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2022-08-25 20:29:11 +02:00

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<TITLE>Franz Mehring: Karl Marx - Das letzte Jahrzehnt</TITLE>
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<TR>
<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><A HREF="../../index.shtml.html"><SMALL>MLWerke</SMALL></A></TD>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><!-- #BeginEditable "link1a" --><A HREF="fm03_443.htm"><SMALL>14.
Kapitel</SMALL></A><!-- #EndEditable --></TD>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><A HREF="fm03_000.htm"><SMALL>Inhalt</SMALL></A></TD>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><!-- #BeginEditable "link1b" --><A HREF="fm03_543.htm"><SMALL>Anmerkungen</SMALL></A><!-- #EndEditable --></TD>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><A HREF="../default.htm"><SMALL>Franz
Mehring</SMALL></A></TD>
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</TABLE>
<HR size="1">
<P><SMALL>Seitenzahlen nach: Franz Mehring - Gesammelte Schriften, Band 3. Berlin/DDR,
1960, S. <!-- #BeginEditable "Seitenzahlen" -->509-542<!-- #EndEditable -->.<BR>
1. Korrektur<BR>
Erstellt am 30.10.1999</SMALL></P>
<H2>Franz Mehring: Karl Marx - Geschichte seines Lebens</H2>
<H1><!-- #BeginEditable "Titel" -->F&uuml;nfzehntes Kapitel: Das letzte Jahrzehnt<!-- #EndEditable --></H1>
<hr size="1">
<!-- #BeginEditable "Text" -->
<H3 ALIGN="CENTER">1. Marx in seinem Heim<A name="Kap_1"></A></H3>
<P><B>|509|</B> Wie sich Marx am Schlusse des Jahres 1853 nach den letzten Zuckungen
des Kommunistenbundes in sein Arbeitszimmer zur&uuml;ckzog, so am Schlusse des
Jahres 1873 nach den letzten Zuckungen der Internationalen. Aber diesmal geschah
es f&uuml;r den Rest seines Lebens.</P>
<P>Man hat sein letztes Jahrzehnt &raquo;ein langsames Sterben&laquo; genannt, jedoch mit
gro&szlig;er &Uuml;bertreibung. Zwar hatten die K&auml;mpfe seit dem Sturz der
Kommune seiner Gesundheit wieder harte St&ouml;&szlig;e versetzt; er litt im Herbste
1873 sehr am Kopfe und schwebte in gro&szlig;er Gefahr eines Schlaganfalls; dieser
chronische gedr&uuml;ckte Hirnzustand machte ihn arbeitsunf&auml;hig und schreibunlustig;
bei l&auml;ngerer Dauer h&auml;tte er schlimme Folgen haben k&ouml;nnen. Doch
erholte sich Marx in der mehrw&ouml;chigen Pflege des mit ihm und Engels befreundeten
Arztes Gumpert in Manchester, in den er volles Vertrauen setzte.</P>
<P>Auf den Rat Gumperts entschlo&szlig; er sich, im Jahre 1874 nach Karlsbad zu
gehen, und ebenso in den beiden folgenden Jahren; im Jahre 1877 w&auml;hlte er
zur Abwechselung Neuenahr, worauf ihm im Jahre 1878 die beiden Attentate auf den
deutschen Kaiser und die Sozialistenjagd, die sich daran schlo&szlig;, das Festland
sperrten. Immerhin war ihm namentlich die dreimalige Kur in Karlsbad &raquo;wundervoll&laquo;
bekommen und hatte ihn von seinem alten Leberleiden fast ganz befreit. Es blieben
noch chronische Magenleiden und nerv&ouml;se Abspannung, die sich in Kopfschmerz,
zumeist aber in hartn&auml;ckiger Schlaflosigkeit &auml;u&szlig;erte. Jedoch verschwanden
diese Leiden mehr oder weniger nach dem Besuche eines Seebades oder Luftkurorts
im Sommer und traten erst nach Neujahr wieder st&ouml;render auf.</P>
<P>Eine v&ouml;llige Wiederherstellung seiner Gesundheit w&auml;re freilich nur
m&ouml;glich gewesen, wenn Marx sich die Ruhe geg&ouml;nnt h&auml;tte, die er
nach einem arbeits- und opferreichen Leben beim Herannahen des sechzigsten Lebensjahres
wohl h&auml;tte beanspruchen k&ouml;nnen. Aber daran war bei ihm nicht zu denken.
Er warf sich, um sein wissenschaftliches Hauptwerk zu <A NAME="S510"></A><B>|510|</B>
vollenden, mit allem Feuereifer auf die Studien, deren Feld sich inzwischen sehr
erweitert hatte. &raquo;Bei einem Manne, der jeden Gegenstand auf seine geschichtliche
Entstehung und seine Vorbedingungen pr&uuml;fte&laquo;, sagt dar&uuml;ber Engels, &raquo;entsprangen
selbstredend aus jeder einzelnen Frage ganze Reihen neuer Fragen. Urgeschichte,
Agronomie, russische und amerikanische Grundbesitzverh&auml;ltnisse, Geologie
usw. wurden durchgenommen, um namentlich den Abschnitt des III. Buches des &#155;Kapital&#139;
&uuml;ber Grundrente in einer bisher nie versuchten Vollst&auml;ndigkeit auszuarbeiten.
Zu den s&auml;mtlichen germanischen und romanischen Sprachen, die er mit Leichtigkeit
las, lernte er auch noch Altslawisch, Russisch und Serbisch.&laquo;<A name="ZT1"></A><A href="fm03_509.htm#Z1"><SPAN class="top">[1]</SPAN></A> Und das war auch
nur erst sein halbes Tagewerk. Obgleich sich Marx aus der &ouml;ffentlichen Agitation
zur&uuml;ckgezogen hatte, blieb er darum nicht minder t&auml;tig in der europ&auml;ischen
und amerikanischen Arbeiterbewegung. Er stand im Briefwechsel mit fast allen F&uuml;hrern
in den verschiedenen L&auml;ndern, die ihn wenn irgend m&ouml;glich bei wichtigen
Anl&auml;ssen pers&ouml;nlich zu Rate zogen; er wurde mehr und mehr der vielgesuchte
und stets bereite Berater des streitbaren Proletariats.</P>
<P>Wie Liebknecht den Marx der f&uuml;nfziger, so hat Lafargue den Marx der siebziger
Jahre anziehend geschildert. Er meint, der K&ouml;rper seines Schwiegervaters
h&auml;tte von kr&auml;ftiger Konstitution sein m&uuml;ssen, um einer ungew&ouml;hnlichen
Lebensweise und einer aufreibenden geistigen Arbeit gewachsen zu sein. &raquo;Er war
auch in der Tat sehr kr&auml;ftig, seine Gr&ouml;&szlig;e ging &uuml;ber das Mittelma&szlig;,
die Schultern waren breit, die Brust gut entwickelt, die Glieder wohl proportioniert,
obgleich die Wirbels&auml;ule im Vergleich zu den Beinen etwas zu lang war, wie
es bei der j&uuml;dischen Rasse h&auml;ufig zu finden ist.&laquo; Und nicht nur bei
der j&uuml;dischen Rasse; Goethes K&ouml;rper war &auml;hnlich gebaut; auch er
geh&ouml;rte zu den &raquo;Sitzriesen&laquo;, wie der Volksmund solche Gestalten zu nennen
pflegt, die wegen der verh&auml;ltnism&auml;&szlig;igen L&auml;nge ihrer Wirbels&auml;ule
im Sitzen gr&ouml;&szlig;er erscheinen, als sie sind.</P>
<P>H&auml;tte Marx in seiner Jugend viel Gymnastik getrieben, so w&auml;re er
nach Lafargues Meinung ein &auml;u&szlig;erst kr&auml;ftiger Mensch geworden.
Jedoch die einzige Leibes&uuml;bung, die er regelm&auml;&szlig;ig betrieben hatte,
war das Gehen; er konnte stundenlang plaudernd marschieren oder H&uuml;gel ersteigen,
ohne die geringste M&uuml;digkeit zu sp&uuml;ren. Aber auch diese F&auml;higkeit
&uuml;bte er gemeiniglich nur, um in seinem Arbeitszimmer seine Gedanken zu ordnen;
von der T&uuml;r bis zum Fenster zeigte sich auf dem Teppich ein total abgen&uuml;tzter
Streifen wie der Fu&szlig;pfad auf einer Wiese.</P>
<P>Obgleich er sich immer erst in sehr vorger&uuml;ckter Stunde zur Ruhe legte,
war er morgens zwischen acht und neun Uhr auf den Beinen, trank <A NAME="S511"></A><B>|
511|</B> seinen schwarzen Kaffee, las seine Zeitungen und ging in sein Arbeitszimmer,
das er bis Mitternacht und dar&uuml;ber hinaus nur verlie&szlig;, um seine Mahlzeiten
einzunehmen, oder, wenn es die abendliche Witterung erlaubte, einen Spaziergang
nach Hampstead Heath zu machen; unter Tags schlief er wohl ein oder zwei Stunden
auf seinem Sofa. Das Arbeiten war ihm so zur Leidenschaft geworden, da&szlig;
er oft das Essen dar&uuml;ber verga&szlig;. Sein Magen mu&szlig;te f&uuml;r seine
kolossale Gehirnt&auml;tigkeit b&uuml;&szlig;en. Er war ein sehr schwacher Esser
und litt an Appetitlosigkeit, die er durch den Genu&szlig; von scharf gesalzenen
Speisen, Schinken, ger&auml;ucherten Fischen, Kaviar und Pickles zu bek&auml;mpfen
suchte. Ein schwacher Esser, war er doch kein starker Trinker, obgleich er nie
ein M&auml;&szlig;igkeitsapostel gewesen ist und als Sohn des Rheinlandes einen
guten Tropfen zu sch&auml;tzen wu&szlig;te. Dagegen war er ein leidenschaftlicher
Raucher und arger Z&uuml;ndh&ouml;lzchenverschwender; er meinte, das &raquo;Kapital&laquo;
werde ihm nicht einmal so viel einbringen, wie ihn die Zigarren gekostet h&auml;tten,
die er beim Schreiben geraucht habe. Da er in den langen Jahren der Not sich wohl
mit manchem zweifelhaften Kraut hatte begn&uuml;gen m&uuml;ssen, so ist diese
Leidenschaft seiner Gesundheit nicht zutr&auml;glich gewesen, und der Arzt mu&szlig;te
ihm wiederholt das Rauchen verbieten.</P>
<P>Seine geistige Erfrischung und Erholung fand Marx in der sch&ouml;nen Literatur.
Sie ist ihm all sein Lebtag eine wirksame Tr&ouml;sterin gewesen. Er besa&szlig;
auf diesem Gebiete die ausgebreitetsten Kenntnisse, ohne je damit zu prunken;
seine Werke verraten wenig davon, mit der einzigen Ausnahme der Streitschrift
gegen Vogt, wo er zahlreiche Zitate aus allen europ&auml;ischen Literaturen f&uuml;r
seine k&uuml;nstlerischen Zwecke verwertete. Wie sein wissenschaftliches Hauptwerk
ein ganzes Zeitalter widerspiegelt, so waren seine literarischen Lieblinge die
gro&szlig;en Weltdichter, von deren Sch&ouml;pfungen das gleiche gilt: von Aschylus
und Homer &uuml;ber Dante, Shakespeare, Cervantes bis auf Goethe. Den Aschylus
las er, wie Lafargue erz&auml;hlt, jedes Jahr einmal im Urtext; seinen alten Griechen
blieb er immer treu, und die armseligen Kr&auml;merseelen, die den Arbeitern die
antike Kultur verleiden m&ouml;chten, h&auml;tte er mit Ruten aus dem Tempel gepeitscht.</P>
<P>Die deutsche Literatur kannte er bis hoch ins Mittelalter hinauf. Unter den
Modernen stand ihm neben Goethe namentlich Heine nahe; Schiller scheint ihm in
seiner Jugend verleidet worden zu sein, zur Zeit, wo sich der deutsche Philister
an dem mehr oder minder mi&szlig;verstandenen &raquo;Idealismus&laquo; dieses Dichters berauschte,
was Marx nur als eine Vertauschung der platten mit der &uuml;berschw&auml;nglichen
Misere gelten lassen wollte.<A name="ZT2"></A><A href="fm03_509.htm#Z2"><SPAN class="top">[2]</SPAN></A> Seit seinem endg&uuml;ltigen Abschied von Deutschland
hat sich Marx um die <A NAME="S512"></A><B>|512|</B> deutsche Literatur nicht
mehr viel gek&uuml;mmert; selbst die wenigen, die seiner Aufmerksamkeit wohl wert
gewesen w&auml;ren, wie Hebbel oder Schopenhauer, erw&auml;hnt er nie; der Mi&szlig;handlung
der deutschen G&ouml;ttersage durch Richard Wagner gilt gelegentlich ein scharfer
Hieb.</P>
<P>Unter den Franzosen stellte er Diderot sehr hoch; den &raquo;Neffen Rameaus&laquo; nannte
er ein einziges Meisterwerk. Dies Wohlgefallen erstreckte sich auf die franz&ouml;sische
Aufkl&auml;rungsliteratur des achtzehnten Jahrhunderts, von der Engels einmal
sagt, da&szlig; in ihr der franz&ouml;sische Geist nach Form und Inhalt bisher
sein H&ouml;chstes geleistet habe, da&szlig; sie ihrem Inhalt nach, wenn man den
damaligen Stand der Wissenschaft ber&uuml;cksichtige, noch heute unendlich hoch
stehe und der Form nach nie wieder erreicht worden sei. Dementsprechend lehnte
Marx die franz&ouml;sischen Romantiker ab; namentlich Chateaubriand mit seiner
falschen Tiefe, seiner byzantinischen &Uuml;bertreibung, seiner buntfarbigen Gef&uuml;hlskoketterie,
kurzum seinem beispiellosen L&uuml;genmischmasch, war ihm von jeher zuwider. Sehr
begeistert war er von Balzacs &raquo;Menschlicher Kom&ouml;die&laquo;, die ja auch ein ganzes
Zeitalter im Spiegel der Dichtung auff&auml;ngt; er wollte nach Vollendung seines
gro&szlig;en Werkes &uuml;ber sie schreiben, doch ist dieser Plan, wie so viele
andere, im Keime steckengeblieben.</P>
<P>Seit seiner dauernden Ansiedlung in London trat die englische Literatur in
den Vordergrund seiner literarischen Neigungen, und hier &uuml;berragte alles
andere die gewaltige Gestalt Shakespeares, mit dem in der ganzen Familie ein wahrer
Kultus getrieben wurde. Leider hat Marx sich niemals &uuml;ber die Stellung Shakespeares
zu den Schicksalsfragen seiner Zeit ausgelassen. Dagegen urteilte er &uuml;ber
Byron und Shelley, wer diese Dichter liebe und verstehe, m&uuml;sse es f&uuml;r
ein Gl&uuml;ck halten, da&szlig; Byron im sechsunddrei&szlig;igsten Lebensjahre
gestorben sei, denn er w&auml;re bei l&auml;ngerer Lebensdauer ein reaktion&auml;rer
Bourgeois geworden, dagegen beklagen, da&szlig; Shelley schon mit neunundzwanzig
Jahren das Leben verloren habe; er sei durch und durch ein Revolution&auml;r gewesen
und w&uuml;rde stets zur Vorhut des Sozialismus geh&ouml;rt haben. Die englischen
Romane des achtzehnten Jahrhunderts liebte Marx sehr, namentlich Fieldings &raquo;Tom
Jones&laquo;, der in seiner Art ja ebenfalls ein Welt- und Zeitbild ist, doch erkannte
er auch einzelne Romane Walter Scotts als Muster ihrer Gattung an.</P>
<P>In seinem literarischen Urteile war Marx frei von aller politischen und sozialen
Voreingenommenheit, wie schon seine Vorliebe f&uuml;r Shakespeare und Walter Scott
zeigt, doch huldigte er ebensowenig jener &raquo;reinen &Auml;sthetik&laquo;, die sich nur
allzugern mit politischer Gleichg&uuml;ltigkeit oder gar Knechtseligkeit paart.
Er war eben auch hier ein ganzer Mann, <A NAME="S513"></A><B>|513|</B> ein selbst&auml;ndiger
und urspr&uuml;nglicher Geist, der sich an keiner Schablone messen lie&szlig;.
Auch darin nicht, da&szlig; er durchaus kein Kostver&auml;chter war und selbst
solche literarische Kost nicht verschm&auml;hte, vor der sich der schulm&auml;&szlig;ige
&Auml;sthetiker dreimal bekreuzigt. Marx war ein gro&szlig;er Romanleser wie Darwin
und Bismarck; eine besondere Vorliebe hatte er f&uuml;r abenteuerliche und humoristische
Erz&auml;hlungen; da stieg er dann wohl von seinen Cervantes und Balzac und Fielding
zu den Paul de Kock und dem &auml;lteren Dumas herab, der den &raquo;Grafen von Monte
Christo&laquo; auf dem Gewissen hat.</P>
<P>Noch auf einem ganz anderen Gebiete, als der sch&ouml;nen Literatur, pflegte
Marx geistig auszuruhen; namentlich in Tagen seelischen Schmerzes und schwerer
Leiden nahm er gern seine Zuflucht zur Mathematik, die eine beruhigende Wirkung
auf ihn aus&uuml;bte. Ob er in ihr selbst&auml;ndige Entdeckungen gemacht hat,
wie Engels und Lafargue behaupten, mu&szlig; hier dahingestellt bleiben; Mathematiker,
die seine hinterlassenen Manuskripte eingesehen haben, sollen anderer Ansicht
sein.</P>
<P>Bei alledem war Marx kein Wagner, der, in sein Museum gebannt, die Welt kaum
einen Feiertag von weitem sah, noch auch nur ein Faust, dem zwei Seelen in seiner
Brust wohnten. &raquo;F&uuml;r die Welt arbeiten&laquo;, war eins seiner Lieblingsworte; wer
so gl&uuml;cklich sei, sich wissenschaftlichen Zwecken widmen zu k&ouml;nnen,
sollte auch seine Kenntnisse in den Dienst der Menschheit stellen. Dadurch erhielt
Marx das Blut in seinen Adern und das Mark in seinen Knochen frisch. Im Kreise
seiner Familie und seiner Freunde war er immer der heiterste und witzigste Gesellschafter,
dem das herzliche Lachen aus breiter Brust klang, und wer den &raquo;Roten Schreckens-Doktor&laquo;
suchte, wie Marx wohl seit den Tagen der Kommune genannt wurde, der fand keinen
finstern Fanatiker oder vertr&auml;umten Stubenhocker vor, sondern einen Mann
von Welt, der in allen S&auml;tteln gescheiter Unterhaltung gerecht war.</P>
<P>Was dem Leser seiner Briefe oft so bewundernswert erscheint, n&auml;mlich wie
dieser reiche Geist aus der prachtvollen Spannung st&uuml;rmischen Zorns unmerklich
hin&uuml;bergleitet in die tiefe, aber ruhige See philosophischer Betrachtung,
scheint nicht minder stark auf seine H&ouml;rer gewirkt zu haben. So schreibt
Hyndman &uuml;ber seine Gespr&auml;che mit Marx: &raquo;Als er mit heftiger Entr&uuml;stung
&uuml;ber die Politik der liberalen Partei, namentlich &uuml;ber ihre irische
Politik sprach, da flammten die kleinen, tief eingesunkenen Augen des alten Kriegers
auf, seine dichten Augenbrauen zogen sich zusammen, die breite, starke Nase und
das Gesicht wurden ersichtlich von Leidenschaft bewegt, und er lie&szlig; einen
Strom kr&auml;ftiger Brandmarkung sich ergie&szlig;en, der gleichzeitig das Feuer
seines Temperaments wie seine <A NAME="S514"></A><B>|514|</B> wunderbare Gewalt
&uuml;ber unsere Sprache zur Erscheinung brachte. Der Kontrast zwischen seinem
Gebaren, wenn er durch &Auml;rger tief erregt war, und seiner Haltung, wenn er
dazu &uuml;berging, seine Ansichten &uuml;ber die wirtschaftlichen Vorg&auml;nge
der Zeit darzulegen, war sehr auff&auml;llig. Ohne jede ersichtliche Anstrengung
ging er von der Rolle des Propheten und heftigen Ankl&auml;gers zu der Rolle des
ruhigen Philosophen &uuml;ber, und ich f&uuml;hlte von Anfang an, da&szlig; manches
lange Jahr verstreichen k&ouml;nnte, ehe ich aufgeh&ouml;rt haben w&uuml;rde,
auf diesem Gebiete als Sch&uuml;ler einem Lehrer gegen&uuml;berzustehen.&laquo;</P>
<P>Dem Verkehr in der sogenannten Gesellschaft hielt sich Marx nach wie vor fern,
obgleich er auch in b&uuml;rgerlichen Kreisen viel bekannter geworden war als
zwanzig Jahre fr&uuml;her; so war Hyndman durch ein konservatives Mitglied des
Parlaments auf ihn aufmerksam gemacht worden. Wohl aber war sein eigenes Haus
im Anfang der siebziger Jahre der Mittelpunkt eines sehr regen Verkehrs, eine
andere &raquo;Herberge der Gerechtigkeit&laquo; f&uuml;r die Fl&uuml;chtlinge der Kommune,
die hier immer Rat und Hilfe fanden. Freilich brachte das unruhige V&ouml;lkchen
auch viel &Auml;rger und Sorge mit sich; als es allm&auml;hlich verschwand, konnte
Frau Marx bei aller gastlichen Gesinnung doch den Sto&szlig;seufzer nicht unterdr&uuml;cken:
Wir hatten genug an ihnen.</P>
<P>Doch gab es auch Ausnahmen. Im Jahre 1872 heiratete Charles Longuet, der im
Rate der Kommune gesessen und deren offizielles Blatt redigiert hatte, Jenny Marx.
Er verwuchs weder pers&ouml;nlich noch politisch so eng mit der Familie wie Lafargue,
aber auch er war ein t&uuml;chtiger Mann; &raquo;er kocht, schreit und argumentiert
wie fr&uuml;her&laquo;, schreibt Frau Marx einmal &uuml;ber ihn, &raquo;aber zu seiner Ehre
mu&szlig; ich ihm nachsagen, da&szlig; er seine Stunden im Kings College regelm&auml;&szlig;ig
und zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten gegeben hat&laquo;. Die gl&uuml;ckliche Ehe
wurde durch den fr&uuml;hen Tod des ersten Kindes getr&uuml;bt, aber dann wuchs
&raquo;ein fetter, derber, pr&auml;chtiger Junge&laquo; heran, zur Freude der ganzen Familie
und nicht zum mindesten des Gro&szlig;vaters.</P>
<P>Lafargues geh&ouml;rten auch zu den Verbannten der Kommune und wohnten ganz
in der Nachbarschaft. Sie hatten das Ungl&uuml;ck gehabt, zwei Kinder in fr&uuml;hem
Alter zu verlieren; unter dem Druck dieses Schicksalsschlages hatte Lafargue die
&auml;rztliche Praxis aufgegeben, weil sie ohne ein gewisses Ma&szlig; von Scharlatanerie
nicht auszu&uuml;ben sei. &raquo;Ein Jammer, da&szlig; er dem alten Vater &Auml;skulap
untreu geworden ist&laquo;, meinte Frau Marx. Denn mit dem Betrieb eines photographisch-lithographischen
Ateliers wollte es nur langsam vorw&auml;rtsgehen, obgleich Lafargue, dem der
Himmel gl&uuml;cklicherweise immer voll Geigen hing, &raquo;eine wahre <A NAME="S515"></A><B>|515|</B>
Niggerarbeit in die Bresche&laquo; schickte und an seiner Frau eine mutige und unerm&uuml;dliche
Helferin fand. Jedoch gegen die Konkurrenz des gro&szlig;en Kapitals war schwer
anzuk&auml;mpfen.</P>
<P>Auch die dritte Tochter fand in dieser Zeit einen franz&ouml;sischen Bewerber
in Lissagaray, der sp&auml;ter die Geschichte der Kommune geschrieben hat, in
deren Reihen er gek&auml;mpft hatte. Eleanor Marx scheint ihm g&uuml;nstig gesinnt
gewesen zu sein, aber ihr Vater hegte Bedenken gegen die Solidit&auml;t des Freiers;
nach langem Hin und Her ist aus der Sache nichts geworden.</P>
<P>Im Fr&uuml;hjahr 1875 wechselte die Familie noch einmal die Wohnung, wenn auch
nicht den Stadtteil; sie siedelte nach 41 Maitlandpark Road, Haverstock Hill &uuml;ber.
Hier hat Marx die letzten Jahre gelebt, und hier ist er gestorben.</P>
<H3 ALIGN="CENTER">2. Die deutsche Sozialdemokratie<A name="Kap_2"></A></H3>
<P>Von der Krise, in die alle sonstigen Zweige der alten Internationalen dadurch
geraten waren, da&szlig; sie sich zu nationalen Arbeiterparteien entwickelten,
blieb die deutsche Sozialdemokratie verschont, dank dem Umstande, da&szlig; sie
sich von vornherein in nationalem Rahmen entwickelt hatte. Wenige Monate nach
dem Fiasko des Genfer Kongresses, am 10. Januar 1874, feierte sie bei den Reichstagswahlen
ihren ersten gro&szlig;en Wahlsieg, 350.000 Stimmen wurden gewonnen und neun Mandate
erobert, von denen drei den Lassalleanern und sechs den Eisenachern zufielen.</P>
<P>Es wirft nun aber das letzte und st&auml;rkste Licht auf die Ursachen, die
den Niedergang der alten Internationalen verschuldet hatten, da&szlig; Marx und
Engels, die leitenden K&ouml;pfe ihres Generalrats, sich selbst mit derjenigen
aufbl&uuml;henden Arbeiterpartei, die ihnen ihrer Abstammung nach am vertrautesten
sein mu&szlig;te und ihren theoretischen Anschauungen am n&auml;chsten stand,
doch nur schwer verst&auml;ndigen konnten. Auch sie wandelten nicht ungestraft
unter Palmen; die internationale Warte, von der sie die Dinge &uuml;berschauten,
hinderte sie, den einzelnen Nationen in Herz und Nieren zu sehen. Begeisterte
Verehrer, die ihnen in England und Frankreich entstanden sind, haben gleichwohl
einger&auml;umt, da&szlig; sie die englischen und franz&ouml;sischen Zust&auml;nde
niemals bis auf den letzten Grund durchschaut h&auml;tten. Auch mit den deutschen
Zust&auml;nden haben sie niemals wieder eine v&ouml;llig vertraute F&uuml;hlung
gewonnen, seitdem sie ihre Heimat verlassen hatten; selbst in den eigentlichen
Parteifragen <A NAME="S516"></A><B>|516|</B> nicht, wo ihr nun einmal unbesiegbares
Mi&szlig;trauen gegen Lassalle und alles Lassallesche ihr Urteil tr&uuml;bte.</P>
<P>Das trat in recht bezeichnender Weise hervor, als der neugew&auml;hlte Reichstag
zum ersten Male tagte. Von den sechs Eisenacher Vertretern sa&szlig;en zwei, Bebel
und Liebknecht, noch im Gef&auml;ngnis; das Auftretender anderen vier, Geib, Most,
Motteler und Vahlteich, rief aber unter den eigenen Anh&auml;ngern gro&szlig;e
Entt&auml;uschung hervor; Bebel berichtet in seinen &raquo;Denkw&uuml;rdigkeiten&laquo;, ihm
seien von den verschiedensten Seiten bittere Klagen dar&uuml;ber zugekommen, da&szlig;
sich die vier von den drei Lassalleanern Hasenclever, Hasselmann und Reimer den
parlamentarischen Rang h&auml;tten ablaufen lassen. Ganz anders sah Engels die
Sachlage an; er schrieb an Sorge: &raquo;Die Lassalleaner sind durch ihre Repr&auml;sentanten
im Reichstag so diskreditiert, da&szlig; die Regierung Verfolgungen gegen sie
einleiten mu&szlig;, um dieser Bewegung wieder den Schein zu geben, als sei sie
ernstlich gemeint. Im &uuml;brigen haben die Lassalleaner seit den Wahlen sich
in der Notwendigkeit befunden, als Schwanz der Unsrigen aufzutreten. Ein wahres
Gl&uuml;ck, da&szlig; Hasselmann und Hasenclever in den Reichstag gew&auml;hlt.
Sie diskreditieren sich da zusehends; entweder m&uuml;ssen sie mit den Unseren
gehen oder aber auf eigene Faust Bl&ouml;dsinn machen. Beides ruiniert sie.&laquo; Gr&uuml;ndlicher
lie&szlig;en sich die Dinge nicht wohl verkennen.</P>
<P>Die parlamentarischen Vertreter beider Fraktionen vertrugen sich ganz gut miteinander
und lie&szlig;en sich keine grauen Haare darum wachsen, ob auf der Trib&uuml;ne
die einen etwas besser und die anderen etwas schlechter abschnitten. Beide Fraktionen
hatten den Wahlkampf so gef&uuml;hrt, da&szlig; weder den Eisenachern der Vorwurf
des Halbsozialismus, noch den Lassalleanern der Vorwurf des Kokettierens mit der
Regierung gemacht werden konnte; beide hatten fast die gleiche Stimmenzahl erobert;
beide standen im Reichstag denselben Gegnern mit denselben Forderungen gegen&uuml;ber,
und beide waren nach ihren Wahlerfolgen einer gleich heftigen Verfolgung durch
die Regierung ausgesetzt. Uneinig waren sie eigentlich nur noch in der Organisationsfrage,
aber auch dies letzte Hindernis r&auml;umte der streberische Eifer des Staatsanwalts
Tessendorff aus dem Wege, indem er von willigen Gerichtsh&ouml;fen Beschl&uuml;sse
zu erreichen wu&szlig;te, die sowohl die losere Organisation der Eisenacher wie
die straffere Organisation der Lassalleaner zertr&uuml;mmerten.</P>
<P>So war die Einigung der beiden Fraktionen von selbst auf dem Marsche. Als schon
im Oktober 1874 T&ouml;lcke das Friedensangebot der Lassalleaner an Liebknecht
&uuml;berbrachte, der inzwischen aus dem Gef&auml;ngnis <A NAME="S517"></A><B>|517|*</B>
entlassen worden war, so griff dieser schnell zu, vielleicht etwas eigenm&auml;chtig,
aber doch mit einem Eifer, der deshalb nicht weniger ein Verdienst war, weil er
in London sehr &uuml;bel vermerkt wurde. F&uuml;r Marx und Engels blieben die
Lassalleaner nun einmal eine absterbende Sekte, die sich &uuml;ber kurz oder lang
auf Gnade und Ungnade ergeben mu&szlig;te. Mit ihnen auf dem Fu&szlig;e der v&ouml;lligen
Gleichberechtigung zu verhandeln, erschien ihnen als ein leichtsinniger Versto&szlig;
gegen die Interessen der deutschen Arbeiterklasse, und als nun gar im Fr&uuml;hjahr
1875 der Entwurf des gemeinsamen Programms ver&ouml;ffentlicht wurde, &uuml;ber
das sich die Vertreter der beiden Fraktionen geeignet hatten, da brausten beide
in hellem Zorn auf.</P>
<P>Am 5. Mai richtete Marx an die F&uuml;hrer der Eisenacher den sogenannten Programmbrief <A name="ZT3"></A><A href="fm03_509.htm#Z3"><SPAN class="top">[3]</SPAN></A>,
nachdem Engels sich schon vorher mit einem ausf&uuml;hrlichen Protest bei Bebel <A name="ZT4"></A><A href="fm03_509.htm#Z4"><SPAN class="top">[4]</SPAN></A>
eingefunden hatte. H&auml;rter denn je sprang Marx darin mit Lassalle um. Dieser
habe das &raquo;Kommunistische Manifest&laquo; auswendig gekannt, aber es grob verf&auml;lscht,
um seine Allianz mit den absolutistischen und feudalen Gegnern wider die Bourgeoisie
zu besch&ouml;nigen, indem er alle anderen Klassen f&uuml;r eine reaktion&auml;re
Masse gegen&uuml;ber der Arbeiterklasse erkl&auml;rt habe. Dabei war das Schlagwort
der &raquo;reaktion&auml;ren Masse&laquo; gar nicht von Lassalle, sondern erst nach dessen
Tode von Schweitzer gepr&auml;gt worden, und als Schweitzer es aufbrachte, war
er daf&uuml;r von Engels ausdr&uuml;cklich belobt worden. Wirklich entnommen hatte
Lassalle dem &raquo;Kommunistischen Manifest&laquo; das von ihm so getaufte eherne Lohngesetz;
daf&uuml;r mu&szlig;te er sich als Anh&auml;nger der Malthusischen Bev&ouml;lkerungstheorie
abkanzeln lassen, die er ebenso verworfen hatte, wie Marx und Engels sie verwarfen.</P>
<P>Sah man jedoch von dieser h&ouml;chst unerquicklichen Seite des Programmbriefs
ab, so war er eine sehr lehrreiche Abhandlung &uuml;ber die Grundprinzipien des
wissenschaftlichen Sozialismus, und von dem Koalitionsprogramm lie&szlig; er freilich
keinen Stein auf dem andern. Gleichwohl hatte der wuchtige Brief bekanntlich keine
andere Wirkung, als da&szlig; er die Empf&auml;nger zu ein paar kleinen, ziemlich
belanglosen Verbesserungen ihres Entwurfs veranla&szlig;te. Liebknecht hat ein
paar Jahrzehnte sp&auml;ter gesagt, die meisten, wenn nicht alle, seien zwar mit
Marx einverstanden gewesen, und es h&auml;tte sich auch vielleicht auf dem Einigungskongre&szlig;
eine Mehrheit daf&uuml;r durchsetzen lassen, aber eine Minderheit w&auml;re doch
unzufrieden geblieben, und das h&auml;tte vermieden werden m&uuml;ssen, da es
sich nicht um die Formulierung wissenschaftlicher Lehrs&auml;tze, sondern um die
Einigung der beiden Fraktionen gehandelt habe.</P>
<P><B><A NAME="S518">|518|</A></B> Eine weniger feierliche, aber daf&uuml;r triftigere
Erkl&auml;rung findet die schweigende Beseitigung des Programmbriefes darin, da&szlig;
er &uuml;ber den geistigen Horizont der Eisenacher ging, sogar noch mehr als &uuml;ber
den geistigen Horizont der Lassalleaner. Marx hatte zwar wenige Monate vorher
dar&uuml;ber geklagt, da&szlig; sich im Organ der Eisenacher von Zeit zu Zeit
halbgelehrte Philisterphantasien geltend machten; das Zeug komme von Schulmeistern,
Doktoren, Studenten, und dem Liebknecht m&uuml;sse deshalb der Kopf gewaschen
werden. Gleichwohl nahm er an, da&szlig; die realistische Auffassung, die der
Partei so m&uuml;hevoll beigebracht worden sei, aber nun auch Wurzeln geschlagen
habe, von der Sekte der Lassalleaner durch ideologische Rechts- und andere, den
Demokraten und franz&ouml;sischen Sozialisten gel&auml;ufige Flausen weggeschwemmt
werden solle.</P>
<P>Darin irrte Marx g&auml;nzlich. In theoretischen Fragen standen beide Fraktionen
ziemlich auf gleicher Stufe, oder wenn ein Unterschied bestand, so waren die Lassalleaner
einigerma&szlig;en im Vorsprung. Bei den Eisenachern stie&szlig; der Entwurf des
Einigungsprogramms auf gar keinen Widerspruch, w&auml;hrend ein Westdeutscher
Arbeitertag, der nahezu ausschlie&szlig;lich von Lassalleanern beschickt worden
war, ihn einer Kritik unterzog, die sich mannigfach mit der Kritik ber&uuml;hrte,
die Marx einige Wochen sp&auml;ter an ihm &uuml;bte. Indessen braucht darauf kein
besonderer Nachdruck gelegt zu werden; dem wissenschaftlichen Sozialismus, wie
ihn Marx und Engels begr&uuml;ndet hatten, standen beide Teile noch fern; von
der historisch-materialistischen Denkweise hatten sie kaum eine Ahnung, und auch
das Geheimnis der kapitalistischen Produktionsweise blieb ihnen noch verschlossen;
die Art, wie sich K. A. Schramm, der damals namhafteste Theoretiker der Eisenacher,
mit der Werttheorie herumschlug, lieferte daf&uuml;r den schlagendsten Beweis.</P>
<P>Praktisch bew&auml;hrte sich die Einigung, und insofern hatten auch Marx und
Engels nichts gegen sie einzuwenden gehabt, es sei denn, da&szlig; sie meinten,
die Eisenacher h&auml;tten sich von den Lassalleanern &uuml;ber das Ohr hauen
lassen: hatte doch auch Marx in dem Programmbriefe gesagt: jeder Schritt praktischer
Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme. Aber da die theoretische Unklarheit
in der neuen Gesamtpartei eher zu- als abnahm, so sahen sie darin eine Wirkung
der unnat&uuml;rlichen Verschmelzung, und ihre Unzufriedenheit nahm eher schroffere
als gelindere Formen an.</P>
<P>Stutzig h&auml;tte sie freilich machen k&ouml;nnen, da&szlig; die ihnen &auml;rgerlichen
Dinge viel mehr von den ehemaligen Eisenachern ausgingen als von den ehemaligen
Lassalleanern, von denen Engels gelegentlich meinte, <A NAME="S519"></A><B>|519|</B>
sie w&uuml;rden bald die klarsten K&ouml;pfe sein, da sie in ihr - noch ein Jahr
nach der Einigung fortbestehendes - Blatt am wenigsten Unsinn aufn&auml;hmen.
Der Fluch der bezahlten Agitatoren, der Halbgebildeten, falle schwer auf ihre
eigene Partei. Besonders gereizt war er durch Most, der &raquo;das ganze &#155;Kapital&#139; exzerpiert
und doch nichts daraus kapiert habe&laquo; und sich gewaltig f&uuml;r den Sozialismus
D&uuml;hrings ins Zeug legte. &raquo;Es ist klar&laquo;, schrieb Engels am 24. Mai 1876 an
Marx, &raquo;in der Vorstellung dieser Leute hat sich D&uuml;hring durch seine hundskommunen
Angriffe gegen Dich uns gegen&uuml;ber unverletzlich gemacht, denn wenn wir seinen
theoretischen Bl&ouml;dsinn l&auml;cherlich machen, so ist das Rache gegen&uuml;ber
jenen Personalien.&laquo; Aber auch Liebknecht bekam sein Teil. &raquo;Es ist W[ilhelms] Sucht,
dem Mangel unsrer Theorie abzuhelfen, auf jeden Philistereinwand eine Antwort
zu haben und von der zuk&uuml;nftigen Gesellschaft ein Bild zu haben, weil doch
auch der Philister sie dar&uuml;ber interpelliert; und daneben auch theoretisch
m&ouml;glichst unabh&auml;ngig von uns zu sein, was ihm bei seinem totalen Mangel
aller Theorie von jeher weit besser gelungen ist, als er selbst wei&szlig;.&laquo; Mit
Lassalle und dessen &Uuml;berlieferungen hatte alles das nichts zu tun.</P>
<P>Es war das rasche Anwachsen ihrer praktischen Erfolge, das die neue Gesamtpartei
gleichg&uuml;ltig gegen die Theorie machte, und selbst das ist noch zuviel gesagt.
Nicht die Theorie als solche mi&szlig;achtete sie, sondern das, was sie in dem
Eifer ihres kr&auml;ftigen Vorw&auml;rtsschreitens f&uuml;r theoretische Haarspaltereien
hielt. Um ihr aufsteigendes Gestirn sammelten sich verkannte Erfinder und Reformer,
Impfgegner, Naturheilkundige und &auml;hnliche schrullenhafte Genies, die in den
arbeitenden Klassen, die sich so m&auml;chtig regten, die ihnen sonst versagte
Anerkennung zu finden hofften. Wer nur guten Willen mitbrachte und irgendein Heilmittel
f&uuml;r den kranken Gesellschaftsk&ouml;rper wu&szlig;te, wurde willkommen gehei&szlig;en,
und zumal der Zustrom aus akademischen Kreisen, der den Bund zwischen Proletariat
und Wissenschaft zu besiegeln verhie&szlig;. Ein Universit&auml;tslehrer nun gar,
der sich mit dem Sozialismus, in dieser oder jener Schattierung des vieldeutigen
Begriffs, anfreundete oder anzufreunden schien, brauchte keine allzu strenge Kritik
seiner geistigen Habe zu bef&uuml;rchten.</P>
<P>Vor allem war D&uuml;hring vor solcher Kritik gesichert, da vieles an dem Manne,
Pers&ouml;nliches und Sachliches, die geistig regen Elemente der Berliner Sozialdemokratie
anziehen mu&szlig;te. Er besa&szlig; ohne Zweifel gro&szlig;e F&auml;higkeiten
und Gaben, und die Art, wie er, arm und fr&uuml;hzeitig v&ouml;llig erblindet,
sich lange Jahre in der schwierigen Stellung eines Privatdozenten zu behaupten
wu&szlig;te, ohne jedes Zugest&auml;ndnis an die herrschenden <A NAME="S520"></A><B>|520|*</B>
Klassen, auch auf dem Katheder seinen politischen Radikalismus bekennend, der
nicht davor zur&uuml;ckscheute, Marat, Babeuf und die M&auml;nner der Kommune
zu feiern, konnte den Arbeitern nur sympathisch sein. Seine Schattenseiten, die
Anma&szlig;ung, womit er ein halbes Dutzend wissenschaftlicher Gebiete souver&auml;n
zu beherrschen behauptete, auf deren keinem er schon wegen seines k&ouml;rperlichen
Leidens wirklich heimisch war, und der immer wachsende Gr&ouml;&szlig;enwahn,
womit er seine Vorl&auml;ufer nieders&auml;belte, auf philosophischem Gebiete
die Fichte und Hegel ebenso, wie auf &ouml;konomischem Gebiete die Marx und Lassalle,
blieben im Hintergrunde oder wurden als Entgleisungen entschuldigt, die bei der
geistigen Vereinsamung und den schweren Lebensk&auml;mpfen des Mannes begreiflich
w&auml;ren.</P>
<P>Marx hatte die &raquo;hundskommunen&laquo; Angriffe D&uuml;hrings gar nicht beachtet, und
inhaltlich waren sie auch nicht dazu geeignet, ihn herauszufordern. Auch die beginnende
Schw&auml;rmerei der Parteigenossen f&uuml;r D&uuml;hring lie&szlig; ihn noch
lange kalt, obgleich D&uuml;hring mit seinem Unfehlbarkeitsbewu&szlig;tsein und
seinem System von &raquo;Wahrheiten letzter Instanz&laquo; alle Anlagen eines geborenen Sektenstifters
besa&szlig;. Noch als Liebknecht, der in diesem Falle durchaus auf dem Posten
war, durch Einsendung von Arbeiterbriefen sie auf die Gefahr einer Verflachungspropaganda
in der Partei aufmerksam machte, lehnten Marx und Engels eine Kritik D&uuml;hrings
als &raquo;eine zu subalterne Arbeit&laquo; ab, und erst ein anma&szlig;endes Schreiben, das
Most im Mai 1876 an Engels richtete, scheint der Tropfen gewesen zu sein, der
den Eimer zum &Uuml;berlaufen brachte.</P>
<P>Seitdem besch&auml;ftigte sich Engels eingehend mit dem, was D&uuml;hring seine
&raquo;systemschaffenden Wahrheiten&laquo; nannte, und legte seine Kritik in einer Reihe von
Aufs&auml;tzen nieder, die seit Neujahr 1.877 im &raquo;Vorw&auml;rts&laquo;, dem nunmehrigen
Zentralorgan der Gesamtpartei, zu erscheinen begannen. Sie wuchsen sich zu der
- n&auml;chst dem &raquo;Kapital&laquo; - bedeutendsten und erfolgreichsten Urkunde des wissenschaftlichen
Sozialismus aus, aber ihre Aufnahme durch die Partei zeigte, da&szlig; in der
Tat Gefahr im Verzuge gewesen war. Es fehlte nicht viel, und der Jahreskongre&szlig;
der Partei, der im Mai 1877 in Gotha tagte, h&auml;tte ein Ketzergericht &uuml;ber
Engels gehalten, wie es gleichzeitig der offizielle Universit&auml;tskl&uuml;ngel
&uuml;ber D&uuml;hring hielt. Most brachte den Antrag ein, die Aufs&auml;tze gegen
D&uuml;hring aus dem Zentralorgan zu verbannen, da sie &raquo;f&uuml;r die weitaus gr&ouml;&szlig;te
Mehrheit der Leser des &#155;Vorw&auml;rts&#139; v&ouml;llig ohne Interesse oder gar h&ouml;chst
ansto&szlig;erregend&laquo; seien, und Vahlteich, der sonst mit Most spinnefeind war,
stie&szlig; in dasselbe Horn, indem er sagte, der Ton, den Engels anschlage, m&uuml;sse
zu einer Geschmacksverirrung f&uuml;hren und die <A NAME="S521"></A><B>|521|</B>
geistige Speise des &raquo;Vorw&auml;rts&laquo; ungenie&szlig;bar machen. Gl&uuml;cklicherweise
wurde die &auml;rgste Blamage durch die Annahme des vermittelnden Antrags verhindert,
da&szlig; die Fortsetzung dieser wissenschaftlichen Polemik aus agitatorisch-praktischen
Gr&uuml;nden nicht mehr im Hauptblatt, sondern in einer wissenschaftlichen Beilage
des &raquo;Vorw&auml;rts&laquo; erfolgen solle.</P>
<P>Zugleich beschlo&szlig; dieser Kongre&szlig;, vom Oktober des Jahres ab eine
wissenschaftliche Halbmonatszeitschrift herauszugeben, auf Anregung und mit finanzieller
Unterst&uuml;tzung Karl H&ouml;chbergs, eines jener b&uuml;rgerlichen Adepten
des Sozialismus, die damals in Deutschland so zahlreich waren. Er war der Sohn
eines Frankfurter Lotteriekollekteurs, ein noch junger, aber sehr wohlhabender,
dabei in h&ouml;chstem Grade opferwilliger und uneigenn&uuml;tziger Mann; alle,
die ihn gekannt haben, stellen seinen pers&ouml;nlichen Eigenschaften das vortrefflichste
Zeugnis aus. Minder g&uuml;nstig mu&szlig; man &uuml;ber seine literarisch-politische
Pers&ouml;nlichkeit urteilen, so wie sie sich in seinen Ver&ouml;ffentlichungen
spiegelt. Da erscheint H&ouml;chberg als ein recht farbloser und trockener Geist,
dem die Geschichte und die Theorie des Sozialismus unbekannt, dem namentlich die
wissenschaftlichen Anschauungen, die Marx und Engels entwickelt hatten, vollkommen
fremd waren. Er sah nicht in dem proletarischen Klassenkampf den Hebel zur Emanzipation
der Arbeiterklasse, sondern wollte auf dem Wege friedlicher und gesetzlicher Entwicklung
die besitzenden Klassen und namentlich ihre gebildeten Elemente f&uuml;r die Arbeitersache
gewinnen.</P>
<P>Marx und Engels wu&szlig;ten jedoch noch nichts N&auml;heres &uuml;ber ihn,
als sie die Mitarbeit an der &raquo;Zukunft&laquo;, wie die neue Zeitschrift getauft wurde,
an ihrem Teile ablehnten; sie waren &uuml;brigens nur durch ein anonymes Rundschreiben
wie viele andere auch, um ihre Mitwirkung ersucht worden. Engels meinte, Kongre&szlig;beschl&uuml;sse,
so respektabel sie auch auf dem Gebiete der praktischen Agitation w&auml;ren,
g&auml;lten in der Wissenschaft gleich Null und reichten nicht hin, den wissenschaftlichen
Charakter einer Zeitschrift festzustellen, der nicht dekretiert werden k&ouml;nne.
Eine sozialistische wissenschaftliche Zeitschrift ohne ganz bestimmte wissenschaftliche
Richtung sei ein Unding, und bei der gro&szlig;en jetzt in Deutschland grassierenden
Verschiedenheit oder Unbestimmtheit der Richtungen fehle jede B&uuml;rgschaft,
da&szlig; die einzuschlagende Richtung ihnen passe.</P>
<P>Wie richtig ihre Zur&uuml;ckhaltung war, zeigte gleich das erste Heft der &raquo;Zukunft&laquo;.
Der Einf&uuml;hrungsartikel H&ouml;chbergs war sozusagen ein neuer Aufgu&szlig;
von allem, was sie an dem Sozialismus der vierziger Jahre als entnervend und verweichlichend
bek&auml;mpft hatten. So blieb ihnen jede peinliche Auseinandersetzung erspart.
Als ein deutscher Parteigenosse anfragte, ob sie wegen der Debatte auf dem Gothaer
Kongre&szlig; grollten, <A NAME="S522"></A><B>|522|</B> antwortete Marx: &raquo;&#155;Ich
grolle nicht&#139; (wie Heine sagt), und Engels ebensowenig. Wir beide geben keinen
Pfifferling f&uuml;r Popularit&auml;t. Beweis z.B. im Widerwillen gegen allen
Personenkultus, habe ich w&auml;hrend der Zeit der Internationalen die zahlreichen
Anerkennungsman&ouml;ver, womit ich von verschiednen L&auml;ndern aus molestiert
ward, nie in den Bereich der Publizit&auml;t dringen lassen, ich habe auch nie
darauf geantwortet, au&szlig;er hie und da durch R&uuml;ffel.&laquo; Er f&uuml;gte nur
noch hinzu: &raquo;Aber solche Ereignisse, wie sie sich auf dem letzten Parteikongre&szlig;
zugetragen, sie werden geh&ouml;rig exploitiert von den Feinden der Partei im
Ausland -, haben uns jedenfalls Vorsicht in unsren Verh&auml;ltnissen zu den &#155;Parteigenossen
in Deutschland&#139; aufgen&ouml;tigt.&laquo; Das war aber nicht schlimm gemeint, denn Engels
setzte seine Aufs&auml;tze gegen D&uuml;hring in der wissenschaftlichen Beilage
des &raquo;Vorw&auml;rts&laquo; ruhig fort.</P>
<P>In sachlicher Beziehung wurde Marx aber doch schwer betroffen von dem &raquo;faulen
Geist&laquo;, der sich, nicht so sehr unter den Massen, als unter den F&uuml;hrern geltend
mache. Am 19. Oktober schrieb er an Sorge: &raquo;Der Kompromi&szlig; mit den Lassalleanern
hat zum Kompromi&szlig; auch mit andern Halbheiten gef&uuml;hrt, in Berlin (wie
<I>Most</I>) mit D&uuml;hring und seinen &#155;Bewunderern&#139;, au&szlig;erdem aber mit
einer ganzen Bande halbreifer Studiosen und &uuml;berweiser Doctores, die dem
Sozialismus eine &#155;h&ouml;here, ideale Wendung&#139; geben wollen, d.h. die materialistische
Basis (die ernstes objektives Studium erheischt, wenn man auf ihr operieren will)
zu ersetzen durch moderne Mythologie, mit ihren G&ouml;ttinnen der Gerechtigkeit,
Freiheit und Gleichheit und fraternit&eacute;. Herr Dr. H&ouml;chberg, der die
&#155;Zukunft&#139; herausgibt, ist ein Vertreter dieser Richtung und hat sich in die Partei
&#155;eingekauft&#139; - ich unterstelle mit den &#155;edelsten&#139; Absichten, aber ich pfeife auf
&#155;Absichten&#139;. Etwas Miserableres wie sein Programm der &#155;Zukunft&#139;, hat selten mit
mehr &#155;bescheidner Anma&szlig;ung&#139; das Licht erblickt.&laquo;</P>
<P>Marx und Engels h&auml;tten in der Tat ihre ganze Vergangenheit verleugnen
m&uuml;ssen, wenn sie sich mit dieser &raquo;Richtung&laquo; jemals vers&ouml;hnt h&auml;tten.</P>
<H3 ALIGN="CENTER">3. Anarchismus und Orientkrieg<A name="Kap_3"></A></H3>
<P>Auf dem Gothaer Kongre&szlig; von 1877 wurde auch beschlossen, einen sozialistischen
Weltkongre&szlig; zu beschicken, der im September desselben Jahres in Gent stattfinden
sollte. Zum Vertreter der deutschen Partei wurde Liebknecht gew&auml;hlt.</P>
<P><B><A NAME="S523">|523|</A></B> Angeregt war dieser Kongre&szlig; durch die
Belgier worden, die in den anarchistischen Lehren inzwischen ein Haar gefunden
hatten und eine Wiedervereinigung der beiden Richtungen w&uuml;nschten, die sich
auf dem Haager Kongre&szlig; getrennt hatten. Die bakunistische Richtung hatte
wie 1873 in Genf, so 1874 in Br&uuml;ssel und 1876 in Bern ihre Kongresse abgehalten,
aber mit immer abnehmenden Kr&auml;ften; sie zerfiel an den praktischen Bed&uuml;rfnissen
des proletarischen Emanzipationskampf es, wie sie aus ihnen entstanden war.</P>
<P>Gleich in dem Ursprunge dieser Wirren, dem Genfer Streit zwischen der fabrique
und den gros m&eacute;tiers, offenbarten sich die wirklichen Gegens&auml;tze.
Hier eine gut gelohnte Arbeiterschaft mit politischen Rechten, die sie zum parlamentarischen
Kampfe bef&auml;higten, aber auch zu allerlei anfechtbaren B&uuml;ndnissen mit
b&uuml;rgerlichen Parteien verlockten; dort eine schlecht gelohnte und politisch
entrechtete Arbeiterschicht, die auf ihre nackte Kraft angewiesen war. Um diese
praktischen Gegens&auml;tze handelte es sich, und nicht, wie es in der legendenhaften
&Uuml;berlieferung dargestellt zu werden pflegt, um den theoretischen Gegensatz:
Hier Vernunft, dort Unvernunft!</P>
<P>So einfach lagen die Dinge nicht und liegen sie auch heute nicht, wie die immer
neue Auferstehung des Anarchismus zeigt, sooft er auch schon mausetot geschlagen
worden ist. Man braucht ihn noch lange nicht zu <I>be</I>kennen, wenn man sich
davor h&uuml;tet, ihn zu <I>ver</I>kennen. Ebenso wie man das <I>Be</I>kenntnis
zur politisch-parlamentarischen Beteiligung noch nicht zu verleugnen braucht,
wenn man nicht <I>ver</I>kennt, da&szlig; sie mit ihren, an sich gewi&szlig; annehmbaren
Reformen die Arbeiterbewegung auf einen toten Punkt f&uuml;hren kann, wo ihr der
revolution&auml;re Atem ausgeht. Es war doch kein Zufall, da&szlig; Bakunin eine
Reihe von Anh&auml;ngern z&auml;hlte, die sich die gr&ouml;&szlig;ten Verdienste
um den proletarischen Emanzipationskampf erworben haben. Liebknecht hat freilich
nie zu den Freunden Bakunins geh&ouml;rt, aber mindestens so eifrig wie dieser,
zur Zeit des Baseler Kongresses, die politische Enthaltung gefordert. Andere dagegen
wie Jules Guesde in Frankreich, Carl Cafiero in Italien, C&eacute;sar de Paepe,
Pawel Axelrod in Ru&szlig;land waren zur Zeit des Haager Kongresses und noch lange
nachher die eifrigsten Bakunisten; wenn sie dann ebenso eifrige Marxisten wurden,
so geschah es, wie der eine und der andere von ihnen ausdr&uuml;cklich hervorgehoben
hat, nicht indem sie ihre bisherige &Uuml;berzeugung &uuml;ber Bord warfen, sondern
nur indem sie an das ankn&uuml;pften, was Bakunin mit Marx gemeinsam hatte.</P>
<P>Eine proletarische Massenbewegung wollten beide, und ihr Streit ging nur um
die Heerstra&szlig;e, welche eine solche Bewegung zu marschieren <A NAME="S524"></A><B>|524|</B>
hatte. Nun aber zeigten die Kongresse der bakunistischen Internationalen, da&szlig;
der anarchistische Weg unpassierbar war.</P>
<P>Es w&uuml;rde an dieser Stelle zu weit f&uuml;hren, den schnellen Verfall des
Anarchismus an dem Verlauf seiner einzelnen Kongresse nachzuweisen. Das Zertr&uuml;mmern
ging gl&uuml;cklich und gr&uuml;ndlich genug vor sich; man schaffte den Generalrat
und den Jahresbeitrag ab, man verbot den Kongressen die Abstimmung &uuml;ber prinzipielle
Fragen und wehrte gerade noch mit M&uuml;he dem Versuch, geistige Arbeiter von
der Internationalen auszuschlie&szlig;en. Aber mit dem Aufbauen, mit dem Entwurf
eines neuen Programms und einer neuen Taktik, sah es um so tr&uuml;ber aus. Auf
dem Genfer Kongre&szlig; stritt man namentlich &uuml;ber die Frage des Generalstreiks
als des einzigen und unfehlbaren Mittels der sozialen Umw&auml;lzung, kam aber
zu keiner Einigung, und noch viel weniger auf dem n&auml;chsten Kongre&szlig;
in Br&uuml;ssel &uuml;ber die Frage der &ouml;ffentlichen Dienste, den Hauptgegenstand
der Verhandlungen, &uuml;ber den de Paepe in einer Weise berichtete, die ihm den
nicht unberechtigten Vorwurf eintrug, da&szlig; er &uuml;berhaupt den anarchistischen
Boden verlassen habe. Es liegt auf der Hand, wie notwendig de Paepes Entgleisung
war, wenn gerade &uuml;ber diese Frage etwas Greifbares gesagt werden sollte.
Nach heftigen Debatten wurde auch sie auf den n&auml;chsten Kongre&szlig; verschoben,
auf dem sie aber auch nicht entschieden wurde. Die Italiener erkl&auml;rten &uuml;berhaupt,
&raquo;die &Auml;ra der Kongresse sei abgeschlossen&laquo;, und verlangten die &raquo;Propaganda
der Tat&laquo;; innerhalb zweier Jahre brachten sie, gest&uuml;tzt auf eine Hungersnot,
auch sechzig Putsche fertig, aber der Erfolg f&uuml;r ihre Sache war gleich Null.</P>
<P>Mehr noch als durch den hoffnungslosen Wirrwarr seiner theoretischen Ansichten
verwuchs der Anarchismus dadurch zu einer verkn&ouml;cherten Sekte, da&szlig;
er sich ablehnend zu allen praktischen Fragen stellte, die die unmittelbarsten
Interessen des modernen Proletariats ber&uuml;hrten. Als in der Schweiz eine Massenbewegung
zugunsten des gesetzlichen Zehnstundentags sich entwickelte, lehnten die Anarchisten
die Beteiligung ab; ebenso als die fl&auml;mischen Sozialisten einen Petitionsfeldzug
unternahmen, um das gesetzliche Verbot der Kinderarbeit in Fabriken durchzudr&uuml;cken.
Nat&uuml;rlich verwarfen sie auch jeden Kampf ums allgemeine Wahlrecht oder, wo
dies Wahlrecht schon bestand, seine Benutzung. Gegen&uuml;ber dieser d&uuml;rren
und hoffnungslosen Politik traten die Erfolge der deutschen Sozialdemokratie in
ein um so gl&auml;nzenderes Licht, und entfremdeten die Massen &uuml;berall der
anarchistischen Propaganda.</P>
<P>Die Berufung eines sozialistischen Weltkongresses nach Gent, die der anarchistische
Kongre&szlig; in Bern 1876 f&uuml;r das n&auml;chste Jahr beschlo&szlig;, <A NAME="S525"></A><B>|525|</B>
war schon von der Erkenntnis bestimmt, da&szlig; es dem Anarchismus mi&szlig;lungen
sei, die Massen f&uuml;r sich zu gewinnen. Der Kongre&szlig; tagte vom 9. bis
15. September in Gent. Er war mit 42 Delegierten beschickt, von denen die Anarchisten
nur noch &uuml;ber einen festen Kern von 11 Mitgliedern unter F&uuml;hrung von
Guillaume und Kropotkin geboten; viele ihrer bisherigen Anh&auml;nger, darunter
die Mehrzahl der belgischen Delegierten und der Engl&auml;nder Hales, schwenkten
zu dem sozialistischen Fl&uuml;gel &uuml;ber, der von Liebknecht, Greulich und
Franckel gef&uuml;hrt wurde. Zwischen Liebknecht und Guillaume kam es zu einem
scharfen Zusammensto&szlig;, als dieser die deutsche Sozialdemokratie beschuldigte,
bei den Reichstagswahlen ihr Programm in die Tasche zu stecken. Im allgemeinen
aber verliefen die Verhandlungen ganz friedlich; die Anarchisten hatten die Lust
an gro&szlig;en Worten verloren und stimmten ihre Reden auf einen sanften Mollton,
wodurch ihren Gegnern ein entgegenkommendes Verhalten erm&ouml;glicht wurde. Jedoch
zu dem geplanten &raquo;Solidarit&auml;tsvertrage&laquo; kam es nicht; dazu gingen die Meinungen
zu weit auseinander.</P>
<P>Marx hatte kaum etwas anderes erwartet; seine gespannte Aufmerksamkeit war
jetzt auf einen anderen Wetterwinkel gerichtet, aus dem er einen revolution&auml;ren
Sturm erwartete: auf den Russisch-T&uuml;rkischen Krieg. Von zwei Briefen, durch
die er Liebknecht beriet, begann der erste, vom 4. Februar 1878: &raquo;Wir nehmen die
entschiedenste Partei f&uuml;r die T&uuml;rken, aus zwei Gr&uuml;nden: 1. weil
wir den <I>t&uuml;rkischen Bauer</I> - also die t&uuml;rkische Volksmasse - studiert
und ihn daher als unbedingt einen der <I>t&uuml;chtigsten</I> und sittlichsten
Repr&auml;sentanten des Bauerntums in Europa kennengelernt haben. 2. Weil die
<I>Niederlage der Russen die soziale Umw&auml;lzung</I> ... deren Elemente massenhaft
vorhanden, sehr <I>beschleunigt</I> haben w&uuml;rde und damit den <I>Umschwung
in ganz Europa</I>.&laquo; Schon ein Vierteljahr fr&uuml;her hatte Marx an Sorge geschrieben:
&raquo;Diese Krise ist <I>ein neuer Wendepunkt</I> der europ&auml;ischen Geschichte,
Ru&szlig;land - und ich habe seine Zust&auml;nde aus den <I>russischen</I> Originalquellen,
inoffiziellen und offiziellen (letztere nur wenigen Menschen zug&auml;nglich,
aber mir durch Freunde in Petersburg verschafft) studiert - stand schon lang an
der Schwelle einer Umw&auml;lzung; alle Elemente dazu fertig. Die braven T&uuml;rken
haben die Explosion um Jahre beschleunigt durch die Keile, die sie nicht nur der
russischen Armee und den russischen Finanzen, sondern der die Armee <I>kommandierenden
Dynastie</I> (Zar, Thronfolger und sechs andre Romanows) h&ouml;chsteigen pers&ouml;nlich
erteilt ... Das dumme Zeug, das die russischen Studenten machen, ist nur Symptom,
an sich selbst wertlos. Aber es ist Symptom. Alle Schichten der russischen Gesellschaft
sind &ouml;konomisch, moralisch, intellektuell in voller Dekomposition.&laquo; Diese
<A NAME="S526"></A><B>|526|</B> Beobachtungen haben sich als vollkommen richtig
erwiesen, aber wie es ihm in seiner revolution&auml;ren Ungeduld oft passiert
ist, so untersch&auml;tzte Marx in der Klarheit, womit er die Dinge ihren Weg
nehmen sah, die L&auml;nge des Weges.</P>
<P>Die anf&auml;nglichen Niederlagen der Russen schlugen in Erfolge um; wie Marx
annahm, durch die heimliche Unterst&uuml;tzung Bismarcks, durch den Verrat Englands
und &Ouml;sterreichs und nicht zuletzt auch durch die Schuld der T&uuml;rken,
die es vers&auml;umt h&auml;tten, durch eine Revolution in Konstantinopel das
alte Serailregiment zu st&uuml;rzen, das die beste Schutztruppe des Zaren gewesen
sei. Ein Volk, das in solchen Momenten der h&ouml;chsten Krise nicht revolution&auml;r
dreinzufahren wisse, sei verloren.</P>
<P>So endete der Russisch-T&uuml;rkische Krieg nicht mit einer europ&auml;ischen
Revolution, sondern mit einem Diplomatenkongresse, am selben Ort und zur selben
Zeit, wo die deutsche Sozialdemokratie durch einen furchtbaren Schlag zerschmettert
zu werden schien.</P>
<H3 ALIGN="CENTER">4. Morgenr&ouml;te<A name="Kap_4"></A></H3>
<P>Trotz alledem begann eine neue Morgenr&ouml;te am Welthorizonte zu d&auml;mmern.
Das Sozialistengesetz, mit dem Bismarck die deutsche Sozialdemokratie zu zerschmettern
gedachte, leitete nur ihr Heldenzeitalter ein, und so r&auml;umte es auch mit
allen Irrungen und Wirrungen auf, die zwischen ihr und den beiden Alten in London
bestanden.</P>
<P>Freilich erst nach einem letzten Kampfe. Die deutsche Partei hatte die Attentatshetze
und die Attentatswahlen im Sommer 1878 r&uuml;hmlich genug bestanden. Aber in
ihren Vorbereitungen auf den drohenden Schlag hatte sie nicht gen&uuml;gend erwogen,
mit welcher Summe erbitterten Hasses sie zu rechnen hatte. Kaum war das Gesetz
rechtskr&auml;ftig geworden, als alle Versprechungen seiner loyalen Handhabung&laquo;,
mit denen die Vertreter der Regierung die Bedenken des Reichstags beschwichtigt
hatten, vollkommen vergessen waren und alle Einrichtungen der Partei so r&uuml;cksichtslos
zertr&uuml;mmert wurden, da&szlig; Hunderte von Existenzen auf die Stra&szlig;e
flogen. Selbst der sogenannte kleine Belagerungszustand wurde schon wenige Wochen
sp&auml;ter, in handgreiflichem Widerspruch mit dem Wortlaut des Gesetzes, &uuml;ber
Berlin und Umgegend verh&auml;ngt, und einigen sechzig Familienv&auml;tern ging
sofort der Ausweisungsbefehl zu, der ihnen nicht nur ihr Brot, sondern auch ihre
Heimat kostete.</P>
<P><B><A NAME="S527">|527|</A></B> Dadurch allein schon entstand eine begreifliche
und kaum vermeidliche Verwirrung. Hatte der Generalrat der Internationalen nach
dem Falle der Kommune bereits geklagt, da&szlig; ihn die Sorge f&uuml;r die Kommunefl&uuml;chtlinge
an der Erledigung seiner regelm&auml;&szlig;igen Arbeiten monatelang gehindert
habe, so hatte die deutsche Parteileitung nunmehr eine noch viel schwierigere
Aufgabe zu l&ouml;sen, auf Schritt und Tritt polizeilich behindert, wie sie war,
und inmitten einer furchtbaren Wirtschaftskrise. Es kann auch nicht bestritten
werden, da&szlig; der Sturm die Spreu von dem Korn sonderte, da&szlig; die b&uuml;rgerlichen
Elemente, die der Partei in den letzten Jahren zugestr&ouml;mt waren, sich vielfach
als unzuverl&auml;ssig erwiesen, da&szlig; manche F&uuml;hrer sich nicht bew&auml;hrten,
andere, auch t&uuml;chtigere M&auml;nner sich durch die schweren Schl&auml;ge
der Reaktion entmutigt f&uuml;hlten und die Feinde durch einen tatkr&auml;ftigen
Widerstand nur noch mehr zu reizen f&uuml;rchteten.</P>
<P>Von alledem waren Marx und Engels wenig erbaut, wobei sie gewi&szlig; die Schwierigkeiten
untersch&auml;tzten, die zu &uuml;berwinden waren. Aber selbst an der Haltung
der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, die in der Zahl von neun K&ouml;pfen
aus den Attentatswahlen hervorgegangen war, hatten sie berechtigte Ausstellungen
zu machen. Einer von diesen, Max Kayser, hielt es f&uuml;r richtig, bei der Beratung
eines neuen Zolltarifs f&uuml;r h&ouml;here Eisenz&ouml;lle zu sprechen und zu
stimmen, was einen sehr peinlichen Eindruck machen mu&szlig;te. Denn alle Welt
wu&szlig;te, da&szlig; der neue Zolltarif die Aufgabe hatte, ein paar hundert
Millionen mehr j&auml;hrlich in die Reichskasse zu liefern, die Grundrente des
landwirtschaftlichen Grundbesitzes gegen die amerikanische Konkurrenz zu sch&uuml;tzen
und der Gro&szlig;industrie zu erm&ouml;glichen, die Wunden zu heilen, die sie
sich selbst im Taumel der Gr&uuml;nderjahre geschlagen hatte, und da&szlig; nicht
zuletzt deshalb das Sozialistengesetz erlassen worden war, um den Widerstand der
Massen gegen die ihnen drohende Auspowerung zu brechen.</P>
<P>Als Bebel die Abstimmung Kaysers mit dessen flei&szlig;igen Studien &uuml;ber
die Eisenzollfrage rechtfertigen wollte, antwortete Engels kurz und b&uuml;ndig:
&raquo;Wenn seine Studien einen Pfennig wert, so mu&szlig;ten sie ihn lehren, da&szlig;
in Deutschland <I>zwei</I> H&uuml;ttenwerke sind, Dortmunder Union und K&ouml;nigs-
und Laurah&uuml;tte, deren <I>jedes</I> imstande ist, <I>den ganzen inl&auml;ndischen
Bedarf zu decken</I>: daneben auch die vielen kleineren, da&szlig; hier also Schutzzoll
reiner Unsinn ist, da&szlig; hier nur Eroberung des ausw&auml;rtigen Marktes helfen
kann, also absoluter Freihandel oder aber <I>Bankrott</I>; da&szlig; die Eisenfabrikanten
selbst den Schutzzoll nur w&uuml;nschen k&ouml;nnen, wenn sie sich zu einem <I>Ring</I>,
einer Verschw&ouml;rung zusammengetan haben, die dem <I>inneren Markt Monopolpreise
aufzwingt</I>, um dagegen <A NAME="S528"></A><B>|528|*</B> die &uuml;bersch&uuml;ssigen
Produkte ausw&auml;rts zu Schleuderpreisen loszuschlagen, <I>wie sie dies im Augenblick
bereits tats&auml;chlich tun</I>. Im Interesse dieses Ringes, dieser Monopolistenverschw&ouml;rung,
hat K[ayser] gesprochen, und soweit er f&uuml;r Eisenz&ouml;lle stimmte, auch
gestimmt.&laquo; Als nun auch Karl Hirsch in der &raquo;Laterne&laquo; mit Kaysers Taktik unsanft
genug ins Gericht ging, verfiel die Fraktion auf den ungl&uuml;cklichen Gedanken,
die Beleidigte zu spielen, da Kayser mit ihrer Genehmigung gesprochen habe. Damit
verdarb sie es bei Marx und Engels vollends; &raquo;sie sind schon so weit vom parlamentarischen
Idiotismus angegriffen, da&szlig; sie glauben, <I>&uuml;ber der Kritik</I> zu
stehn, da&szlig; sie die Kritik als ein crime de l&eacute;semajest&eacute; [Mehring
&uuml;bersetzt: Majest&auml;tsverbrechen] verdonnern&laquo; meinte Marx.</P>
<P>Karl Hirsch war ein junger Schriftsteller, der sich als stellvertretender Redakteur
des &raquo;Volksstaats&laquo; w&auml;hrend Liebknechts mehrj&auml;hriger Festungshaft seine
Sporen verdient und seither in Paris gelebt hatte, aber von hier nach Erla&szlig;
des deutschen Ausnahmegesetzes ausgewiesen war. Er tat nun, was die deutsche Parteileitung
von Anfang an h&auml;tte tun sollen: er gab seit Mitte Dezember 1878 in Breda
in Belgien &raquo;Die Laterne&laquo; heraus, ein Wochenbl&auml;ttchen im Format und Stil von
Rocheforts &raquo;Lanterne&laquo;, so da&szlig; es in einfachen Briefumschl&auml;gen nach
Deutschland versandt werden konnte, um hier ein Sammel- und St&uuml;tzpunkt der
sozialdemokratischen Bewegung zu werden. Die Absicht war gut und Hirsch prinzipiell
ein durchaus klarer Kopf, aber die von ihm gew&auml;hlte Form, kurze, geistreich
pointierte Epigramme, entsprach wenig den Bed&uuml;rfnissen eines Arbeiterblattes.
Darin traf es die &raquo;Freiheit&laquo; gl&uuml;cklicher, ein Wochenblatt, das Most wenige
Wochen sp&auml;ter mit Hilfe des Kommunistischen Arbeiterbildungsvereins in London
herauszugeben begann; nur da&szlig; es sich nach leidlich vern&uuml;nftigen Anf&auml;ngen
in eine ziellose Revolutionsspielerei verlor.</P>
<P>F&uuml;r die deutsche Parteileitung wurde mit dem Erscheinen dieser beiden,
gewisserma&szlig;en wild gewachsenen und von ihr unabh&auml;ngigen Parteibl&auml;tter
die Frage eines ausl&auml;ndischen Pre&szlig;organs brennend. Bebel und Liebknecht
traten mit allem Nachdruck daf&uuml;r ein, und es gelang ihnen auch, den noch
immer sehr z&auml;hen Widerstand einflu&szlig;reicher Parteikreise zu &uuml;berwinden,
die an der Taktik vorsichtiger Zur&uuml;ckhaltung festhalten wollten. Mit Most
war schon keine Einigung mehr m&ouml;glich, aber Hirsch gab die &raquo;Laterne&laquo; auf
und erkl&auml;rte sich bereit, die Redaktion des neuen Organs zu &uuml;bernehmen;
auch Marx und Engels, die in Hirsch volles Vertrauen setzten, waren zur Mitarbeit
bereit. Das neue Blatt sollte als Wochenschrift in Z&uuml;rich erscheinen, und
mit seiner <A NAME="S529"></A><B>|529|</B> Vorbereitungen wurden drei Parteigenossen
beauftragt, die in Z&uuml;rich, lebten: der Versicherungsbeamte Schramm, der aus
Berlin ausgewiesen worden war, Karl H&ouml;chberg und Eduard Bernstein, den H&ouml;chberg
als literarischen Beirat gewonnen hatte.</P>
<P>Sie hatten es aber offenbar nicht eilig mit dem Auftrage, der ihnen erteilt
worden war, und der Grund ihres Z&ouml;gerns wurde offenbar, als sie im Juli 1879
mit einem eigenen &raquo;Jahrbuch f&uuml;r Sozialwissenschaft und Sozialpolitik&laquo; hervortraten,
das zweimal im Jahre erscheinen sollte. Der Geist, worin es redigiert war, offenbarte
sich namentlich in einem Artikel, der &raquo;R&uuml;ckblicke auf die sozialistische
Bewegung&laquo; warf und mit drei Sternen gezeichnet war. Doch waren seine eigentlichen
Verfasser H&ouml;chberg und Schramm; Bernstein hatte nur wenige Zeilen beigesteuert.</P>
<P>Inhaltlich aber war der Artikel eine unglaublich geschmack- und taktlose Kapuzinade
&uuml;ber die S&uuml;nden der Partei, &uuml;ber ihren Mangel an &raquo;gutem Ton&laquo;, &uuml;ber
ihre Sucht zu schimpfen, &uuml;ber ihre Koketterie mit den Massen und ihre Mi&szlig;achtung
der gebildeten Klassen, und was sonst von jeher die Schneiderseele des Philisters
an proletarischen Bewegungen zu &auml;rgern pflegt. Ihrer praktischen Weisheit
letzter Schlu&szlig; aber war, die erzwungene Mu&szlig;e des Sozialistengesetzes
zur Bu&szlig;e und Einkehr zu benutzen. Marx und Engels waren &uuml;ber das Machwerk
emp&ouml;rt; in einem privaten Rundschreiben an die leitenden Parteikreise forderten
sie kategorisch, da&szlig; man Leute mit solchen Gesinnungen, wenn man sie einmal
aus praktischen Gr&uuml;nden in der Partei dulden wolle, wenigstens nicht an hervorragender
Stelle sprechen lassen solle.<A name="ZT5"></A><A href="fm03_509.htm#Z5"><SPAN class="top">[5]</SPAN></A> Dies Recht hat freilich auch H&ouml;chberg nicht
einger&auml;umt erhalten, sondern er hatte es sich einfach genommen, wie er denn
auch ganz eigenm&auml;chtig verfahren zu sein scheint, als er f&uuml;r das &raquo;Dreigestirn&laquo;
in Z&uuml;rich ein &Uuml;berwachungsrecht &uuml;ber die Redaktion Hirsch beanspruchte
und sich eine Redaktionsf&uuml;hrung im Stil der &raquo;Laterne&laquo; verbat. Daraufhin sagten
sich Hirsch und die beiden Alten in London von jeder Beteiligung an dem neuen
Blatte los.</P>
<P>Aus dem vielen Hin- und Hergeschreibe in der Sache haben sich nur Bruchst&uuml;cke
erhalten. Daraus geht freilich hervor, da&szlig; Bebel und Liebknecht mit den
Anspr&uuml;chen des &raquo;Dreigestirns&laquo; keineswegs einverstanden gewesen, aber man
sieht nicht recht, weshalb sie nicht rechtzeitig dazwischengefahren sind. H&ouml;chberg
selbst war nach London gekommen, wo er jedoch nur Engels antraf, der von seinen
konfusen Anschauungen den schlechtesten Eindruck empfing, sowenig er oder Marx
je an den guten Absichten des Mannes gezweifelt haben. Die gegenseitige Erbitterung
war auch wenig geeignet, ein rechtzeitiges Einvernehmen zu f&ouml;rdern; am 19.
September 1879 schrieb Marx an Sorge, w&uuml;rde das neue Wochenblatt <A NAME="S530"></A><B>|530|*</B>
im Stil H&ouml;chbergs redigiert werden, so w&auml;ren sie gezwungen, &ouml;ffentlich
gegen solche &raquo;Verluderung&laquo; der Partei und der Theorie aufzutreten. &raquo;Die Herren
sind also vorgewarnt und kennen uns auch genug um zu wissen, da&szlig; es hier
hei&szlig;t: Biegen oder Brechen! Wollen sie sich kompromittieren, tant pis! [Mehring
&uuml;bersetzt: um so schlimmer!] Uns zu kompromittieren wird ihnen in keinem
Fall gestattet.&laquo;</P>
<P>Gl&uuml;cklicherweise ist es nicht zu dem &Auml;u&szlig;ersten gekommen. Vollmar
&uuml;bernahm die Redaktion des Z&uuml;richer &raquo;Sozialdemokraten&laquo; und f&uuml;hrte
sie zwar &raquo;miserabel&laquo; genug, wie Marx und Engels meinten, aber doch nicht so, da&szlig;
sie einen Anla&szlig; zum &ouml;ffentlichen Protest gehabt h&auml;tten. Es gab
nur &raquo;best&auml;ndige Korrespondenzauseinandersetzungen mit den Leipzigern, wobei
's oft scharf hergeht&laquo;. Das &raquo;Dreigestirn&laquo; erwies sich auch als ungef&auml;hrlich.
Schramm hielt sich v&ouml;llig zur&uuml;ck; H&ouml;chberg war h&auml;ufig verreist,
und Bernstein befreite sich unter dem Druck der Ereignisse von aller katzenj&auml;mmerlichen
Stimmung, wie es gleichm&auml;&szlig;ig und gleichzeitig vielen Parteigenossen
erging, die bis dahin die Dinge ein wenig hatten an sich herankommen lassen. Nicht
zuletzt mochte zur Beruhigung der Gem&uuml;ter beitragen, da&szlig; Marx und Engels
den ungeheuren Schwierigkeiten, mit denen die deutsche Parteileitung zu k&auml;mpfen
hatte, nachgerade in h&ouml;herem Grade gerecht wurden, als es anfangs wohl geschehen
war. Am 5. November 1880 schrieb Marx an Sorge: &raquo;Denen, comparativement parlant
[Mehring &uuml;bersetzt: die vergleichsweise] ruhig im Auslande sitzen, ziemt
es nicht, den unter den schwierigsten Umst&auml;nden und mit gro&szlig;en pers&ouml;nlichen
Opfern im Inland Wirkenden, zum Gaudium der Bourgeois und der Regierung, ihre
Position noch zu erschweren.&laquo;Wenige Wochen darauf wurde sogar ein f&ouml;rmlicher
Friede geschlossen.</P>
<P>Vollmar hatte seine Redaktionsstelle zum 31. Dezember 1880 gek&uuml;ndigt,
und es war in entgegenkommendem Sinne gemeint, da&szlig; die deutsche Parteileitung
nunmehr Karl Hirsch zu berufen beschlo&szlig;. Da Hirsch zur Zeit in London lebte,
entschlo&szlig; sich Bebel, hin&uuml;berzufahren, um mit ihm zu verhandeln; zugleich
wollte er sich, was l&auml;ngst schon geplant war, einmal gr&uuml;ndlich mit Marx
und Engels aussprechen, und er nahm auch Bernstein mit, um das Vorurteil zu zerstreuen,
das gegen diesen, der sich inzwischen durchaus bew&auml;hrt hatte, noch immer
in London bestand. Der Kanossagang nach London, wie er in Parteikreisen genannt
wurde, erreichte seine verschiedenen Zwecke durchaus; nur da&szlig; Karl Hirsch
seine anf&auml;ngliche Zusage nachtr&auml;glich dahin einschr&auml;nkte, er wolle
den &raquo;Sozialdemokraten&laquo; von London aus redigieren. Das wurde abgelehnt, und das
Ende vom Liede war, da&szlig; Bernstein zun&auml;chst vorl&auml;ufig <A NAME="S531"></A><B>|531|*</B>,
dann aber endg&uuml;ltig mit der Redaktion betraut wurde, die er, nicht zuletzt
zur Zufriedenheit der Londoner, mit Ehren f&uuml;hrte. Und als ein Jahr darauf
die ersten Reichstagswahlen unter dem Sozialistengesetz stattfanden, jubelte Engels:
So famos hat sich noch kein Proletariat geschlagen.</P>
<P>Auch in Frankreich leuchteten g&uuml;nstige Sterne. Nach der blutigen Maiwoche
des Jahres 1871 hatte Thiers den noch immer zitternden Bourgeois von Versailles
verk&uuml;ndigt, da&szlig; der Sozialismus f&uuml;r Frankreich tot sei, unbek&uuml;mmert
darum, da&szlig; er sich mit der gleichen Versicherung schon einmal, nach den
Junitagen von 1848, als falscher Prophet erwiesen hatte. Er mochte glauben, da&szlig;
der um so kr&auml;ftigere Aderla&szlig; - man berechnete 1871 den Verlust der
Pariser Arbeiterschaft durch die Stra&szlig;enk&auml;mpfe, die Hinrichtungen,
die Deportationen, die Galeerenstrafen, die Auswanderung auf 100.000 K&ouml;pfe
- um so wirksamer sein werde. Aber er t&auml;uschte sich nur um so gr&uuml;ndlicher.
Nach 1848 hatte der Sozialismus immerhin an zwei Jahrzehnte gebraucht, um aus
seiner Bet&auml;ubung und seinem Schweigen zu erwachen; nach 1871 aber brauchte
er nur ein halbes Jahrzehnt, um sich wieder anzumelden. Schon 1876, als die Kriegsgerichte
noch ihre Blutarbeit verrichteten und Verteidiger der Kommune f&uuml;siliert wurden,
tagte der erste Arbeiterkongre&szlig; in Paris.</P>
<P>Freilich war er zun&auml;chst nur eine Anmeldung. Er stand unter der G&ouml;nnerschaft
der b&uuml;rgerlichen Republikaner, die an den Arbeitern eine St&uuml;tze gegen
die monarchistischen Krautjunker suchten, und seine Beschl&uuml;sse bewegten sich
um das harmlose Genossenschaftswesen, wie es etwa Schulze-Delitzsch in Deutschland
vertrat. Aber da&szlig; es dabei nicht bleiben w&uuml;rde, lie&szlig; sich voraussehen.
Die mechanische Gro&szlig;industrie, die sich seit dem Handelsvertrage mit England
vom Jahre 1803 langsam entwickelt hatte, war nach 1870 ungleich schneller gewachsen.
Sie hatte hohen Anforderungen gerecht zu werden: die Sch&auml;den zu heilen, die
der Krieg dem dritten Teile Frankreichs zugef&uuml;gt hatte, die Mittel f&uuml;r
den riesigen Aufbau eines neuen Militarismus zu schaffen, endlich die L&uuml;cke
auszuf&uuml;llen, die durch den Verlust des Elsasses entstanden war, derjenigen
franz&ouml;sischen Provinz, die bis 1870 industriell am entwickeltsten gewesen
war. Was von ihr beansprucht wurde, verstand die gro&szlig;e Industrie zu leisten.
In allen Teilen des Landes schossen Fabriken empor und schufen ein industrielles
Proletariat, das in den Bl&uuml;tetagen der alten Internationalen eigentlich doch
nur erst in einigen St&auml;dten des nord&ouml;stlichen Frankreichs vorhanden
gewesen war.</P>
<P>Diese Voraussetzung erkl&auml;rte die schnellen Erfolge, die Jules Guesde errang,
als er sich mit seiner z&uuml;ndenden Beredsamkeit in die Arbeiterbewegung <A NAME="S532"></A><B>|532|*</B>
warf, die mit dem Pariser Kongre&szlig; von 1876 eingesetzt hatte. Eben erst vom
Anarchismus bekehrt, zeichnete sich Guesde nicht durch theoretische Klarheit aus,
wie man heute noch in der von ihm 1877 gegr&uuml;ndeten &raquo;&Eacute;galit&eacute;&laquo;
erkennen kann; obgleich &raquo;Das Kapital&laquo; schon ins Franz&ouml;sische &uuml;bersetzt
und ver&ouml;ffentlicht worden war, wu&szlig;te er nichts von Marx, dessen Theorien
ihm erst durch Karl Hirsch bekannt wurden. Aber er hatte den Gedanken des Gemeineigentums
am Grund und Boden und an den produzierten Produktionsmitteln mit voller Entschiedenheit
und Klarheit erfa&szlig;t, und mit diesem letzten Worte des proletarischen Emanzipationskampfs,
das auf den Kongressen der alten Internationalen auf den heftigsten Widerstand
der franz&ouml;sischen Delegierten zu sto&szlig;en pflegte, wu&szlig;te Guesde,
ein Rednertalent ersten Ranges und ein scharfsinniger Polemiker, die franz&ouml;sischen
Arbeiter aufzust&uuml;rmen.</P>
<P>Er hatte den Erfolg, da&szlig; bereits auf dem zweiten Arbeiterkongresse, der
im Februar 1878 in Lyon tagte und nach der Absicht seiner Veranstalter nur eine
neue Auflage des Pariser Kongresses werden sollte, sich eine Minderheit von zwanzig
Delegierten um seine Fahne sammelte. Nunmehr wurde die Sache f&uuml;r die Regierung
und die Bourgeoisie brenzlich; man begann die Arbeiterbewegung zu verfolgen, und
es gelang auch, die &raquo;&Eacute;galit&eacute;&laquo; durch Geld- und Gef&auml;ngnisstrafen
ihrer Redakteure zu unterdr&uuml;cken. Aber Guesde und seine Genossen lie&szlig;en
sich nicht entmutigen; sie arbeiteten unverdrossen weiter, und auf dem dritten
Arbeiterkongresse, der im Oktober 1879 in Marseille tagte, hatten sie die Mehrheit
f&uuml;r sich, die sich sofort als sozialistische Partei auftat und f&uuml;r den
politischen Kampf organisierte. Die &raquo;&Eacute;galit&eacute;&laquo; erstand wieder und
gewann an Lafargue einen flei&szlig;igen Mitarbeiter, der fast alle ihre theoretischen
Artikel schrieb, wenig sp&auml;ter begann Malon, auch er ein ehemaliger Bakunist,
die &raquo;Revue socialiste&laquo; herauszugeben, die Marx und Engels mit einzelnen Beitr&auml;gen
unterst&uuml;tzten.</P>
<P>Dann begab sich Guesde im Fr&uuml;hjahr 1880 nach London, um mit Marx, Engels
und Lafargue ein Wahlprogramm f&uuml;r die junge Partei zu entwerfen. Man einigte
sich auf das sogenannte Minimalprogramm, das nach einer kurzen Einleitung, die
in wenigen Zeilen das kommunistische Ziel erl&auml;uterte, in seinem &ouml;konomischen
Teil nur aus Forderungen bestand, die aus der Arbeiterbewegung unmittelbar hervorwuchsen.
Man einigte sich freilich nicht &uuml;ber jeden einzelnen Punkt; als Guesde darauf
dr&auml;ngte, die Forderung eines gesetzlich festgestellten Minimallohns in das
Programm aufzunehmen, meinte Marx, wenn das franz&ouml;sische Proletariat noch
so kindisch sei, solcher K&ouml;der zu bed&uuml;rfen, so sei es nicht erst der
M&uuml;he wert, ein Programm aufzustellen.</P>
<P><B><A NAME="S533">|533|</A></B> Indessen war das nicht so schlimm gemeint;
im ganzen betrachtete Marx das Programm als einen gewaltsamen Schritt, die franz&ouml;sischen
Arbeiter aus ihrem Phrasennebel auf den Boden der Wirklichkeit herabzuziehen,
und sowohl aus der Opposition wie aus der Zustimmung, die es fand, schlo&szlig;
er, da&szlig; die erste wirkliche Arbeiterbewegung in Frankreich entstehe. Bisher
h&auml;tte es dort nur Sekten gegeben, die nat&uuml;rlich ihr Losungswort vom
Sektenstifter erhalten h&auml;tten, w&auml;hrend die Masse des Proletariats den
radikalen oder radikaltuenden Bourgeois folgte und sich am Tage der Entscheidung
f&uuml;r sie schl&uuml;ge, um den Tag darauf von den Leuten, die sie ans Ruder
gebracht h&auml;tte, niedergemetzelt, deportiert usw. zu werden. Deshalb war Marx
auch sehr einverstanden damit, da&szlig; seine Schwiegers&ouml;hne, sobald ihnen
die der franz&ouml;sischen Regierung abgetrotzte Amnestie der Kommunards die R&uuml;ckkehr
erm&ouml;glichte, nach Frankreich &uuml;bersiedelten: Lafargue, um gemeinsam mit
Guesde zu arbeiten, Longuet, um eine einflu&szlig;reiche Redakteurstelle in der
&raquo;Justice&laquo; Clemenceaus zu &uuml;bernehmen, der an der Spitze der &auml;u&szlig;ersten
Linken stand.</P>
<P>Anders, aber im Sinne von Marx noch erfreulicher, lagen die Dinge in Ru&szlig;land.
Hier wurde sein Hauptwerk eifriger gelesen und lebhafter anerkannt als irgendwo
anders; namentlich in der j&uuml;ngeren Gelehrtenwelt gewann Marx viele Anh&auml;nger
und zum Teil auch pers&ouml;nliche Freunde. Aber den beiden Hauptrichtungen der
damaligen russischen Massenbewegung, soweit es eine solche gab, der Partei des
Volkswillens und der Partei der schwarzen Umteilung, war seine Auffassung und
Lehre noch ganz fremd. Beide standen wenigstens insoweit noch ganz auf bakunistischem
Boden, als es ihnen vor allen Dingen auf die b&auml;uerliche Klasse ankam. Die
Frage, auf die es ihnen in erster Reihe ankam, formulierten Marx und Engels so:
Kann die russische Bauerngemeinde, diese allerdings schon sehr zersetzte Form
des urw&uuml;chsigen Gemeineigentums am Boden, unmittelbar &uuml;bergehen in eine
h&ouml;here kommunistische Form des Grundeigentums, oder aber mu&szlig; sie vorher
denselben Aufl&ouml;sungsproze&szlig; durchmachen, der sich in der historischen
Entwicklung des Westens darstellt?</P>
<P>Die &raquo;einzige, heute m&ouml;gliche&laquo; Antwort auf diese Frage gaben Marx und Engels
in der Vorrede zu einer neuen, von Vera Sassulitsch verfa&szlig;ten &Uuml;bersetzung
des &raquo;Kommunistischen Manifestes&laquo; ins Russische mit den Worten: &raquo;Wird die russische
Revolution das Signal zu einer proletarischen Revolution im Westen, so da&szlig;
beide einander erg&auml;nzen, so kann das jetzige russische Gemeineigentum am
Boden zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen.&laquo;<A name="ZT6"></A><A href="fm03_509.htm#Z6"><SPAN class="top">[6]</SPAN></A> Diese Auffassung
erkl&auml;rt <A NAME="S534"></A><B>|534|*</B> die leidenschaftliche Parteinahme,
die Marx f&uuml;r die Partei des Volkswillens bekundete, deren terroristische
Politik den Zaren zum Gefangenen der Revolution in Gatschina machte, w&auml;hrend
er mit einer gewissen H&auml;rte &uuml;ber die Partei der schwarzen Umteilung
urteilte, die alle politisch-revolution&auml;re Aktion ablehnte und sich auf die
Propaganda beschr&auml;nkte. Geh&ouml;rten doch gerade dieser Partei M&auml;nner
wie Axelrod und Plechanow an, die so viel dazu beigetragen haben, die russische
Arbeiterbewegung mit marxistischem Geiste zu erf&uuml;llen.</P>
<P>Endlich begann es auch in England zu tagen. Im Juni 1881 erschien ein kleines
Buch: &raquo;England f&uuml;r Alle&laquo;; es war von Hyndman verfa&szlig;t und sollte das
Programm der Demokratischen F&ouml;deration darstellen, einer Assoziation, die
sich eben aus verschiedenen, englischen und schottischen radikalen Gesellschaften,
halb Bourgeois, halb Proletariern, gebildet hatte. Die Kapitel &uuml;ber Arbeit
und Kapital waren w&ouml;rtliche Ausz&uuml;ge oder Umschreibungen aus dem &raquo;Kapital&laquo;
von Marx, doch nannte Hyndman weder das Werk noch dessen Verfasser, sondern bemerkte
nur am Schlu&szlig; der Vorrede, f&uuml;r den Gedankeninhalt, wie f&uuml;r einen
gro&szlig;en Teil des stofflichen Inhalts sei er dem Werke eines gro&szlig;en
Denkers und selbst&auml;ndigen Schriftstellers verpflichtet. Diese sonderbare
Art des Zitierens machte Hyndman noch kr&auml;nkender durch die Entschuldigungen,
durch die er sie vor Marx zu rechtfertigen suchte: dessen Name sei zu verrufen,
die Engl&auml;nder lie&szlig;en sich ungern von Fremden belehren und was dessen
mehr war. Marx brach darauf mit Hyndman, den er zudem f&uuml;r ein &raquo;schwaches
Gef&auml;&szlig;&laquo; hielt.</P>
<P>Gro&szlig;e Genugtuung bereitete ihm dagegen noch in demselben Jahre ein Aufsatz
&uuml;ber ihn, den Belfort Bax im Dezemberheft einer englischen Monatsschrift
ver&ouml;ffentlichte. Zwar fand Marx, da&szlig; die biographischen Notizen darin
meistens unrichtig und auch in der Darstellung seiner &ouml;konomischen Prinzipien
vieles falsch und konfus sei, aber es sei die erste englische Ver&ouml;ffentlichung
dieser Art, die von einem wirklichen Enthusiasmus f&uuml;r die neuen Ideen selbst
durchweht sei und sich k&uuml;hn gegen britisches Philistertum aufrichte; trotz
alledem habe das Erscheinen dieses Artikels, mit gro&szlig;en Lettern in Plakaten
auf den W&auml;nden von Westend London angek&uuml;ndigt, gro&szlig;es Aufsehen
erregt.</P>
<P>Wenn Marx so an Sorge schrieb, so scheint der eiserne Mann, der f&uuml;r Lob
und Tadel so unempfindlich war, einmal einen leichten Anfall von Selbstgef&auml;lligkeit
gehabt zu haben, und nichts w&auml;re verzeihlicher gewesen. Aber er schrieb nur
aus einem tiefersch&uuml;tterten Gem&uuml;te, wie aus den Schlu&szlig;s&auml;tzen
des Briefes hervorging: &raquo;Das wichtigste dabei f&uuml;r mich <A NAME="S535"></A><B>|535|</B>
war, da&szlig; ich die betreffende Nummer schon am 30. November erhielt, so da&szlig;
meiner teuren Gattin noch die letzten Tage ihres Lebens erhellt wurden. Du wei&szlig;t
ja, welch leidenschaftliches Interesse sie an allen solchen Sachen nahm.&laquo; Frau
Marx war am 2. Dezember 1881 gestorben.</P>
<H3 ALIGN="CENTER">5. Abendschatten<A name="Kap_5"></A></H3>
<P>W&auml;hrend sich der politisch-soziale Horizont - und das war f&uuml;r Marx
freilich immer die Hauptsache - ringsum erhellte, senkten sich die Abendschatten
tiefer und tiefer auf ihn und sein Haus. Seitdem ihm das Festland mit seinen heilkr&auml;ftigen
B&auml;dern gesperrt war, hatten seine k&ouml;rperlichen Leiden wieder zugenommen
und ihn mehr oder weniger arbeitsunf&auml;hig gemacht; seit 1878 hat er an der
Vollendung seines Hauptwerks nicht mehr gearbeitet, und ungef&auml;hr zur selben
Zeit oder doch wenig nachher begann die nagende Sorge um die Gesundheit seiner
Frau,</P>
<P>Sie hatte die sorgenfreieren Tage des Alters mit dem gl&uuml;cklichen Gleichmut
einer immer harmonisch gestimmten Seele genossen, so wie sie es selbst in einem
Trostbriefe an Sorges schilderte, die zwei Kinder in bl&uuml;hendem Alter verloren
hatten: &raquo;Ich wei&szlig; nur zu gut, wie schwer es wird, und wie lange es dauert,
ehe man nach solchen Verlusten sein eigenes Gleichgewicht wiederfindet; da kommt
dann das Leben mit seinen kleinen Freuden und seinen gro&szlig;en Sorgen, mit
all seinen kleinen tagt&auml;glichen Plackereien und kleinlichen Qu&auml;lereien
zu unserer Hilfe, und der gr&ouml;&szlig;ere Schmerz wird vom st&uuml;ndlichen
kleinen Leid &uuml;bert&auml;ubt und, ohne da&szlig; wirs merken, mildert sich
das heftige Weh; nicht da&szlig; die Wunde jemals ausheilte, namentlich nicht
im Mutterherzen, aber nach und nach erwacht wieder im Gem&uuml;t neue Empf&auml;nglichkeit
und selbst neue Empfindlichkeit f&uuml;r neues Leid und neue Freude, und so lebt
man weiter und weiter mit dem wunden und doch stets hoffenden Herzen, bis es zuletzt
ganz stillesteht und ewiger Frieden da ist.&laquo; Wer h&auml;tte diesen leichten Tod
durch das sanft l&ouml;sende Walten der Natur eher verdient als diese Dulderin
und K&auml;mpferin, aber beschieden ist er ihr nicht gewesen: sie hatte Schweres
und Schwerstes zu tragen, ehe sie den letzten Atemzug tat.</P>
<P>Im Herbst 1878 meldete Marx zuerst an Sorge, da&szlig; seine Frau &raquo;sehr unwohl&laquo;
sei; ein Jahr sp&auml;ter hie&szlig; es schon: &raquo;Meine Frau ist immer noch gef&auml;hrlich
krank, und ich selbst immer noch nicht auf dem <A NAME="S536"></A><B>|536|</B>
Strumpf.&laquo; Nach, wie es scheint, l&auml;ngerer Ungewi&szlig;heit erwies sich die
Krankheit von Frau Marx als ein Krebsleiden, das unter qualvollen Schmerzen ihren
langsamen, aber unaufhaltsamen Tod herbeif&uuml;hren mu&szlig;te. Was Marx darunter
litt, l&auml;&szlig;t sich nur an dem ermessen, was ihm diese Frau ein langes
Leben hindurch gewesen war. Sie selbst blieb gefa&szlig;ter als ihr Mann und ihre
ganze Umgebung; mit unvergleichlichem Mute unterdr&uuml;ckte sie alle Schmerzen,
um den Ihrigen immer ein heiteres Gesicht zu zeigen. Als das &Uuml;bel schon weit
vorgeschritten war, im Sommer 1881, hatte sie noch den Mut, eine Reise nach Paris
zu unternehmen, um ihre verheirateten T&ouml;chter wiederzusehen; da doch keine
Hilfe mehr m&ouml;glich war, f&uuml;gten sich die &Auml;rzte dem Wagnis. In einem
Briefe an Frau Longuet vom 22. Juli 1881 k&uuml;ndigte Marx den gemeinsamen Besuch
an: &raquo;Antworte, bitte, sofort, denn Mama wird nicht wegfahren, bis Du ihr schreibst,
was sie Dir aus London mitbringen soll. Du wei&szlig;t, sie hat solche Auftr&auml;ge
wahnsinnig gern.&laquo; Der Ausflug verlief f&uuml;r die Kranke so g&uuml;nstig, wie
unter den Umst&auml;nden noch m&ouml;glich war, dagegen wurde Marx nach der R&uuml;ckkehr
von einer heftigen Brustfellentz&uuml;ndung ergriffen, verbunden mit Bronchitis
(Entz&uuml;ndung der Luftr&ouml;hren&auml;ste) und beginnender Lungenentz&uuml;ndung.
Die Erkrankung war sehr gef&auml;hrlich, aber sie wurde &uuml;berwunden, dank
der aufopfernden Pflege Eleanors und Lenchen Demuths. Es waren traurige Tage,
&uuml;ber die Eleanor schreibt: &raquo;In der gro&szlig;en Vorderstube lag unser M&uuml;tterchen,
in der kleinen Stube daneben lag Mohr. Und diese beiden, die so aneinander gew&ouml;hnt,
so miteinander verwachsen waren, konnten nicht mehr in demselben Raume zusammen
sein... Mohr &uuml;berwand noch einmal die Krankheit. Nie werde ich den Morgen
vergessen, an welchem er sich stark genug f&uuml;hlte, in M&uuml;tterchens Stube
zu gehen. Sie waren zusammen wieder jung - sie ein liebendes M&auml;dchen und
er ein liebender J&uuml;ngling, die zusammen ins Leben eintraten, und nicht ein
von Krankheit zerr&uuml;tteter alter Mann und eine sterbende alte Frau, die f&uuml;rs
Leben voneinander Abschied nahmen.&laquo;</P>
<P>Als Frau Marx am 2. Dezember 1881 starb, war Marx noch immer so schwach, da&szlig;
ihm der Arzt verbot, die geliebte Frau auf ihrem letzten Gange zu geleiten. &raquo;Ich
habe mich diesem Gebot gef&uuml;gt&laquo;, schrieb Marx an Frau Longuet, &raquo;weil die teure
Verstorbene noch einige Tage vor ihrem Tode den Wunsch aussprach, es m&ouml;chte
bei ihrem Begr&auml;bnis kein Zeremoniell stattfinden: &#155;wir legen keinen Wert
auf die Au&szlig;enseite&#139;. Es ist f&uuml;r mich ein gro&szlig;er Trost, da&szlig;
ihre Kr&auml;fte so schnell abnahmen. Wie der Arzt vorhergesagt hatte, nahm die
Krankheit den Charakter eines allgemeinen Absterbens an, als ob sie von Altersschw&auml;che
herr&uuml;hre. <A NAME="S537"></A><B>|537|</B> Sogar in den letzten Stunden -
kein Kampf mit dem Tode, ein langsames Einschlafen, und selbst die Augen gr&ouml;&szlig;er,
sch&ouml;ner, strahlender als je.&laquo;</P>
<P>Am Grabe von Jenny Marx sprach Engels. Er r&uuml;hmte sie als die treueste
Kameradin ihres Gatten und schlo&szlig; mit den Worten: &raquo;Ich habe nicht n&ouml;tig,
von ihren pers&ouml;nlichen Eigenschaften zu sprechen. Ihre Freunde kennen sie
und werden sie nicht vergessen. Wenn es je eine Frau gegeben, die ihr gr&ouml;&szlig;tes
Gl&uuml;ck darein gesetzt hat, andere gl&uuml;cklich zu machen, so war es diese
Frau.&laquo;<A name="ZT7"></A><A href="fm03_509.htm#Z7"><SPAN class="top">[7]</SPAN></A></P>
<H3 ALIGN="CENTER">6. Das letzte Jahr<A name="Kap_6"></A></H3>
<P>Marx hat seine Frau nur etwa f&uuml;nf Vierteljahre &uuml;berlebt. Aber dies
Leben ist in der Tat nur ein &raquo;langsames Sterben&laquo; gewesen, und Engels hatte die
richtige Empfindung, als er am Todestage von Frau Marx sagte: &raquo;Der Mohr ist auch
gestorben.&laquo;</P>
<P>Da die beiden Freunde in dieser kurzen Spanne Zeit meist getrennt waren, so
nahm ihr Briefwechsel noch einen letzten Aufschwung, und in ihm gleitet das letzte
Lebensjahr von Marx in d&uuml;sterer Erhabenheit vor&uuml;ber, ersch&uuml;tternd
durch die schmerzlichen Einzelheiten, in denen das unerbittliche Menschenlos auch
diesen m&auml;chtigen Geist aufl&ouml;ste.</P>
<P>Was ihn noch ans Leben fesselte, war sein brennendes Verlangen, seine letzte
Kraft der gro&szlig;en Sache zu widmen, der sein ganzes Leben gewidmet gewesen
war. &raquo;Ich komme&laquo;, schrieb er am 15. Dezember 1881 an Sorge, &raquo;aus der letzten Krankheit
doppelt verkr&uuml;ppelt heraus, moralisch durch den Tod meiner Frau, physisch
dadurch, da&szlig; eine Verdickung der Pleura und gr&ouml;&szlig;ere Reizbarkeit
der Luftr&ouml;hren&auml;ste geblieben. Einige Zeit werde ich total verlieren
m&uuml;ssen mit Gesundheitsherstellungsman&ouml;vern.&laquo; Diese Zeit hat bis an seinen
Todestag gew&auml;hrt, denn alle Versuche, seine Gesundheit wiederherzustellen,
scheiterten.</P>
<P>Die &Auml;rzte schickten ihn zun&auml;chst nach Ventnor auf der Insel Wight,
und dann nach Algier. Hier traf er am 20. Februar 1882 ein, doch nach der kalten
Reise mit einer neuen Brustfellentz&uuml;ndung. Noch bedenklicher war, da&szlig;
Winter und Fr&uuml;hjahr in Algier so regnerisch und unfreundlich waren wie nie.
Nicht bessere Erfahrungen machte Marx in Monte Carlo, wohin er am 2. Mai &uuml;bersiedelte;
auch hier traf er infolge der na&szlig;kalten &Uuml;berfahrt mit einer Brustfellentz&uuml;ndung
ein, auch hier fand er anhaltend schlechtes Wetter vor.</P>
<P><B><A NAME="S538">|538|</A></B> Erst als er Anfang Juni seinen Aufenthalt in
Argenteuil bei Longuets nahm, besserte sich sein Gesundheitszustand. Nicht wenig
mochte dazu das Familienleben beitragen; dann aber gebrauchte Marx auch mit Erfolg
die Schwefelquellen des benachbarten Enghien gegen seine eingewurzelte Bronchitis.
Ein Aufenthalt von sechs Wochen, den er darauf mit seiner Tochter Laura in Vevey
am Genfer See nahm, trug ebenfalls wesentlich dazu bei, ihn gesunder zu machen.
Als er im September nach London zur&uuml;ckkehrte, sah er kr&auml;ftig aus und
erstieg oft mit Engels den H&uuml;gel von Hampstead, etwa 300 Fu&szlig; h&ouml;her
als seine Wohnung, ohne Beschwerde.</P>
<P>Marx gedachte jetzt seine Arbeiten wieder aufzunehmen, da die &Auml;rzte ihm
den Winteraufenthalt zwar nicht in London, aber doch an der englischen S&uuml;dk&uuml;ste
gestattet hatten. Als die Novembernebel drohten, ging er nach Ventnor, fand es
hier jedoch, wie im Fr&uuml;hjahr in Algier und in Monte Carlo: Nebel und nasses
Wetter, die ihm erneute Erk&auml;ltungen zuzogen und ihn, statt st&auml;rkender
Bewegung in freier Luft, zu schw&auml;chendem Stubenarrest zwangen. An wissenschaftliche
Arbeiten war nicht zu denken, so reges Interesse Marx an allen wissenschaftlichen
Entdeckungen bekundete, auch an solchen, die seinem engeren Arbeitsgebiete ferner
lagen, so an den Experimenten von Deprez auf der M&uuml;nchner Elektrizit&auml;ts-Ausstellung.
Im allgemeinen machte sich in seinen Briefen eine gedr&uuml;ckte und mi&szlig;mutige
Stimmung geltend; als sich in der jungen Arbeiterpartei Frankreichs die unausbleiblichen
Kinderkrankheiten meldeten, war er unzufrieden mit der Vertretung seiner Gedanken
durch seine Schwiegers&ouml;hne: &raquo;Longuet als letzter Proudhonist und Lafargue
als letzter Bakuninenist! que le diable les importe [Mehring &uuml;bersetzt: Hole
sie der Teufel]!&laquo; Damals ist ihm auch das gefl&uuml;gelte Wort entfahren, das
seitdem die Philisterwelt so seltsam erleuchtet hat, da&szlig; er f&uuml;r seine
Person jedenfalls kein Marxist sei.</P>
<P>Dann kam am 11. Januar 1883 der entscheidende Schlag: der pl&ouml;tzliche Tod
seiner Tochter Jenny. Schon am n&auml;chsten Tage kehrte Marx nach London zur&uuml;ck,
mit einer entschiedenen Bronchitis, zu der sich bald eine Kehlkopfentz&uuml;ndung
gesellte, die ihm das Schlucken fast unm&ouml;glich machte. &raquo;Er, der die gr&ouml;&szlig;ten
Schmerzen mit dem stoischsten Gleichmut zu ertragen wu&szlig;te, trank lieber
einen Liter Milch (die ihm sein Lebtag ein Greuel gewesen), als da&szlig; er die
entsprechende feste Nahrung verzehrte.&laquo;<A name="ZT8"></A><A href="fm03_509.htm#Z8"><SPAN class="top">[8]</SPAN></A> Im Februar entwickelte sich ein Geschw&uuml;r
in der Lunge. Die Arzneien versagten jede Wirkung auf den seit f&uuml;nfzehn Monaten
mit Medizin &uuml;berf&uuml;llten K&ouml;rper; sie schw&auml;chten h&ouml;chstens
den Appetit und st&ouml;rten die Verdauungst&auml;tigkeit. Fast von Tag zu Tag
magerte der <A NAME="S539"></A><B>|539|</B> Kranke sichtbar ab. Doch gaben die
&Auml;rzte noch nicht die Hoffnung auf, da die Bronchitis fast gehoben war und
das Schlucken leichter wurde. So trat das Ende dennoch unerwartet ein. Am 14.
M&auml;rz um die Mittagsstunde ist Karl Marx sanft und schmerzlos in seinem Lehnstuhl
entschlafen.</P>
<P>In allem Schmerz um den unersetzlichen Verlust fand Engels doch, da&szlig;
er seinen Trost in sich selbst trage. &raquo;Die Doktorenkunst h&auml;tte ihm vielleicht
noch auf einige Jahre eine vegetierende Existenz sichern k&ouml;nnen, das Leben
eines hilflosen, von den &Auml;rzten zum Triumph ihrer K&uuml;nste nicht pl&ouml;tzlich,
sondern zollweise absterbenden Wesens. Das aber h&auml;tte unser Marx nie ausgehalten.
Zu leben mit den vielen unvollendeten Arbeiten vor sich, mit dem Tantalusgel&uuml;st,
sie zu vollenden, und der Unm&ouml;glichkeit, es zu tun - das w&auml;re ihm tausendmal
bitterer gewesen als der sanfte Tod, der ihn ereilt. &#155;Der Tod ist kein Ungl&uuml;ck
f&uuml;r den, der stirbt, sondern f&uuml;r den, der &uuml;berlebt&#139;, pflegte er
mit Epikur zu sagen. Und diesen gewaltigen, genialen Mann als Ruine fortvegetieren
zu sehen, zum gr&ouml;&szlig;eren Ruhme der Medizin und zum Spotte f&uuml;r die
Philister, die er in seiner Vollkraft so oft zusammengeschmettert - nein, tausendmal
besser wie es ist, tausendmal besser wir tragen ihn ... in das Grab, wo seine
Frau schl&auml;ft.&laquo;</P>
<P>Am 17. M&auml;rz, einem Sonnabend, wurde Karl Marx im Grabe seiner Frau beigesetzt.
Mit gutem Takte hatte die Familie &raquo;alles Zeremoniell&laquo; abgelehnt, das dies Leben
mit einem schrillen Mi&szlig;klang beschlossen haben w&uuml;rde. Nur wenige Getreue
standen um die offene Gruft: Engels nebst Le&szlig;ner und Lochner, den alten
Gef&auml;hrten noch vom Kommunistenbunde her; aus Frankreich waren Lafargue und
Longuet, aus Deutschland Liebknecht gekommen; die Wissenschaft war durch zwei
M&auml;nner ersten Ranges vertreten, den Chemiker Schorlemmer und den Zoologen
Ray Lankester.</P>
<P>So aber lautete der letzte Gru&szlig;, den Engels in englischer Sprache dem
toten Freunde widmete, so aufrichtig und wahrhaftig in schlichten Worten zusammenfassend,
was Karl Marx der Menschheit gewesen ist und bleiben wird, da&szlig; ihm auch
an dieser Stelle das abschlie&szlig;ende Wort geb&uuml;hrt:</P>
<P>&raquo;Am 14. M&auml;rz, nachmittags ein Viertel vor drei, hat der gr&ouml;&szlig;te
lebende Denker aufgeh&ouml;rt zu denken. Kaum zwei Minuten allein gelassen, fanden
wir ihn beim Eintreten in seinem Sessel ruhig entschlummert - aber f&uuml;r immer.</P>
<P>Was das streitbare europ&auml;ische und amerikanische Proletariat, was die
historische Wissenschaft an diesem Mann verloren haben, das ist <A NAME="S540"></A><B>|540|</B>
gar nicht zu ermessen. Bald genug wird sich die L&uuml;cke f&uuml;hlbar machen
die der Tod dieses Gewaltigen gerissen hat.</P>
<P>Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx
das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte: die bisher unter ideologischen
&Uuml;berwucherungen verdeckte einfache Tatsache, da&szlig; die Menschen vor allen
Dingen zuerst essen, trinken, wohnen und sich kleiden m&uuml;ssen, ehe sie Politik,
Wissenschaft, Kunst, Religion usw. treiben k&ouml;nnen; da&szlig; also die Produktion
der unmittelbaren materiellen Lebensmittel und damit die jedesmalige &ouml;konomische
Entwicklungsstufe eines Volkes oder eines Zeitabschnitts die Grundlage bildet,
aus der sich die Staatseinrichtungen, die Rechtsanschauungen, die Kunst und selbst
die religi&ouml;sen Vorstellungen der betreffenden Menschen entwickelt haben und
aus der sie daher auch erkl&auml;rt werden m&uuml;ssen - nicht wie bisher geschehen,
umgekehrt.</P>
<P>Damit nicht genug. Marx entdeckte auch das spezielle Bewegungsgesetz der heutigen
kapitalistischen Produktionsweise und der von ihr erzeugten b&uuml;rgerlichen
Gesellschaft. Mit der Entdeckung des Mehrwerts war hier pl&ouml;tzlich Licht geschaffen,
w&auml;hrend alle fr&uuml;heren Untersuchungen sowohl der b&uuml;rgerlichen &Ouml;konomen
wie der sozialistischen Kritiker im Dunkel sich verirrt hatten.</P>
<P>Zwei solche Entdeckungen sollten f&uuml;r ein Leben gen&uuml;gen. Gl&uuml;cklich
schon der, dem es verg&ouml;nnt ist, nur eine solche zu machen. Aber auf jedem
einzelnen Gebiet, das Marx der Untersuchung unterwarf, und dieser Gebiete waren
sehr viele und keines hat er blo&szlig; fl&uuml;chtig ber&uuml;hrt - auf jedem,
selbst auf dem der Mathematik, hat er selbst&auml;ndige Entdeckungen gemacht.</P>
<P>So war der Mann der Wissenschaft. Aber das war noch lange nicht der halbe Mann.
Die Wissenschaft war f&uuml;r Marx eine geschichtlich bewegende, eine revolution&auml;re
Kraft. So reine Freude er haben konnte an einer neuen Entdeckung in irgendeiner
theoretischen Wissenschaft, deren praktische Anwendung vielleicht noch gar nicht
abzusehen - eine ganz andere Freude empfand er, wenn es sich um eine Entdeckung
handelte, die sofort revolution&auml;r eingriff in die Industrie, in die geschichtliche
Entwicklung &uuml;berhaupt. So hat er die Entwicklung der Entdeckungen auf dem
Gebiet der Elektrizit&auml;t und zuletzt noch die von Marc[el] Deprez genau verfolgt.</P>
<P>Denn Marx war vor allem Revolution&auml;r. Mitzuwirken, in dieser oder jener
Weise, am Sturz der kapitalistischen Gesellschaft und der durch sie geschaffenen
Staatseinrichtungen, mitzuwirken an der Befreiung des modernen Proletariats, dem
er zuerst das Bewu&szlig;tsein seiner eigenen <A NAME="S541"></A><B>|541|</B>
Lage und seiner Bed&uuml;rfnisse, das Bewu&szlig;tsein der Bedingungen seiner
Emanzipation gegeben hatte - das war sein wirklicher Lebensberuf. Der Kampf war
sein Element. Und er hat gek&auml;mpft mit einer Leidenschaft, einer Z&auml;higkeit,
einem Erfolg wie wenige. Erste &#155;Rheinische Zeitung&#139; 1842, Pariser &#155;Vorw&auml;rts!&#139;
1844, &#155;Br&uuml;sseler-Deutsche-Zeitung&#139; 1847, &#155;Neue Rheinische Zeitung&#139; 1848/49,
&#155;New-York Daily Tribune&#139; 1852 bis 1861 - dazu Kampfbrosch&uuml;ren die Menge,
Arbeit in Vereinen in Paris, Br&uuml;ssel und London, bis endlich die gro&szlig;e
Internationale Arbeiterassoziation als Kr&ouml;nung des Ganzen entstand - wahrlich,
das war wieder ein Resultat, worauf sein Urheber stolz sein konnte, h&auml;tte
er sonst auch nichts geleistet.</P>
<P>Und deswegen war Marx der bestgeha&szlig;te und bestverleumdete Mann seiner
Zeit. Regierungen, absolute wie republikanische, wiesen ihn aus, Bourgeois, konservative
wie extrem-demokratische, logen ihm um die Wette Verl&auml;sterungen nach. Er
schob das alles beiseite wie Spinnweb, achtete dessen nicht, antwortete nur, wenn
&auml;u&szlig;erster Zwang da war. Und er ist gestorben, verehrt, geliebt, betrauert
von Millionen revolution&auml;rer Mitarbeiter, die von den sibirischen Bergwerken
an &uuml;ber ganz Europa und Amerika bis Kalifornien hin wohnen, und ich kann
es k&uuml;hn sagen: Er mochte noch manchen Gegner haben, aber kaum noch einen
pers&ouml;nlichen Feind.</P>
<P>Sein Name wird durch die Jahrhunderte fortleben und so auch sein Werk!&laquo;<A name="ZT9"></A><A href="fm03_509.htm#Z9"><SPAN class="top">[9]</SPAN></A></P>
<HR size="1">
<P><A name="Z1"></A><SPAN class="top">[1]</SPAN> Friedrich Engels: Marx, Heinrich Karl, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me22/me22_337.htm#S342">Bd. 22, S. 342.</A> <A href="fm03_509.htm#ZT1">&lt;=</A></P>
<P><A name="Z2"></A><SPAN class="top">[2]</SPAN> Friedrich Engels: Deutscher Sozialismus in Versen und Prosa, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me04/me04_207.htm#S232">Bd. 4, S. 232.</A> <A href="fm03_509.htm#ZT2">&lt;=</A></P>
<P><A name="Z3"></A><SPAN class="top">[3]</SPAN> Karl Marx: Brief an Wilhelm Bracke, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me19/me19_013.htm#Kap_I">Bd. 19, S. 13/14.</A> <A href="fm03_509.htm#ZT3">&lt;=</A></P>
<P><A name="Z4"></A><SPAN class="top">[4]</SPAN> Friedrich Engels: Brief an Bebel, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me19/me19_003.htm">Bd. 19, S. 3-9.</A> <A href="fm03_509.htm#ZT4">&lt;=</A></P>
<P><A name="Z5"></A><SPAN class="top">[5]</SPAN> Karl Marx/Friedrich Engels: Zirkularbrief an Bebel, Liebknecht, Bracke u.a., in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me19/me19_150.htm#S165">Bd. 19, S. 165.</A> <A href="fm03_509.htm#ZT5">&lt;=</A></P>
<P><A name="Z6"></A><SPAN class="top">[6]</SPAN> Karl Marx/Friedrich Engels: [Vorrede zur zweiten russischen Ausgabe des &raquo;Manifests der Kommunistischen Partei&laquo;], in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me19/me19_295.htm#S296">Bd. 19, S. 296.</A> <A href="fm03_509.htm#ZT6">&lt;=</A></P>
<P><A name="Z7"></A><SPAN class="top">[7]</SPAN> Friedrich Engels: Rede am Grabe von Jenny Marx, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me19/me19_293.htm#S294">Bd. 19, S. 294.</A> <A href="fm03_509.htm#ZT7">&lt;=</A></P>
<P><A name="Z8"></A><SPAN class="top">[8]</SPAN> Friedrich Engels: Zum Tode von Karl Marx, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me19/me19_340.htm#S342">Bd. 19, S. 342.</A> <A href="fm03_509.htm#ZT8">&lt;=</A></P>
<P><A name="Z9"></A><SPAN class="top">[9]</SPAN> Friedrich Engels: Das Begr&auml;bnis von Karl Marx, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me19/me19_335.htm">Bd. 19, S. 335-335.</A> <A href="fm03_509.htm#ZT9">&lt;=</A></P>
<!-- #EndEditable -->
<HR size="1" align="left" width="200">
<P><SMALL>Pfad: &raquo;../fm/fm03&laquo;<BR>
Verkn&uuml;pfte Dateien: &raquo;<A href="http://www.mlwerke.de/css/format.css">../../css/format.css</A>&laquo;
</SMALL>
<HR size="1">
<TABLE width="100%" border="0" align="center" cellspacing=0 cellpadding=0>
<TR>
<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><A HREF="../../index.shtml.html"><SMALL>MLWerke</SMALL></A></TD>
<TD ALIGN="center"><B>|</B></TD>
<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><!-- #BeginEditable "link2a" --><A HREF="fm03_443.htm"><SMALL>14.
Kapitel</SMALL></A><!-- #EndEditable --></TD>
<TD ALIGN="center">|</TD>
<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><A HREF="fm03_000.htm"><SMALL>Inhalt</SMALL></A></TD>
<TD ALIGN="center">|</TD>
<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><!-- #BeginEditable "link2b" --><A HREF="fm03_543.htm"><SMALL>Anmerkungen</SMALL></A><!-- #EndEditable --></TD>
<TD ALIGN="center"><B>|</B></TD>
<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><A HREF="../default.htm"><SMALL>Franz
Mehring</SMALL></A></TD>
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<!-- #EndTemplate -->
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