besten Mitglied des Sicherheitsausschusses. Jeder
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Spießbürger, dem man eine Barrikade vor die Türe setzte, lief sogleich aufs
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Rathaus und verschaffte sich einen Gegenbefehl. Die Geldmittel zur Bezahlung der
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Barrikadenarbeiter - und sie verlangten nur <a name="S127"><b><127></b></a> das
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Nötigste, um nicht zu verhungern - waren nur mit Mühe und im knappsten Maß vom
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Sicherheitsausschuß herauszupressen. Der Sold und die Verpflegung der Bewaffneten wurde
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unregelmäßig besorgt und war oft unzureichend. Während fünf bis sechs Tage
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war weder Revue noch Appell der Bewaffneten zustande zu bringen, so daß kein Mensch
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wußte, auf wieviel Kämpfer man für den Notfall rechnen konnte. Erst am
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fünften Tage wurde eine Einteilung der Bewaffneten versucht, die aber nie zur
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Ausführung kam und auf einer totalen Unkenntnis der Streitkräfte beruhte. Jedes
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Mitglied des Sicherheitsausschusses agierte auf eigene Faust. Die widersprechendsten Befehle
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durchkreuzten sich, und nur darin stimmten die meisten dieser Befehle überein, daß sie
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die gemütliche Konfusion vermehrten und jeden energischen Schritt verhinderten. Dem
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Proletariat wurde dadurch vollends die Bewegung verleidet, und nach wenigen Tagen erreichten die
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großen Bourgeois und die Kleinbürger ihren Zweck, die Arbeiter möglichst
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gleichgültig zu machen.</p>
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<p>Als ich am 11. Mai nach Elberfeld kam, waren wenigstens 2.500-3.000 Bewaffnete vorhanden. Von
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diesen Bewaffneten waren aber nur die fremden Zuzüge und die wenigen bewaffneten Elberfelder
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Arbeiter zuverlässig. Die Landwehr schwankte; die Mehrzahl hatte ein gewaltiges Grauen vor
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der Kettenstrafe. Sie waren anfangs wenig zahlreich, verstärkten sich aber durch den Zutritt
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aller Unentschiedenen und Furchtsamen aus den übrigen Detachements. Die Bürgerwehr
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endlich, hier vom Anfang an reaktionär und direkt zur Unterdrückung der Arbeiter
|
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errichtet, erklärte sich neutral und wollte bloß ihr Eigentum schützen. Alles
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|
dies stellte sich indes erst im Laufe der nächsten Tage heraus; inzwischen aber verlief sich
|
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ein Teil der fremden Zuzüge und der Arbeiter, schmolz die Zahl der wirklichen
|
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Streitkräfte infolge des Stillstandes der Bewegung zusammen, während die
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Bürgerwehr immer mehr zusammenhielt und mit jedem Tage ihre reaktionären Gelüste
|
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unverhohlener aussprach. Sie riß in den letzten Nächten schon eine Anzahl Barrikaden
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nieder. Die bewaffneten Zuzüge, die im Anfang gewiß über 1.000 Mann betrugen,
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hatten sich am 12. oder 13. schon auf die Hälfte reduziert, und als es endlich zu einem
|
|
Generalappell kam, stellte sich heraus, daß die ganze bewaffnete Macht, auf die man rechnen
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konnte, höchstens noch 700 bis 800 Mann betrug. Landwehr und Bürgerwehr weigerten sich,
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auf diesem Appell zu erscheinen.</p>
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<p>Damit nicht genug. Das insurgierte Elberfeld war von lauter angeblich "neutralen" Orten
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umgeben. Barmen, Kronenberg, Lennep, Lüttringhausen usw. hatten sich der Bewegung nicht
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angeschlossen. Die revolutionären Arbeiter dieser Orte, soweit sie Waffen hatten, waren nach
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Elberfeld marschiert. Die Bürgerwehr, in allen diesen Orten reines Instrument in den
|
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Händen der <a name="S128"><b><128></b></a> Fabrikanten zur Niederhaltung der Arbeiter,
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aus den Fabrikanten, ihren Fabrikaufsehern und den von den Fabrikanten gänzlich
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abhängigen Krämern zusammengesetzt, beherrschte diese Orte im Interesse der "Ordnung"
|
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und der Fabrikanten. Die Arbeiter selbst, durch ihre mehr ländliche Zerstreuung der
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politischen Bewegung ziemlich fremd gehalten, waren durch Anwendung der bekannten Zwangsmittel
|
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und durch Verleumdung über den Charakter der Elberfelder Bewegung teilweise auf die Seite
|
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der Fabrikanten gebracht; bei den Bauern wirkte die Verleumdung vollends unfehlbar. Dazu kam,
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daß die Bewegung in eine Zeit fiel, wo nach fünfzehnmonatlicher Geschäftskrise
|
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die Fabrikanten endlich wieder Aufträge vollauf hatten, und daß, wie bekannt, mit gut
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beschäftigten Arbeitern keine Revolution zu machen ist - ein Umstand, der auch in Elberfeld
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sehr bedeutend wirkte. Daß unter allen diesen Umständen die "neutralen" Nachbarn nur
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ebensoviel versteckte Feinde waren, liegt auf der Hand.</p>
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<p>Noch mehr. Die Verbindung mit den übrigen insurgierten Bezirken war keineswegs
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hergestellt. Von Zeit zu Zeit kamen einzelne Leute von Hagen herüber; von Iserlohn
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wußte man so gut wie gar nichts. Es boten sich einzelne Leute zu Kommissären an, aber
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keinem war zu trauen. Mehrere Boten zwischen Elberfeld und Hagen sollen in Barmen und Umgegend
|
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von der Bürgerwehr arretiert worden sein. Der einzige Ort, mit dem man in Verbindung stand,
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war Solingen, und dort sah es geradeso aus wie in Elberfeld. Daß es nicht schlimmer dort
|
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aussah, war nur der guten Organisation und der Entschlossenheit der Solinger Arbeiter zu
|
|
verdanken, die 400 bis 500 Bewaffnete nach Elberfeld geschickt hatten, [aber] immer noch stark
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genug waren, ihrer Bourgeoisie und ihrer Bürgerwehr zu Hause das Gleichgewicht zu halten.
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Wären die Elberfelder Arbeiter so entwickelt und so organisiert gewesen wie die Solinger,
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die Chancen hätten ganz anders gestanden.</p>
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<p>Unter diesen Umständen war nur noch eins möglich: Ergreifung einiger rascher,
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energischer Maßregeln, die der Bewegung wieder Leben verliehen, ihr neue Streitkräfte
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zuführten, ihre inneren Gegner lähmten und sie im ganzen bergisch-märkischen
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Industriebezirk möglichst kräftig organisierten. Der erste Schritt war die Entwaffnung
|
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der Elberfelder Bürgerwehr und die Verteilung ihrer Waffen unter die Arbeiter und die
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Erhebung einer Zwangssteuer zum Unterhalt der so bewaffneten Arbeiter. Dieser Schritt brach
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entschieden mit der ganzen bisherigen Schlaffheit des Sicherheitsausschusses, gab dem Proletariat
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neues Leben und lähmte die Widerstandsfähigkeit der "neutralen" Distrikte. Was nachher
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zu tun war, um auch aus diesen Distrikten Waffen zu erhalten, die Insurrektion weiter auszudehnen
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und die Verteidigung des ganzen Bezirks regelmäßig zu organisieren, hing von dem Er-
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<a name="S129"><b><129></b></a> folge dieses ersten Schrittes ab. Mit einem Beschluß
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des Sicherheitsausschusses in der Hand und mit den vierhundert Solingern allein wäre
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übrigens die Elberfelder Bürgerwehr im Nu entwaffnet gewesen. Ihr Heldenmut war nicht
|
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der Rede wert.</p>
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<p>Der Sicherheit der noch im Gefängnis gehaltenen Elberfelder Maiangeklagten bin ich die
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Erklärung schuldig, daß alle diese Vorschläge einzig und allein von mir
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ausgingen. Die Entwaffnung der Bürgerwehr vertrat ich vom ersten Augenblicke an, als die
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Geldmittel des Sicherheitsausschusses zu schwinden begannen.</p>
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<p>Aber der löbliche Sicherheitsausschuß fand sich durchaus nicht gemüßigt,
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auf dergleichen "terroristische Maßregeln" einzugehen. Das einzige, was ich durchsetzte,
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oder vielmehr mit einigen Korpsführern - die alle glücklich entkamen und teilweise
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schon in Amerika sind - auf eigene Faust ausführen ließ, war die Abholung von etwa
|
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achtzig Gewehren der Kronenberger Bürgerwehr, die auf dem dortigen Rathaus aufbewahrt
|
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wurden. Und diese Gewehre, höchst leichtsinnig verteilt, kamen meistens in die Hände
|
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von schnapslustigen Lumpenproletariern, die sie denselben Abend noch an die Bourgeois verkauften.
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Diese Herren Bourgeois nämlich schickten Agenten unter das Volk, um möglichst viele
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Gewehre aufzukaufen, und zahlten einen ziemlich hohen Preis dafür. Das Elberlelder
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Lumpenproletariat hat so mehrere Hundert Gewehre den Bourgeois abgeliefert, die ihm durch die
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Nachlässigkeit und Unordnung der improvisierten Behörden in die Hände geraten
|
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waren. Mit diesen Gewehren wurden die Fabrikaufseher, die zuverlässigsten Färber etc.
|
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etc. bewaffnet, und die Reihen der "gutgesinnten" Bürgerwehr verstärkten sich von Tage
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zu Tage.</p>
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<p>Die Herren vom Sicherheitsausschuß antworteten auf jeden Vorschlag zur bessern
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Verteidigung der Stadt, das sei ja alles unnütz, die Preußen würden sich sehr
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hüten zu kommen, sie würden sich nicht in die Berge wagen usw. Sie selbst wußten
|
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sehr gut, daß sie damit die plumpsten Märchen verbreiteten, daß die Stadt von
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allen Höhen selbst mit Feldgeschütz zu beschießen, daß gar nichts auf eine
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|
nur einigermaßen ernsthafte Verteidigung eingerichtet war und daß bei dem Stillstand
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der Insurrektion und der kolossalen preußischen Übermacht nur noch ganz
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außerordentliche Ereignisse den Elberfelder Aufstand retten konnten.</p>
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<p>Die preußische Generalität schien indes auch keine rechte Lust zu haben, sich auf
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ein ihr so gut wie gänzlich unbekanntes Terrain zu begeben, bevor sie eine in jedem Fall
|
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wahrhaft erdrückende Streitmacht zusammengezogen. Die vier offnen Städte Elberfeld,
|
|
Hagen, Iserlohn und Solingen imponierten diesen vorsichtigen Kriegshelden so sehr, daß sie
|
|
eine vollständige Armee von <a name="S130"><b><130></b></a> zwanzigtausend Mann nebst
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zahlreicher Kavallerie und Artillerie aus Wesel, Westfalen und den östlichen Provinzen, zum
|
|
Teil mit der Eisenbahn, herankommen und, ohne einen Angriff zu wagen, hinter der Ruhr eine
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|
regelrechte strategische Aufstellung formieren ließen. Oberkommando und Generalstab,
|
|
rechter Flügel, Zentrum, alles war in der schönsten Ordnung, gerade als habe man eine
|
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kolossale feindliche Armee sich gegenüber, als gelte es eine Schlacht gegen einen Bem oder
|
|
Dembinski, nicht aber einen ungleichen Kampf gegen einige hundert unorganisierter Arbeiter,
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|
schlecht bewaffnet, fast ohne Führer und im Rücken verraten von denen, die ihnen die
|
|
Waffen in die Hand gegeben hatten.</p>
|
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|
|
<p>Man weiß, wie die Insurrektion geendigt hat. Man weiß, wie die Arbeiter,
|
|
überdrüssig des ewigen Hinhaltens, der zaudernden Feigheit und des verräterischen
|
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Einschläferns der Kleinbürgerschaft, endlich von Elberfeld auszogen, um sich nach dem
|
|
ersten besten Lande durchzuschlagen, in dem die Reichsverfassung ihnen irgendwelchen Schutz
|
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böte. Man weiß, welche Hetzjagd auf sie durch preußische Ulanen und
|
|
aufgestachelte Bauern gemacht worden ist. Man weiß, wie sogleich nach ihrem Abzug die
|
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große Bourgeoisie wieder hervorkroch, die Barrikaden abtragen ließ und den
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herannahenden preußischen Helden Ehrenpforten baute. Man weiß, wie Hagen und Solingen
|
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durch direkten Verrat der Bourgeoisie den Preußen in die Hände gespielt wurde und nur
|
|
Iserlohn den mit Beute schon beladenen Siegern von Dresden, dem 24. Regiment, einen
|
|
zweistündigen ungleichen Kampf lieferte.</p>
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<p>Ein Teil der Elberfelder, Solinger und Mülheimer Arbeiter kam glücklich durch nach
|
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der Pfalz. Hier fanden sie ihre Landsleute, die Flüchtlinge vom Prümer Zeughaussturm.
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|
Mit diesen zusammen bildeten sie eine fast nur aus Rheinländern bestehende Kompanie im
|
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Willichschen Freikorps. Alle ihre Kameraden müssen ihnen das Zeugnis geben, daß sie
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sich, wo sie ins Feuer kamen, und namentlich in dem letzten entscheidenden Kampf an der Murg,
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sehr brav geschlagen haben.</p>
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<p>Die Elberfelder Insurrektion verdiente schon deshalb eine ausführlichere Schilderung,
|
|
weil gerade hier die Stellung der verschiedenen Klassen in der Reichsverfassungsbewegung am
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schärfsten ausgesprochen, am weitesten entwickelt war. In den übrigen
|
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bergisch-märkischen Städten glich die Bewegung vollständig der Elberfelder, nur
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daß dort die Beteiligung oder Nichtbeteiligung der verschiedenen Klassen an der Bewegung
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mehr durcheinanderläuft, weil dort die Klassen selbst nicht so scharf geschieden sind wie im
|
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industriellen Zentrum des Bezirks. In der Pfalz und in Baden, wo die konzentrierte große
|
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Industrie, mit ihr die entwickelte große Bourgeoisie fast gar nicht existiert, wo die
|
|
Klassenverhältnisse viel gemütlicher und patriarchalischer durch- <a name=
|
|
"S131"><b><131></b></a> einanderschwimmen, war die Mischung der Klassen, die die
|
|
Träger der Bewegung waren, noch viel verworrener. Wir werden dies später sehen, wir
|
|
werden aber auch zugleich sehen, wie alle diese Beimischungen des Aufstandes sich
|
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schließlich ebenfalls um die Kleinbürgerschaft als den Kristallisationskern der ganzen
|
|
Reichsverfassungsherrlichkeit gruppieren.</p>
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<p>Die Aufstandsversuche in Rheinpreußen im Mai v.J. stellen deutlich heraus, welche
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|
Stellung dieser Teil Deutschlands in einer revolutionären Bewegung einnehmen kann. Umzingelt
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von sieben Festungen, davon drei für Deutschland ersten Ranges, fortwährend besetzt von
|
|
fast dem dritten Teil der ganzen preußischen Armee, durchschnitten in allen Richtungen von
|
|
Eisenbahnen, mit einer ganzen Dampftransportflotte zur Verfügung der Militärmacht, hat
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ein rheinischer Aufstand nur unter ganz außerordentlichen Bedingungen Chance des Erfolgs.
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Nur wenn die Zitadellen in den Händen des Volks sind, können die Rheinländer mit
|
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den Waffen in der Hand etwas ausrichten. Und dieser Fall kann nur eintreten, entweder wenn die
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Militärgewalt durch gewaltige äußere Ereignisse terrorisiert und kopflos gemacht
|
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wird oder wenn das Militär sich ganz oder teilweise für die Bewegung erklärt. In
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jedem andern Falle ist ein Aufstand in der Rheinprovinz von vornherein verloren. Ein rascher
|
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Marsch der Badenser nach Frankfurt und der Pfälzer nach Trier hätte wahrscheinlich die
|
|
Wirkung gehabt, daß der Aufstand an der Mosel und in der Eifel, in Nassau und den beiden
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|
Hessen sofort losgebrochen wäre, daß die damals noch gutgestimmten Truppen der
|
|
mittelrheinischen Staaten sich der Bewegung angeschlossen hätten. Es ist keinem Zweifel
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unterworfen, daß alle rheinischen Truppen, und namentlich die ganze 7. und 8.
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|
Artilleriebrigade, ihrem Beispiele gefolgt wären, daß sie wenigstens ihre Gesinnung
|
|
laut genug kundgegeben hätten, um der preußischen Generalität den Kopf verlieren
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zu machen. Wahrscheinlich wären mehrere Festungen in die Hände des Volkes gefallen, und
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wenn auch nicht Elberfeld, so war doch jedenfalls der größte Teil des linken
|
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Rheinufers gerettet. Alles das, und vielleicht noch viel mehr, ist verlorengegangen durch die
|
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schäbige, pfahlbürgerlich-feige Politik des hochweisen badischen Landesausschusses.</p>
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<p>Mit der Niederlage der rheinischen Arbeiter ging auch das Blatt zugrunde, in dem allein sie
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ihre Interessen offen und entschieden vertreten sahen - die "Neue Rhein[ische] Zeitung". Der
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Redakteur en chef, obwohl geborner Rheinpreuße, wurde aus Preußen ausgewiesen, den
|
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andern Redakteuren stand, den einen direkte Verhaftung, den andern sofortige Ausweisung bevor.
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Die Kölner Polizei erklärte dies mit der größten Naivetät und bewies
|
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ganz detailliert, daß sie gegen jeden genug Tatsachen wisse, um in der einen oder andern
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Weise einschreiten zu können. Somit mußte das Blatt in dem Augen- <a name=
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"S132"><b><132></b></a> blick, wo die unerhört rasch gewachsene Verbreitung seine
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Existenz mehr als sicherstellte, aufhören zu erscheinen. Die Redakteure verteilten sich auf
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die verschiedenen insurgierten oder noch zu insurgierenden deutschen Länder; mehrere gingen
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nach Paris, wo ein abermaliger Wendepunkt bevorstand. Es ist keiner unter ihnen, der nicht
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während oder infolge der Bewegungen dieses Sommers verhaftet oder ausgewiesen worden
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wäre und so das Schicksal erreicht hätte, das die Kölner Polizei so gütig
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war, ihm zu bereiten. Ein Teil der Setzer ging nach der Pfalz und trat in die Armee.</p>
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<p>Auch die rheinische Insurrektion hat tragisch enden müssen. Nachdem drei Viertel der
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Rheinprovinz in Belagerungszustand versetzt, nachdem Hunderte ins Gefängnis geworfen worden,
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schließt sie mit der <i>Erschießung dreier Prümer Zeughausstürmer am
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Vorabend des Geburtstags Friedrich Wilhelms III. von Hohenzollern</i>. Vae victis! <Wehe den
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Besiegten!></p>
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</html>
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