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2022-08-25 20:29:11 +02:00

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<TITLE>Friedrich Engels - Der Rueckzug der Russen von Kalafat</TITLE>
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<FONT SIZE=2><P>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 10, S. 135-139<BR>
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961</FONT> </P>
<H2>Friedrich Engels</H2>
<H1>Der R&uuml;ckzug der Russen von Kalafat</H1>
<FONT SIZE=2><P>Geschrieben am 13. M&auml;rz 1854.<BR>
Aus dem Englischen.</P>
</FONT><P><HR></P>
<FONT SIZE=2><P>["The People's Paper" Nr. 98 vom 18. M&auml;rz 1854, Leitartikel]</P>
</FONT><B><P><A NAME="S135">&lt;135&gt;</A></B> Die Russen haben sich von Kalafat zur&uuml;ckgezogen und haben, wie es hei&szlig;t, ihren ganzen Feldzugsplan ge&auml;ndert. Das ist das glorreiche Ende der Anstrengungen und Gefahren eines dreimonatigen Feldzugs, der die letzten Ressourcen der Walachei vollst&auml;ndig ersch&ouml;pft hat. Das ist die Frucht jenes unbegreiflichen Marsches in die Kleine Walachei, den man, wie es scheint, mit g&auml;nzlicher Au&szlig;erachtlassung der elementarsten Regeln der Strategie unternahm. Um Kalafat, diesen einzigen Br&uuml;ckenkopf zu nehmen, den die T&uuml;rken am linken Donauufer besetzt hielten, wurde die Hauptmasse der russischen Armee an ihrer &auml;u&szlig;ersten Rechten konzentriert; in einer Stellung, in der das Zentrum und die Linke, beide geschw&auml;cht, jedem Angriff, den der Feind m&ouml;glicherweise unternimmt, v&ouml;llig preisgegeben waren; zudem wurde dort eine Gleichg&uuml;ltigkeit gegen alle Kommunikations- und R&uuml;ckzugslinien an den Tag gelegt, die ohne Beispiel in der Geschichte der Kriegf&uuml;hrung ist. Da&szlig; Omer Pascha aus diesem Fehler keinen Vorteil gezogen hat, ist nur durch die Einmischung des britischen Gesandten in Konstantinopel zu erkl&auml;ren. Wie es kam, da&szlig; die Russen trotz alledem sich schimpflich zur&uuml;ckziehen mu&szlig;ten, ohne ihr Ziel erreicht zu haben, wollen wir jetzt zeigen.</P>
<P>Wir nennen es einen schimpflichen R&uuml;ckzug, weil ein prahlerisch angek&uuml;ndigter Vormarsch, der durch die Einnahme einer blo&szlig; drohenden Stellung gekr&ouml;nt wurde und der mit einem ruhigen und bescheidenen R&uuml;ckzug endete, ohne da&szlig; es auch nur zu dem Versuch eines ernsthaften Kampfes gekommen w&auml;re - weil ein Unternehmen, das aus einer ununterbrochenen Reihe von Fehlern und Irrt&uuml;mern bestand, bei dem nichts anderes herauskommt als die &Uuml;berzeugung des Generals, da&szlig; er sich h&ouml;chst l&auml;cherlich gemacht hat, den Gipfel der Schande erreicht.</P>
<B><P><A NAME="S136">&lt;136&gt;</A></B> Nun zur Lage der Dinge.</P>
<P>Die Russen hatten gegen Ende 1853 folgende Truppen in der Walachei, Moldau und in Bessarabien:</P>
<P>1. Das 4. Armeekorps (Dannenberg): drei Divisionen Infanterie, eine Division Kavallerie, vier Brigaden Artillerie - insgesamt, nach Abzug der Verluste, etwa 45.000 Mann.</P>
<P>2. Vom 5. Armeekorps (L&uuml;ders): eine Division Infanterie, eine Division Kavallerie, zwei Brigaden Artillerie - etwa 15.000 Mann.</P>
<P>3. Das 3. Korps (Osten-Sacken): drei Divisionen Infanterie, eine Division Kavallerie, vier Brigaden Artillerie - etwa 55.000 Mann.</P>
<P>Gesamtsumme etwa 115.000 Mann, ungerechnet die Nichtkombattanten und eine Division des Korps von L&uuml;ders in der Umgegend Odessas, die f&uuml;r den Garnisondienst erforderlich ist und nicht mitgerechnet werden kann.</P>
<P>Bis Anfang Dezember waren die Truppen unter Dannenberg und L&uuml;ders die einzigen Streitkr&auml;fte in den F&uuml;rstent&uuml;mern. Das Nahen des Korps Osten-Sackens sollte das Signal zu der gro&szlig;en Konzentration f&uuml;r den Angriff auf Kalafat sein. Sein Platz am Bug und am Pruth sollte durch das 6. Korps (Tscheodajew) ausgef&uuml;llt werden, das schon von Moskau her unterwegs war. Nach der Vereinigung mit diesem Korps h&auml;tte die Donauarmee aus etwa 170.000 Mann bestanden, h&auml;tte aber noch verst&auml;rkt werden k&ouml;nnen, wenn die neu ausgehobenen Rekruten aus den s&uuml;dwestlichen Provinzen gleich an den Kriegsschauplatz beordert worden w&auml;ren.</P>
<P>Dem russischen Befehlshaber schienen jedoch 115.000 bis 120.000 Mann ausreichend, um die ganze Donaulinie von Braila bis Nikopolis zu verteidigen und noch eine gen&uuml;gende Zahl in Reserve zu haben, um sie auf der &auml;u&szlig;ersten Rechte f&uuml;r einen Angriff auf Kalafat zu konzentrieren.</P>
<P>Als diese Aktion gegen Ende Dezember begann, konnte Kalafat kaum mehr als 10.000 bis 12.000 Verteidiger beherbergen, nebst 8.000 weiteren in Widdin, deren Unterst&uuml;tzung zweifelhaft war, da sie in der schlechten Jahreszeit einen rei&szlig;enden Flu&szlig; zu &uuml;berschreiten h&auml;tten. Die Langsamkeit der russischen Bewegungen jedoch, die Unentschiedenheit des F&uuml;rsten Gortschakow, vor allem aber die Tatkraft und K&uuml;hnheit Ismail Paschas, des Kommandanten von Kalafat erlaubten den T&uuml;rken, etwa 40.000 Mann an dem bedrohten Punkte zusammenzuziehen und Kalafat aus einem einfachen Br&uuml;ckenkopf, der dem Ansturm einer zweifachen &Uuml;bermacht h&auml;tte erliegen m&uuml;ssen, in eine Befestigung zu verwandeln, die mindestens 30.000 Mann beherbergen und jedem Angriff au&szlig;er einer f&ouml;rmlichen Belagerung trotzen konnte. Man hat mit Recht behauptet, es sei der h&ouml;chste Triumph f&uuml;r den Erbauer einer Feldbefestigung, wenn der Feind seine Laufgr&auml;ben gegen sie <A NAME="S137"><B>&lt;137&gt;</A></B> er&ouml;ffnen m&uuml;sse. Wenn die Russen das nicht taten, so nur deshalb, weil sie selbst in der Anwendung dieses &auml;u&szlig;ersten Mittels keine M&ouml;glichkeit sahen, Kalafat in der Zeit zu nehmen, die sie f&uuml;r diese Operation ansetzen konnten. Kalafat wird von nun an in einer Reihe stehen mit Friedrichs II. Lager von Bunzelwitz, mit den Linien von Torres-Vedras und mit den Verschanzungen des Erzherzogs Karl hinter Verona als eine jener Leistungen der Feldbefestigungen, die als klassische Beispiele der Kriegskunst in die Geschichte eingehen werden.</P>
<P>Betrachten wir nun die Mittel, &uuml;ber die die Russen f&uuml;r den Angriff verf&uuml;gten. Da&szlig; sie allen Ernstes Kalafat nehmen wollten, zeigt der Park von Festungsartillerie, den sie bis Krajowa transportierten. Da&szlig; Omer Pascha diese Kanonen unbehelligt kommen und gehen lie&szlig;, ist, nebenbei bemerkt, eine der vielen milit&auml;rischen Unbegreiflichkeiten dieses Krieges, die nur durch diplomatische Einfl&uuml;sse zu erkl&auml;ren sind. Das einzige, was die Russen jetzt brauchten, war eine gen&uuml;gende Menge Truppen, um die T&uuml;rken zur&uuml;ckzudr&auml;ngen, die Laufgr&auml;ben und Batterien zu sch&uuml;tzen und, sobald Breschen geschaffen waren, diese zu erst&uuml;rmen. Auch hier handelte Ismail Pascha als energischer und geschickter Befehlshaber. Sein Ausfall auf Cetate am 6. Januar, sein kraftvoller Angriff, der mit der Niederlage einer &uuml;berlegenen russischen Streitmacht endete, die wiederholten Angriffe &auml;hnlicher Art, die er fortsetzte, solange die russische Konzentration noch vor sich ging, bis er von einer &uuml;berlegenen Streitmacht auf seiner kleinen Donauhalbinsel g&auml;nzlich blockiert war - kurz, sein System, sich durch konzentrierte Offensivst&ouml;&szlig;e gegen einzelne Punkte der russischen Linie zu verteidigen und dabei den Feind in einzelnen Abteilungen, soweit er konnte, aufzureiben, war genau das, was ein Befehlshaber in seiner Lage tun mu&szlig;te, und bildet einen erfreulichen Gegensatz zu Omer Paschas passiver Verteidigung bei Oltenitza oder zu dessen tr&auml;ger Unt&auml;tigkeit w&auml;hrend der ganzen Zeit an der unteren Donau. Denn wenn dieser auch hier und dort kleine Angriffe unternahm, die, wie es scheint, nie im richtigen Moment abgebrochen, sondern mehrere Tage lang an demselben Punkt mit blinder Hartn&auml;ckigkeit fortgesetzt wurden, selbst wenn sie kein Ergebnis versprachen, so z&auml;hlen diese kleinen Angriffe nicht, wo es doch erforderlich gewesen w&auml;re, 40.000 bis 60.000 Mann &uuml;ber die Donau zu werfen.</P>
<P>Gegen Ende Januar vollendeten die Russen schlie&szlig;lich doch ihre Konzentration um Kalafat. Augenscheinlich waren sie im offenen Felde die &Uuml;berlegenen; sie m&uuml;ssen daher dort etwa 30.000 oder 40.000 Mann gehabt haben. Zieht man nun diese von 115.000 ab und dann noch einmal etwa 20.000 oder 25.000 f&uuml;r die Verteidigung der Linie von Braila bis an die See, so bleiben <A NAME="S138"><B>&lt;138&gt;</A></B> f&uuml;r die ganze Gro&szlig;e Walachei einschlie&szlig;lich der Garnisonen 50.000 bis 65.000 Mann, eine Armee, die bei weitem nicht zur Verteidigung einer so langen Angriffslinie und zu einer Kommunikationslinie ausreicht, die in einer kurzen Entfernung hinter ihr <I>mit der Angriffslinie parallel l&auml;uft</I>. Ein kr&auml;ftiger Angriff an irgendeinem Punkt, selbst mit einer Streitmacht, die diesen 65.000 Mann insgesamt unterlegen ist, h&auml;tte nur mit einer g&auml;nzlichen Vernichtung aller dieser verstreuten russischen Truppen im einzelnen und mit der Eroberung der gesamten russischen Magazine enden k&ouml;nnen. Omer Pascha wird sich fr&uuml;her oder sp&auml;ter rechtfertigen m&uuml;ssen, aus welchen Gr&uuml;nden er eine solche Gelegenheit nicht nutzte.</P>
<P>Trotz aller ihrer Bem&uuml;hungen konnten also die Russen vor Kalafat nur soviel Truppen konzentrieren, um die t&uuml;rkischen Vorposten zur&uuml;ckzutreiben, nicht aber das Bollwerk selbst anzugreifen. Sogar f&uuml;r diesen momentanen und tr&uuml;gerischen Erfolg brauchten sie nahezu f&uuml;nf Wochen. General Schilder von der Genietruppe wurde mit dem ausdr&uuml;cklichen Befehl nach Kalafat beordert, dieses einzunehmen. Er kam, sah und beschlo&szlig;, nichts zu tun, ehe nicht die Ankunft Tscheodajews eine Heranziehung frischer Truppen aus dem Zentrum und dem linken Fl&uuml;gel gestattete.</P>
<P>F&uuml;nf Wochen standen die Russen in dieser gef&auml;hrlichen Position, R&uuml;cken und Flanke ungedeckt, als provozierten sie f&ouml;rmlich den Angriff, dem sie keinen Augenblick h&auml;tten standhalten k&ouml;nnen; und f&uuml;nf Wochen stand Omer Pascha, ihre Flanke und ihren R&uuml;cken bedrohend, in einer Position, in der er ohne Brille oder Fernrohr ihre Schw&auml;che sehen konnte - und tat nichts. Dieses System der modernen Kriegf&uuml;hrung unter der Protektion der alliierten M&auml;chte, wahrhaftig, das begreife, wer kann!</P>
<P>Ganz pl&ouml;tzlich erreicht London die Nachricht, die Russen seien in vollem R&uuml;ckzug von Kalafat begriffen. Oh! ruft die "Times" aus, das ist ein Erfolg unserer <I>Alliierten</I>, der &Ouml;sterreicher, die in Transsylvanien, im R&uuml;cken der Russen, eine Armee konzentriert haben; das ist ein Erfolg der glorreichen &ouml;sterreichischen Allianz, die wiederum ein Erfolg der glorreichen Politik Aberdeens ist. Ein dreifach Hoch auf Aberdeen! Doch am folgenden Tag zeigt eine authentische &ouml;sterreichische Erkl&auml;rung, da&szlig; gar keine &ouml;sterreichische Allianz existiert und da&szlig; die &Ouml;sterreicher bis jetzt nichts gesagt haben und selbst noch nicht zu wissen scheinen, wozu sie diese Armee dorthin geschickt haben. Und folglich herrscht gro&szlig;e Ungewi&szlig;heit &uuml;ber die Ursache des russischen R&uuml;ckzugs.</P>
<P>Man berichtet uns jetzt, da&szlig; die Russen versuchen wollen, auf dem gegen&uuml;berliegenden Punkt, zwischen Braila und Galatz, &uuml;ber die Donau zu setzen wie 1828/1829 und sich so auf Adrianopel zu bewegen. Sollte dies ohne ein <A NAME="S139"><B>&lt;139&gt;</A></B> v&ouml;lliges Einvernehmen zwischen den Russen einerseits und dem englisch-franz&ouml;sischen Geschwader andrerseits geschehen, so ist dieser Marsch strategisch unm&ouml;glich. Uns ist noch eine weitere Ursache f&uuml;r diesen R&uuml;ckzug bekannt. Tscheodajews Marsch soll unterbrochen worden sein, damit er oberhalb Odessas ein Lager von 30.000 oder 40.000 Mann errichte. Ist dies wahr, so kann er weder mit Truppen am Pruth und Sereth helfen, noch Gortschakow vor Kalafat verst&auml;rken. Folglich mu&szlig; sich F&uuml;rst Gortschakow in ebenso guter Ordnung zur&uuml;ckziehen, wie er kam, und damit w&uuml;rde die gro&szlig;e Tragikom&ouml;die des russischen Marsches gegen Kalafat enden.<A NAME="Z1"><A HREF="me10_135.htm#M1">&lt;1&gt;</A></A></P>
<P><HR></P>
<P>Tetvarianten</P>
<P><A NAME="M1">&lt;1&gt;</A> In der "New-York Daily Tribune" Nr. 4040 vom 30. M&auml;rz 1854 lautet der letzte Abschnitt des Artikels wie folgt: </P>
<P>"Und folglich sind unsere britischen Zeitgenossen in h&ouml;chster Ungewi&szlig;heit &uuml;ber die Ursache des russischen R&uuml;ckzugs. Was aber ist seine Ursache? Nun, einfach folgendes: Franz&ouml;sische und britische Truppen sollen nach Konstantinopel gehen. Nichts leichter oder einfacher, als sie von dort nach Odessa oder Bessarabien zu schicken und die Kommunikationen der Russen abzuschneiden.</P>
<P>Wie harmlos auch die wirklichen Absichten der Koalition sein m&ouml;gen, der Druck von au&szlig;en kann sie zu ernstlichem Handeln zwingen. Gortschakow traut offenbar der rein diplomatischen Mission der westlichen Armeen nicht. W&auml;re er auch Englands ganz sicher, Frankreich k&ouml;nnte er es nicht sein. W&auml;re er auch aller Kabinette sicher, der Generale k&ouml;nnte er es nicht sein. Er k&ouml;nnte Flankenm&auml;rsche riskieren, solange nur die T&uuml;rken da sind; er glaubt aber, da&szlig; die Angelegenheit ernsthafter wird, sobald franz&ouml;sische und britische Truppen ankommen und drohen, ihm in die Flanke zu fallen. Folglich wurde Tscheodajews Marsch unterbrochen, damit er oberhalb Odessas ein Lager von 30.000 oder 40.000 Mann errichte. Folglich kann er keine Truppen zum Pruth oder Sereth entsenden. Folglich k&ouml;nnen keine Truppen kommen, um Gortschakow vor Kalafat zu verst&auml;rken. Folglich wird der Angriff auf diesen Platz zur Unm&ouml;glichkeit. Folglich mu&szlig; sich F&uuml;rst Gortschakow in ebenso guter Ordnung zur&uuml;ckziehen, wie er kam. Und so endet die gro&szlig;e Tragikom&ouml;die des russischen Marsches gegen Kalafat." <A HREF="me10_135.htm#Z1">&lt;=</A></P>
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