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2022-08-25 20:29:11 +02:00

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<TITLE>Rosa Luxemburg - Die Akkumulation des Kapitals, 18. Kapitel</TITLE>
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<P ALIGN="CENTER"><A HREF="lu05_209.htm"><FONT SIZE=2>17. Kapitel</FONT></A><FONT SIZE=1> | </FONT><A HREF="lu05_005.htm"><FONT SIZE=2>Inhalt</FONT></A><FONT SIZE=2> | </FONT><A HREF="lu05_231.htm"><FONT SIZE=2>19. Kapitel</FONT></A></P>
<FONT SIZE=2><P>Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut f&uuml;r Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 5. Berlin/DDR. 1975. "Die Akkumulation des Kapitals", S. 225-231.</P>
<P>1. Korrektur.<BR>
Erstellt am 20.10.1998</P>
<HR>
</FONT><FONT SIZE=5><P ALIGN="CENTER">Dritter Waffengang</P>
<I><P ALIGN="CENTER">Struve - Bulgakow - Tugan-Baranowski<BR>
gegen Woronzow - Nikolai-on</P>
</I><P ALIGN="CENTER">Achtzehntes Kapitel</P>
<I><P ALIGN="CENTER">Das Problem in neuer Auflage</P>
</I></FONT><B><P><A NAME="S225">&lt;225&gt;</A></B> In einem ganz anderen historischen Rahmen als die beiden ersten spielte sich die dritte Kontroverse um die Frage der kapitalistischen Akkumulation ab. Diesmal war die Zeit der Handlung der Anfang der 80er Jahre <A NAME="S226"><B>&lt;226&gt;</A></B> bis um die Mitte der 90er und ihr Schauplatz Ru&szlig;land. Die kapitalistische Entwicklung hatte bereits in Westeuropa ihren Reifegrad erreicht. Die einstige rosige Auffassung der Klassiker Smith-Ricardo mitten in der in Knospen stehenden b&uuml;rgerlichen Gesellschaft war l&auml;ngst zerronnen. Auch der interessierte Optimismus der vulg&auml;r-manchesterlichen Harmonielehre war unter dem niederschmetternden Eindruck des Weltkrachs der 70er Jahre sowie unter den wuchtigen Schl&auml;gen des seit den 60er Jahren in allen kapitalistischen L&auml;ndern entbrannten heftigen Klassenkampfes verstummt. Selbst von den sozialreformerisch geflickten Harmonien, die sich namentlich in Deutschland noch Anfang der 80er Jahre breitgemacht hatten, war sehr bald nur der Katzenjammer geblieben, die 12j&auml;hrige Pr&uuml;fungszeit des Ausnahmegesetzes gegen die Sozialdemokratie hatte eine grausame Ern&uuml;chterung gebracht, alle Harmonieschleier endg&uuml;ltig zerrissen und die nackte Wirklichkeit der kapitalistischen Gegens&auml;tze in ihrer ganzen Schroffheit enth&uuml;llt. Optimismus war seitdem nur noch im Lager der aufstrebenden Arbeiterklasse und ihrer theoretischen Wortf&uuml;hrer m&ouml;glich. Ein Optimismus freilich nicht in bezug auf das nat&uuml;rliche oder k&uuml;nstlich hergestellte innere Gleichgewicht der kapitalistischen Wirtschaft und ihre ewige Dauer, sondern in dem Sinne, da&szlig; die von ihr m&auml;chtig gef&ouml;rderte Entfaltung der Produktivkr&auml;fte gerade durch ihre inneren Widerspr&uuml;che einen ausgezeichneten historischen Boden f&uuml;r die fortschrittliche Entwicklung der Gesellschaft zu neuen &ouml;konomischen und sozialen Formen biete. Die negative, herabdr&uuml;ckende Tendenz der ersten Periode des Kapitalismus, die einst Sismondi allein vor den Augen hatte und die noch Rodbertus in den 40er und 50er Jahren sah, war jetzt aufgewogen durch die emporhebende Tendenz: das hoffnungsvolle und siegreiche Aufstreben der Arbeiterklasse in ihrer gewerkschaftlichen und politischen Aktion.</P>
<P>So war das Milieu in Westeuropa beschaffen. Anders sah es freilich um <A NAME="S227"><B>&lt;227&gt;</A></B> dieselbe Zeit in Ru&szlig;land aus. Hier stellen die siebziger und achtziger Jahre in jeder Hinsicht eine &Uuml;bergangszeit, eine Periode der inneren Krise mit all ihren Qualen dar. Die Gro&szlig;industrie feierte erst eigentlich ihren Einzug unter der Einwirkung der hochschutzz&ouml;llnerischen Periode. In der nun einsetzenden forcierten F&ouml;rderung des Kapitalismus durch die absolutistische Regierung bildete namentlich die Einf&uuml;hrung des Goldzolls an der westlichen Grenze im Jahre 1877 einen Markstein. Die "primitive Akkumulation" des Kapitals gedieh in Ru&szlig;land unter der Beg&uuml;nstigung allerlei staatlicher Subsidien, Garantien, Pr&auml;mien und Staatsbestellungen herrlich und erntete Profite, die im Westen um jene Zeit bereits ins Reich der Fabel geh&ouml;rten. Die inneren Zust&auml;nde Ru&szlig;lands boten dabei ein nichts weniger als anziehendes und hoffnungsvolles Bild dar. Auf dem platten Lande zeitigte der Niedergang und die Zersetzung der b&auml;uerlichen Wirtschaft unter dem Druck der fiskalischen Auspowerung und der Geldwirtschaft grauenvolle Zust&auml;nde, periodische Hungersn&ouml;te und periodische Bauernunruhen. Andererseits war das Fabrikproletariat in den St&auml;dten sozial und geistig noch nicht zu einer modernen Arbeiterklasse konsolidiert. Namentlich in dem gr&ouml;&szlig;ten industriellen Zentralbezirk Moskau-Wladimir, dem wichtigsten Sitz der russischen Textilindustrie, war es noch zum gro&szlig;en Teil mit der Landwirtschaft verwachsen und halb b&auml;uerisch. Dementsprechend primitive Formen der Ausbeutung riefen primitive &Auml;u&szlig;erungen der Abwehr auf den Plan. Anfangs der 80er Jahre sollten erst die spontanen Fabriktumulte im Moskauer Bezirk, bei denen Maschinen zertr&uuml;mmert wurden, den Ansto&szlig; zu den ersten Grundlagen einer Fabrikgesetzgebung im Zarenreiche geben.</P>
<P>Wies so die wirtschaftliche Seite des &ouml;ffentlichen Lebens in Ru&szlig;land auf jedem Schritt schreiende Dissonanzen einer &Uuml;bergangsperiode auf, so entsprach ihr auch eine Krise im geistigen Leben Der "volkst&uuml;mlerische", bodenst&auml;ndige russische Sozialismus, der theoretisch auf den Eigent&uuml;m- <A NAME="S228"><B>&lt;228&gt;</A></B> lichkeiten der russischen Agrarverfassung basierte, war nach dem Fiasko seines &auml;u&szlig;ersten revolution&auml;ren Ausdrucks: der terroristischen Partei der "Narodnaja Wolja", politisch bankrott. Andererseits waren die ersten Schriften Georg Plechanows, die den marxistischen Gedankeng&auml;ngen in Ru&szlig;land Eingang verschaffen sollten, erst 1883 und 1885 erschienen und etwa f&uuml;r ein Jahrzehnt noch von scheinbar geringem Einflu&szlig; geblieben. W&auml;hrend der 80er Jahre und bis in die 90er Jahre hinein war das geistige Leben der russischen Intelligenz, namentlich der oppositionell gesinnten, sozialistischen Intelligenz, von einem seltsamen Gemisch "bodenst&auml;ndiger" &Uuml;berbleibsel der Volkst&uuml;melei mit aufgegriffenen Elementen der Marxschen Theorie beherrscht, ein Gemisch, dessen hervorstechenden Zug die Skepsis in bezug auf die Entwicklungsm&ouml;glichkeiten des Kapitalismus in Ru&szlig;land bildete.</P>
<P>Die Frage, ob Ru&szlig;land die kapitalistische Entwicklung nach dem Beispiel des westlichen Europa durchmachen soll, besch&auml;ftigte sehr fr&uuml;h die russische Intelligenz. Diese sah auch in Westeuropa vorerst nur die Schattenseiten des Kapitalismus, seine zersetzende Wirkung auf die hergebrachten patriarchalischen Produktionsformen und auf den Wohlstand und die Sicherheit der Existenz breiter Volksmassen. Andererseits erschien das russische b&auml;uerliche Gemeineigentum an Grund und Boden, die ber&uuml;hmte "Obschtschina", als ein m&ouml;glicher Ausgangspunkt f&uuml;r eine h&ouml;here soziale Entwicklung in Ru&szlig;land, das unter Umgehung des kapitalistischen Stadiums mit seinen Leiden auf einem k&uuml;rzeren und weniger qualvollen Wege als die westeurop&auml;ischen L&auml;nder in das gelobte Land des Sozialismus gelangen w&uuml;rde. Sollte man nun diese gl&uuml;ckliche Ausnahmelage, diese einzigartige geschichtliche Gelegenheit verscherzen, indem man durch eine forcierte Verpflanzung der kapitalistischen Produktion nach Ru&szlig;land unter staatlicher Beihilfe die b&auml;uerlichen Besitz- und Produktionsformen vernichtete, der Proletarisierung, dem Elend und der Unsicherheit der Existenz der arbeitenden Massen T&uuml;r und Tor &ouml;ffnete?</P>
<P>Dieses Grundproblem beherrschte das geistige Leben der russischen Intelligenz seit der Bauernreform, ja schon fr&uuml;her, seit Herzen und nament- <A NAME="S229"><B>&lt;229&gt;</A></B> lich seit Tschernyschewski, es bildete die Zentralachse, um die sich eine ganze eigenartige Weltanschauung, die "volkst&uuml;mlerische", geformt hatte. Diese Geistesrichtung, die in verschiedenen Abarten und Tendenzen spielte - von den deutlich reaktion&auml;ren Lehren des Slavophilismus bis zur revolution&auml;ren Theorie der terroristischen Partei -, hat in Ru&szlig;land eine enorme Literatur geschaffen. Einerseits f&ouml;rderte sie ein reiches Material in Einzeluntersuchungen &uuml;ber die Wirtschaftsformen des russischen Lebens zutage, namentlich &uuml;ber die "Volksproduktion" und ihre eigent&uuml;mlichen Formen, &uuml;ber die Landwirtschaft der Bauerngemeinde, die b&auml;uerliche Hausindustrie, den "Artel", sowie auch &uuml;ber das geistige Leben des Bauerntums, das Sektenwesen und dergleichen. Andererseits kam eine eigenartige Belletristik als k&uuml;nstlerischer Reflex der widerspruchsvollen sozialen Verh&auml;ltnisse auf, in denen Altes mit Neuem rang und auf Schritt und Tritt mit schwierigen Problemen auf den Geist einst&uuml;rmte. Endlich entspro&szlig; derselben Wurzel in den 70er und 80er Jahren eine originelle hausbackene Geschichtsphilosophie, die "subjektive Methode in der Soziologie" die den "kritischen Gedanken" zum ausschlaggebenden Faktor der gesellschaftlichen Entwicklung oder genauer: die deklassierte Intelligenz zum Tr&auml;ger des historischen Fortschritts machen wollte und die in Peter Lawrow, Nikolai Michailowski, Professor Karejew, W. Woronzow ihre Wortf&uuml;hrer fand.</P>
<P>Von diesem ganzen umfangreichen und weitverzweigten Gebiete der "volkst&uuml;mlerischen" Literatur interessiert uns hier lediglich eine Seite: der Meinungskampf um die Aussichten der kapitalistischen Entwicklung in Ru&szlig;land, und auch dieser nur insofern, als er sich auf allgemeine Erw&auml;gungen &uuml;ber die gesellschaftlichen Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise st&uuml;tzte. Denn auch diese Erw&auml;gungen sollten in der russischen Streitliteratur der 80er und 90er Jahre eine gro&szlig;e Rolle spielen.</P>
<P>Um den russischen Kapitalismus und seine Aussichten handelte es sich zun&auml;chst, die daraus entstandene Debatte griff jedoch naturgem&auml;&szlig; auf die allgemeinen Probleme der Entwicklung des Kapitalismus &uuml;ber, wobei das Beispiel und die Erfahrungen des Westens die hervorragendste Rolle als Beweismaterial spielten.</P>
<P>F&uuml;r den theoretischen Inhalt der nun folgenden Diskussion war eine <A NAME="S230"><B>&lt;230&gt;</A></B> Tatsache von entscheidender Bedeutung: Nicht blo&szlig; war die Marxsche Analyse der kapitalistischen Produktion, wie sie im ersten Band des "Kapitals" niedergelegt ist, bereits Gemeingut des gebildeten Ru&szlig;lands, sondern auch der zweite Band mit der Analyse der Reproduktion des Gesamtkapitals war schon 1885 erschienen. Das gab der Diskussion ein wesentlich anderes Gepr&auml;ge. Das Problem der Krisen verstellte nun nicht mehr wie in den fr&uuml;heren F&auml;llen den eigentlichen Kern der Er&ouml;rterungen. Zum erstenmal war die Frage der Reproduktion des Gesamtkapitals, der Akkumulation, in reiner Gestalt in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung ger&uuml;ckt. Auch verlor sich die Analyse nicht mehr im hilflosen Herumtappen um die Begriffe Einkommen und Kapital, Einzelkapital und Gesamtkapital. Man stand nunmehr auf dem festen Ger&uuml;st des Marxschen Schemas der gesellschaftlichen Reproduktion. Und endlich handelt es sich diesmal &uuml;berhaupt nicht mehr um eine Auseinandersetzung zwischen Manchestertum und Sozialreform, sondern zwischen zwei Spielarten des Sozialismus. Die Skepsis in bezug auf die M&ouml;glichkeit der kapitalistischen Entwicklung wird im Geiste Sismondis und zum Teil Rodbertus' von der kleinb&uuml;rgerlichen "volkst&uuml;mlerisch"-konfusen Spielart des russischen Sozialismus vertreten, die sich aber selbst vielfach auf Marx beruft, der Optimismus - von der marxistischen Schule in Ru&szlig;land. Es war somit ein v&ouml;lliger Wechsel der Szenerie eingetreten.</P>
<P>Von den zwei Hauptwortf&uuml;hrern der "volkst&uuml;mlerischen" Richtung war der eine, Woronzow, bekannt in Ru&szlig;land haupts&auml;chlich unter seinem schriftstellerischen Pseudonym "W. W" (seinen Initialen), ein wunderlicher Heiliger, der in der National&ouml;konomie v&ouml;llig konfus und als Theoretiker &uuml;berhaupt nicht ernst zu nehmen war. Der andere dagegen, Nikolai-on (Danielson), ein Mann von umfassender Bildung und gr&uuml;ndlicher Kenner des Marxismus, Herausgeber der russischen &Uuml;bersetzung des ersten Bandes des "Kapitals", pers&ouml;nlicher Freund von Marx und Engels, mit beiden in einem regen Briefwechsel (der 1908 in russischer Sprache im Druck erschienen ist). Namentlich Woronzow hatte jedoch in den 80er Jahren einen gro&szlig;en Einflu&szlig; auf die &ouml;ffentliche Meinung der russischen Intelligenz ausge&uuml;bt, und gegen ihn mu&szlig;te der Marxismus in Ru&szlig;land in erster Linie den Kampf ausfechten. In der uns interessierenden Frage der allgemeinen Entwicklungsm&ouml;glichkeiten des Kapitalismus erstand den beiden genannten Vertretern der Skepsis in den 90er Jahren eine ganze Reihe von Widersachern, eine neue Generation russischer Marxisten, die, ausger&uuml;stet mit der historischen Erfahrung und dem Wissen Westeuropas, neben Georg Plechanow in die Schranken traten: Professor Kablukow, <B>&lt;231&gt;</B> Professor Manuilow, Professor Issajew, Professor Skworzow, Wlad. Iljin, Peter v. Struve, Bulgakow, Professor Tugan-Baranowski u.a. Wir werden uns im weiteren haupts&auml;chlich auf die drei letzten beschr&auml;nken, da jeder von ihnen eine mehr oder minder abgeschlossene Kritik jener Theorie auf dem uns hier angebenden Gebiete geliefert hat. Dieses zum Teil gl&auml;nzende Turnier, das in den 90er Jahren die sozialistische Intelligenz in Ru&szlig;land in Atem hielt und mit einem unbestrittenen Triumph der Marxschen Schule schlo&szlig;, hat offiziell den Einzug des Marxismus als historisch-&ouml;konomischer Theorie in die Wissenschaft Ru&szlig;lands inauguriert. Der "legale" Marxismus nahm damals vom Katheder, von den Revuen und vom &ouml;konomischen B&uuml;chermarkt Ru&szlig;lands &ouml;ffentlich Besitz - mit allen Schattenseiten dieser Lage. Von jener Plejade der marxistischen Optimisten ist zehn Jahre sp&auml;ter, als die Entwicklungsm&ouml;glichkeiten des russischen Kapitalismus ihre optimistische Kehrseite in der revolution&auml;ren Erhebung des Proletariats stra&szlig;enkundig machten - mit einer Ausnahme -, kein einziger im Lager des Proletariats zu finden gewesen.</P></BODY>
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