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2022-08-25 20:29:11 +02:00

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<TITLE>August Bebel - Die Frau und der Sozialismus - 16. Kapitel</TITLE>
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<P ALIGN="CENTER"><A HREF="beaa_310.htm"><FONT SIZE=2>15. Kapitel</FONT></A><FONT SIZE=2> | </FONT><A HREF="beaa_000.htm"><FONT SIZE=2>Inhalt</FONT></A><FONT SIZE=2> | </FONT><A HREF="beaa_360.htm"><FONT SIZE=2>17. Kapitel</FONT></A></P>
<FONT SIZE=2><P>August Bebel - "Die Frau und der Sozialismus" - 62. Auflage, Berlin/DDR, 1973, S. 347-359.</P>
<P>1. Korrektur.<BR>
Erstellt am 31.1.1999.</P>
</FONT><I><FONT SIZE=4><P ALIGN="CENTER"> Dritter Abschnitt<BR>
</I></FONT><FONT SIZE=5>Staat und Gesellschaft</P>
</FONT><I><P ALIGN="CENTER">Sechzehntes Kapitel<FONT SIZE=4> <BR>
</I>Der Klassenstaat und das moderne Proletariat </P>
</FONT><I><P ALIGN="CENTER">1. Unser &ouml;ffentliches Leben</P>
</I><B><P><A NAME="S347">|347|</A></B> Die Entwicklung der Gesellschaft hat in den letzten Jahrzehnten in allen Kulturstaaten der Welt ein ungemein rasches Tempo genommen, das jeden Fortschritt auf irgendeinem Gebiet menschlicher T&auml;tigkeit weiter beschleunigt. Unsere sozialen Verh&auml;ltnisse sind dadurch in einen fr&uuml;her nie gekannten Zustand der Unruhe, der G&auml;rung und Aufl&ouml;sung versetzt worden. </P>
<P>Die herrschenden Klassen f&uuml;hlen keinen festen Boden mehr unter ihren F&uuml;&szlig;en, und die Institutionen verlieren immer mehr die Festigkeit, um dem von allen Seiten heranziehenden Ansturm zu trotzen. Ein Gef&uuml;hl der Unbehaglichkeit, der Unsicherheit und der Unzufriedenheit hat sich aller Kreise bem&auml;chtigt, der h&ouml;chsten wie der niedersten. Die krampfhaften Anstrengungen, welche die herrschenden Klassen machen, um durch Flickwerk und St&uuml;ckwerk am sozialen K&ouml;rper diesem ihnen unertr&auml;glichen Zustand ein Ende zu machen, erweisen sich als eitel, weil als unzureichend. Die daraus erwachsende steigende Unsicherheit vermehrt ihre Unruhe und ihr Unbehagen. Kaum haben sie in das bauf&auml;llige Haus in Gestalt irgendeines Gesetzes einen Balken eingezogen, so entdecken sie, da&szlig; an zehn anderen Punkten ein solcher noch n&ouml;tiger w&auml;re. Dabei befinden sie sich selbst untereinander best&auml;ndig im Streit und in schweren Meinungsdifferenzen. Was der einen Partei notwendig d&uuml;nkt, um die immer unzufriedener werdenden Massen einigerma&szlig;en zu beruhigen und zu vers&ouml;hnen, geht der anderen zu weit, das betrachtet sie als unverantwortliche Schw&auml;che und Nachgiebigkeit, die nur das Gel&uuml;ste nach gr&ouml;&szlig;eren Konzessionen erwecke. Daf&uuml;r sprechen in schlagender Weise die endlosen Verhandlungen in allen Parlamenten, durch die immer neue Gesetze und Einrichtungen geschaffen werden, ohne da&szlig; man zur Ruhe und Befriedigung kommt. Innerhalb der herrschenden Klassen selbst sind Gegen- <A NAME="S348"><B>|348|</A></B> s&auml;tze vorhanden, die zum Teil un&uuml;berbr&uuml;ckbar sind, und diese versch&auml;rfen noch die sozialen K&auml;mpfe. </P>
<P>Die Regierungen - und zwar nicht nur in Deutschland - schwanken wie ein Rohr im Winde; st&uuml;tzen m&uuml;ssen sie sich, denn ohne St&uuml;tze k&ouml;nnen sie nicht existieren, und so lehnen sie sich bald auf diese, bald auf jene Seite. Fast in keinem vorgeschrittenen Staate Europas besitzt eine Regierung eine dauernde parlamentarische Mehrheit, auf die sie mit Sicherheit rechnen kann. Die sozialen Gegens&auml;tze bringen die Majorit&auml;ten in Zerfall und Aufl&ouml;sung; und der ewig wechselnde Kurs, insbesondere in Deutschland, untergr&auml;bt den letzten Rest von Vertrauen, der den herrschenden Klassen zu sich selbst noch geblieben ist. Heute ist die eine Partei Ambo&szlig;, die andere Hammer, morgen umgekehrt. Die eine rei&szlig;t ein, was die andere erst m&uuml;hselig aufgebaut hat. Die Verwirrung wird immer gr&ouml;&szlig;er, die Unzufriedenheit immer nachhaltiger, die Friktionen h&auml;ufen und mehren sich und ruinieren in Monaten mehr Kr&auml;fte als fr&uuml;her in ebensoviel Jahren. Daneben steigen die materiellen Anforderungen in Form der verschiedenen Abgaben und Steuern und wachsen die &ouml;ffentlichen Schulden ins Ma&szlig;lose. </P>
<P>Nach seiner Natur und seinem Wesen ist der Staat ein Klassenstaat. Wir sahen, wie derselbe notwendig wurde, um das entstandene Privateigentum zu sch&uuml;tzen und die Beziehungen der Eigent&uuml;mer unter sich und zu den Nichteigent&uuml;mern durch staatliche Einrichtungen und Gesetze zu ordnen. Welche Formen immer im Laufe der geschichtlichen Entwicklung die Eigentumsaneignung annimmt, es liegt in der Natur des Eigentums, da&szlig; die gr&ouml;&szlig;ten Eigent&uuml;mer die m&auml;chtigsten Personen im Staate sind und denselben nach ihren Interessen gestalten. Es liegt aber auch im Wesen des Privateigentums, da&szlig; der einzelne nie genug von demselben erhalten kann und mit allen Mitteln auf seine Vermehrung bedacht ist. Er ist also bem&uuml;ht, den Staat so zu gestalten, da&szlig; er mit Hilfe desselben seine Absicht in m&ouml;glichst vollkommenem Ma&szlig;e erreichen kann. So werden Gesetze und Einrichtungen des Staates sozusagen von selbst Klassengesetze und Klasseneinrichtungen. Aber die Staatsgewalt und alle, die an der Aufrechterhaltung der bestehenden staatlichen Ordnung interessiert sind, w&auml;ren nicht imstande, dieselbe auf die Dauer gegen die Masse derer, die kein Interesse an derselben haben, aufrechtzuerhalten, wenn diese Masse zur Erkenntnis der wahren Natur dieser bestehenden Ordnung gelangte. Das mu&szlig; also um jeden Preis verh&uuml;tet werden.</P>
<B><P><A NAME="S349">|349|</A></B> Zu diesem Zwecke mu&szlig; die Masse in m&ouml;glichster Unwissenheit &uuml;ber die Natur der bestehenden Zust&auml;nde erhalten werden. Nicht genug damit. Man mu&szlig; sie lehren, da&szlig; die bestehende Ordnung ewig war und ewig bleiben werde, da&szlig; sie beseitigen wollen bedeute, gegen eine von Gott selbst eingesetzte Ordnung sich aufzulehnen, weshalb die Religion in den Dienst dieser Ordnung genommen wird. Je unwissender und abergl&auml;ubischer die Massen sind, um so vorteilhafter; sie darin zu erhalten liegt also im Staats-, im "&ouml;ffentlichen Interesse", das hei&szlig;t im Interesse der Klassen, die in dem bestehenden Staate die Schutzanstalt f&uuml;r ihre Klasseninteressen sehen. Das ist neben den Eigent&uuml;mern die staatliche und kirchliche Hierarchie, die alle zusammen zu gemeinsamer Arbeit f&uuml;r den Schutz ihrer Interessen sich verbinden. </P>
<P>Aber mit dem Streben nach Erwerb von Eigentum und der Mehrung der Eigent&uuml;mer hebt sich die Kultur. Es wird der Kreis der Strebenden gr&ouml;&szlig;er, die an den gewonnenen Fortschritten teilnehmen wollen und denen dieses auch bis zu einem gewissen Grade gelingt. Es entsteht auf neuer Basis eine neue Klasse, die aber von der herrschenden Klasse nicht als gleichberechtigt und vollwertig anerkannt wird, aber alles daransetzt, es zu werden. Schlie&szlig;lich entstehen neue Klassenk&auml;mpfe und sogar gewaltsame Revolutionen, durch welche die neue Klasse ihre Anerkennung als mitherrschende Klasse erzwingt, insbesondere dadurch, da&szlig; sie sich als Anwalt der gro&szlig;en Masse der Unterdr&uuml;ckten und Ausgebeuteten aufspielt und mit deren Hilfe den Sieg erringt.</P>
<P>Sobald aber die neue Klasse zur Mitmacht und Mitherrschaft gelangte, verb&uuml;ndet sie sich mit ihren ehemaligen Feinden gegen ihre ehemaligen Verb&uuml;ndeten, und nach einiger Zeit beginnen abermals die Klassenk&auml;mpfe. Indem aber die neue herrschende Klasse, die mittlerweile den Charakter ihrer Existenzbedingungen der ganzen Gesellschaft aufdr&uuml;ckte, ihre Macht und ihren Besitz nur dadurch ausdehnen kann, da&szlig; sie einen Teil ihrer Kulturerrungenschaften auch der von ihr unterdr&uuml;ckten und ausgebeuteten Klasse zukommen l&auml;&szlig;t, erh&ouml;ht sie deren Leistungsf&auml;higkeit und Einsicht. Damit liefert sie dieser aber selbst die Waffen zu ihrer eigenen Vernichtung. Der Kampf der Massen richtet sich nunmehr gegen alle Klassenherrschaft, in welcher Gestalt immer diese vorhanden ist. Da diese letzte Klasse das moderne Proletariat ist, so wird es die <A NAME="S350"><B>|350|</A></B> historische Mission desselben, nicht nur die eigene Befreiung, sondern auch die Befreiung aller anderen Unterdr&uuml;ckten, also auch der Frauen, herbeizuf&uuml;hren. </P>
<P>Die Natur des Klassenstaats bedingt jedoch nicht nur, da&szlig; die ausgebeuteten Klassen in m&ouml;glichster Rechtlosigkeit erhalten werden, sie bedingt auch, da&szlig; die Kosten und Lasten zur Erhaltung des Staates in erster Linie auf deren Schultern gelegt werden. Das ist um so leichter, wenn die Art der Lasten- und Kostenaufbringung unter Formen stattfindet, die ihren eigentlichen Charakter verschleiern. Es liegt auf der Hand, da&szlig; hohe direkte Steuern zur Deckung der &ouml;ffentlichen Ausgaben um so rebellischer wirken m&uuml;ssen, je niedriger das Einkommen ist, von dem sie erhoben werden. Es gebietet also die Klugheit den herrschenden Klassen, hier Ma&szlig; zu halten und an Stelle der direkten die indirekten, das hei&szlig;t Steuern und Abgaben auf die notwendigsten Verbrauchsartikel zu legen, weil hierdurch eine Verteilung der Lasten auf den t&auml;glichen Verbrauch stattfindet, die f&uuml;r die meisten unsichtbar im Preise der Waren zum Ausdruck kommen und sie &uuml;ber die Steuerquoten, die sie zahlen, t&auml;uschen. Wieviel Brot-, Salz-, Fleisch-, Zucker-, Kaffee-, Bier-, Petroleumsteuer oder Zoll usw. jemand zahlt, ist den meisten unbekannt und schwer zu berechnen; sie ahnen nicht, wie stark sie geschr&ouml;pft werden. Und diese Abgaben wachsen im Verh&auml;ltnis zur Kopfzahl ihrer Familienglieder, sie bilden also die ungerechteste Besteuerungsweise, die sich denken l&auml;&szlig;t. Umgekehrt prahlen die besitzenden Klassen mit den von ihnen gezahlten direkten Steuern und messen sich nach der H&ouml;he derselben die politischen Rechte zu, die sie der nichtsbesitzenden Masse verweigern. Dazu kommen die Staatshilfe und Staatsunterst&uuml;tzung, die sich die besitzenden Klassen durch Steuerpr&auml;mien und Z&ouml;lle auf alle m&ouml;glichen Lebensmittel sowie durch sonstige Beihilfen in H&ouml;he von vielen Hunderten Millionen j&auml;hrlich auf Kosten der Masse gew&auml;hren. Es kommen weiter hinzu die Riesenausbeutungen durch Preiserh&ouml;hungen auf die verschiedensten Bedarfsartikel, die die gro&szlig;kapitalistischen Unternehmerorganisationen durch Ringe, Trusts und Syndikate vornehmen und die der Staat durch seine Wirtschaftspolitik bef&ouml;rdert oder widerspruchslos duldet, wenn nicht sogar durch eigene Anteilnahme unterst&uuml;tzt. </P>
<P>Solange die ausgebeuteten Massen &uuml;ber die Natur aller dieser Ma&szlig;regeln im dunkeln gehalten werden k&ouml;nnen, bergen sie f&uuml;r Staat und herrschende Gesellschaft keine Gefahr. Sobald diese aber zur Kennt- <A NAME="S351"><B>|351|</A></B> nis der gesch&auml;digten Klassen kommen - und die steigende politische Bildung der Massen bef&auml;higt sie immer mehr dazu -, erregen diese Ma&szlig;regeln, deren schreiende Ungerechtigkeit auf der Hand liegt, die Erbitterung und Emp&ouml;rung der Massen. Der letzte Funke von Glauben an das Gerechtigkeitsgef&uuml;hl der herrschenden Gewalten wird zerst&ouml;rt, und die Natur des Staates, der solche Mittel anwendet, und das Wesen einer Gesellschaft, die sie f&ouml;rdert, wird erkannt. Der Kampf bis zu beider Vernichtung ist die Folge. </P>
<P>In dem Streben, den widerstreitendsten Interessen gerecht zu werden, h&auml;ufen Staat und Gesellschaft Organisationen auf Organisationen, aber keine alte wird gr&uuml;ndlich beseitigt und keine neue gr&uuml;ndlich durchgef&uuml;hrt. Man bewegt sich in Halbheiten, die nach keiner Seite befriedigen. Die aus dem Volksleben emporwachsenden Kulturbed&uuml;rfnisse erfordern, soll nicht alles aufs Spiel gesetzt werden, einige Ber&uuml;cksichtigung, sie erheischen auch in ihrer verst&uuml;mmelten Ausf&uuml;hrung bedeutende Opfer, um so bedeutendere, weil &uuml;berall eine Menge Parasiten vorhanden sind. Daneben bleiben aber alle mit den Kulturzwecken in Widerspruch stehenden Institutionen nicht nur aufrechterhalten, sie werden vielmehr infolge der bestehenden Klassengegens&auml;tze erweitert und werden um so l&auml;stiger und dr&uuml;ckender, wie die steigende Einsicht sie immer lauter f&uuml;r<I> &uuml;berfl&uuml;ssig</I> erkl&auml;rt. Polizeiwesen, Milit&auml;rwesen, Gerichtsorganisation, Gef&auml;ngnisse, der ganze Verwaltungsapparat werden immer ausgedehnter und kostspieliger, aber es w&auml;chst dadurch weder die &auml;u&szlig;ere noch die innere Sicherheit, vielmehr tritt das<I> Umgekehrte</I> ein. </P>
<P>Ein ganz unnat&uuml;rlicher Zustand hat sich allm&auml;hlich in den internationalen Beziehungen zwischen den einzelnen Nationen herausgebildet. Diese Beziehungen mehren sich in dem Ma&szlig;e, wie die Warenproduktion zunimmt, der Austausch der Warenmassen mit Hilfe stetig sich vervollkommnender Verkehrsmittel ein immer leichterer wird und die wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Errungenschaften Gemeingut aller V&ouml;lker werden. Man schlie&szlig;t Handels- und Zollvertr&auml;ge, baut mit Hilfe internationaler Mittel kostspielige Verkehrswege (Suezkanal, St.-Gotthard-Tunnel usw.). Die einzelnen Staaten unterst&uuml;tzen mit gro&szlig;en Summen Dampferlinien, die den Verkehr zwischen den verschiedensten L&auml;ndern der Erde steigern helfen. Man gr&uuml;ndete den Weltpostverein - ein Kulturfortschritt ersten Ranges -, beruft internationale Kongresse f&uuml;r alle m&ouml;glichen praktischen und wissen- <A NAME="S352"><B>|352|</A></B> schaftlichen Zwecke, verbreitet die vornehmsten Geisteserzeugnisse der einzelnen Nationen durch &Uuml;bersetzungen in die verschiedenen Sprachen der Hauptkulturv&ouml;lker und arbeitet durch das alles immer mehr auf die<I> Internationalisierung</I> und<I> Verbr&uuml;derung</I> der V&ouml;lker hin. Aber der politische und milit&auml;rische Zustand Europas und der Kulturwelt steht mit dieser Entwicklung in einem seltsamen Gegensatz. Nationalit&auml;tenha&szlig; und Chauvinismus werde h&uuml;ben und dr&uuml;ben k&uuml;nstlich gen&auml;hrt. Allerw&auml;rts suchen die herrschenden Klassen den Glauben zu erhalten, es seien die V&ouml;lker, die, eins dem anderen todfeindlich gesinnt, nur auf den Augenblick warten, da&szlig; eins &uuml;ber das andere herfallen k&ouml;nne, um .es zu vernichten. Der Konkurrenzkampf der Kapitalistenklasse der einzelnen L&auml;nder unter sich nimmt auf internationalem Gebiet den Charakter eines Kampfes der Kapitalistenklasse eines Landes gegen die des anderen an und ruft, unterst&uuml;tzt von der politischen Blindheit der Massen, einen Wettkampf der milit&auml;rischen R&uuml;stungen hervor, wie die Welt nie &auml;hnliches gesehen hat. Dieser Wettkampf schuf Armeen von einer Gr&ouml;&szlig;e, wie sie nie zuvor existierten, er schuf Mord- und Zerst&ouml;rungswerkzeuge von einer Vollkommenheit f&uuml;r den Land- und Seekrieg, wie sie nur in einem Zeitalter vorgeschrittenster Technik wie dem unseren m&ouml;glich sind. Dieser Wettkampf erzeugt eine Entwicklung der Zerst&ouml;rungsmittel, die schlie&szlig;lich zur Selbstzerst&ouml;rung f&uuml;hrt. Die Unterhaltung der Armeen und Marinen erfordert Opfer, die mit jedem Jahre gr&ouml;&szlig;er werden und zuletzt das reichste Volk zugrunde richten. Im Jahre 1908 zahlte Deutschland allein f&uuml;r sein Heer und seine Marine an regelm&auml;&szlig;igen und einmaligen Ausgaben - einschlie&szlig;lich der Ausgaben f&uuml;r Pensionen und die Verzinsung der Reichsschuld, soweit diese f&uuml;r kriegerische Zwecke gemacht wurde - erheblich &uuml;ber 1.500 Millionen Mark und diese Summe wird j&auml;hrlich gr&ouml;&szlig;er. Es betrugen nach Neymarck die Ausgaben der europ&auml;ischen Staaten f&uuml;r </P>
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<P></TD>
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<FONT SIZE=2><P ALIGN="CENTER">Millionen Franc</FONT></TD>
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<FONT SIZE=2><P>Heer und Marine</FONT></TD>
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<FONT SIZE=2><P>Staatsschulden</FONT></TD>
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<FONT SIZE=2><P>Zinsen</FONT></TD>
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<FONT SIZE=2><P ALIGN="RIGHT">3.000</FONT></TD>
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<FONT SIZE=2><P ALIGN="RIGHT">5.300</FONT></TD>
<TD WIDTH="17%" VALIGN="TOP">
<P ALIGN="RIGHT"><A NAME="ZF1"><A HREF="beaa_347.htm#F1"><FONT SIZE=2>(1)</FONT></A></A><FONT SIZE=2> 6.000</FONT></TD>
</TR>
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</CENTER></P>
<B><P><A NAME="S353">|353|</A></B> Somit zahlte Europa j&auml;hrlich 6.725 Millionen Franc (5.448 Millionen Mark) f&uuml;r Heer und Marine und 6.000 Millionen Franc (4.860 Millionen Mark) f&uuml;r die Verzinsung der Schulden, die doch meistens f&uuml;r kriegerische Zwecke gemacht wurden! Ein herrlicher Zustand in der Tat! </P>
<P>Dem Beispiel Europas folgen Amerika und Asien. Die Vereinigten Staaten verausgabten im Jahre 1875 386,8 und im Jahre 1907/08 1.436,9 Millionen Mark. In Japan betrugen die ordentlichen Ausgaben f&uuml;r Heer und Marine, einschlie&szlig;lich Pensionen, im Jahre 1875 20,5 und im Jahre 1908/09 220,4 Millionen Mark! </P>
<P>Unter diesen Ausgaben leiden die Bildungs- und Kulturzwecke aufs h&ouml;chste, es werden die dringendsten Kulturaufgaben vernachl&auml;ssigt, und es erlangen die Ausgaben f&uuml;r den &auml;u&szlig;eren Schutz ein &Uuml;bergewicht, da&szlig; selbst der Staatszweck untergraben wird. Die immer gr&ouml;&szlig;er werdenden Armeen umfassen den gesundesten und kr&auml;ftigsten Teil der Nationen, f&uuml;r ihre Entwicklung und Ausbildung werden alle geistigen und physischen Kr&auml;fte in einer Weise in Anspruch genommen, als sei die Ausbildung f&uuml;r den Massenmord die h&ouml;chste Aufgabe unserer Zeit. Dabei werden Kriegs- wie Mordwerkzeuge in einem fort verbessert, sie haben eine Vollkommenheit in bezug auf Schnelligkeit, Ferntragf&auml;higkeit und Durchschlagskraft erlangt, die sie f&uuml;r Freund und Feind furchtbar macht. Wird eines Tages dieser ungeheure Apparat in T&auml;tigkeit gesetzt - wobei die sich feindlich gegen&uuml;berstehenden M&auml;chte Europas mit 16 bis 20 Millionen M&auml;nnern ins Feld r&uuml;cken -, so wird sich zeigen,<I> da&szlig; er unregierbar und unlenkbar geworden ist</I>. Es gibt keinen General, der solche Massen kommandieren kann, kein Schlachtfeld, das gro&szlig; genug ist, um sie aufzustellen, und keinen Verwaltungsapparat, der auf die Dauer sie zu ern&auml;hren vermag. Im Falle von Schlachten fehlen die Hospit&auml;ler, um die Zahl der Verwundeten unterzubringen, und die Beerdigung der zahlreichen Toten wird fast zur Unm&ouml;glichkeit. </P>
<P>Nimmt man hinzu die furchtbaren St&ouml;rungen und Verw&uuml;stungen, die k&uuml;nftig ein europ&auml;ischer Krieg auf<I> wirtschaftlichem</I> Gebiet anrichtet, so darf man ohne &Uuml;bertreibung sagen:<I> Der n&auml;chste gro&szlig;e Krieg ist der letzte Krieg.</I> Die Zahl der Bankrotte wird eine nie dagewesene sein. Die Ausfuhr stockt, wodurch Tausende von Fabriken zum Stillstand kommen; die Lebensmittelzufuhr stockt, wodurch enorme Teuerung der Lebensmittel die Folge ist, und die Zahl der Fa- <A NAME="S354"><B>|354|</A></B> milien, deren Ern&auml;hrer im Felde steht und unterst&uuml;tzt werden m&uuml;ssen, bel&auml;uft sich auf Millionen. Woher aber die Mittel nehmen? So kostet zum Beispiel das Deutsche Reich die Haltung der Armee und der Flotte auf Kriegsfu&szlig; jeden Tag 45 bis 50 Millionen Mark. </P>
<P>Der politisch-milit&auml;rische Zustand Europas hat eine Entwicklung genommen, die leicht mit einer gro&szlig;en Katastrophe endigen kann, welche die b&uuml;rgerliche Gesellschaft in den Abgrund rei&szlig;t, Auf der H&ouml;he ihrer Entwicklung hat diese Gesellschaft Zust&auml;nde geschaffen, die ihre Existenz unhaltbar machen, sie bereitet sich den Untergang mit Mitteln, die sie selbst erst als die revolution&auml;rste aller bisher dagewesenen Gesellschaften schuf. </P>
<P>In eine verzweifelte Lage gelangt allm&auml;hlich ein gro&szlig;er Teil unserer Kommunen, die kaum noch wissen, wie sie die j&auml;hrlich sich steigernden Anspr&uuml;che befriedigen sollen. Namentlich sind es unsere rasch wachsenden Gro&szlig;st&auml;dte und die Industrieorte, an welche die beschleunigte Bev&ouml;lkerungszunahme eine Menge Anforderungen stellt, denen die in der Mehrzahl verm&ouml;genslosen Gemeinden nicht anders gerecht werden k&ouml;nnen als durch Auferlegung hoher Steuern und Aufnahme von Schulden. Schulen- und Stra&szlig;enbauten, Beleuchtungs-, Beschleusungs- und Wasseranlagen, Ausgaben f&uuml;r Gesundheits-, Wohlfahrts- und Bildungszwecke, f&uuml;r Polizei und Verwaltung steigern sich von Jahr zu Jahr. Daneben macht die gutsituierte Minorit&auml;t &uuml;berall die kostspieligsten Anspr&uuml;che an das Gemeinwesen. Sie verlangt h&ouml;here Bildungsanstalten, den Bau von Theatern und Museen, die Anlegung feiner Stadtviertel und Parks mit der entsprechenden Beleuchtung, Pflasterung usw. Mag die Majorit&auml;t der Bev&ouml;lkerung &uuml;ber diese Bevorzugung klagen, sie liegt in der Natur der Verh&auml;ltnisse. Die Minorit&auml;t hat die Macht, und sie gebraucht sie, um ihre Kulturbed&uuml;rfnisse m&ouml;glichst auf Kosten der Gesamtheit zu befriedigen. An sich l&auml;&szlig;t sich auch gegen diese gesteigerten Kulturbed&uuml;rfnisse nichts einwenden, denn sie sind ein Fortschritt, der Fehler ist nur, da&szlig; sie in der Hauptsache den besitzenden Klassen zugute kommen, w&auml;hrend alle daran teilnehmen sollten. Ein weiterer &Uuml;belstand ist, da&szlig; die Verwaltung &ouml;fter nicht die beste und kostspielig ist. Nicht selten sind auch die Beamten unzul&auml;nglich und haben f&uuml;r die vielseitigen, oft gro&szlig;es Sachverst&auml;ndnis voraussetzenden Erfordernisse keine gen&uuml;genden Kenntnisse. Die Gemeindeberater haben aber meist f&uuml;r ihre private Existenz so viel zu tun und zu sorgen, da&szlig; sie die geforderten Opfer f&uuml;r gr&uuml;nd- <A NAME="S355"><B>|355|</A></B> liche Aus&uuml;bung ihrer Pflichten nicht zu bringen verm&ouml;gen. &Ouml;fter werden auch diese Stellungen zur Beg&uuml;nstigung von Privatinteressen und zu schwerer Sch&auml;digung des Gemeinwesens benutzt. Die Folgen fallen auf die Steuerzahler. An eine gr&uuml;ndliche &Auml;nderung dieser Zust&auml;nde, die einigerma&szlig;en befriedigte, kann die Gesellschaft nicht denken. In welcher Form immer Steuern erhoben werden, die Unzufriedenheit steigt. In wenigen Jahrzehnten sind die meisten dieser Kommunen au&szlig;erstande, in der gegenw&auml;rtigen Form der Verwaltung und Beitragsaufbringung ihre Anspr&uuml;che noch zu befriedigen. Auf dem Gebiet der Kommune stellt sich wie im Staatsleben die Notwendigkeit zu Neugestaltungen von Grund aus heraus, denn an sie werden die gr&ouml;&szlig;ten Anforderungen f&uuml;r Kulturzwecke gestellt, sie bildet den Kern, von dem aus die gesellschaftliche Umgestaltung, sobald der Wille und die Macht dazu vorhanden sein werden, auszugehen hat. </P>
<P>Aber wie soll dem Gen&uuml;ge geschehen, wo gegenw&auml;rtig die Privatinteressen alles beherrschen und diesen die Gemeininteressen hintangesetzt werden? </P>
<P>Das ist, mit wenigen Worten, der Zustand in unserem &ouml;ffentlichen Leben, und dieser ist nur das Spiegelbild des sozialen Zustandes der Gesellschaft.<I> </P>
<P ALIGN="CENTER"><A NAME="Kap_16_2">2. Versch&auml;rfung der Klassengegens&auml;tze</A></P>
</I><P>In unserem sozialen Leben wird der Kampf um die Existenz immer schwieriger. Der Krieg aller gegen alle ist in heftigster Weise entbrannt und wird unbarmherzig, oft ohne Wahl der Mittel, gef&uuml;hrt. Der Satz "&Ocirc;te-toi de l&aacute;, que je m'y mette" (gehe weg da, damit ich mich hinsetze) wird mit kr&auml;ftigen Ellenbogenst&ouml;&szlig;en, mit P&uuml;ffen und Kniffen in der Praxis des Lebens verwirklicht. Der Schw&auml;chere mu&szlig; dem St&auml;rkeren weichen. Wo die materielle Kraft, die Macht des Geldes, des Besitzes nicht reicht, werden die raffiniertesten und nichtsw&uuml;rdigsten Mittel in Anwendung gebracht, um ans Ziel zu kommen. L&uuml;ge, Schwindel, Betrug, falsche Wechsel, falsche Eide, die schwersten Verbrechen werden begangen, um das ersehnte Ziel zu erreichen. Wie in diesem Kampfe einer dem anderen gegen&uuml;bertritt, so Klasse gegen Klasse, Geschlecht gegen Geschlecht, Alter gegen Alter. Der Nutzen ist der einzige Regulator f&uuml;r die menschlichen Beziehungen, jede andere R&uuml;cksicht mu&szlig; weichen. Tausende und aber Tausende von Ar- <A NAME="S356"><B>|356|</A></B> beitern und Arbeiterinnen werden, sobald der Vorteil es gebietet, aufs Pflaster geworfen und sind, nachdem sie das letzte, was sie besa&szlig;en, zusetzten, auf die &ouml;ffentliche Wohlt&auml;tigkeit und die Zwangswanderschaft angewiesen. Die Arbeiter reisen sozusagen in Herden von Ort zu Ort, die Kreuz und die Quere durch die Lande, und werden von der Gesellschaft mit um so gr&ouml;&szlig;erer Furcht und mit um so tieferem Abscheu betrachtet, als mit der Dauer ihrer Arbeitslosigkeit ihr &Auml;u&szlig;eres reduziert und in weiterer Folge auch ihr Inneres demoralisiert wird. Die honette Gesellschaft hat keine Ahnung, was das hei&szlig;t, monatelang sich die einfachsten Bed&uuml;rfnisse f&uuml;r Ordnung und Reinlichkeit versagen zu m&uuml;ssen, mit hungrigem Magen von Ort zu Ort zu wandern und meist nichts als schlecht verhehlten Abscheu und Verachtung gerade von denen zu ernten, welche die St&uuml;tzen dieses Systems sind. Die Familien dieser Armen leiden die gr&auml;&szlig;lichste Not und fallen der &ouml;ffentlichen. Armenpflege anheim. Nicht selten treibt die Verzweiflung die Eltern zu den schrecklichsten Verbrechen an sich und an den Kindern, zum Mord und Selbstmord. Namentlich mehren sich in Zeiten der Krise diese Verzweiflungsakte in erschreckendem Ma&szlig;e. Aber die herrschenden Klassen st&ouml;rt dieses nicht. In derselben Zeitungsnummer, die solche Taten der Not und Verzweiflung meldet, stehen die Berichte &uuml;ber rauschende Festlichkeiten und gl&auml;nzende offizielle Schaustellungen, als schw&auml;mme alles in Freude und &Uuml;berflu&szlig;. </P>
<P>Die allgemeine Not und der immer schwerer werdende Kampf um die Existenz jagen Frauen und M&auml;dchen immer zahlreicher der Prostitution und dem Verderben in die Arme. Demoralisation, Rohheit und Verbrechen h&auml;ufen sich, und was prosperiert, sind die Gef&auml;ngnisse, die Zuchth&auml;user und sogenannten Besserungsanstalten, welche die Masse der Insassen kaum zu fassen verm&ouml;gen. </P>
<P>Die Verbrechen stehen in engster Beziehung zu dem sozialen Zustand der Gesellschaft, was diese allerdings nicht wahrhaben will. Sie steckt wie der Vogel Strau&szlig; den Kopf in den Sand, um die sie anklagenden Zust&auml;nde nicht eingestehen zu m&uuml;ssen, und l&uuml;gt sich zur Selbstt&auml;uschung vor, daran sei nur die "Faulheit" und "Genu&szlig;sucht" der Arbeiter und ihr Mangel an "Religion" schuld. Das ist Selbstbetrug der schlimmsten oder Heuchelei der widrigsten Art. Je ung&uuml;nstiger der Zustand der Gesellschaft f&uuml;r die Mehrheit ist, um so zahlreicher und schwerer sind die Verbrechen. Der Kampf um das Dasein nimmt seine roheste und gewaltt&auml;tigste Gestalt an, er erzeugt einen Zustand, <A NAME="S357"><B>|357|</A></B> in dem der eine in dem anderen seinen Todfeind erblickt. Die gesellschaftlichen Bande lockern sich, und der Mensch steht als Feind dem Menschen gegen&uuml;ber.<A NAME="ZF2"><A HREF="beaa_347.htm#F2">(2)</A></A> </P>
<P>Die herrschenden Klassen, die den Dingen nicht auf den Grund sehen oder nicht sehen wollen, versuchen nach ihrer Art den &Uuml;beln zu begegnen. Nehmen Armut, Not und infolge davon Demoralisation und Verbrechen zu, so sucht man nicht nach der Quelle des &Uuml;bels, um diese zu verstopfen, sondern man bestraft die Produkte dieser Zust&auml;nde. Und je gr&ouml;&szlig;er die &Uuml;bel werden und die Zahl der &Uuml;belt&auml;ter sich vermehrt, um so h&auml;rtere Verfolgungen und Strafen meint man anwenden zu m&uuml;ssen. Man glaubt den Teufel mit Beelzebub austreiben zu k&ouml;nnen. Auch Professor Haeckel findet es in der Ordnung, da&szlig; man gegen Verbrechen mit m&ouml;glichst schweren Strafen vorgeht und namentlich die Todesstrafe nachdr&uuml;cklich anwendet.<A NAME="ZF3"><A HREF="beaa_347.htm#F3">(3)</A></A> Er ist darin mit den R&uuml;ckschrittlern aller Schattierungen in sch&ouml;nster &Uuml;bereinstimmung, die ihm sonst todfeindlich gesinnt sind. Haeckel meint, unverbesserliche Verbrecher und Taugenichtse m&uuml;&szlig;ten wie Unkraut ausgerottet werden, das den Pflanzen Licht, Luft und Bodenraum nimmt. H&auml;tte Haeckel sich auch mit dem Studium der Sozialwissenschaft befa&szlig;t, statt sich ausschlie&szlig;lich mit Naturwissenschaft zu besch&auml;ftigen, er w&uuml;rde wissen, da&szlig; diese Verbrecher in n&uuml;tzliche, brauchbare Glieder der menschlichen Gesellschaft umgewandelt werden k&ouml;nnten, falls ihnen die Gesellschaft entsprechende Existenzbedingungen bieten w&uuml;rde. Er w&uuml;rde finden, da&szlig; Vernichtung oder Unsch&auml;dlichmachung des einzelnen Verbrechers sowenig das Entstehen neuer Verbrechen verhindert, wie wenn man auf einem Acker zwar das Unkraut beseitigt, aber &uuml;bersieht, Wurzeln und Samen mit zu vernichten. Die Bildung sch&auml;dlicher Organismen absolut in der Natur zu verh&uuml;ten, wird <A NAME="S358"><B>|358|</A></B> dem Menschen nie m&ouml;glich sein, aber<I> seine eigene, durch ihn selbst geschaffene Gesellschaftsorganisation so zu verbessern, da&szlig; sie g&uuml;nstige Existenzbedingungen f&uuml;r alle schafft, gleiche Entwicklungsfreiheit jedem einzelnen gibt, damit er nicht mehr n&ouml;tig hat, seinen Hunger oder seinen Eigentumstrieb oder seinen Ehrgeiz auf Kosten anderer zu befriedigen, das ist m&ouml;glich</I>. Man studiere die<I> Ursachen</I> der Verbrechen und beseitige sie, und man wird die Verbrechen beseitigen.<A NAME="ZF4"><A HREF="beaa_347.htm#F4">(4)</A></A> </P>
<P>Diejenigen, welche die Verbrechen beseitigen wollen, indem sie die Ursachen dazu beseitigen, k&ouml;nnen sich selbstverst&auml;ndlich mit gewaltsamen Unterdr&uuml;ckungsmitteln nicht befreunden. Sie k&ouml;nnen die Gesellschaft nicht hindern, sich in ihrer Art gegen die Verbrecher zu sch&uuml;tzen, die sie in ihrem Treiben unm&ouml;glich gew&auml;hren lassen kann, aber sie verlangen um so dringender die Umgestaltung der Gesellschaft von Grund aus, das hei&szlig;t die Beseitigung der Ursachen der Verbrechen. </P>
<P>Der Zusammenhang zwischen dem Sozialzustand der Gesellschaft und den Vergehen und Verbrechen ist von Statistikern und Sozialpolitikern vielfach nachgewiesen worden.<A NAME="ZF5"><A HREF="beaa_347.htm#F5">(5)</A></A> Eines der naheliegendsten Vergehen - das unsere Gesellschaft ungeachtet aller christlichen Lehren von der Wohlt&auml;tigkeit als Vergehen ansieht - ist in Zeiten schlechten Gesch&auml;ftsganges die Bettelei. Da belehrt uns die Statistik des K&ouml;nigreichs Sachsen, da&szlig; in dem Ma&szlig;e, wie die gro&szlig;e Absatzkrise zunahm, die in Deutschland 1890 begann und 1892 bis 1893 ihren H&ouml;hepunkt erreichte, auch die Zahl der wegen Bettelei gerichtlich bestraften Personen stieg. Im Jahre 1890 wurden wegen dieses Deliktes 8.815, 1891 10.075 und 1892 13.120 Personen bestraft. &Auml;hnlich in &Ouml;sterreich, wo im Jahre 1891 wegen Vagabundage und Bettelei 90.926 Personen verurteilt wurden, im Jahre 1892 98.998.<A NAME="ZF6"><A HREF="beaa_347.htm#F6">(6)</A></A> Das ist eine starke Steigerung. </P>
<B><P><A NAME="S359">|359|</A></B> Massenprolelarisierung .auf der einen mit steigendem Reichtum auf der anderen Seite ist &uuml;berhaupt die Signatur unserer Periode. Die Tatsache, da&szlig; in den Vereinigten Staaten f&uuml;nf M&auml;nner, J. D. Rockefeller, der unl&auml;ngst verstorbene Harriman, J. Pierpont Morgan, W. K. Vanderbilt und J. Gould, im Jahre 1900 zusammen &uuml;ber 3.200 Millionen Mark besa&szlig;en, und ihr Einflu&szlig; ausreichte, um das &ouml;konomische Leben der Vereinigten Staaten und auch teilweise Europas zu beherrschen, zeigt die Richtung der Entwicklung, in der wir uns befinden. In allen Kulturl&auml;ndern bilden die gro&szlig;en Kapitalistenvereinigungen die bemerkenswerteste Erscheinung der neueren Zeit, deren sozialer und politischer Einflu&szlig; immer ma&szlig;gebender wird. </P>
<P><HR></P>
<P>Fu&szlig;noten von August Bebel</P>
<P><A NAME="F1">(1)</A> Neymarck, La statistique internationale des valeurs mobili&egrave;res im "Bulletin de l'institut international de statistique". 17. Band, S. 405. Kopenhagen 1908. <A HREF="beaa_347.htm#ZF1">&lt;=</A></P>
<P><A NAME="F2">(2)</A> Schon Plato kannte die Folgen eines solchen Zustandes. Er schreibt: "Ein Staat, in dem Klassen bestehen, ist nicht einer, sondern zwei: Den einen bilden die Armen, den anderen die Reichen, welche beide, immer jedoch sich gegenw&auml;rtig auflauernd, zusammenwohnen ... Die herrschende Klasse ist am Ende au&szlig;erstande, einen Krieg zu f&uuml;hren, weil sie sich dann der Menge bedienen mu&szlig;, vor welcher sie sich dann, wenn sie bewaffnet ist, mehr f&uuml;rchtet als vor den Feinden." Plato, Staat. Aristoteles sagt: "Zahlreiche Verarmung ist ein &Uuml;belstand, weil es fast gar nicht zu verhindern ist, da&szlig; solche Leute Unruhestifter werden." Aristoteles, Politik. <A HREF="beaa_347.htm#ZF2">&lt;=</A></P>
<P><A NAME="F3">(3)</A> Nat&uuml;rliche Sch&ouml;pfungsgeschichte. Vierte, verbesserte Auflage. S.155 und 156. Berlin 1873. <A HREF="beaa_347.htm#ZF3">&lt;=</A></P>
<P><A NAME="F4">(4)</A> &Auml;hnliches sagt Plato in seinem "Staat": "Verbrechen haben ihren Grund in der Bildungslosigkeit und in der schlechten Erziehung und Einrichtung des Staates." Plato kannte also das Wesen der Gesellschaft besser als viele seiner gelehrten Nachfolger nach dreiundzwanzighundert Jahren. Das ist nicht gerade erfreulich. <A HREF="beaa_347.htm#ZF4">&lt;=</A></P>
<P><A NAME="F5">(5)</A> <a href="http://library.fes.de/cgi-bin/neuzeit.pl?id=07.05626&dok=1904-05b&f=190405b_0628&l=190405b_0634">
Sursky, Michael:
Aus der neuesten Literatur &uuml;ber die wirtschaftlichen Ursachen der Kriminalit&auml;t / von Mich. Sursky. - [Electronic ed.].
In: Die neue Zeit : Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie. - 23.1904-1905, 2. Bd.(1905), H. 46, S. 628 - 634</a>
Zur&uuml;ck<A HREF="beaa_347.htm#ZF5">&lt;=</A></P>
<P><A NAME="F6">(6)</A> H. Herz, Verbrechen und Verbrechertum in &Ouml;sterreich. S. 49. T&uuml;bingen 1908. "F&uuml;r das verbrecherische Handeln", sagt der Verfasser, "ist die jeweilige Wirtschaftsform von dominierender Bedeutung. Die Organisation der Produktion und Konsumtion sowie die Verteilung wirtschaftlicher G&uuml;ter wirken in mannigfacher Beziehung bestimmend auf verbrecherisches Handeln." <A HREF="beaa_347.htm#ZF6">&lt;=</A></P>
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