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<TITLE>Larissa Reissner - Im Lager der Armut</TITLE>
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<H2> Larissa Reissner</H2>
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<H3> Kaserne und Schustersfrau </H3>
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<P>Den Arbeitslosen droht in Deutschland nicht der Hungertod. Die Unterstützung,
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die er vom Staat erhält, ist zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Der
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Arbeitslose vegetiert im Bereich der denkbar größten Armut. Nur Brot
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hat er, sonst nichts. Der Verheiratete kann die Miete für seine Wohnung nicht
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bezahlen, so klein und schlecht diese auch sein mag. Ist er einmal entlassen,
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dann fliegt er automatisch aus seiner Wohnung, aus dem Stadtviertel hinaus, wo
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er viele Jahre gewohnt hat. Dann quartiert ihn die Stadt irgendwo im Vorort ein,
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in eine leere, verlassene Kaserne, in eine Regimentsstallung, die notdürftig
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zu einer Baracke umgewandelt ist, in leerstehende Artillerieparks. Das sind die
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Konzentrationslager der Armut, öde Steinschuppen, die das Kaiserreich für
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das Militär gebaut hat, und in die die Republik jetzt die unzuverlässigen
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Elemente einquartiert. </P>
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<P>Auf diesen vom preußischen Drill festgestampften Übungsplätzen
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wächst kein Gras mehr. Abgerissene Kinder spielen in Abflußgräben
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vor den Schilderhäuschen. </P>
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<P>Ungeheure Gebäudekomplexe, die ganze Armeen für das Schlachtfeld
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vorbereitet hatten, stehen verlassen, finster, in ihrer Ehre gekränkt da.
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Mancher Offizier, der jetzt in die benachbarte Reichswehrkaserne übergesiedelt
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ist, mag die Gelbsucht bekommen haben - beim Anblick des mit unsauberem Gerümpel
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beladenen Wägelchens eines Arbeiters, das holprig, knarrend die häßliche,
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freudlose Wüste überquert. </P>
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<P>Frauen binden ihre Wäscheleinen an die alten Adler vor den Toren, trocknen
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ihre Lumpen vor den geheiligten Fenstern der ehemaligen Offizierswohnungen. Ein
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rothaariger, lahmer Schuster, der «wegen der Politik» schon 18 Monate
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arbeitslos ist, bereitet sich auf den schweren Winter vor und «renoviert»
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zu diesem Zweck ein altes Kanonenöfchen, das er aus einer halb zerstörten
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Kaserne geholt hat. </P>
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<P>Vergeblich sind alle Versuche, diese toten Gebäude heimisch zu machen,
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zu vermenschlichen. Die aus ihrer gewohnten Enge herausgerissenen Gegenstände
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bilden eine trostlose Frontlinie an den nackten Wänden. Es ist unmöglich,
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mit diesen Überresten eines Lebensschiffbruchs Scheunen zu füllen, die
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für vierzig Soldaten bestimmt sind. Die Leere ist so überwältigend,
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daß sie die Dinge verschluckt. Ein krümmtbeiniges, barfüßiges
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Kind schlurft über das Parkett, das zum Teil schon im vorigen Jahre, als
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in den ungeheuren Fenstern die Hälfte der Scheiben fehlte, in den Ofen gewandert
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ist. Das zweite Kind ist gestorben. </P>
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<P>Zwei Betten nebeneinander, in denen der Vater, Mutter und zwei Kinder —
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ein Knabe mit seiner vierzehnjährigen Schwester schlafen. Ein freudloser
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Köter sitzt mitten im Zimmer und gähnt. Aus Angst und im Bestreben,
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das feindselige Haus, dessen Wände jedes Wort, jeden Schritt laut und ausdruckslos
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wiederholen, zu bestehen, wäscht die Frau des Schusters jeden Tag den endlos
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langen Korridor auf. Sie tut es, um mit dieser Wohnung in gute Beziehung zu treten;
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sie gibt der Kaserne einen Vorschuß menschlicher Wärme, die diese Mauern
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gleichgültig hinnehmen, wie der Unteroffizier - das naive Geschenk eines
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Rekruten. </P>
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<P>Aber die Schuhmachersfrau braucht nur ihren Kopf zu heben, um die letzte Hoffnung
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zu verlieren. Die Wände dieser Kaserne mit dem toten Gesicht wiederholen
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mit großen Lettern die einzige Weisheit, die ihnen noch geblieben ist: <P>
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«Lerne leiden ohne zu klagen!» oder «Ordnung regiert die Welt!»
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<P>Und wohin sich die arme Frau mit ihrem Eimer und Scheuerlappen auch wenden
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mag, bei jedem Schritt und Tritt empfängt sie die Kasernentugend mit einem
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Faustschlag.</P>
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<P>Sieben Mark wöchentlich für vier Menschen! Und diese Toteninsel dazu!
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Auch weiß die Frau, daß das Mädchen abends lange nicht einschläft,
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auf jede Bewegung, jeden Seufzer der Eltern krampfhaft gespannt hinhört.
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Das Allerschlimmste ist aber die ewige Stimme der Vergangenheit, deren bleierne
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Zunge von Tapferkeit und Gehorsam, von gelben Ulanen und schneidigen Husaren lallt,
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die längst irgendwo an der Marne oder in den russischen Steppen verwest sind.
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<P>Auch der andere rachitische Knabe wird diesen Winter vielleicht nicht überleben.
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Und der Schuster selbst wird es auch nicht mehr lange machen, denn es ist nicht
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leicht, bei Regen und eisiger Kälte auf Krücken den langen Weg zur Arbeitsbörse
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zurückzulegen. Diese Gespenster aber werden weiter leben und eine andere
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proletarische Familie schrecken, die ihren Untergang in diesem unverschließbaren
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Gefängnis suchen wird, dessen Türen von den Angeln gerissen, dessen
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Korridore bei windigem Wetter voller Schnee und Sand sind, - auch die Nachfolger
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werden von diesen «Fridericussen» triumphierend mit knöchernen
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Trommelwirbeln empfangen werden. </P>
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<P>«Furchtlos und treu für Gott, Kaiser und Vaterland-.» </P>
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<P>Nur ein Fenster leuchtet aus der Dunkelheit der schwarzen Gebäudereihen,
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- ein goldener Zahn im großen toten Rachen. Und wenn es finster und besonders
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kalt wird, steigen die auf der Decke gemalten Adler herab, schleichen sich in
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den Hof und durchwühlen die Müllgruben nach Überresten, die die
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Hühner des Schusters übersehen haben. </P>
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<P>Sie tauchen ihre rassigen, mit dem spärlichen Gefieder des Kaiserreichs geschmückten Glatzen tief in den schmutzigen Abfall hinein. </P>
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<H3> Frau Fritzke </H3>
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<P>Frau Fritzke hat bloß Strümpfe an, - um in diesen langen Korridoren
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keinen Lärm zu machen. Sie ist die Ninon de Lenclos dieser Armutswüste:
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Die Liebeserfahrung hat auf ihrem Gesicht große graue Säcke abgelagert.
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<P>
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Die Luft dieses Hauses schädigt ihr Leben: das Haarnetz löst sich fortwährend
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auf, der Puder «Khasana» hält nicht. Im nüchternen Licht schimmern
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die Röhren der langen engen Pantalons durch den zerrissenen Rock, <P>
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Während des Krieges verlor Madame Fritzke ihren Mann. Jeder verkauft, was
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er hat: Hunderte von Händen knutschten und rissen seit der Witwenschaft ihre
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Brüste, wie man an dem Spülhahn in der Toilette reißt. Das trug
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nicht zu ihrer Schönheit bei. Es schien, daß, wenn man den Kragen an
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der Bluse öffnete, diese Brüste wie zwei weiße Pfützen zerfließen
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würden. Auf diese Weise rettete Frau Fritzke ihre Kinder in den Kriegsjahren
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und zur Zeit der Inflation vor dem Hungertode. Nachdem der Staat ihnen den Vater
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genommen und den Waisenpfennig für die Unterstützung von Krupp und Stinnes
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verbraucht hatte, beschloß er jetzt, der sittenlosen Mutter die Kinder zu
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nehmen. In einigen Tagen wird der Schutzmann kommen und den dicken Jungen mit
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der niedrigen Stirn und das zwölfjährige idiotische Mädchen in
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das katholische Waisenhaus bringen.
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<P>Um die Familie zu retten, beschloß August, der letzte Freund der Frau
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Fritzke, diese Überreste der Liebe zu heiraten. Sie machten sich feierlich
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zum Standesamt auf. Sie - in ihren zu engen Lackschuhen wie auf Skiern durch den
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Staub stampfend, er - mit einem Papierkragen, nach Benzin duftend, bedeutungsvoll
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wie das Schicksal. Die heroische Maßnahme, die vom ganzen Armutslager eingehend
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besprochen wurde, erwies sich jedoch als fruchtlos. </P>
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<P>Frau Fritzke holte sich Referenzen von ihren früheren Brotherren, aus denen
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hervorging, daß sie nicht nur Prostituierte, sondern auch eine Tagelöhnerin
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war, und daß, wenn die Sittenpolizei den ganzen Schmutz auf einen Haufen
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gelegt hätte, den diese Frau aus fremden Wohnungen herausgefegt hat, sich
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eine stattliche Pyramide zu Ehren ihrer ehemaligen Profession gebildet hätte.
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<P>Aber der gestrenge Polizist bleibt unerbittlich. Frau Fritzke weint. Um ihre
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Augen kreisen dunkle Ringe.
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<H3> Das eiserne Kreuz </H3>
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<P>Wenn du in eine Kaserne geraten bist, dann setze dich hin und verhalte dich
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ruhig. Frau Fritzke kann Crepe-Georgette-Kleider tragen und ihre Hühneraugen
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mit besonderen Gummiringen bedecken, damit sie die Schuhe nicht auseinander treiben
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- denn sie hat ihren Beruf.
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<P>Die Schustersfrau hat ein Recht darauf, mit ihrer Brennschere am gemeinsamen
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Herd zu hantieren, daß ihr staubiges Haar mitsamt den Läusen knistert
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und dampft, denn sie hat den Schuster - das weiß alle Welt - geheiratet,
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als er schon Krüppel war, aus reiner Herzensneigung also. Keiner darf sich
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auf ihre Kosten breit machen. Man hat es nicht nötig, den Menschen falsche
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Vorstellungen über sein Einkommen zu machen. Wie auf dem Wege zertretene
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Schnecken, deren Fühlhörner mit den zuversichtlichen Augen sich noch
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schwach bewegen, lebt jeder in unverhüllter Nacktheit. Und wenn jemand, wie
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z. B. Herr Boß, sich seiner Leihhausquittungen schämt und niemand in
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sein Zimmer hineinläßt, damit sein Federbett und die roten Kissen ohne
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Überzüge nicht gesehen werden (und alle wissen doch ganz genau, daß
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sie so durchlöchert sind, daß die Federn umherfliegen), dann ist es
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einfach empörend.
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<P>In diesem Hause ist es wie im Paradies. Kleinbürgerliche Scham bleibt
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draußen vor den Toren, die vom Engel der Armut mit flammendem Schwert bewacht
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werden. Wenn jemand anfängt sich zu genieren, dann beunruhigt er damit andere
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Menschen, die dadurch gezwungen werden, ihre Kräfte für die Feigenblätter
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der Lüge zu vergeuden, die ja doch keinen hinters Licht führen. Das
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Haus verachtet Herrn Boß mit seinem Papierkragen, unter dem das Hemd fehlt,
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mit seiner Medaille an der Weste und seiner Art zu sprechen, als wenn er schon
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zu Mittag gegessen hätte.
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<P>Wenn jemand gewußt hätte, wieviel brennende Erniedrigung und Bitterkeit
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sich gerade in seiner ehemaligen Unteroffizierswohnung angesammelt haben! Wenn
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jemand auf Nägeln schläft und sich Asche aufs Haupt streut, so ist es
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gewiß Boß, der vierunddreißig Jahre in der staatlichen Pulverfabrik
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gearbeitet hat.
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<P>Ein Schwur trennte ihn sein ganzes Leben lang von allen anderen Menschen. Leute
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wie er, die den Soldatenschwur des Schweigens einmal gegeben haben, dürfen
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weder in die Gewerkschaft, noch in die Partei, selbst in der Arbeiterkneipe durften
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sie sich nicht zeigen. Das Schweigen der Offiziere aus dem Generalstab war mit
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schwerem Geld erkauft, mit hohem Rang, mit glänzenden Helmen und langen Ordensreihen,
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die Arbeiter der Pulver- und Geschützfabrik schwiegen umsonst, aus Dank für
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das ihnen bewiesene Vertrauen. Denn das machte sie gewissermaßen aus einfachen
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Lohnarbeitern zu Bundesgenossen der Regierung. Sogar der Kaiser selbst war sozusagen
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in der Schuld dieser Leute. Sie verehrten die Dynastie, wie arme Schlucker, denen
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ein Milliardär die Ehre erwiesen, ein paar Groschen auszuleihen. Und als
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der Krieg kam und Gold in Geschütze und Munition umgeschmolzen wurde, erwies
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die Regierung Herrn Boß tatsächlich eine große Ehre: sie nahm
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sein Sparkassenbuch.
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<P>Als die Frau Geheimrätin, die Gattin des Direktors, mit ihren Töchtern
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und ihrem Diener in der Wohnung des Herrn Boß erschien, um dem alten Arbeiter
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einige Obligationen der Kriegsanleihe anzubieten, - mit welcher Andacht und Opferbereitschaft
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warf ihr da Boß alle seine Ersparnisse vor die Füße!
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<P>Ehe Herr Boß sich die Tränen der Rührung vom Gesicht hatte
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wischen können, zerrann die deutsche Mark wie Tau am Morgen. Und die Goldstücke
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- er besaß deren 132 Stück - rollten so unhörbar in den Abgrund
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der Inflation, daß nicht einmal ein Klingen hörbar ward. Aber Boß
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war glücklich.
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<P>Seit jener Zeit vergingen fünf, nein, mehr - ganze sieben Jahre.
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<P>Die Welt verblutete, machte krampfhafte Befreiungsversuche und überzog
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sich endlich mit der dünnen Kruste der Stabilisation, aus der schwarze Löcher
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der Hungersnot und der Inflation gähnten.
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<P>Als man das Vertiko, einen Schaukelstuhl und die schöne Uhr, die er für
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seine 25-jährige makellose Arbeit von der Fabrik erhalten hatte, aus der
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Wohnung herausbrachte, glaubte Herr Boß noch an Gott und Gerechtigkeit.
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<P>
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||
Als seine Frau mit der Leihhausquittung aus dem Versatzamt nach Hause kam, wo
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sie die silberne Uhr mit den Namenszügen des Kaisers ließ, war Herr
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Boß noch immer ein starker Mann, der es nicht duldete, daß man von
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seinem im Kriege gefallenen ältesten Sohn bei Tisch sprach.
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<P>Aber als alle Opfer vollkommen erschöpft waren und sich des noch immer
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geduldigen Boß die große Müdigkeit bemächtigte, die jeder
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Arbeiter kennt, der die Sechzig hinter sich hat; als seine Augen trübe wurden,
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seine Hände zu zittern anfingen und ihm der von Äther vergiftete Speichel
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aus dem Munde zu fließen anfing, - da wurde Boß entlassen. Mit zwei
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Billionen Papiergeld und einem Zimmer in der toten Kaserne. Da stellte es sich
|
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plötzlich heraus, daß Herr Boß auch nur ein Arbeiter war. Wie
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entsetzlich! Diese Einsamkeit! Zerfetzt, von der Maschine erdrückt, flog
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das Sandkörnchen Boß, der Splitter Boß in das große Meer
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seiner Klasse, in ihren tiefsten Abgrund hinein, wo es kein Licht und keine Hoffnung
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mehr gibt.
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<P>An der Oberfläche des Meeres rollten schwere schäumende Wogen: das
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Jahr 1921. Boß lag regungslos da, und sah von Zeit zu Zeit die kämpfenden
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Schiffe der Revolution sinken und langsam zu ihm herabfallen. Mit Flaggen am geknickten
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Mast, mit toten Menschen auf dem aufgewühlten Deck. Die Besten der Menschheit,
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ihre Sturmvögel: Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht.
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<P>Dann pflegte Boß - in den langen Stunden trostlosen Nichtstuns -eine
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Kiste unter dem Bett hervorzuholen, die bis zum Rande mit entwertetem Geld gefüllt
|
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war, und Tage lang in sie hineinzustarren.
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<P>Das Zimmer hat graue Tapeten, mit von der Zeit verblaßten roten Spritzern
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||
- als wenn hier einmal ein Springbrunnen menschlichen Lebens geschlagen hätte
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und auf einmal erloschen wäre.
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||
<P>Die Venen öffneten sich an Boß' Beinen: sein müdes Blut suchte
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den Rückweg zur Erde. </P>
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<!-- <IMG SRC="armut1.jpg" border=2 ALIGN=LEFT ALT="Arbeitersiedlung"> nicht auffindbar -->
|
||
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||
<P>Lang und hager, im kaffeebraunen Jackett, mit einer Medaille an der Uhrkette,
|
||
pflegt er, auf Krücken gestützt, seiner Frau entgegenzugehen, die trotz
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||
ihrer grauen Haare, in der Tabakfabrik arbeitet. Die ganze Vorstadt kennt seine
|
||
Minna, - ein solches Gesicht gibt es zum zweiten Male nicht wieder. Eine weiße
|
||
Maske von einer solchen Schönheit, daß man vor ihr niederknien möchte.
|
||
Nach der Arbeit leuchtet dieses Gesicht mit den kleinen Schweißtropfen an
|
||
der Stirn wie weißer Gips. In seiner Jugend war Boß hartnäckig,
|
||
nörgelnd, gebieterisch; er hielt es für seine Pflicht, seine Frau zum
|
||
besten seiner Familie zu quälen. <P>
|
||
Durch die Mauern von Kellern und Dachstuben, Gefängnissen und Fabriken sickert
|
||
und fließt, sammelt sich zu Bächen, Flüssen und Meeren der geräuschlose
|
||
stille Strom der Arbeitssolidarität. Mit unendlicher Geduld rührt er
|
||
an den Steinen und Gittern, unterhöhlt, lockert, trägt Sandkorn um Sandkorn
|
||
fort, um an einem großen Tage als eine Flut der Empörung über
|
||
die Oberfläche zu rauschen.
|
||
<P>Auch für Boß kam dieser Tag, stieg mühsam ins erste Stockwerk
|
||
hinauf, erholte sich eine Weile, kletterte weiter ins zweite, klopfte an die Tür
|
||
und trat ein. Er kam, um Boß die «Arbeiterzeitung» anzubieten.
|
||
<P>Eine große Stille trat ein. Die weiße Minna wurde noch weißer
|
||
und flüchtete in die Küche. Der Schuster setzte sich. Die Zeitung kostet
|
||
zwanzig Pfennig. Boß erstickt fast: wirft zwanzig Pfennig auf den Tisch
|
||
und noch ein graues stachliges Ding dazu.
|
||
<P>«Da, nimm es ... Das ist alles, was ich im Leben verdient habe!»
|
||
<P>Das eiserne Kreuz.
|
||
<P><I> «Für Kriegshilf dienst!»</I>
|
||
<P><I>WR mit einer Krone darüber!</I>
|
||
<H3> Pantoffeln </H3>
|
||
<P>Bequeme, warme Pantoffeln aus Kamelhaarwolle. Vier Mark fünfzig.
|
||
<P>Frau Kremer macht diese Pantoffeln und verdient vier Mark für hundert
|
||
Stück. In einer Stunde macht sie fünf. Ihre Tochter, die erst das zweite
|
||
Jahr diese Arbeit macht, näht sieben Pantoffeln in 55 Minuten. Nach vierzig
|
||
Arbeitsjahren wird die alte Frau kurzerhand durch das mechanische Übergewicht
|
||
der jugendlichen Kräfte geschlagen. Wie der Droschkengaul. Er mag noch so
|
||
viele Jahre das Straßenpflaster abklappern - seine Kunst wird dadurch nicht
|
||
größer. Mit Blitzesschnelle wird die Nadel, die mit der eigens zu diesem
|
||
Zweck entstandenen Hornhaut zwischen den Fingern festgehalten wird, eingefädelt,
|
||
es nützt dir alles nichts - du bist eben ein alter Gaul. Jedes Bauernfüllen
|
||
wird dich nur deshalb überholen, weil es um zwanzig Jahre jünger ist.
|
||
<P>
|
||
Die größte Anspannung der Kräfte kann den Arbeitslohn nicht erhöhen;
|
||
Je schneller die Nadel fliegt, desto öfter reißt das schlechte Garn,
|
||
an dem der Arbeitgeber auch verdient. Alles ist bis auf Bruchteile von Pfennigen
|
||
berechnet, an Ersparnis ist nicht zu denken.
|
||
<P>Sehr verführerisch sind Pantoffeln mit wattiertem Futter - sie werden
|
||
besser bezahlt. Die junge Arbeiterin, die das Handwerk nicht kennt, fällt
|
||
sicher auf sie herein. Aber Frau Kremer kennt sich in diesen Dingen aus. Mögen
|
||
sich andere die Finger verbrennen, — sie weiß es nur zu gut, daß
|
||
es eine Nadelfrage ist. Eine doppelte Sohle läßt sich nicht so einfach
|
||
durchstechen, wie eine einfache. Man kriegt aber für beide Pantoffelsorten
|
||
die gleiche Anzahl Nadeln geliefert. Drei Stück für hundert Pantoffeln.
|
||
Es ist klar, daß die fünfzehn Pfennige, die der Fabrikant für
|
||
die «Wattierten» zahlt - für die Gewöhnlichen kriegt man nur
|
||
zehn -, den Mehrverbrauch an Nähnadeln nicht decken können. Das ist
|
||
noch nicht alles. Es gibt zahllose Finessen und Kniffe, mit deren Hilfe der letzte
|
||
Tropfen Kraft aus dem Menschen gepreßt wird. Es ist leichter, ein Schiff
|
||
um das Kap der guten Hoffnung zu steuern, als die Pantoffelsohle so anzunähen,
|
||
daß kein einziger Stich sichtbar ist.
|
||
<P>Man rechne sich aus, wieviel «Einfache» eine Arbeiterin in einer
|
||
Stunde fertig bringt? Fünf Stück. Und von den «Wattierten»?
|
||
Nur drei. Ein Pfennig geht auf die Nadeln drauf, während der Fabrikant für
|
||
dieselben 60 Minuten <I> 10 </I> Pfennige weniger bezahlt. Kein Wunder, daß
|
||
Frau Kremer mit ihrem krummen Rücken, ihrem schwarzen, elenden Kleide und
|
||
der Watte im Ohr, aus dem Blutwasser fließt, einer Statue der Trauer und
|
||
des Mißtrauens ähnlich sieht. Wenn das Leben ihr heute mit ausgebreiteten
|
||
Armen glückbringend entgegenträte, würde sie nur die Falten ihres
|
||
Mundes enger zusammenziehen, sich abwenden und den Vorrat von fertigen Pantoffeln
|
||
in Sicherheit zu bringen suchen.
|
||
<P>Dieses Zimmer mit dem Büfett ohne Geschirr, mit roten fleckigen Federbetten,
|
||
mit dem aufdringlichen Nachttopf, mit der Küche, deren Decke feucht ist und
|
||
abblättert, diese ganze «Wohnung», die seit 15 Jahren weder renoviert,
|
||
noch gestrichen wurde, die kein Wasser und keine Toilette hat, und Frau Kremer
|
||
selbst, diese in einen Ameisenhaufen geratene und schon halbzernagte Maus - haben
|
||
nur eine Verteidigungswaffe: absolutes Mißtrauen. Sie stimmt gegen alle
|
||
und alles. Frau Kremer sagt: Diese SPD-Leute sind Kanaillen, jedes ihrer Worte
|
||
ist Lüge; diese Kommunisten sind Feiglinge, sie haben das Jahr 1923 verschlafen.
|
||
Sie kümmert sich nicht darum, ob die Partei für den Kampf reif war oder
|
||
nicht, und wieviel Monate oder Jahre voll langweiliger Kiemarbeit vergehen müssen,
|
||
um das Proletariat tatsächlich zum Siege zu führen.
|
||
<P>Sie braucht Hilfe, aber jetzt, sofort, oder überhaupt nicht, denn die
|
||
Kräfte der Frau Kremer sind ihrem Ende nahe. <P>
|
||
Wenn eine Maus einen Todesschreck bekommt, fängt sie an zu schwitzen. Sie
|
||
wird ganz naß vor Furcht. Wie kann Frau Kremer auf die Revolution warten
|
||
- ihren ganzen Körper bedeckt ja der Schweiß der letzten Erschöpfung.
|
||
<P>
|
||
«Ich kann der Gewerkschaft nicht beitreten. Der Verband würde mir verbieten,
|
||
für einen so niedrigen Lohn zu arbeiten, er würde verlangen, daß
|
||
ich die Arbeit aufgebe.»
|
||
<P>Aber im Hause der Frau Kremer herrscht doch ein großes Arbeitsfest: ihr
|
||
einziger Sohn - ein fünfzehnjähriger, in einer Zigarrenkisten-Fabrik
|
||
beschäftigter Knabe - <I> streikt, streikt zum erstenmal in seinem Leben.
|
||
</I> Der Streik hat vor drei Wochen begonnen, 135 Menschen nehmen an ihm teil.
|
||
Ohne Hoffnung auf Erfolg: haufenweise strömen die Streikbrecher aus den Nachbarorten
|
||
in die Fabrik.
|
||
<P>Die Alte schweigt. Kein Wort des Vorwurfs, keine einzige Klage. Um sich treu
|
||
zu bleiben, tut sie, als wenn nichts geschehen, als wenn der Sohn überhaupt
|
||
nicht da wäre. Sie glaubt ja weder an Streiks, noch an Sozialismus, nicht
|
||
einmal an die Pocken. Nur das eine weiß sie: alles, was von den Herren ausgeht,
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ist Betrug. Ein ganzes Jahr lang versteckte sie ihren Enkel vor dem Kreisarzt.
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Erst dieser Tage schleppte man ihn ins Krankenhaus, zerstach ihm den Arm, und
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- hatte sie nicht recht gehabt? Vier scheußliche Wunden zeigten sich auf
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dem Ärmchen. Das konnte jeder sehen, der den schmutzigen Ärmel des Kindes
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aufkrempelte.
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<P>Aber wie schiebt Frau Kremer ihrem Sohn bei Tisch den Teller hin, mit welchem
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Blick betrachtet sie seinen starken, männlichen Rücken! Mit vielsagendem
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Augenzwinkern, gespannt, zur Abwehr bereit, sagt sie den Nachbarn: <P>
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<I> «Mein Sohn streikt.» </I>
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<P>So winkt der abgestorbene alte Baum mit seinem letzten Ast grüßend,
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den jungen Mut, der alle Niederlagen vergißt, so winkt er dieser Solidarität
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für die eigene Klasse zu.
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<H3> Er - Kommunist, sie - Katholikin </H3>
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<P>Der größte Teil der Arbeiter, die wegen politischer Unzuverlässigkeit
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ihre Arbeit verloren haben, gehört nicht der jungen, sondern der älteren
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Generation an. Ein junger Bauernbursch, dem es zu Hause zu eng wird, geht bei
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jedem Lohn und jeder Arbeitszeit in die Fabrik, nur um sich ein paar Mark für
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Bier, ein Fahrrad und einen in Taille gearbeiteten Sonntags-Anzug anschaffen zu
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können. Essen und Trinken kosten ihn nichts — der Vater gibt es ihm.
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Die ältere Arbeitergeneration, die auf eine zwanzigjährige Schule des
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gewerkschaftlichen und revolutionären Kampfes zurücksieht, ist trotz
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der relativ hohen Tarife und ihrer privilegierten Stellung der Arbeiteraristokratie,
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weit weniger nachgiebig und nicht geneigt, ihre letzten Positionen kampflos aufzugeben.
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<P>Das Endergebnis dieses Widerstandes - mag er auch noch so vorsichtig und gemäßigt
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sein -, ist die Entlassung. Der Arbeiter macht sich zunächst keine Sorgen
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darüber. Er hat ausgezeichnete Zeugnisse, blickt auf eine 20- bis 25 jährige
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Erfahrung zurück; auch ist auf seinem Arbeitsgebiet gerade jetzt ein Aufschwung
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festzustellen: heute oder morgen wird er gewiß neue Arbeit finden. Überdies
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arbeitet seine Frau als Zugeherin in einem wohlhabenden Hause und wird durchaus
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anständig bezahlt.
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<P>Anfangs erinnerte ihn nichts an das grausame Gesetz der Arbeitslosigkeit. Es
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tritt nur ganz allmählich in Kraft. Wer die Familie ernährt, wird zum
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Herrn im Hause. Wenn er nach schwerer Tagesarbeit nach Hause kommt, will er in
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eine saubere Wohnung treten und sich an einen fertig gedeckten Tisch setzen. Die
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Kinder müssen vor seiner Rückkehr gewaschen und gekämmt, ihre Nasen
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gewischt, ihre Schulaufgaben geprüft sein. Und nun — drei Tage nachdem
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der Mann arbeitslos geworden ist, schließt er eines Morgens die Tür
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hinter seiner zur Arbeit gehenden Frau, bindet sich demütig ihre Hausschürze
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um und macht sich an die Hausarbeit. Er wischt Staub, poliert die Fenster, wäscht
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das Geschirr und die Lappen, mit denen er gewaschen hat, trägt den Müll
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hinaus, scheuert den Fußboden in der Küche, macht die Betten, hängt
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die Federbetten zum Fenster hinaus und legt sie, nachdem sie von der Sonne durchwärmt
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sind, mit pedantischer Sorgfalt an ihren Platz.
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<P>Wir haben nicht die geringste Vorstellung über diesen Kultus von Sauberkeit
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und Ordnung, die die Frau eines mittleren und sogar des ärmsten deutschen
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Arbeiters tagtäglich in ihrem Hause veranstaltet. Man könnte stundenlang
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dasitzen und zusehen, wie sie reibt, wäscht, kratzt, trocknet, poliert —
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alles - Geschirr, Wäsche, Möbel, Fußboden, Wände. Selbst
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der entfernteste und dunkelste Winkel hinter und unter dem Schrank ist vor ihr
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nicht sicher. Alles das muß jetzt der Mann tun. Und wie er in guten Tagen
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prüfend über den Herd fuhr, um sich davon zu überzeugen, ob da
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auch kein einziges Stäubchen liegt, und seiner Frau keine noch so geringe
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Verfehlung hingehen ließ, so ist er jetzt! selbst vor ihr verantwortlich,
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jetzt ist sie der Herr, der die Familie ernährt.' <P>
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Er - der Untergebene, der gehorsame Tagelöhner, die Waschfrau im Hause. In
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der Tiefe seiner Seele hält jeder Deutsche seine Frau für eine Dienerin
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und verachtet ihre Arbeit. Wenn der Mann nun mit dem Scheuerlappen in der Hand,
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ächzend in alle Winkel kriecht oder mit einer Schüssel auf den Knien
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Kartoffeln schält, fühlt er sich unendlich erniedrigt. Der Arbeiter
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faßt diese Dinge ebenso auf, wie jeder Kleinbürger. Ein sehr guter
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Genosse, der einige Jahre arbeitslos war, sagte mit tiefer Bitterkeit, indem er
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auf seine aufgekrempelten Ärmel, auf die Bürste in der einen und den
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schmutzigen Schuh seiner Frau in der anderen Hand hindeutete:
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<P>«Sehen Sie, bis zu welcher elenden Erniedrigung uns die Arbeitslosigkeit
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bringen kann. Ich, ein Mann, muß dem Frauenzimmer die Schuhe putzen!»
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<P>In seinem männlichen Stolz verletzt und beleidigt, sucht er das verlorene
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Gleichgewicht auf andere Weise herzustellen. Am Lohntag, wenn die Frau mit gemachter
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Bescheidenheit ihren Wochenverdienst auf den Tisch legt, geht er vom frühen
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Morgen an finster und gereizt umher. Bei Tisch bricht ein wilder Konflikt aus.
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<P> «Wer ist der Herr im Hause, - du oder ich?»
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<P>Bums - schlägt die Faust auf den Tisch. Eine alte Peitsche wird von der
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Wand genommen. Die Kinder heulen. Die Mutter lenkt ein. Nach dem Essen schließen
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sich die Eltern im Schlafzimmer ein. Er läßt sich lange bitten. Sie
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zieht sich aus, sieht ihn mit feuchten, flehenden Augen an. Er vergewaltigt sie,
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er tut es mit Haß, so daß sie schreit, daß man es auf dem Flur
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hört, und schickt sie dann nach Zigaretten. Niemals in den Tagen liebte er
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seine Frau mit einer solchen eifersüchtigen Liebe, niemals dürstete
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sie so nach neuen Zärtlichkeiten, wie gerade jetzt, da sie im Grunde erkauft
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werden müssen.
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<P>Der Mann verwandelt sich allmählich in den Zuhälter seiner Frau.
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<P> «Ich werde bald ihr Zuhälter werden», sagte der kleine Kamm,
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derselbe, der die Schuhe putzte. Seine Lage verwickelte sich besonders dadurch,
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daß seine Frau aus einer alten katholischen Bauernfamilie stammte, einer
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Familie mit Kaiser- und Kaiserinbildnissen, mit Kirchgang am Sonntag, und mit
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einem Großvater, der Fahnenträger der ehemaligen Hundertsechsundsechziger,
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der gelbblauen Ulanen ist. Überhaupt, der alte Mann war von jeher gegen diese
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Ehe gewesen. Wie war es möglich, daß diese gut gewachsene, ehrliche,
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hübsche Bauerndirn sich in den kleinen, unruhigen Schmied verschossen hat,
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der alle Monat seinen Brotgeber wechselte. Nein, dieser kleine Mann ist nicht
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imstande, eine Familie zu ernähren!. . .
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<P>Jetzt, da Kamm in materielle Abhängigkeit von den Alten geraten war, versuchen
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die Schwiegereltern die ganze Familienkonstitution zugunsten der Frau und der
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Kinder und sehr zuungunsten des mißratenen Gatten zu ändern. Ja, Lieschen,
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die kleine Enkelin, kann den ganzen Sommer bei Großvater und Großmutter
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verbringen, und das wird keinen Pfennig kosten. Des Sonnabends wird Speck, Gebackenes
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und eine Gans ins Haus geschickt, aber die Enkelin muß in die Kirche gehen.
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Wenn die beiden unterstützt sein wollen, dann soll der Vater dem Kinde sagen,
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daß es einen Gott gibt, und daß alle, die ihn leugnen, in die Hölle
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kommen. Was soll man da machen? Man muß durchhalten. Aber Lieschen hat glücklicherweise
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den skeptischen Geist des Vaters und seinen französischen Schalk. Sie verstehen
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einander ausgezeichnet.
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<P>«Lieschen», sagt Kamm zu der Tochter, und setzt sie auf seine Knie,
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«weißt du noch, wie ich dir gesagt habe, daß es keinen Gott gibt,
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daß das Paradies nur ein dummes Märchen für Kinder ist, Lieschen,
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schau mir in die Augen: ich habe mich geirrt, ich habe dir nicht die Wahrheit
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gesagt. Er sitzt wirklich im Himmel und sieht alles und weiß alles.»
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<P>
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Die Alten stehen daneben und sehen dem Schwiegersohn auf den Mund, wie man einem
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verdächtigen Kartenspieler auf die Finger sieht. Die Kleine nickt:
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<P>«Schön, Papa.»
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<P>Kamm erkennt seine Rasse: ein Glück, denkt er, daß das Kind sich
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den Kuckuck um den ganzen Firlefanz kümmert. <P>
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Drei Jahre schon ist Kamm ohne Arbeit. Er wäscht, bäckt Brot, hat gelernt
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Strümpfe zu stopfen. Endlose Vorwürfe. Ewiges Gerede - er habe die Familie
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ins Unglück gestürzt, die Partei nütze die Leute aus, solange sie
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in der Fabrik sind, um sie dann in ihrer Not laufen zu lassen. Es war um den Verstand
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zu verlieren.
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<P>«Was hast du von all deinen Entbehrungen? Sie geben dir nicht einmal den
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kleinsten Posten in der Partei!», so geht es den ganzen Tag.
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<P>Der kleine Kamm flieht in die Dörfer, geht als wandernder Agitator aufs
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Land, besteigt den Vogelsberg, wird nach dem Spessart verschlagen. Als erster
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wagt er sich ins Dorf der alten Waldmeisen, einst Freischärler der großen
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Bauernkriege, jetzt - reiche Bauern, die in geiziger Einsamkeit fern von Menschen
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leben. Jeder von ihnen ist im Grunde genommen reich bis zu vierzig Morgen Land,
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aber weder Pferd, noch Knecht, um sie zu bearbeiten. Die Inflation hat das Geld
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aufgefressen, wie soll man da ohne Maschinen und teure Düngemittel die Ernte
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aus der kalten, harten Erde herauspressen? In ihrem Väterglauben betrogen,
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verjagte die Gemeinde ihren Geistlichen aus dem Dorf und sämtliche Parteisprecher,
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die vor den Präsidentenwahlen Stimmen warben. Kamm hat bisher noch keinen
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Anhänger unter diesen verbitterten orthodoxen Bauern gewonnen, aber er hat
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es erreicht, daß die harten Gesichter der Männer mit ihren breitrandigen,
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mittelalterlichen Hüten und die Frauen mit weißen, gestärkten,
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drachenähnlichen Häubchen ihn freundlich grüßen.
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<P>In den entferntesten Gebirgsdörfern, wo die häufigen Regengüsse
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je den Dünger fortspülen, kennt man ihn gut, diesen Mann von scheinba
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achtzehn, aber doch vierzig Jahren, der mit seiner Zeitungstasche über der
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Schulter von Ort zu Ort geht.
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<P>«Dieser Bursch hat für Bohnen und Kartoffeln keinen Sinn», sagen
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J von ihm die Steinhauer der Basaltbergwerke, verwilderte Menschen und 3 Walddiebe.
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Es ist wahr, Kamm hat weder Salatbeete, noch einen Laubengarten, in dem der deutsche
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Proletarier so gern seinen Feierabend verbuddelt. Der Pastor in Griesheim, mit
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dem er regelmäßig am Sonntag nach der Predigt aneinander gerät,
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sagte von ihm: «Ein bösartiges Maul hat diese kleine giftige Spinne!»
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<P>Aber die Gebirgspfade führen schließlich doch ins Tal hinab. Nach
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langen Wanderungen muß man wohl oder übel nach Hause gehen. Zu Hause
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aber herrscht die böse fromme Frau, die hübsche, gut gewachsene Bäuerin
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mit dem stets gesenkten Blick, hinter dem sie ihre herrschsüchtige Gier verbirgt.
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Zwanzigmal verließ Kamm sein Haus, um nie wieder zurückzukehren, und
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zwanzigmal kehrte er seines Lieschens wegen wieder um. Wer wird sie vor Pfaffen,
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Tanten, vor der falschen mütterlichen Liebe bewahren?
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<P>Das Allerschlimmste beginnt, wenn die Kinder schlafen, wenn die Türen
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verschlossen, die Fenster verhängt sind, wenn das ganze kleinbürgerliche
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Haus tückisch schweigt.
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<P>Sie zieht sich schon aus. Das eiserne Korsett wird abgelegt, über ihr
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Gesicht huschen feindselige Gedanken, die jedes seiner Gefühle, jedes Buch
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auf seinem Tisch hassen. Der Mann weiß es: die Frau freut sich über
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seine Niederlage, ist glücklich mit seinen Feinden, aber — schamlos
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im Bett, geil, wie es eine Straßendirne nicht sein kann. Keine Prostituierte
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ist so erfinderisch, wie diese fromme, tugendhafte Frau, die sich hinter verhängten
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Fenstern ausleben will, die sich auf das Gesetz stützt und von ihrem Mann
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verlangt, daß er sie wenigstens liebe und befriedige, wenn er seiner «idiotischen
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kommunistischen Ideen» wegen zu nichts anderem tauge! Wer nicht arbeitet,
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der soll auch nichts essen!
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<P>Je zügelloser der Bettkampf, desto größer die Niederlage. Wie
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eine gesättigte Milbe fällt die befriedigte Frau auf ihre Kissen zurück,
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um sofort - noch ehe sie sich das Haar und die verknüllten Röcke geordnet
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- unzweideutig zu verstehen zu geben, daß «dies» in ihren Beziehungen
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natürlich nichts zu ändern vermag. Alles bleibt beim alten. <P>
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«Erinnere mich morgen daran, Hans, daß ich die Bibel für Lieschen
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kaufe, hörst du? Das alte und das neue Testament...»
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<!-- #EndEditable --> <P></P>
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<P><SMALL>Pfad: »../lr«<BR>
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</SMALL>
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