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2022-08-25 20:29:11 +02:00

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<TITLE>Friedrich Engels - Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie - I</TITLE>
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<META name="description" content="Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie - I">
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bgcolor="#99CC99"><A HREF="me21_263.htm"><FONT size="2" color="#006600">&#171; Vorbemerkung</FONT></A></TD>
<TD ALIGN="CENTER" width="200" height=20 valign=middle
bgcolor="#99CC99"><A HREF="me21_259.htm"><FONT size="2" color="#006600">Inhalt</FONT></A></TD>
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bgcolor="#99CC99"><A HREF="me21_274.htm"><FONT size="2" color="#006600">II. &#187;</FONT></A></TD>
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<TD valign="top"><SMALL>Seitenzahlen verweisen auf: </SMALL></TD>
<TD><SMALL>&nbsp;&nbsp;</SMALL></TD>
<TD><SMALL>Friedrich Engels: &quot;Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie&quot; in: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 21, 5. Auflage 1975, unver&auml;nderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 265-273.</SMALL></TD>
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<TD><SMALL>Korrektur:</SMALL></TD>
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<TD><SMALL>Erstellt:</SMALL></TD>
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<TD><SMALL>20.03.1999</SMALL></TD>
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<H2 ALIGN="CENTER">I</H2>
<B><P><A NAME="S265">|265|</A></B> Die vorliegende Schrift <A NAME="ZF1"><A HREF="me21_265.htm#F1"><SMALL><SUP>(1)</SUP></SMALL></A></A> f&uuml;hrt uns zur&uuml;ck zu einer Periode, die, der Zeit nach, ein gutes Menschenalter hinter uns liegt, die aber der jetzigen Generation in Deutschland so fremd geworden ist, als w&auml;re sie schon ein volles Jahrhundert alt. Und doch war sie die Periode der Vorbereitung Deutschlands f&uuml;r die Revolution von 1848; und alles, was seitdem bei uns geschehn, ist nur eine Fortsetzung von 1848, nur Testamentsvollstreckung der Revolution.</P>
<P>Wie in Frankreich im achtzehnten, so leitete auch in Deutschland im neunzehnten Jahrhundert die philosophische Revolution den politischen Zusammenbruch ein. Aber wie verschieden sahn die beiden aus! Die Franzosen in offnem Kampf mit der ganzen offiziellen Wissenschaft, mit der Kirche, oft auch mit dem Staat; ihre Schriften jenseits der Grenze, in Holland oder England gedruckt, und sie selbst oft genug drauf und dran, in die Bastille zu wandern. Dagegen die Deutschen - Professoren, vom Staat eingesetzte Lehrer der Jugend, ihre Schriften anerkannte Lehrb&uuml;cher, und das abschlie&szlig;ende System der ganzen Entwicklung, das Hegelsche, sogar gewisserma&szlig;en zum Rang einer k&ouml;niglich preu&szlig;ischen Staatsphilosophie erhoben! Und hinter diesen Professoren, hinter ihren pedantisch-dunklen Worten, in ihren schwerf&auml;lligen, langweiligen Perioden sollte sich die Revolution verstecken? Waren denn nicht grade die Leute, die damals f&uuml;r die Vertreter der Revolution galten, die Liberalen, die heftigsten Gegner dieser die K&ouml;pfe verwirrenden Philosophie ? Was aber weder die Regierungen noch die Liberalen sahen, das sah bereits 1833 wenigstens <I>ein</I> Mann, und der hie&szlig; allerdings Heinrich Heine.</P>
<B><P><A NAME="S266">|266|</A></B> Nehmen wir ein Beispiel. Kein philosophischer Satz hat so sehr den Dank beschr&auml;nkter Regierungen und den Zorn ebenso beschr&auml;nkter Liberalen auf sich geladen wie der ber&uuml;hmte Satz Hegels:</P>
<FONT SIZE=2><P>"Alles was wirklich ist, ist vern&uuml;nftig, und alles was vern&uuml;nftig ist, ist wirklich."</P>
</FONT><P>Das war doch handgreiflich die Heiligsprechung alles Bestehenden, die philosophische Einsegnung des Despotismus, des Polizeistaats, der Kabinettsjustiz, der Zensur. Und so nahm es Friedrich Wilhelm III., so seine Untertanen. Bei Hegel aber ist keineswegs alles, was besteht, ohne weiteres auch wirklich. Das Attribut der Wirklichkeit kommt bei ihm nur demjenigen zu, was zugleich notwendig ist;</P>
<FONT SIZE=2><P>"die Wirklichkeit erweist sich in ihrer Entfaltung als die Notwendigkeit";</P>
</FONT><P>eine beliebige Regierungsma&szlig;regel - Hegel f&uuml;hrt selbst das Beispiel "einer gewissen Steuereinrichtung" an - gilt ihm daher auch keineswegs schon ohne weiteres als wirklich. Was aber notwendig ist, erweist sich in letzter Instanz auch als vern&uuml;nftig, und auf den damaligen preu&szlig;ischen Staat angewandt, hei&szlig;t also der Hegelsche Satz nur: Dieser Staat ist vern&uuml;nftig, der Vernunft entsprechend, soweit er notwendig ist; und wenn er uns dennoch schlecht vorkommt, aber trotz seiner Schlechtigkeit fortexistiert, so findet die Schlechtigkeit der Regierung ihre Berechtigung und ihre Erkl&auml;rung in der entsprechenden Schlechtigkeit der Untertanen. Die damaligen Preu&szlig;en hatten die Regierung, die sie verdienten.</P>
<P>Nun ist aber die Wirklichkeit nach Hegel keineswegs ein Attribut, das einer gegebnen gesellschaftlichen oder politischen Sachlage unter allen Umst&auml;nden und zu allen Zeiten zukommt. Im Gegenteil. Die r&ouml;mische Republik war wirklich, aber das sie verdr&auml;ngende r&ouml;mische Kaiserreich auch. Die franz&ouml;sische Monarchie war 1789 so unwirklich geworden, d.h. so aller Notwendigkeit beraubt, so unvern&uuml;nftig, da&szlig; sie vernichtet werden mu&szlig;te durch die gro&szlig;e Revolution, von der Hegel stets mit der h&ouml;chsten Begeisterung spricht. Hier war also die Monarchie das Unwirkliche, die Revolution das Wirkliche. Und so wird im Lauf der Entwicklung alles fr&uuml;her Wirkliche unwirklich, verliert seine Notwendigkeit, sein Existenzrecht, seine Vern&uuml;nftigkeit; an die Stelle des absterbenden Wirklichen tritt eine neue, lebensf&auml;hige Wirklichkeit - friedlich, wenn das Alte verst&auml;ndig genug ist, ohne Str&auml;uben mit Tode abzugehn, gewaltsam, wenn es sich gegen diese Notwendigkeit sperrt. Und so dreht sich der Hegelsche Satz durch die Hegelsche Dialektik selbst um in sein Gegenteil: Alles, was im Bereich der Menschengeschichte wirklich ist, wird mit der Zeit unvern&uuml;nftig, ist also schon seiner Bestimmung nach unvern&uuml;nftig, ist von vornherein mit <A NAME="S267"><B>|267|</A></B> Unvern&uuml;nftigkeit behaftet; und alles, was in den K&ouml;pfen der Menschen vern&uuml;nftig ist, ist bestimmt, wirklich zu werden, mag es auch noch so sehr der bestehenden scheinbaren Wirklichkeit widersprechen. Der Satz von der Vern&uuml;nftigkeit alles Wirklichen l&ouml;st sich nach allen Regeln der Hegelschen Denkmethode auf in den andern: Alles was besteht, ist wert, da&szlig; es zugrunde geht.</P>
<P>Dann aber grade lag die wahre Bedeutung und der revolution&auml;re Charakter der Hegelschen Philosphie (auf die, als den Abschlu&szlig; der ganzen Bewegung seit Kant, wir uns hier beschr&auml;nken m&uuml;ssen), da&szlig; sie der Endg&uuml;ltigkeit aller Ergebnisse des menschlichen Denkens und Handelns ein f&uuml;r allemal den Garaus machte. Die Wahrheit, die es in der Philosophie zu erkennen galt, war bei Hegel nicht mehr eine Sammlung fertiger dogmatischer S&auml;tze, die, einmal gefunden, nur auswendig gelernt sein wollen; die Wahrheit lag nun in dem Proze&szlig; des Erkennens selbst, in der langen geschichtlichen Entwicklung der Wissenschaft, die von niedern zu immer h&ouml;hern Stufen der Erkenntnis aufsteigt, ohne aber jemals durch Ausfindung einer sogenannten absoluten Wahrheit zu dem Punkt zu gelangen, wo sie nicht mehr weiter kann, wo ihr nichts mehr &uuml;brigbleibt, als die H&auml;nde in den Scho&szlig; zu legen und die gewonnene absolute Wahrheit anzustaunen. Und wie auf dem Gebiet der philosophischen, so auf dem jeder andern Erkenntnis und auf dem des praktischen Handelns. Ebensowenig wie die Erkenntnis kann die Geschichte einen vollendenden Abschlu&szlig; finden in einem vollkommnen Idealzustand der Menschheit; eine vollkommne Gesellschaft, ein vollkommner "Staat" sind Dinge, die nur in der Phantasie bestehn k&ouml;nnen; im Gegenteil sind alle nacheinander folgenden geschichtlichen Zust&auml;nde nur verg&auml;ngliche Stufen im endlosen Entwicklungsgang der menschlichen Gesellschaft vom Niedern zum H&ouml;hern. Jede Stufe ist notwendig, also berechtigt f&uuml;r die Zeit und die Bedingungen, denen sie ihren Ursprung verdankt; aber sie wird hinf&auml;llig und unberechtigt gegen&uuml;ber neuen, h&ouml;hern Bedingungen, die sich allm&auml;hlich in ihrem eignen Scho&szlig; entwickeln; sie mu&szlig; einer h&ouml;hern Stufe Platz machen, die ihrerseits wieder an die Reihe des Verfalls und des Untergangs kommt. Wie die Bourgeoisie durch die gro&szlig;e Industrie, die Konkurrenz und den Weltmarkt alle stabilen, altehrw&uuml;rdigen Institutionen praktisch aufl&ouml;st, so l&ouml;st diese dialektische Philosophie alle Vorstellungen von endg&uuml;ltiger absoluter Wahrheit und ihr entsprechenden absoluten Menschheitszust&auml;nden auf. Vor ihr besteht nichts Endg&uuml;ltiges, Absolutes, Heiliges; sie weist von allem und an allem die Verg&auml;nglichkeit auf, und nichts besteht vor ihr als der ununterbrochne Proze&szlig; des Werdens und Vergehens, des Aufsteigens ohne Ende vom Niedern zum H&ouml;hern, <A NAME="S268"><B>|268|</A></B> dessen blo&szlig;e Widerspiegelung im denkenden Hirn sie selbst ist. Sie hat allerdings auch eine konservative Seite: Sie erkennt die Berechtigung bestimmter Erkenntnis- und Gesellschaftsstufen f&uuml;r deren Zeit und Umst&auml;nde an; aber auch nur so weit. Der Konservatismus dieser Anschauungsweise ist relativ, ihr revolution&auml;rer Charakter ist absolut - das einzig Absolute, das sie gelten l&auml;&szlig;t.</P>
<P>Wir brauchen hier nicht auf die Frage einzugehn, ob diese Anschauungsweise durchaus mit dem jetzigen Stand der Naturwissenschaft stimmt, die der Existenz der Erde selbst ein m&ouml;gliches, ihrer Bewohnbarkeit aber ein ziemlich sichres Ende vorhersagt, die also auch der Menschengeschichte nicht nur einen aufsteigenden, sondern auch einen absteigenden Ast zuerkennt. Wir befinden uns jedenfalls noch ziemlich weit von dem Wendepunkt, von wo an es mit der Geschichte der Gesellschaft abw&auml;rtsgeht, und k&ouml;nnen der Hegelschen Philosophie nicht zumuten, sich mit einem Gegenstand zu befassen, den zu ihrer Zeit die Naturwissenschaft noch gar nicht auf die Tagesordnung gesetzt hatte.</P>
<P>Was aber in der Tat hier zu sagen, ist dies: Die obige Entwicklung findet sich in dieser Sch&auml;rfe nicht bei Hegel. Sie ist eine notwendige Konsequenz seiner Methode, die er selbst aber in dieser Ausdr&uuml;cklichkeit nie gezogen hat. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil er gen&ouml;tigt war, ein System zu machen, und ein System der Philosophie mu&szlig; nach den hergebrachten Anforderungen mit irgendeiner Art von absoluter Wahrheit abschlie&szlig;en. Sosehr also auch Hegel, namentlich in der "Logik", betont, da&szlig; diese ewige Wahrheit nichts andres ist als der logische, resp. der geschichtliche Proze&szlig; selbst, so sieht er sich doch selbst gezwungen, diesem Proze&szlig; ein Ende zu geben, weil er eben mit seinem System irgendwo zu Ende kommen mu&szlig;. In der "Logik" kann er dies Ende wieder zum Anfang machen, indem hier der Schlu&szlig;punkt, die absolute Idee - die nur insofern absolut ist, als er absolut nichts von ihr zu sagen wei&szlig; - sich in die Natur "ent&auml;u&szlig;ert", d.h. verwandelt, und sp&auml;ter im Geist, d.h. im Denken und in der Geschichte, wieder zu sich selbst kommt. Aber am Schlu&szlig; der ganzen Philosophie ist ein &auml;hnlicher R&uuml;ckschlag in den Anfang nur auf <I>einem</I> Weg m&ouml;glich. N&auml;mlich indem man das Ende der Geschichte dann setzt, da&szlig; die Menschheit zur Erkenntnis eben dieser absoluten Idee kommt, und erkl&auml;rt, da&szlig; diese Erkenntnis der absoluten Idee in der Hegelschen Philosophie erreicht ist. Damit wird aber der ganze dogmatische Inhalt des Hegelschen Systems f&uuml;r die absolute Wahrheit erkl&auml;rt, im Widerspruch mit seiner dialektischen, alles Dogmatische aufl&ouml;senden Methode; damit wird die revolution&auml;re Seite erstickt unter der &uuml;berwuchernden konservativen. Und was von der philoso- <A NAME="S269"><B>|269|</A></B> phischen Erkenntnis, gilt auch von der geschichtlichen Praxis. Die Menschheit, die es, in der Person Hegels, bis zur Herausarbeitung der absoluten Idee gebracht hat, mu&szlig; auch praktisch so weit gekommen sein, da&szlig; sie diese absolute Idee in der Wirklichkeit durchf&uuml;hren kann. Die praktischen politischen Forderungen der absoluten Idee an die Zeitgenossen d&uuml;rfen also nicht zu hoch gespannt sein. Und so finden wir am Schlu&szlig; der "Rechtsphilosophie", da&szlig; die absolute Idee sich verwirklichen soll in derjenigen st&auml;ndischen Monarchie, die Friedrich Wilhelm III. seinen Untertanen so hartn&auml;ckig vergebens versprach, also in einer den deutschen kleinb&uuml;rgerlichen Verh&auml;ltnissen von damals angemessenen, beschr&auml;nkten und gem&auml;&szlig;igten, indirekten Herrschaft der besitzenden Klassen; wobei uns noch die Notwendigkeit des Adels auf spekulativem Wege demonstriert wird.</P>
<P>Die innern Notwendigkeiten des Systems reichen also allein hin, die Erzeugung einer sehr zahmen politischen Schlu&szlig;folgerung, vermittelst einer durch und durch revolution&auml;ren Denkmethode, zu erkl&auml;ren. Die spezifische Form dieser Schlu&szlig;folgerung r&uuml;hrt allerdings davon her, da&szlig; Hegel ein Deutscher war und ihm wie seinem Zeitgenossen Goethe ein St&uuml;ck Philisterzopfs hinten hing. Goethe wie Hegel waren jeder auf seinem Gebiet ein olympischer Zeus, aber den deutschen Philister wurden beide nie ganz los.</P>
<P>Alles dies hinderte jedoch das Hegelsche System nicht, ein unvergleichlich gr&ouml;&szlig;eres Gebiet zu umfassen als irgendein fr&uuml;heres System und auf diesem Gebiet einen Reichtum des Gedankens zu entwickeln, der noch heute in Erstaunen setzt. Ph&auml;nomenologie des Geistes (die man eine Parallele der Embryologie und der Pal&auml;ontologie des Geistes nennen k&ouml;nnte, eine Entwicklung des individuellen Bewu&szlig;tseins durch seine verschiedenen Stufen, gefa&szlig;t als abgek&uuml;rzte Reproduktion der Stufen, die das Bewu&szlig;tsein der Menschen geschichtlich durchgemacht), Logik, Naturphilosophie, Philosophie des Geistes, und diese letztere wieder in ihren einzelnen geschichtlichen Unterformen ausgearbeitet: Philosophie der Geschichte, des Rechts, der Religion, Geschichte der Philosophie, &Auml;sthetik usw. - auf allen diesen verschiednen geschichtlichen Gebieten arbeitet Hegel daran, den durchgehenden Faden der Entwicklung aufzufinden und nachzuweisen; und da er nicht nur ein sch&ouml;pferisches Genie war, sondern auch ein Mann von enzyklop&auml;discher Gelehrsamkeit, so tritt er &uuml;berall epochemachend auf. Es versteht sich von selbst, da&szlig; kraft der Notwendigkeiten des "Systems" er hier oft genug zu jenen gewaltsamen Konstruktionen seine Zuflucht nehmen mu&szlig;, von denen seine zwerghaften Anfeinder bis heute ein so entsetzliches Geschrei machen. Aber diese Konstruktionen sind nur der Rahmen und das Bauger&uuml;st seines Werks; h&auml;lt man sich hierbei nicht unn&ouml;tig auf, dringt <A NAME="S270"><B>|270|</A></B> man tiefer ein in den gewaltigen Bau, so findet man ungez&auml;hlte Sch&auml;tze, die auch heute noch ihren vollen Wert behaupten. Bei allen Philosophen ist grade das "System" das Verg&auml;ngliche, und zwar grade deshalb, weil es aus einem unverg&auml;nglichen Bed&uuml;rfnis des Menschengeistes hervorgeht: dem Bed&uuml;rfnis der &Uuml;berwindung aller Widerspr&uuml;che. Sind aber alle Widerspr&uuml;che ein f&uuml;r allemal beseitigt, so sind wir bei der sogenannten absoluten Wahrheit angelangt, die Weltgeschichte ist zu Ende, und doch soll sie fortgehn, obwohl ihr nichts mehr zu tun &uuml;brigbleibt - also ein neuer, unl&ouml;sbarer Widerspruch. Sobald wir einmal eingesehn haben - und zu dieser Einsicht hat uns schlie&szlig;lich niemand mehr verhelfen als Hegel selbst -, da&szlig; die so gestellte Aufgabe der Philosophie weiter nichts hei&szlig;t als die Aufgabe, da&szlig; ein einzelner Philosoph das leisten soll, was nur die gesamte Menschheit in ihrer fortschreitenden Entwicklung leisten kann - sobald wir das einsehn, ist es auch am Ende mit der ganzen Philosophie im bisherigen Sinn des Worts. Man l&auml;&szlig;t die auf diesem Weg und f&uuml;r jeden einzelnen unerreichbare "absolute Wahrheit" laufen und jagt daf&uuml;r den erreichbaren relativen Wahrheiten nach auf dem Weg der positiven Wissenschaften und der Zusammenfassung ihrer Resultate vermittelst des dialektischen Denkens. Mit Hegel schlie&szlig;t die Philosophie &uuml;berhaupt ab; einerseits weil er ihre ganze Entwicklung in seinem System in der gro&szlig;artigsten Weise zusammenfa&szlig;t, andrerseits weil er uns, wenn auch unbewu&szlig;t, den Weg zeigt aus diesem Labyrinth der Systeme zur wirklichen positiven Erkenntnis der Welt.</P>
<P>Man begreift, welch ungeheure Wirkung dies Hegelsche System in der philosophisch gef&auml;rbten Atmosph&auml;re Deutschlands hervorbringen mu&szlig;te. Es war ein Triumphzug, der Jahrzehnte dauerte und mit dem Tod Hegels keineswegs zur Ruhe kam. Im Gegenteil, grade von 1830 bis 1840 herrschte die "Hegelei" am ausschlie&szlig;lichsten und hatte selbst ihre Gegner mehr oder weniger angesteckt; grade in dieser Zeit drangen Hegelsche Anschauungen am reichlichsten, bewu&szlig;t oder unbewu&szlig;t, in die verschiedensten Wissenschaften ein und durchs&auml;uerten auch die popul&auml;re Literatur und die Tagespresse, aus denen das gew&ouml;hnliche "gebildete Bewu&szlig;tsein" seinen Gedankenstoff bezieht. Aber dieser Sieg auf der ganzen Linie war nur das Vorspiel eines innern Kampfs.</P>
<P>Die Gesamtlehre Hegels lie&szlig;, wie wir gesehn, reichlichen Raum f&uuml;r die Unterbringung der verschiedensten praktischen Parteianschauungen; und praktisch waren im damaligen theoretischen Deutschland vor allem zwei Dinge: die Religion und die Politik. Wer das Hauptgewicht auf das System Hegels legte, konnte auf beiden Gebieten ziemlich konservativ sein; wer in der dialektischen <I>Methode</I> die Hauptsache sah, konnte religi&ouml;s wie politisch <A NAME="S271"><B>|271|</A></B> zur &auml;u&szlig;ersten Opposition geh&ouml;ren. Hegel selbst schien, trotz der ziemlich h&auml;ufigen revolution&auml;ren Zornesausbr&uuml;che in seinen Werken, im ganzen mehr zur konservativen Seite zu neigen; hatte ihm doch sein System weit mehr "saure Arbeit des Gedankens" gekostet als seine Methode. Gegen Ende der drei&szlig;iger Jahre trat die Spaltung in der Schule mehr und mehr hervor. Der linke Fl&uuml;gel, die sogenannten Junghegelianer, gaben im Kampf mit pietistischen Orthodoxen und feudalen Reaktion&auml;ren ein St&uuml;ck nach dem andern auf von jener philosophisch-vornehmen Zur&uuml;ckhaltung gegen&uuml;ber den brennenden Tagesfragen, die ihrer Lehre bisher staatliche Duldung und sogar Protektion gesichert hatte; und als gar 1840 die orthodoxe Fr&ouml;mmelei und die feudal-absolutistische Reaktion mit Friedrich Wilhelm IV. den Thron bestiegen, wurde offne Parteinahme unvermeidlich. Der Kampf wurde noch mit philosophischen Waffen gef&uuml;hrt, aber nicht mehr um abstrakt-philosophische Ziele; es handelte sich direkt um Vernichtung der &uuml;berlieferten Religion und des bestehenden Staats. Und wenn in den "Deutschen Jahrb&uuml;chern" die praktischen Endzwecke noch vorwiegend in philosophischer Verkleidung auftraten, so enth&uuml;llte sich die junghegelsche Schule in der "Rheinischen Zeitung" von 1842 direkt als die Philosophie der aufstrebenden radikalen Bourgeoisie und brauchte das philosophische Deckm&auml;ntelchen nur noch zur T&auml;uschung der Zensur.</P>
<P>Die Politik war aber damals ein sehr dorniges Gebiet, und so wandte sich der Hauptkampf gegen die Religion; dies war ja, namentlich seit 1840, indirekt auch ein politischer Kampf. Den ersten Ansto&szlig; hatte Strau&szlig;' "Leben Jesu" 1835 gegeben. Der hierin entwickelten Theorie der evangelischen Mythenbildung trat sp&auml;ter Bruno Bauer mit dem Nachweis gegen&uuml;ber, da&szlig; eine ganze Reihe evangelischer Erz&auml;hlungen von den Verfassern selbst fabriziert worden. Der Streit zwischen beiden wurde gef&uuml;hrt in der philosophischen Verkleidung eines Kampfes des "Selbstbewu&szlig;tseins" gegen die "Substanz"; die Frage, ob die evangelischen Wundergeschichten durch bewu&szlig;tlos-traditionelle Mythenbildung im Scho&szlig; der Gemeinde entstanden oder ob sie von den Evangelisten selbst fabriziert seien, wurde aufgebauscht zu der Frage, ob in der Weltgeschichte die "Substanz" oder das "Selbstbewu&szlig;tsein" die entscheidend wirkende Macht sei; und schlie&szlig;lich kam Stirner, der Prophet des heutigen Anarchismus - Bakunin hat sehr viel aus ihm genommen - und &uuml;bergipfelte das souver&auml;ne "Selbstbewu&szlig;tsein" durch seinen souver&auml;nen "Einzigen".</P>
<P>Wir gehn auf diese Seite des Zersetzungsprozesses der Hegelschen Schule nicht weiter ein. Wichtiger f&uuml;r uns ist dies: Die Masse der entschiedensten Junghegelianer wurde durch die praktischen Notwendigkeiten ihres Kampfs <A NAME="S272"><B>|272|</A></B> gegen die positive Religion auf den englisch-franz&ouml;sischen Materialismus zur&uuml;ckgedr&auml;ngt. Und hier kamen sie in Konflikt mit ihrem Schulsystem. W&auml;hrend der Materialismus die Natur als das einzig Wirkliche auffa&szlig;t, stellt diese im Hegelschen System nur die "Ent&auml;u&szlig;erung" der absoluten Idee vor, gleichsam eine Degradation der Idee; unter allen Umst&auml;nden ist hier das Denken und sein Gedankenprodukt, die Idee, das Urspr&uuml;ngliche, die Natur das Abgeleitete, das nur durch die Herablassung der Idee &uuml;berhaupt existiert. Und in diesem Widerspruch trieb man sich herum, so gut und so schlecht es gehn wollte.</P>
<P>Da kam Feuerbachs "Wesen des Christenthums". Mit einem Schlag zerst&auml;ubte es den Widerspruch, indem es den Materialismus ohne Umschweife wieder auf den Thron erhob. Die Natur existiert unabh&auml;ngig von aller Philosophie; sie ist die Grundlage, auf der wir Menschen, selbst Naturprodukte, erwachsen sind; au&szlig;er der Natur und den Menschen existiert nichts, und die h&ouml;hern Wesen, die unsere religi&ouml;se Phantasie erschuf, sind nur die phantastische R&uuml;ckspiegelung unsers eignen Wesens. Der Bann war gebrochen; das "System" war gesprengt und beiseite geworfen, der Widerspruch war, als nur in der Einbildung vorhanden, aufgel&ouml;st. - Man mu&szlig; die befreiende Wirkung dieses Buchs selbst erlebt haben, um sich eine Vorstellung davon zu machen. Die Begeisterung war allgemein: Wir waren alle momentan Feuerbachianer. Wie enthusiastisch Marx die neue Auffassung begr&uuml;&szlig;te und wie sehr er - trotz aller kritischen Vorbehalte - von ihr beeinflu&szlig;t wurde, kann man in der <A HREF="../me02/me02_003.htm">"Heiligen Familie"</A> lesen.</P>
<P>Selbst die Fehler des Buchs trugen zu seiner augenblicklichen Wirkung bei. Der belletristische, stellenweise sogar schw&uuml;lstige Stil sicherte ein gr&ouml;&szlig;eres Publikum und war immerhin eine Erquickung nach den langen Jahren abstrakter und abstruser Hegelei. Dasselbe gilt von der &uuml;berschwenglichen Verg&ouml;tterung der Liebe, die gegen&uuml;ber der unertr&auml;glich gewordnen Souver&auml;nit&auml;t des "reinen Denkens" eine Entschuldigung, wenn auch keine Berechtigung fand. Was wir aber nicht vergessen d&uuml;rfen: Grade an diese beiden Schw&auml;chen Feuerbachs kn&uuml;pfte der seit 1844 sich im "gebildeten" Deutschland wie eine Seuche verbreitende "wahre Sozialismus" an, der an die Stelle der wissenschaftlichen Erkenntnis die belletristische Phrase, an die Stelle der Emanzipation des Proletariats durch die &ouml;konomische Umgestaltung der Produktion die Befreiung der Menschheit vermittelst der "Liebe" setzte, kurz, sich in die widerw&auml;rtige Belletristik und Liebesschw&uuml;ligkeit verlief, deren Typus Herr Karl Gr&uuml;n war.</P>
<B><P><A NAME="S273">|273|</A></B> Was fernerhin nicht zu vergessen: Die Hegelsche Schule war aufgel&ouml;st, aber die Hegelsche Philosophie war nicht kritisch &uuml;berwunden. Strau&szlig; und Bauer nahmen jeder eine ihrer Seiten heraus und kehrten sie polemisch gegen die andre. Feuerbach durchbrach das System und warf es einfach beiseite. Aber man wird nicht mit einer Philosophie fertig dadurch, da&szlig; man sie einfach f&uuml;r falsch erkl&auml;rt. Und ein so gewaltiges Werk wie die Hegelsche Philosophie, die einen so ungeheuren Einnu&szlig; auf die geistige Entwicklung der Nation gehabt, lie&szlig; sich nicht dadurch beseitigen, da&szlig; man sie kurzerhand ignorierte. Sie mu&szlig;te in ihrem eigenen Sinn "aufgehoben" werden, d.h. in dem Sinn, da&szlig; ihre Form kritisch vernichtet, der durch sie gewonnene neue Inhalt aber gerettet wurde. Wie dies geschah, davon weiter unten.</P>
<P>Einstweilen schob die Revolution von 1848 jedoch die gesamte Philosophie ebenso ungeniert beiseite wie Feuerbach seinen Hegel. Und damit wurde auch Feuerbach selbst in den Hintergrund gedr&auml;ngt.</P>
<P><HR size="1"></P>
<P>Fu&szlig;noten von Friedrich Engels</P>
<SMALL><SUP><P><A NAME="F1">(1)</A></SUP></SMALL> "Ludwig Feuerbach" von C. N. Starcke, Dr. phil. - Stuttgart. Ferd. Encke, 1885. <A HREF="me21_265.htm#ZF1">&lt;=</A></P>
<HR size="1"><P>
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