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2022-08-25 20:29:11 +02:00

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<TITLE>Rosa Luxemburg - Die Akkumulation des Kapitals, 24. Kapitel</TITLE>
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<P ALIGN="CENTER"><A HREF="lu05_263.htm"><FONT SIZE=2>23. Kapitel</FONT></A><FONT SIZE=1> | </FONT><A HREF="lu05_005.htm"><FONT SIZE=2>Inhalt</FONT></A><FONT SIZE=2> | </FONT><A HREF="lu05_279.htm"><FONT SIZE=2>25. Kapitel</FONT></A></P>
<FONT SIZE=2><P>Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut f&uuml;r Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 5. Berlin/DDR. 1975. "Die Akkumulation des Kapitals", S. 275-278.</P>
<P>1. Korrektur.<BR>
Erstellt am 20.10.1998</P>
<HR>
</FONT><FONT SIZE=5><P ALIGN="CENTER">Vierundzwanzigstes Kapitel</P>
<I><P ALIGN="CENTER">Der Ausgang des russischen "legalen" Marxismus</P>
</I></FONT><B><P><A NAME="S275">&lt;275&gt;</A></B> Es ist ein Verdienst der russischen "legalen" Marxisten und insbesondere Tugan-Baranowskis, die Analyse des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses und dessen schematische Darstellung im zweiten Bande des Marxschen "Kapitals" im Kampfe mit den Skeptikern der kapitalistischen Akkumulation f&uuml;r die Wissenschaft fruktifiziert zu haben. Da aber Tugan-Baranowski diese schematische Darstellung f&uuml;r die Losung des Problems selbst statt f&uuml;r dessen Formulierung versehen hat, so kam er zu Schl&uuml;ssen, welche die Grundlagen selbst der Marxschen Lehre auf den Kopf stellen mu&szlig;ten.</P>
<P>Die Tugansche Auffassung, wonach die kapitalistische Produktion f&uuml;r sich selbst schrankenlosen Absatz bilden k&ouml;nne und von der Konsumtion unabh&auml;ngig sei, f&uuml;hrt ihn geradenwegs zu der Say-Ricardoschen Theorie <A NAME="S276"><B>&lt;276&gt;</A></B> von dem nat&uuml;rlichen Gleichgewicht zwischen Produktion und Konsumtion, Nachfrage und Angebot. Der Unterschied ist nur der, da&szlig; Say-Ricardo sich ausschlie&szlig;lich in den Bahnen der einfachen Warenzirkulation bewegten, w&auml;hrend Tugan dieselbe Auffassung einfach auf die Kapitalzirkulation &uuml;bertr&auml;gt. Seine Theorie der Krisen aus "Disproportionalit&auml;t" ist im Grunde genommen nichts als eine Paraphrase der alten platten Abgeschmacktheit Says: Wenn von irgendeiner Ware zuviel produziert worden ist, so beweist das blo&szlig;, da&szlig; von irgendeiner anderen Ware zuwenig produziert worden ist, nur da&szlig; Tugan diese Abgeschmacktheit in der Sprache der Marxschen Analyse des Reproduktionsprozesses vortr&auml;gt. Und wenn er entgegen Say die allgemeine &Uuml;berproduktion wohl f&uuml;r m&ouml;glich erkl&auml;rt, und zwar mit dem Hinweis auf die von Say ganz vernachl&auml;ssigte Geldzirkulation, so basieren Tugans erfreuliche Operationen mit dem Marxschen Schema doch tats&auml;chlich auf derselben Vernachl&auml;ssigung der Geldzirkulation, wie sie Say und Ricardo im Problem der Krisen gel&auml;ufig war: "Schema Nr. 2" wird sofort voller Stacheln mit Widerhaken, sobald man beginnt, es auf die Geldzirkulation zu transponieren. An diesen Stacheln ist Bulgakow in seinem Versuch, die abgebrochene Marxsche Analyse zu Ende zu denken, h&auml;ngengeblieben. Es ist diese Vereinigung von Marx geborgter Denkformen mit Say-Ricatdoschem Gedankeninhalt, was Tugan-Baranowski bescheiden seinen "Versuch der Synthese der Marxschen Theorie mit der klassischen National&ouml;konomie" getauft hat.</P>
<P>So gelangt die optimistische Theorie, die die M&ouml;glichkeit und Entwicklungsf&auml;higkeit der kapitalistischen Produktion gegen kleinb&uuml;rgerliche Zweifel verteidigte, nach fast einem Jahrhundert und &uuml;ber die Marxsche Lehre in ihren "legalen" Wortf&uuml;hrern wieder zum Ausgangspunkt, zu Say-Ricardo. Die drei "Marxisten" landen bei den b&uuml;rgerlichen Harmonikern der guten alten Zeit knapp vor dem S&uuml;ndenfall und der Vertreibung der b&uuml;rgerlichen National&ouml;konomie aus dem Paradiese der Unschuld - der Kreis ist geschlossen.</P>
<P>Die "legalen" russischen Marxisten haben &uuml;ber Ihre Widersacher, die "Volkst&uuml;mler", zweifellos gesiegt, sie haben aber zuviel gesiegt. Alle drei - Struve, Bulgakow, Tugan-Baranowski - haben im Eifer des Gefechts mehr bewiesen als zu beweisen war. Es handelte sich darum, ob der Kapitalismus im allgemeinen und insbesondere in Ru&szlig;land entwicklungsf&auml;hig sei, und die genannten Marxisten haben diese F&auml;higkeit so gr&uuml;ndlich dargetan, da&szlig; sie sogar die M&ouml;glichkeit der ewigen Dauer des Kapitalismus theoretisch nachgewiesen haben. Es ist klar, da&szlig;, wenn man die schrankenlose Akkumulation des Kapitals annimmt, man auch die schranken- <A NAME="S277"><B>&lt;277&gt;</A></B> lose Lebensf&auml;higkeit des Kapitals bewiesen hat. Die Akkumulation ist die spezifisch kapitalistische Methode der Erweiterung der Produktion, der Entwicklung der Produktivit&auml;t der Arbeit, der Entfaltung der Produktivkr&auml;fte, des &ouml;konomischen Fortschritts. Ist die kapitalistische Produktionsweise imstande, schrankenlos die Steigerung der Produktivkr&auml;fte, den &ouml;konomischen Fortschritt zu sichern, dann ist sie un&uuml;berwindlich. Der wichtigste objektive Pfeiler der wissenschaftlichen sozialistischen Theorie bricht dann zusammen, die politische Aktion des Sozialismus, der Ideengehalt des proletarischen Klassenkampfes h&ouml;rt auf, ein Reflex &ouml;konomischer Vorg&auml;nge, der Sozialismus h&ouml;rt auf, eine historische Notwendigkeit zu sein. Die Beweisf&uuml;hrung, die von der M&ouml;glichkeit des Kapitalismus ausging, landet bei der Unm&ouml;glichkeit des Sozialismus.</P>
<P>Die drei russischen Marxisten waren sich des von ihnen im Gefecht vollzogenen Terrainwechsels wohl bewu&szlig;t. Struve machte sich freilich &uuml;ber den Verlust des teuren Pfandes vor Jubel &uuml;ber die Kulturmission des Kapitalismus weiter keine Sorgen.<A NAME="ZF1"><A HREF="lu05_275.htm#F1">(1)</A></A> Bulgakow suchte das in die sozialistische Theorie gerissene Leck notd&uuml;rftig mit einem anderen Fetzen dieser Theorie zu verstopfen: Er erhoffte, da&szlig; die kapitalistische Wirtschaft dennoch trotz ihres immanenten Gleichgewichts zwischen Produktion und Absatz zugrunde gehen m&uuml;sse, und zwar an dem Fall der Profitrate. Dieser etwas nebelhafte Trost wird aber durch Bulgakow selbst zum Schlu&szlig; vernichtet, wo er, auf die letzte Rettungsplanke, die er dem Sozialismus hingestreckt hatte, vergessend, pl&ouml;tzlich Tugan-Baranowski belehrt, da&szlig; der relative Fall der Profitrate f&uuml;r gro&szlig;e Kapitale durch das absolute Wachstum des Kapitals wettgemacht werde.<A NAME="ZF2"><A HREF="lu05_275.htm#F2">(2)</A></A></P>
<P>Endlich Tugan-Baranowski, der konsequenteste von allen, rei&szlig;t mit der derben Freude eines Naturburschen s&auml;mtliche objektive &ouml;konomische Pfeiler der sozialistischen Theorie nieder und baut die Welt in seinem <A NAME="S278"><B>&lt;278&gt;</A></B> Geiste "sch&ouml;ner wieder auf" - auf dem Fundament der "Ethik". "Das Individuum protestiert gegen eine Wirtschaftsordnung, die den Zweck (den Menschen) in ein Mittel verwandelt und das Mittel (die Produktion) in einen Zweck."<A NAME="ZF3"><A HREF="lu05_275.htm#F3">(3)</A></A></P>
<P>Wie d&uuml;nn und fadenscheinig die neuen Begr&uuml;ndungen des Sozialismus waren, haben alle drei genannten Marxisten an ihrer Person bewiesen, indem sie dem Sozialismus alsbald, kaum da&szlig; sie ihn neu begr&uuml;ndet hatten, den R&uuml;cken kehrten. W&auml;hrend die Massen in Ru&szlig;land mit Einsetzung ihres Lebens f&uuml;r die Ideale einer Gesellschaftsordnung k&auml;mpften, die dereinst den Zweck (den Menschen) &uuml;ber das Mittel (die Produktion) stellen soll, schlug sich "das Individuum" in die B&uuml;sche und fand in Kant eine philosophische und ethische Beruhigung. Die "legalen" russischen Marxisten endeten praktisch, wo ihre theoretische Position sie hinf&uuml;hrte: im Lager der b&uuml;rgerlichen "Harmonien".</P>
<P><HR></P>
<P>Fu&szlig;noten von Rosa Luxemburg</P>
<P><A NAME="F1">(1)</A> In einer 1901 herausgegebenen Sammlung seiner russischen Aufs&auml;tze sagt Struve in der Einleitung: "Im Jahre 1894, als der Verfasser seine 'Kritischen Bemerkungen zur Frage der &ouml;konomischen Entwicklung Ru&szlig;lands' ver&ouml;ffentlichte, war er in der Philosophie kritischer Positivist, in der Soziologie und National&ouml;konomie ausgesprochener, wenn auch durchaus nicht orthodoxer Marxist. Seitdem haben sowohl der Positivismus wie der auf ihn gest&uuml;tzte (!) Marxismus aufgeh&ouml;rt, f&uuml;r den Verfasser die ganze Wahrheit zu sein, haben aufgeh&ouml;rt, seine Weltanschauung v&ouml;llig zu bestimmen. Er sah sich gen&ouml;tigt, auf eigene Faust ein neues Gedankensystem zu suchen und auszuarbeiten. Der b&ouml;sartige Dogmatismus, der Andersdenkende nicht nur widerlegt, sondern sie auch noch moralisch-psychologisch spioniert, erblickt in einer solchen Arbeit nur 'epikureische Flatterhaftigkeit des Sinnes'. Er ist nicht imstande zu begreifen, da&szlig; das Recht der Kritik an sich eins der teuersten Rechte des lebendigen, denkenden Individuums ist. Auf dieses Recht gedenkt der Verfasser nicht zu verzichten, und sollte ihm auch st&auml;ndig die Gefahr drohen, unter der Anklage der 'Unbest&auml;ndigkeit' zu stehen." (&Uuml;ber verschiedene Themen, Petersburg 1901.) <A HREF="lu05_275.htm#ZF1">&lt;=</A></P>
<P><A NAME="F2">(2)</A> Siehe Bulgakow: l.c., S. 252. <A HREF="lu05_275.htm#ZF2">&lt;=</A></P>
<P><A NAME="F3">(3)</A> Tugan-Baranowski: Studien [zur Theorie und Geschichte der Handelskrisen in England], S. 229. <A HREF="lu05_275.htm#ZF3">&lt;=</A></P></BODY>
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