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2022-08-25 20:29:11 +02:00

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<TITLE>Karl Marx - Sizilien und die Sizilianer</TITLE>
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<P ALIGN="CENTER"><A HREF="../me_ak60.htm"><FONT SIZE=2>Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1860</FONT></A></P>
<FONT SIZE=2><P>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unver&auml;nderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 43-45.</P>
<P>1. Korrektur<BR>
Erstellt am 18.09.1998</P>
</FONT><H2>Karl Marx </H2>
<H1>Sizilien und die Sizilianer </H1>
<FONT SIZE=2><P>Geschrieben Ende April/Anfang Mai 1860.<BR>
Aus dem Englischen.</P>
</FONT><P><HR></P>
<FONT SIZE=2><P>["New-York Daily Tribune" Nr. 5948 vom 17. Mai 1860, Leitartikel] </P>
</FONT><B><P><A NAME="S43">&lt;43&gt;</A></B> In der bisherigen Geschichte der Menschheit hat wohl kein Land und kein Volk so entsetzlich unter Sklaverei, fremden Eroberungen und Unterdr&uuml;ckungen gelitten und so leidenschaftlich um seine Freiheit gek&auml;mpft, wie Sizilien und die Sizilianer. Beinahe seit der Zeit, als Polyphemos am &Auml;tna promenierte oder Ceres die Sikuler den Getreideanbau lehrte, bis in unsere Tage ist Sizilien der Schauplatz ununterbrochener Invasionen und Kriege und unnachgiebigen Widerstandes gewesen. Die Sizilianer sind ein Gemisch fast aller s&uuml;dlichen und n&ouml;rdlichen V&ouml;lkerschaften: zuerst eine Mischung der ureingesessenen Sikanier mit Ph&ouml;niziern, Karthagern, Griechen und Sklaven aus allen m&ouml;glichen Gegenden unter der Sonne, die durch Handel oder Krieg nach der Insel verschlagen worden waren; dann eine mit Arabern, Normannen und Italienern. W&auml;hrend all dieser Umformungen und Ver&auml;nderungen haben die Sizilianer um ihre Freiheit gek&auml;mpft und k&auml;mpfen noch heute darum. </P>
<P>Vor mehr als drei Jahrtausenden leisteten die Ureinwohner Siziliens, so gut sie es vermochten, der &uuml;berlegenen Bewaffnung und milit&auml;rischen T&uuml;chtigkeit der karthagischen und griechischen Eindringlinge Widerstand. Sie wurden tributpflichtig gemacht, aber weder durch den einen noch durch den anderen jemals g&auml;nzlich unterworfen. Lange Zeit hindurch war Sizilien das Schlachtfeld der Griechen und Karthager, seine Bev&ouml;lkerung wurde zugrunde gerichtet und zum Teil versklavt. Seine von Karthagern und Griechen bewohnten St&auml;dte waren die zentralen Punkte, von denen aus sich Unterdr&uuml;ckung und Sklaverei &uuml;ber das Innere der Insel verbreiteten. Diese fr&uuml;hen Sizilianer vers&auml;umten jedoch niemals eine Gelegenheit, f&uuml;r die Freiheit zu k&auml;mpfen oder wenigstens so weit wie m&ouml;glich an ihren karthagischen Beherrschern oder an Syrakus Rache zu nehmen. Die R&ouml;mer <A NAME="S44"><B>&lt;44&gt;</A></B> unterwarfen schlie&szlig;lich die Karthager und Syrakuser und verkauften so viele wie m&ouml;glich von ihnen in die Sklaverei. Bei einer Gelegenheit wurden 30.000 Einwohner von Panormos, dem heutigen Palermo, auf diese Weise verkauft. Die R&ouml;mer lie&szlig;en Sizilien von zahllosen Sklaventrupps bearbeiten, um die armen Proletarier der Ewigen Stadt mit sizilianischem Weizen zu speisen. Zu diesem Zweck versklavten sie nicht nur die Einwohner der Insel, sondern f&uuml;hrten Sklaven aus ihren anderen Gebieten ein. Die schrecklichen Grausamkeiten von r&ouml;mischen Prokonsuln, Pr&auml;toren und Pr&auml;fekten sind jedem bekannt, der irgendwie mit der Geschichte Roms oder der Redekunst Ciceros vertraut ist. Wohl nirgend anders hielt die r&ouml;mische Grausamkeit derartige Saturnalien ab. Wenn die armen Stadtb&uuml;rger und freien Bauern den erdr&uuml;ckenden Tribut, den man von ihnen erpre&szlig;te, nicht zahlen konnten, wurden sie oder ihre Kinder von den Steuereinnehmern erbarmungslos in die Sklaverei verkauft. </P>
<P>Aber sowohl unter dem Syrakuser Dionysios als auch unter der r&ouml;mischen Herrschaft brachen die schrecklichsten Sklavenaufst&auml;nde in Sizilien aus, in denen die einheimische Bev&ouml;lkerung und die importierten Sklaven h&auml;ufig gemeinsame Sache machten. W&auml;hrend des Verfalls des R&ouml;mischen Reiches wurde Sizilien von verschiedenen Eindringlingen heimgesucht. Dann beherrschten die Mauren es eine Zeitlang; doch die Sizilianer, und vor allem die eingeborene Bev&ouml;lkerung im Innern der Insel, leisteten mit mehr oder weniger Erfolg st&auml;ndig Widerstand und behaupteten oder errangen Schritt f&uuml;r Schritt verschiedene kleine Rechte. Das Morgengrauen hatte kaum begonnen, die Dunkelheit des Mittelalters zu verdr&auml;ngen, als die Sizilianer bereits hervortraten, nicht nur mit verschiedenen munizipalen Freiheiten versehen, sondern auch mit ersten Anf&auml;ngen einer konstitutionellen Regierung, wie sie zu jener Zeit nirgends sonst existierte. Durch Abstimmung regelten die Sizilianer fr&uuml;her als jede andere Nation Europas die Eink&uuml;nfte ihrer Regierungen und Herrscher. So hat sich die sizilianische Erde Unterdr&uuml;ckern und Eindringlingen immer als todbringend erwiesen, und die Sizilianische Vesper ist unsterblich in die Geschichte eingegangen. Als das Haus Aragon die Sizilianer in Abh&auml;ngigkeit von Spanien brachte, verstanden es diese, ihre politischen Freiheiten mehr oder weniger unversehrt zu erhalten, und das gleiche taten sie unter den Habsburgern und den Bourbonen. Als die Franz&ouml;sische Revolution und Napoleon die tyrannische Herrscherfamilie aus Neapel verjagten, nahmen die Sizilianer, von englischen Versprechungen und Garantien angestachelt und verf&uuml;hrt, die Fl&uuml;chtlinge auf und verteidigten sie mit Gut und Blut in ihren K&auml;mpfen gegen Napoleon. Jedermann kennt den sp&auml;- <A NAME="S45"><B>&lt;45&gt;</A></B> teren Verrat der Bourbonen und Englands Ausfl&uuml;chte und unversch&auml;mte Verleugnungen, mit denen es zu bem&auml;nteln versuchte und noch immer versucht, da&szlig; es die Sizilianer und deren Freiheiten wortbr&uuml;chig der milden Gnade der Bourbonen ausgeliefert hat. </P>
<P>Gegenw&auml;rtig lastet der politische, administrative und fiskalische Druck auf allen Klassen des Volkes, und diese Mi&szlig;st&auml;nde stehen daher im Vordergrund. Aber fast der ganze Boden ist noch in den H&auml;nden von verh&auml;ltnism&auml;&szlig;ig wenigen Gro&szlig;grundbesitzern oder Baronen. Die mittelalterlichen Grundbesitzrechte bestehen in Sizilien noch, mit der Ausnahme, da&szlig; der Bauer kein Leibeigener mehr ist; er ist es ungef&auml;hr seit dem 11 . Jahrhundert nicht mehr, als er ein freier P&auml;chter wurde. Im allgemeinen sind jedoch die Bedingungen seiner Pacht so dr&uuml;ckend, da&szlig; die ungeheure Mehrheit der Bauern ausschlie&szlig;lich zum Nutzen des Steuereinnehmers und des Barons arbeitet, kaum etwas mehr anbaut als f&uuml;r die Bezahlung der Steuern und der Pacht notwendig ist und selbst &auml;u&szlig;erst oder doch verh&auml;ltnism&auml;&szlig;ig arm bleibt. W&auml;hrend sie den ber&uuml;hmten sizilianischen Weizen und k&ouml;stliche Fr&uuml;chte anbaut, lebt sie selbst das ganze Jahr hindurch k&auml;rglich von Bohnen. </P>
<P>Sizilien blutet nun erneut, und England sieht diesen neuerlichen Saturnalien des niedertr&auml;chtigen Bourbonen und seiner nicht weniger niedertr&auml;chtigen G&uuml;nstlinge, ob weltliche oder geistliche, ob Jesuiten oder Gardeoffiziere, ruhig zu. Die l&auml;rmenden Deklamatoren des britischen Parlaments zerrei&szlig;en die Luft mit ihrem leeren Geschw&auml;tz &uuml;ber Savoyen und die Gefahr f&uuml;r die Schweiz; &uuml;ber die Massaker in den sizilianischen St&auml;dten jedoch haben sie kein Wort zu sagen. Keine Stimme erhebt den Emp&ouml;rungsschrei &uuml;ber ganz Europa. Kein Herrscher und kein Parlament erkl&auml;rt den blutr&uuml;nstigen Idioten von Neapel &lt;Franz II.&gt; in die Acht. Louis-Napoleon allein mag vielleicht in dieser oder jener Absicht, nat&uuml;rlich nicht etwa aus Freiheitsliebe, sondern um der Vergr&ouml;&szlig;erung der Macht seiner Familie oder des franz&ouml;sischen Einflusses willen, dem Schl&auml;chter in seinem Vernichtungswerk Einhalt gebieten. England wird &uuml;ber Treubruch heulen, wird Gift und Galle speien &uuml;ber napoleonischen Verrat und Ehrgeiz; doch die Neapolitaner und die Sizilianer m&uuml;ssen schlie&szlig;lich selbst unter einem Murat oder einem anderen neuen Herrscher die Gewinner sein. Jede Ver&auml;nderung mu&szlig; zur Besserung f&uuml;hren. </P>
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