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2022-08-25 20:29:11 +02:00

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<TITLE>Franz Mehring: Karl Marx - Engels-Marx</TITLE>
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Kapitel</SMALL></A><!-- #EndEditable --></TD>
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Kapitel</SMALL></A><!-- #EndEditable --></TD>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><A HREF="../default.htm"><SMALL>Franz
Mehring</SMALL></A></TD>
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<HR size="1">
<P><SMALL>Seitenzahlen nach: Franz Mehring - Gesammelte Schriften, Band 3. Berlin/DDR,
1960, S. <!-- #BeginEditable "Seitenzahlen" -->232-244<!-- #EndEditable -->.<BR>
1. Korrektur<BR>
Erstellt am 30.10.1999</SMALL></P>
<H2>Franz Mehring: Karl Marx - Geschichte seines Lebens</H2>
<H1><!-- #BeginEditable "Titel" -->Achtes Kapitel: Engels - Marx<!-- #EndEditable --></H1>
<hr size="1">
<!-- #BeginEditable "Text" -->
<H3 ALIGN="CENTER">1. Genie und Gesellschaft<A name="Kap_1"></A></H3>
<P><B>|232|</B> Hatte Marx in England eine zweite Heimat gefunden, so darf man
den Begriff der Heimat freilich nicht zu weit ausdehnen. Er ist niemals wegen
seiner revolution&auml;ren Agitation, die sich nicht zuletzt gegen den englischen
Staat richtete, auf englischem Boden behelligt worden. Die Regierung des &raquo;habgierigen,
neidischen Kr&auml;mervolks&laquo; besa&szlig; ein gr&ouml;&szlig;eres Ma&szlig;
von Selbstachtung und Selbstbewu&szlig;tsein, als diejenigen festl&auml;ndischen
Regierungen besitzen, die in der Angst des b&ouml;sen Gewissens mit Spie&szlig;en
und Stangen der Polizei hinter ihren Gegnern herjagen, auch wenn diese sich nur
auf dem Gebiete der Diskussion und der Propaganda bewegen.</P>
<P>Allein in anderem und tieferem Sinne hat Marx keine Heimat mehr gefunden, seitdem
er mit genialem Blick der b&uuml;rgerlichen Gesellschaft in Herz und Nieren geschaut
hatte. Das Schicksal des Genies in dieser Gesellschaft ist ein weitl&auml;ufiges
Kapitel, &uuml;ber das die verschiedensten Meinungen laut geworden sind; von dem
harmlosen Gottvertrauen des Philisters, das jedem Genie den endg&uuml;ltigen Sieg
prophezeit, bis zu Fausts melancholischem Worte:</P>
<DL>
<DD>Die Wenigen, die was davon erkannt, <BR>
Die t&ouml;richt gnug ihr volles Herz nicht wahrten,<BR>
Dem P&ouml;bel ihr Gef&uuml;hl, ihr Schauen offenbarten, <BR>
Hat man von je gekreuzigt und verbrannt.</DD>
</DL>
<P>Die historische Methode, die Marx entwickelt hat, gestattet auch in dieser
Frage tiefere Einblicke in den Zusammenhang der Dinge. Der Philister prophezeit
jedem Genie den endg&uuml;ltigen Sieg, eben weil er ein Philister ist; wenn aber
ein Genie einmal nicht gekreuzigt oder verbrannt wird, so nur, weil es sich am
letzten Ende bescheidet, ein Philister zu werden. Ohne den Zopf, der ihnen hinten
hing, w&auml;ren die Goethe und die Hegel nie anerkannte Gr&ouml;&szlig;en der
b&uuml;rgerlichen Gesellschaft geworden.</P>
<P>Die b&uuml;rgerliche Gesellschaft, die in dieser Hinsicht nur die ausgepr&auml;gteste
Form aller Klassengesellschaft ist, mag sonst Verdienste haben, <A NAME="S233"></A><B>|233|</B>
so viele sie will, aber eine gastliche Heimat f&uuml;r das Genie ist sie nie gewesen.
Sie kann es auch nicht sein, denn gerade darin besteht das innerste Wesen des
Genies, den sch&ouml;pferischen Drang einer urspr&uuml;nglichen Menschenkraft
ins Spiel zu setzen gegen das &uuml;berlieferte Herkommen und an den Schranken
zu r&uuml;tteln, innerhalb deren die Klassengesellschaft nur bestehen kann. Der
einsame Friedhof auf der Insel Sylt, der die unbekannten Toten beherbergt, die
das Meer an den Strand sp&uuml;lt, tr&auml;gt die fromme Inschrift: Es ist das
Kreuz auf Golgatha Heimat f&uuml;r Heimatlose. Darin ist unbewu&szlig;t, aber
deshalb nicht weniger treffend das Los des Genies in der Klassengesellschaft gezeichnet:
heimatlos wie es in ihr ist, findet es seine Heimat nur am Kreuze auf Golgatha.</P>
<P>Es sei denn, da&szlig; sich das Genie so oder so mit der Klassengesellschaft
abfindet. Wenn es sich in den Dienst der b&uuml;rgerlichen Gesellschaft stellte,
um die feudale Gesellschaft zu st&uuml;rzen, so gewann es scheinbar eine unerme&szlig;liche
Macht, doch zerrann diese Macht in dem Augenblick, wo es sich selbstherrlich geb&auml;rden
wollte: immerhin durfte es auf dem Felsen von St. Helena enden. Oder das Genie
h&uuml;llte sich in den Bratenrock des Spie&szlig;b&uuml;rgers und mochte es dann
zum gro&szlig;herzoglich s&auml;chsischen Staatsminister in Weimar oder zum k&ouml;niglich
preu&szlig;ischen Professor in Berlin bringen. Aber wehe dem Genie, das sich in
stolzer Unabh&auml;ngigkeit und Unnahbarkeit der b&uuml;rgerlichen Gesellschaft
gegen&uuml;berstellt, das aus ihrem innersten Gef&uuml;ge ihren nahenden Untergang
zu deuten wei&szlig;, das die Waffen schmiedet, die ihr den Todessto&szlig; versetzen
werden. F&uuml;r solch Genie hat die b&uuml;rgerliche Gesellschaft nur Foltern
und Qualen, die &auml;u&szlig;erlich weniger roh erscheinen m&ouml;gen, aber innerlich
grausamer sind, als das Marterholz der antiken und der Scheiterhaufen der mittelalterlichen
Gesellschaft war.</P>
<P>Von den genialen Menschen des neunzehnten Jahrhunderts hat niemand schwerer
unter diesem Lose gelitten als der genialste von allen, als Karl Marx. Schon im
ersten Jahrzehnte seiner &ouml;ffentlichen Wirksamkeit mu&szlig;te er mit der
allt&auml;glichen Misere ringen, und bei seiner &Uuml;bersiedelung nach London
hatte ihn das Exil mit allen Schrecken empfangen, aber was man sein wahrhaft prometheisches
Los nennen darf, begann doch erst, als er nun, nach m&uuml;hseligem Aufstieg zur
H&ouml;he, in der F&uuml;lle seiner m&auml;nnlichen Kraft, jahre- und jahrzehntelang
an jedem neuen Tage von der gemeinen Not des Lebens, von der niederziehenden Sorge
um das t&auml;gliche Brot gepackt wurde. Bis zum Tage seines Todes ist es ihm
nicht gelungen, sich eine noch so bescheidene Existenz auf dem Boden der b&uuml;rgerlichen
Gesellschaft zu sichern.</P>
<P>Dabei war er weit entfernt von dem, was der Philister in dem landl&auml;ufig-liederlichen
<A NAME="S234"></A><B>|234|*</B> Sinn eine &raquo;geniale&laquo; Lebensf&uuml;hrung
zu nennen pflegt. Seiner Riesenkraft entsprach sein Riesenflei&szlig;; die &Uuml;berarbeit
seiner Tage und N&auml;chte begann schon fr&uuml;h, seine urspr&uuml;nglich eisenfeste
Gesundheit zu zerr&uuml;tten. Er nannte die Arbeitsunf&auml;higkeit das Todesurteil
jedes Menschen, der kein Vieh sei, und es war ihm bitterer Ernst mit diesem Worte;
als er einst mehrere Wochen schwer erkrankt war, schrieb er an Engels: &raquo;In
dieser Zeit, wo ich ganz arbeitsunf&auml;hig, gelesen: <I>Carpenters</I>, Physiology,
Lord dito, <I>K&ouml;lliker</I>, Gewebelehre, <I>Spurzheim</I>, Anatomie des Hirns-
und Nervensystems, <I>Schwann</I> und <I>Schleiden</I> &uuml;ber die Zellenschmiere.&laquo;
Und bei aller Uners&auml;ttlichkeit des Dranges zu forschen blieb Marx sich immer
dessen bewu&szlig;t, was er schon als J&uuml;ngling gesagt hatte, da&szlig; der
Schriftsteller nicht arbeiten d&uuml;rfe, um zu erwerben, aber da&szlig; er erwerben
m&uuml;sse, um zu arbeiten; &raquo;die gebieterische Notwendigkeit einer Erwerbsarbeit&laquo;
hat Marx niemals verkannt.</P>
<P>Aber alle seine Anstrengungen scheiterten an dem Argwohn oder dem Hasse oder
im g&uuml;nstigsten Falle der Angst einer feindlichen Welt. Auch solche deutschen
Verleger, die sich sonst etwas auf ihre Unabh&auml;ngigkeit zugute zu tun pflegten,
scheuten vor dem Namen des verrufenen Demagogen zur&uuml;ck. Alle deutschen Parteien
verleumdeten ihn gleichm&auml;&szlig;ig, und wo immer die reinen Umrisse seiner
Gestalt unter den k&uuml;nstlichen Nebeln hervorschimmerten, tat die boshafte
Heimt&uuml;cke des systematischen Totschweigens ihr infames Werk. So lange und
so v&ouml;llig ist sonst nie der gr&ouml;&szlig;te Denker einer Nation ihrem Gesichtskreise
entschwunden wie in diesem Falle.</P>
<P>Die einzige Verbindung, durch die Marx sich in London halbwegs sicheren Boden
unter den F&uuml;&szlig;en h&auml;tte schaffen k&ouml;nnen, war seine T&auml;tigkeit
f&uuml;r die &raquo;New-York Daily Tribune&laquo;, die von 1851 ab ein reichliches
Jahrzehnt w&auml;hrte. Die &raquo;Tribune&laquo; war mit ihren 200.000 Abonnenten
damals das gelesenste und reichste Blatt der Vereinigten Staaten, und durch ihre
Agitation f&uuml;r den amerikanischen Fourierismus hatte sie sich immerhin &uuml;ber
die platte Geldmacherei eines rein kapitalistischen Unternehmens erhoben. An und
f&uuml;r sich waren die Bedingungen, unter denen Marx f&uuml;r sie arbeiten sollte,
auch nicht gerade ung&uuml;nstig; er sollte w&ouml;chentlich je zwei Artikel schreiben
und jeder Artikel sollte mit je 2 Pfund Sterling (40 Mark) honoriert werden. Das
w&auml;re ein Jahreseinkommen von 4.000 Mark gewesen, wodurch sich Marx auch in
London notd&uuml;rftig h&auml;tte &uuml;ber Wasser halten k&ouml;nnen. Freiligrath,
der sich immer doch noch r&uuml;hmte, das &raquo;Beefsteak des Exils&laquo; zu
essen, bezog f&uuml;r seine kaufm&auml;nnische T&auml;tigkeit anfangs auch nicht
mehr.</P>
<P>Selbstverst&auml;ndlich handelte es sich in keiner Weise um die Frage, ob <A NAME="S235"></A><B>|235|</B>
das Honorar, das Marx von dem amerikanischen Blatte bezog, dem literarischen und
wissenschaftlichen Wert seiner Beitr&auml;ge irgend entsprochen h&auml;tte. Ein
kapitalistisches Zeitungsunternehmen rechnet nur mit Marktpreisen, und das ist
in der b&uuml;rgerlichen Gesellschaft sein gutes Recht. Mehr hat auch Marx nicht
beansprucht, aber was er selbst in der b&uuml;rgerlichen Gesellschaft h&auml;tte
beanspruchen k&ouml;nnen, war die Innehaltung des einmal abgeschlossenen Arbeitsvertrags
und vielleicht auch einige Achtung vor seiner Arbeit. Daran lie&szlig; es die
&raquo;New-York Daily Tribune&laquo; und ihr Herausgeber aber ganz und gar fehlen.
Dana war zwar theoretisch ein Fourierist, aber praktisch ein hartgesottener Yankee;
sein Sozialismus laufe auf die lausigste Kleinb&uuml;rgerprellsucht hinaus, meinte
Engels in einem zornigen Augenblick. Obgleich Dana sehr gut wu&szlig;te, was er
an einem Mitarbeiter wie Marx besa&szlig; und damit nicht wenig vor seinen Abonnenten
renommierte, wenn er nicht gar die Briefe, die Marx ihm schrieb, als eigene redaktionelle
Arbeit eskamotierte, was zum berechtigten &Auml;rger ihres Verfassers nur allzuoft
geschah, so lie&szlig; er es doch an keiner R&uuml;cksichtslosigkeit fehlen, deren
sich ein kapitalistischer Ausbeuter gegen eine von ihm ausgebeutete Arbeitskraft
erdreisten zu d&uuml;rfen glaubt.</P>
<P>Nicht nur, da&szlig; er bei schlechterem Gesch&auml;ftsgang Marx sofort auf
Halbsold setzte, so zahlte er &uuml;berhaupt nur die Artikel, die er wirklich
druckte, und er war nicht bl&ouml;de, alles unter den Tisch zu werfen, was ihm
gerade nicht in seinen Kram pa&szlig;te. Es kam vor, da&szlig; drei, da&szlig;
sechs Wochen lang die Aufs&auml;tze, die Marx sandte, in den Papierkorb wanderten.
Freilich machten es die paar deutschen Bl&auml;tter, in denen Marx ein vor&uuml;bergehendes
Unterkommen fand, wie die Wiener Presse, nicht besser. So konnte er mit Recht
sagen, bei seiner Arbeit f&uuml;r Zeitungen k&auml;me er schlechter fort als der
erste beste Zeilenrei&szlig;er.</P>
<P>Schon im Jahre 1853 sehnte er sich nach ein paar Monaten Einsamkeit, um wissenschaftlich,
zu arbeiten: &raquo;Es scheint, ich soll nicht dazu kommen. Das best&auml;ndige
Zeitungsschmieren ennuyiert [Mehring &uuml;bersetzt: langweilt] mich. Es nimmt
mir viel Zeit weg, zersplittert und ist doch nichts. Unabh&auml;ngig soviel man
will - man ist an das Blatt und dessen Publikum gebunden, speziell wenn man Barzahlung
erh&auml;lt wie ich. Rein wissenschaftliche Arbeiten sind etwas total anderes.&laquo;
Aus einer ganz anderen Tonart noch klang es, als Marx einige Jahre l&auml;nger
unter Danas mildem Szepter gearbeitet hatte: &raquo;Es ist in der Tat ekelhaft,
da&szlig; man verdammt ist, es als ein Gl&uuml;ck zu betrachten, wenn ein solches
L&ouml;schpapier einen mit in sein Boot aufnimmt. Knochen stampfen, mahlen und
Suppe draus kochen wie die Paupers im Workhaus, darauf <A NAME="S236"></A><B>|236|</B>
reduziert sich die politische Arbeit, zu der man reichlich in solchem concern
[Mehring &uuml;bersetzt: Unternehmen] verdammt ist.&laquo; In der K&auml;rglichkeit
des Lebensunterhalts nicht nur, sondern namentlich auch in der v&ouml;lligen Unsicherheit
der ganzen Existenz hat Marx das Los des modernen Proletariers geteilt.</P>
<P>Was man fr&uuml;her doch nur ganz im allgemeinen wu&szlig;te, zeigen seine
Briefe an Engels in der ergreifendsten Form; wie er einmal das Haus h&uuml;ten
mu&szlig;te, weil er keinen Rock oder keinen Schuh f&uuml;r die Stra&szlig;e besa&szlig;,
wie er ein andermal der Pfennige entbehrte, um sich Schreibpapier zu kaufen oder
Zeitungen zu lesen, wie er ein drittes Mal nach ein paar Briefmarken jagte, um
ein Manuskript an den Verleger senden zu k&ouml;nnen. Dazu der ewige Zank mit
den H&ouml;kern und Kr&auml;mern, denen er die notwendigsten Lebensmittel nicht
zu zahlen vermochte, des Landlords zu geschweigen, der ihm alle Augenblicke den
Pf&auml;nder ins Haus zu setzen drohte, und als st&auml;ndige Zuflucht das Pfandhaus,
dessen Wucherzinsen dann noch das letzte verschlangen, was die Schattengestalt
der Sorge von der Schwelle seines Hauses h&auml;tte scheuchen k&ouml;nnen.</P>
<P>Und sie hockte nicht nur an der Schwelle, sondern sa&szlig; mit an seinem Tische.
Von fr&uuml;h auf an ein sorgloses Leben gew&ouml;hnt, wankte seine hochsinnige
Frau wohl unter den Pfeilen und Schleudern eines w&uuml;tenden Geschicks und w&uuml;nschte
sich mit ihren Kindern ins Grab. Es fehlt in seinen Briefen nicht an Spuren h&auml;uslicher
Szenen, und er meinte gelegentlich, es gebe keine gr&ouml;&szlig;ere Eselei f&uuml;r
Leute mit allgemeinen Strebungen als zu heiraten, und sich so an die kleinen N&ouml;te
des privaten Lebens zu verraten. Immer aber, wenn ihre Klagen ihn ungeduldig machten,
entschuldigte und rechtfertigte er sie; sie habe ungleich schwerer als er an den
unbeschreiblichen Dem&uuml;tigungen, Qualen und Schrecken zu tragen, die in ihrer
Lage durchzumachen seien, zumal da ihr die Flucht in die Hallen der Wissenschaft
verschlossen sei, die ihn doch immer wieder rettete. Ihren Kindern die unschuldigen
Freuden der Jugend verk&uuml;rzt zu sehen, traf beide Eltern gleich schwer.</P>
<P>So traurig dies Schicksal eines gro&szlig;en Geistes war, so erhob es sich
doch zur tragischen H&ouml;he erst dadurch, da&szlig; Marx die qu&auml;lende Marter
von Jahrzehnten freiwillig auf sich nahm und jede Versuchung abwies, sich in den
Hafen eines b&uuml;rgerlichen Berufs zu retten, den er mit allen Ehren h&auml;tte
aufsuchen k&ouml;nnen. Was dar&uuml;ber zu sagen ist, sagte er einfach und schlicht,
ohne alle hochtrabenden Worte: &raquo;Ich mu&szlig; meinen Zweck durch dick und
d&uuml;nn verfolgen und darf der b&uuml;rgerlichen Gesellschaft nicht erlauben,
mich in eine money-making machine [Mehring &uuml;bersetzt: geldmachende Maschine]
zu verwandeln.&laquo; Diesen Prometheus <A NAME="S237"></A><B>|237|*</B> schmiedeten
nicht die Keile des Heph&auml;stos an den Felsen, sondern ein eherner Wille, der
mit der Sicherheit einer Magnetnadel auf die h&ouml;chsten Ziele der Menschheit
wies. Sein ganzes Wesen ist biegsamer Stahl. Nichts bewundernswerter, als wenn
er, in einem und demselben Briefe oft, scheinbar erdr&uuml;ckt von der kl&auml;glichsten
Misere, mit wunderbarer Elastizit&auml;t emporschnellt, um die schwierigsten Probleme
mit der Seelenruhe eines Weisen zu er&ouml;rtern, dem nicht die leiseste Sorge
die sinnende Stirn furcht.</P>
<P>Aber freilich - empfunden hat Marx die Streiche, womit die b&uuml;rgerliche
Gesellschaft ihn verfolgte. Es w&auml;re ein t&ouml;richter Stoizismus, zu fragen:
Was bedeuten solche Qualen, wie Marx sie erduldet hat, gerade f&uuml;r den Genius,
der sein Recht doch nur von der Nachwelt empf&auml;ngt? So geckenhaft jenes eitle
Literatentum ist, das seinen Namen wom&ouml;glich jeden Tag in der Zeitung gedruckt
sehen will, so notwendig ist es f&uuml;r jede produktive Kraft, den n&ouml;tigen
Spielraum f&uuml;r ihre Entfaltung zu finden, und aus dem Echo, das sie erweckt,
neue Kraft f&uuml;r neue Sch&ouml;pfungen zu gewinnen. Marx war kein tugendstelziger
Schw&auml;tzer, wie sie in schlechten Dramen und Romanen umgehen, sondern ein
weltfreudiger Mensch, wie Lessing einer war, und so ist ihm die Stimmung nicht
fremd geblieben, worin der sterbende Lessing an seinen &auml;ltesten Jugendfreund
schrieb: &raquo;Ich glaube nicht, da&szlig; Sie mich als einen Menschen kennen,
der nach Lobe hei&szlig;hungrig ist. Aber die K&auml;lte, mit der die Welt gewissen
Leuten zu bezeugen pflegt, da&szlig; sie ihr auch gar nichts recht machen, ist,
wenn nicht t&ouml;tend, so doch erstarrend.&laquo; Es ist dieselbe Bitterkeit,
womit Marx am Vorabend seines f&uuml;nfzigsten Geburtstags schrieb: Ein halbes
Jahrhundert auf dem R&uuml;cken und immer noch Pauper! So w&uuml;nschte er sich
einmal lieber hundert Klafter tief unter die Erde, als so fortzuvegetieren, oder
der Schrei der Verzweiflung rang sich aus seinem Herzen, seinem &auml;rgsten Feinde
g&ouml;nne er nicht durch den Morast zu waten, worin er seit acht Wochen sitze,
mit der gr&ouml;&szlig;ten Wut dabei, da&szlig; sein Intellekt durch die Lumpereien
kaputt gemacht und seine Arbeitskraft gebrochen werde.</P>
<P>Gewi&szlig; ist Marx deshalb kein &raquo;verdammt tr&uuml;bseliger Hund&laquo;
geworden, wie er gelegentlich spottete, und insoweit mochte Engels mit Recht sagen,
da&szlig; sein Freund niemals Tr&uuml;bsal geblasen habe. Aber wie sich Marx mit
Vorliebe eine harte Natur nannte, so ist er doch in des Ungl&uuml;cks Esse h&auml;rter
und h&auml;rter geh&auml;mmert worden. Der heitere Himmel, der sich &uuml;ber
seinen Jugendarbeiten w&ouml;lbte, bedeckte sich mehr und mehr mit schweren Gewitterwolken,
aus denen seine Gedanken wie z&uuml;ndende Blitze fuhren, und seine Urteile &uuml;ber
Feinde, und oft genug <A NAME="S238"></A><B>|238|</B> auch Freunde, gewannen eine
schneidende Sch&auml;rfe, die nicht blo&szlig; schwache Seelen verletzen konnte.</P>
<P>Die ihn deshalb einen eisig kalten Demagogen schelten, sind nicht weniger -
wenn auch freilich nicht mehr - auf dem Holzwege als die wackeren Unteroffiziersseelen,
die in diesem gro&szlig;en K&auml;mpfer nur eine blanke Puppe des Paradeplatzes
erblicken.</P>
<H3 ALIGN="CENTER">2. Ein Bund ohnegleichen<A name="Kap_2"></A></H3>
<P>Jedoch hatte Marx den Sieg seines Lebens nicht allein seiner gewaltigen Kraft
zu danken. Nach allem menschlichen Ermessen w&auml;re er endlich doch unterlegen,
auf die eine oder die andere Weise, wenn ihm nicht in Engels ein Freund beschieden
gewesen w&auml;re, von dessen aufopfernder Treue man sich erst seit der Ver&ouml;ffentlichung
ihres Briefwechsels ein zutreffendes Bild machen kann.</P>
<P>Ein Bild, das seinesgleichen nicht hat in aller &uuml;berlieferten Geschichte.
Es hat niemals an historischen Freundespaaren gefehlt, auch in der deutschen Geschichte
nicht, deren Lebenswerk so eng verschmolzen ist, da&szlig; es sich nicht in ein
Mein und Dein scheiden l&auml;&szlig;t, aber immer blieb ein spr&ouml;der Rest
des Eigenwillens oder des Eigensinns oder selbst nur ein geheimes Widerstreben,
die eigene Pers&ouml;nlichkeit aufzugeben, die nach dem Worte des Dichters &raquo;das
h&ouml;chste Gl&uuml;ck der Erdenkinder&laquo; ist. Luther sah in Melanchthon
schlie&szlig;lich nur den schwachherzigen Gelehrten und Melanchthon in Luther
schlie&szlig;lich nur den rohen Bauer, und man mu&szlig; schon an stumpfen Sinnen
leiden, um in dem Briefwechsel Goethes und Schillers nicht den geheimen Mi&szlig;ton
zwischen dem gro&szlig;en Geheimderat und dem kleinen Hofrat zu h&ouml;ren. Der
Freundschaft, die Marx und Engels verband, fehlte diese letzte Spur menschlicher
Bed&uuml;rftigkeit; je mehr sich ihr Denken und Schaffen verwob, um so mehr blieb
doch jeder von ihnen ein ganzer Mann.</P>
<P>Schon im &Auml;u&szlig;ern unterschieden sie sich. Engels, der blonde Germane,
hoch aufgeschossen, mit englischen Manieren, wie ein Beobachter von ihm sagte:
immer sorgsam gekleidet, straff zusammengenommen in der Disziplin nicht nur der
Kaserne, sondern auch des Kontors; er wollte mit sechs Kommis einen Verwaltungszweig
tausendmal einfacher und &uuml;bersichtlicher einrichten als mit sechzig Regierungsr&auml;ten,
die nicht einmal leserlich schreiben k&ouml;nnten und einem alle B&uuml;cher versauten,
so da&szlig; kein Teufel daraus klug werde: bei aller Respektabilit&auml;t des
B&ouml;rsenmitgliedes <A NAME="S239"></A><B>|239|*</B> von Manchester aber, in
den Gesch&auml;ften und Vergn&uuml;gungen der englischen Bourgeoisie, ihren Fuchsjagden
und ihren Weihnachtsschm&auml;usen, der geistige Arbeiter und K&auml;mpfer, der
im H&auml;uschen fern am Ende der Stadt seinen Schatz barg, ein irisches Volkskind,
in dessen Armen er sich erholte, wenn er des Menschenpacks allzu m&uuml;de wurde.</P>
<P>Dagegen Marx, st&auml;mmig, untersetzt, mit den funkelnden Augen und der ebenholzschwarzen
L&ouml;wenm&auml;hne, die den semitischen Ursprung nicht verleugneten: l&auml;ssig
in seiner &auml;u&szlig;eren Haltung: ein geplagter Familienvater, der allem gesellschaftlichen
Treiben der Weltstadt fern lebte: hingegeben aufreibender Geistesarbeit, die ihm
kaum gestattete, ein schnelles Mittagsmahl einzunehmen, und bis tief in die Nacht
auch seine K&ouml;rperkraft verzehrte: ein rastloser Denker, dem das Denken der
h&ouml;chste Genu&szlig; war: darin der rechte Erbe eines Kant, eines Fichte und
namentlich eines Hegel, dessen Wort er gern wiederholte: &raquo;Selbst der verbrecherische
Gedanke eines B&ouml;sewichts ist erhabener und gro&szlig;artiger als die Wunder
des Himmels&laquo;, nur da&szlig; sein Gedanke unabl&auml;ssig zur Tat dr&auml;ngte:
unpraktisch in kleinen, aber praktisch in gro&szlig;en Dingen: viel zu unbeholfen,
einen kleinen Haushalt zu ordnen, aber unvergleichlich in der F&auml;higkeit,
ein Heer zu werben und zu f&uuml;hren, das eine Welt umw&auml;lzen soll.</P>
<P>Wenn anders der Stil der Mensch ist, so unterschieden sich beide auch als Schriftsteller.
Jeder war in seiner Weise ein Meister der Sprache und jeder auch ein Sprachgenie,
das viele Gebiete fremder Sprachen und selbst Dialekte beherrschte. Engels leistete
darin noch mehr als Marx, aber wenn er in seiner Muttersprache schrieb, nahm er
sich, selbst in seinen Briefen, geschweige denn in seinen Schriften, straff zusammen
und hielt ihr Kleid von allen Fasern und F&auml;serchen des Auslandes frei, ohne
deshalb den Schrullen der teutscht&uuml;melnden Sprachreiniger zu verfallen. Er
schrieb leicht und licht, so durchsichtig und klar, da&szlig; man dem Strom seiner
bewegten Rede stets bis auf den Grund blicken kann.</P>
<P>Marx schrieb l&auml;ssiger zugleich und schwerer. In seinen jugendlichen Briefen
ist, wie in den Jugendbriefen Heines, noch ein Ringen mit der Sprache deutlich
zu sp&uuml;ren, und in den Briefen seiner reiferen Jahre, namentlich seit seinem
Aufenthalt in England, kauderwelschte er deutsch, englisch und franz&ouml;sisch
arg durcheinander. Auch in seinen Schriften gibt es mehr Fremdw&ouml;rter als
gerade unvermeidlich sind, und es fehlt weder an Anglizismen noch an Gallizismen,
aber er ist so sehr Meister der deutschen Sprache, da&szlig; er nicht ohne schwere
Einbu&szlig;en &uuml;bersetzt werden kann. Als Engels ein Kapitel des Freundes
in einer franz&ouml;sischen &Uuml;bersetzung las, an der Marx selbst m&uuml;hsam
gefeilt hatte, meinte er <A NAME="S240"></A><B>|240|</B> gleichwohl, Kraft und
Saft und Leben seien zum Teufel. Wenn Goethe einmal an Frau von Stein schrieb:
&raquo;In Gleichnissen laufe ich mit Sancho Pansas Spr&uuml;chw&ouml;rtern um
die Wette&laquo;, so konnte Marx in der schlagenden Bildlichkeit der Sprache mit
den gr&ouml;&szlig;ten &raquo;Gleichnismachern&laquo;, einem Lessing, einem Goethe,
einem Hegel um die Wette laufen. Er hatte Lessings Wort begriffen, da&szlig; in
einer vollkommenen Darstellung Begriff und Bild zusammengeh&ouml;ren wie Mann
und Weib, wof&uuml;r ihn denn die Universit&auml;tsgelehrsamkeit, von dem Altmeister
Wilhelm Roscher bis zum j&uuml;ngsten Privatdozenten, geb&uuml;hrend abgestraft
hat durch den niederschmetternden Vorwurf, er habe sich nur in ganz unbestimmter,
&raquo;mit Bildern zusammengeflickter Weise&laquo; verst&auml;ndlich machen k&ouml;nnen.
Marx ersch&ouml;pfte die Fragen, die er behandelte, immer nur soweit, da&szlig;
dem Leser das fruchtbarste Nachdenken &uuml;brigblieb; seine Rede ist ein Wellenspiel
auf der purpurnen Tiefe des Meeres.</P>
<P>Engels hat in Marx stets den &uuml;berlegenen Genius anerkannt; neben ihm wollte
er immer nur die zweite Violine gespielt haben. Doch ist er niemals nur sein Ausleger
und Helfer gewesen, sondern sein selbst&auml;ndiger Mitarbeiter, ein ihm nicht
gleicher, aber ihm ebenb&uuml;rtiger Geist. Wie Engels in den Anf&auml;ngen ihrer
Freundschaft auf einem entscheidenden Gebiete mehr gegeben als empfangen hat,
so schrieb ihm Marx zwanzig Jahre sp&auml;ter: &raquo;Du wei&szlig;t, da&szlig;
alles 1. bei mir sp&auml;t kommt, und 2. ich immer in Deinen Fu&szlig;stapfen
nachfolge.&laquo; In seiner leichteren R&uuml;stung bewegte Engels sich leichter,
und wenn sein Blick scharf genug war, den entscheidenden Punkt einer Frage oder
Lage zu erkennen, so drang er nicht tief genug, um sofort all die Wenn und Aber
zu &uuml;berblicken, mit denen auch die notwendigste Entscheidung bepackt ist.
Dieser Mangel ist f&uuml;r den handelnden Menschen freilich ein gro&szlig;er Vorzug,
und Marx fa&szlig;te keinen politischen Entschlu&szlig;, ohne sich vorher Rat
bei Engels zu holen, der gleich den Nagel auf den Kopf zu treffen pflegte.</P>
<P>Es entsprach diesem Verh&auml;ltnis, da&szlig; sich der Rat, den Marx auch
in theoretischen Fragen von Engels erbat, nicht ebenso ausgiebig erwies, wie in
politischen. Hier war Marx gew&ouml;hnlich schon im Vorsprunge. Und ganz harth&ouml;rig
war er gegen einen Rat, den ihm Engels oft erteilte, um ihn zur schnellen Beendigung
seines wissenschaftlichen Hauptwerkes anzutreiben. &raquo;Sei endlich einmal etwas
weniger gewissenhaft Deinen eignen Sachen gegen&uuml;ber; es ist immer noch viel
zu gut f&uuml;r das Lausepublikum. Da&szlig; das Ding geschrieben wird und erscheint,
ist die Hauptsache; die Schw&auml;chen, die Dir auffallen, finden die Esel doch
nicht heraus.&laquo; Dieser Rat war echter Engels, wie seine Mi&szlig;achtung
echter Marx war.</P>
<P><B><A NAME="S241">|241|</A></B> Aus alledem erhellt, da&szlig; Engels f&uuml;r
die publizistische Tagesarbeit besser ger&uuml;stet war als Marx; &raquo;ein wahres
Universallexikon&laquo;, wie dieser ihn einem gemeinsamen Freunde schildert, &raquo;arbeitsf&auml;hig
zu jeder Stunde des Tages und der Nacht, voll oder n&uuml;chtern, quick im Schreiben
und begriffen wie der Teufel.&laquo; Es scheint auch, da&szlig; beide nach dem
Eingehen der &raquo;Neuen Rheinischen Revue&laquo; im Herbst 1850 zun&auml;chst
noch ein gemeinsames Unternehmen in London ins Auge gefa&szlig;t hatten; wenigstens
schrieb Marx im Dezember 1853 an Engels: &raquo;H&auml;tten wir - Du und ich -
zur rechten Zeit in London das englische Korrespondenzgesch&auml;ft angefangen,
so s&auml;&szlig;est Du nicht in Manchester, Kontorgequ&auml;lt, und ich nicht
Schuldengequ&auml;lt.&laquo; Wenn Engels den Aussichten dieses &raquo;Gesch&auml;fts&laquo;
die Kommisstelle in der v&auml;terlichen Firma vorzog, so ist es wohl aus R&uuml;cksicht
auf die trostlose Lage geschehen, in der sich Marx befand, und im Hinblick auf
bessere Zeiten, nicht aber schon in der Absicht, sich dauernd dem &raquo;verfluchten
Kommerz&laquo; zu ergeben. Noch im Fr&uuml;hjahr 1854 hat Engels den Gedanken
erwogen, zur schriftstellerischen T&auml;tigkeit nach London zur&uuml;ckzukehren,
aber allerdings zum letzten Male; um diese Zeit mu&szlig; er den Entschlu&szlig;
gefa&szlig;t haben, dauernd das verha&szlig;te Joch auf sich zu nehmen, nicht
nur um dem Freunde zu helfen, sondern auch um der Partei ihre erste geistige Kraft
zu erhalten. Nur unter dieser Begr&uuml;ndung konnte Engels das Opfer bringen
und Marx es annehmen; zum Anbieten wie zum Annehmen geh&ouml;rte ein gleich gro&szlig;er
Sinn.</P>
<P>Ehe Engels im Laufe der Jahre zum Teilhaber der Firma aufr&uuml;ckte, war er
als einfacher Kommis auch nicht gerade auf Rosen gebettet, aber vom ersten Tage
seiner &Uuml;bersiedelung nach Manchester an hat er geholfen und ist niemals m&uuml;de
geworden zu helfen. Unaufh&ouml;rlich wanderten die Ein-, die F&uuml;nf-, die
Zehn-, sp&auml;ter dann auch die Hundertpfundnoten nach London. Engels verlor
niemals die Geduld, auch wenn sie von Marx und seiner Frau, deren haush&auml;lterischer
Sinn nicht &uuml;berm&auml;&szlig;ig beschieden gewesen zu sein scheint, gelegentlich
auf eine h&auml;rtere Probe gesetzt wurde, als notwendig gewesen w&auml;re. Er
sch&uuml;ttelte kaum den Kopf, als Marx einmal den Betrag eines Wechsels vergessen
hatte, der auf ihn lief, und nun am Verfalltage unangenehm &uuml;berrascht wurde.
Oder wenn Frau Marx bei einer abermaligen Sanierung des Haushalts einen dicken
Posten aus falscher R&uuml;cksicht verschwieg, um ihn von ihrem Wirtschaftsgeld
allm&auml;hlich abzusparen und so bei aller guten Absicht das alte Elend von neuem
zu beginnen, so &uuml;berlie&szlig; Engels dem Freunde den etwas pharis&auml;ischen
Genu&szlig;, &uuml;ber die &raquo;Narrheit der Weiber&laquo; zu schelten, die
&raquo;offenbar stets der Vormundschaft bed&uuml;rften&laquo;, und begn&uuml;gte
<A NAME="S242"></A><B>|242|*</B> sich mit der gutm&uuml;tigen Mahnung: Sorge nur
daf&uuml;r, da&szlig; so etwas in Zukunft nicht wieder vorkommt.</P>
<P>Jedoch nicht nur am Tage schanzte Engels f&uuml;r den Freund im Kontor und
auf der B&ouml;rse, sondern er opferte ihm auch zum gro&szlig;en Teil die Mu&szlig;estunden
des Abends bis tief in die Nacht hinein. Wenn es zun&auml;chst geschah, um f&uuml;r
Marx, solange dieser die englische Sprache noch nicht f&uuml;r schriftstellerische
Zwecke handhaben konnte, die Briefe f&uuml;r die &raquo;New-York Daily Tribune&laquo;
zu verfassen oder zu &uuml;bersetzen, so blieb es doch bei dieser stillen Mitarbeit,
auch als ihr urspr&uuml;nglicher Grund fortgefallen war.</P>
<P>Alles das erscheint aber doch nur geringf&uuml;gig gegen&uuml;ber dem gr&ouml;&szlig;ten
Opfer, das Engels gebracht hat: dem Verzicht auf das Ma&szlig; wissenschaftlicher
Leistung, das ihm nach seiner unvergleichlichen Arbeitskraft und seinen reichen
F&auml;higkeiten beschieden gewesen w&auml;re. Auch hiervon bekommt man einen
rechten Begriff doch erst aus dem Briefwechsel zwischen beiden M&auml;nnern, selbst
wenn man sich nur auf die sprach- und milit&auml;rwissenschaftlichen Studien beschr&auml;nkt,
die Engels mit besonderer Vorliebe trieb, aus &raquo;alter Inklination&laquo;
sowohl als auch aus den praktischen Bed&uuml;rfnissen des proletarischen Emanzipationskampfes
heraus. Denn so sehr ihm alles &raquo;Autodidaktentum&laquo; verha&szlig;t - &raquo;es
ist &uuml;berall Unsinn&laquo;, meinte er ver&auml;chtlich - und so gr&uuml;ndlich
seine Methode der wissenschaftlichen Arbeit war, so war er doch ebensowenig wie
Marx ein blo&szlig;er Stubengelehrter, und jede neue Erkenntnis war ihm doppelt
wertvoll, wenn sie sofort helfen konnte, die Ketten des Proletariats zu l&uuml;ften.</P>
<P>So begann er mit dem Studium der slawischen Sprachen, aus der &raquo;Konsideration&laquo;
heraus, da&szlig; &raquo;wenigstens einer von uns&laquo; bei der n&auml;chsten
Haupt- und Staatsaktion die Sprache, die Geschichte, die Literatur, die sozialen
Einrichtungen gerade derjenigen Nationen kenne, mit denen man sofort in Konflikt
kommen werde. Die orientalischen Wirren f&uuml;hrten ihn auf die orientalischen
Sprachen; vor dem Arabischen schreckte er zur&uuml;ck mit seinen viertausend Wurzeln,
aber &raquo;das Persische ist ein wahres Kinderspiel von einer Sprache&laquo;;
in drei Wochen wollte er damit fertig sein. Dann kamen die germanischen Sprachen
daran: &raquo;ich sitze jetzt tief im Ulfilas, ich mu&szlig;te doch endlich einmal
mit dem verdammten Gotischen fertig werden, das ich immer blo&szlig; so desultorisch
trieb. Zu meiner Verwunderung finde ich, da&szlig; ich viel mehr wei&szlig;, als
ich dachte; wenn ich noch ein Hilfsmittel bekomme, so denk' ich in vierzehn Tagen
komplett fertig damit zu sein. Dann geht's ans Altnordische und Angels&auml;chsische,
mit denen ich auch immer so auf halbem Fu&szlig;e gestanden. Bis <A NAME="S243"></A><B>|243|</B>
jetzt arbeite ich ohne Lexikon oder andre Hilfsmittel, blo&szlig; gotischen Text
und den Grimm, der alte Kerl ist aber wirklich famos.&laquo; Als die schleswig-holsteinische
Frage in den sechziger Jahren auftauchte, trieb Engels &raquo;etwas friesisch-englisch-j&uuml;tisch-skandinavische
Philologie und Arch&auml;ologie&laquo;, beim neuen Aufflammen der irischen Frage
&raquo;etwas Keltisch-Irisches&laquo; und so fort. Im Generalrat der Internationalen
sind ihm sp&auml;ter seine umfassenden Sprachkenntnisse trefflich zustatten gekommen;
&raquo;Engels stottert in zwanzig Sprachen&laquo;, hie&szlig; es wohl, da er in
Augenblicken erregten Sprechens leicht mit der Zunge anstie&szlig;.</P>
<P>So auch verdiente er sich den Spitznamen des &raquo;Generals&laquo; durch seine
noch eifrigere und eindringlichere Besch&auml;ftigung mit den Kriegswissenschaften.
Auch hier wurde eine &raquo;alte Inklination&laquo; durch die praktischen Bed&uuml;rfnisse
der revolution&auml;ren Politik gen&auml;hrt. Engels rechnete mit der &raquo;enormen
Wichtigkeit, die die partie militaire bei der n&auml;chsten Bewegung bekommen
m&uuml;sse&laquo;. Mit den Offizieren, die sich in den Revolutionsjahren auf die
Seite des Volkes geschlagen hatten, waren nicht die besten Erfahrungen gemacht
worden. &raquo;Dies Soldatenpack&laquo;, meinte Engels, &raquo;hat einen unbegreiflich
schmutzigen Korpsgeist. Sie hassen einander bis auf den Tod, beneiden sich gegenseitig
wie Schuljungen die kleinste Auszeichnung, aber gegen die Leute vom &#155;Zivil&#139;
sind sie alle einig.&laquo; Engels wollte es nun so weit bringen, da&szlig; er
theoretisch einigerma&szlig;en mitsprechen k&ouml;nne, ohne sich zu sehr zu blamieren.</P>
<P>Er war kaum in Manchester warm geworden, als er &raquo;Militaria zu ochsen&laquo;
begann. Er begann mit dem &raquo;Allerplattesten und Ordin&auml;rsten, was im
F&auml;hnrichs- und Leutnantsexamen gefordert und was ebendeswegen &uuml;berall
als bekannt vorausgesetzt wird&laquo;. Er studierte das gesamte Heerwesen bis
in alle technischen Einzelheiten: Elementartaktik, Befestigungssystem von Vauban
bis auf das moderne System der detachierten Forts, Br&uuml;ckenbau und Feldverschanzungen,
Waffenkunde bis auf die verschiedene Konstruktion der Feldlafetten, das Verpflegungswesen
der Lazarette und anderes mehr; endlich ging er zur allgemeinen Kriegsgeschichte
&uuml;ber, wo er den Engl&auml;nder Napier, den Franzosen Jomini und den Deutschen
Clausewitz mit eindringendem Flei&szlig; durcharbeitete.</P>
<P>Weit entfernt im Sinne einer seichten Aufkl&auml;rung gegen die moralische
Unvernunft der Kriege zu eifern, suchte Engels vielmehr ihre historische Vernunft
zu erkennen, wodurch er mehr als einmal den gewaltigen Zorn der deklamierenden
Demokratie erregt hat. Wenn einst ein Byron die Schalen gl&uuml;henden Zorns &uuml;ber
die beiden Heerf&uuml;hrer ausgo&szlig;, die in der Schlacht bei Waterloo als
Fahnentr&auml;ger des feudalen <A NAME="S244"></A><B>|244|</B> Europas dem Erben
der Franz&ouml;sischen Revolution den Todessto&szlig; gegeben hatten, so f&uuml;gte
es ein bezeichnender Zufall, da&szlig; Engels in seinen Briefen an Marx von Bl&uuml;cher
sowohl wie von Wellington historische Bildnisse entwarf, die in knappem Rahmen
so klar und scharf umrissen sind, da&szlig; sie selbst bei dem heutigen Stande
der Kriegswissenschaft schwerlich nur in einem Striche ge&auml;ndert zu werden
brauchen.</P>
<P>Auch auf einem dritten Gebiet, auf dem Engels gern und viel arbeitete, auf
dem Gebiete der Naturwissenschaften, ist es ihm nicht verg&ouml;nnt gewesen, die
letzte Hand an seine Forschungen in den Jahrzehnten zu legen, in denen er sich
in kaufm&auml;nnische Fron begab, um der wissenschaftlichen Arbeit eines Gr&ouml;&szlig;eren
freien Raum zu schaffen.</P>
<P>Alles das war auch ein tragisches Schicksal. Aber Engels hat dar&uuml;ber niemals
gegreint; denn alle Sentimentalit&auml;t war ihm so fremd wie seinem Freunde.
Er hat es immer als das gro&szlig;e Gl&uuml;ck seines Lebens betrachtet, vierzig
Jahre neben Marx zu stehen, auch um den Preis, da&szlig; dessen m&auml;chtigere
Gestalt ihn &uuml;berschattete. Er hat es nicht einmal als eine versp&auml;tete
Genugtuung empfunden, da&szlig; er nach dem Tode des Freundes noch &uuml;ber ein
Jahrzehnt der erste Mann der internationalen Arbeiterbewegung sein, unbestritten
in ihr die erste Violine spielen durfte; er meinte im Gegenteil, ihm werde ein
gr&ouml;&szlig;eres Verdienst zugeschrieben, als ihm zukomme.</P>
<P>Indem jeder der beiden M&auml;nner v&ouml;llig in der gemeinsamen Sache aufging
und jeder von beiden ihr nicht dasselbe, aber ein gleich gro&szlig;es Opfer brachte,
ohne jeden peinlichen Rest des Murrens oder des Prahlens, wurde ihre Freundschaft
ein Bund, der in aller Geschichte seinesgleichen nicht gehabt hat.</P>
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<P><SMALL>Pfad: &raquo;../fm/fm03&laquo;<BR>
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Kapitel</SMALL></A><!-- #EndEditable --></TD>
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