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<title>Karl Marx/Friedrich Engels - Rezensionen aus der "Neuen Rheinischen Zeitung.
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Politisch-oekonomische Revue". Viertes Heft. April 1850</title>
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<body link="#0000FF" vlink="#800080" bgcolor="#FFFFAF">
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<p><font size="2">Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz
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Verlag, Berlin. Band 7, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1960,
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Berlin/DDR. S. 255-291.</font></p>
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<h2>Karl Marx/Friedrich Engels</h2>
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<h1>[Rezensionen aus der "Neuen Rheinischen Zeitung.<br>
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Politisch-ökonomische Revue".<br>
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Viertes Heft, April 1850</h1>
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<hr>
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<p align="center">I</p>
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<p align="center"><i>"Latter-Day Pamphlets", edited by Thomas Carlyle -<br></i>Nr. I "The Present
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Time", Nr. II "Model Prisons" -, London 1850</p>
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<p align="center"><i><"Zeitgenössische Pamphlete", herausgegeben von Thomas
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Carlyle<br></i>- Nr. I "Die Gegenwart", Nr. II "Mustergefängnisse"></p>
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<p><b><a name="S255" id="S255"><255></a></b> Thomas Carlyle ist der einzige englische
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Schriftsteller, auf den die deutsche Literatur einen direkten und sehr bedeutenden Einfluß
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ausgeübt hat. Schon aus Höflichkeit darf der Deutsche seine Schriften nicht unbeachtet
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vorübergehen lassen.</p>
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<p>Wir haben an der neuesten Schrift von Guizot (<a href="me07_198.htm#III">Heft II der "N. Rh.
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Z."</a>) gesehn, wie die Kapazitäten der Bourgeoisie im Untergehn begriffen sind. In den
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vorliegenden zwei Broschüren von Carlyle erleben wir den Untergang des literarischen Genies
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an den akut gewordenen geschichtlichen Kämpfen, gegen die es seine verkannten,
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unmittelbaren, prophetischen Inspirationen geltend zu machen sucht.</p>
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<p>Thomas Carlyle hat das Verdienst, literarisch gegen die Bourgeoisie aufgetreten zu sein zu
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einer Zeit, wo ihre Anschauungen, Geschmacksrichtungen und Ideen die ganze offizielle englische
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Literatur vollständig unterjochten, und in einer Weise, die mitunter sogar revolutionär
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ist. So in seiner französischen Revolutionsgeschichte, in seiner Apologie Cromwells, in dem
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Pamphlet über den Chartismus, in "Past and Present". Aber in allen diesen Schriften
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hängt die Kritik der Gegenwart eng zusammen mit einer seltsam unhistorischen Apotheose des
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Mittelalters, auch sonst häufig bei englischen Revolutionären, z.B. bei Cobbett und
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einem Teil der Chartisten. Während er in der Vergangenheit wenigstens die klassischen
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Epochen einer bestimmten Gesellschaftsphase bewundert, bringt ihn die Gegenwart zur Verzweiflung,
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graut ihm vor der <a name="S256" id="S256"><b><256></b></a> Zukunft. Wo er die Revolution
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anerkannt oder gar apotheosiert, konzentriert sie sich ihm in ein einzelnes Individuum, einen
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Cromwell oder Danton. Ihnen widmet er denselben Heroenkultus, den er in seinen "Lectures on
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Heroes and Hero-Worship" als einzige Zuflucht aus der verzweiflungsschwangern Gegenwart, als neue
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Religion gepredigt hat.</p>
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<p>Wie die Ideen, so der Stil Carlyles. Er ist eine direkte, gewaltsame Reaktion gegen den
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modern-bürgerlichen englischen Pecksniff-Stil, dessen gespreizte Schlaffheit, vorsichtige
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Weitschweifigkeit und moralisch-sentimentale zerfahrene Langweiligkeit von den
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ursprünglichen Erfindern, den gebildeten Cockneys, auf die ganze englische Literatur
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übergegangen ist. Ihr gegenüber behandelte Carlyle die englische Sprache wie ein
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vollständig rohes Material, das er von Grund aus umzuschmelzen hatte. Veraltete Wendungen
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und Worte wurden wieder hervorgesucht und neue erfunden nach deutschem und speziell Jean
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Paulschem Muster. Der neue Stil war oft himmelstürmend und geschmacklos, aber häufig
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brillant und immer originell. Auch hierin zeigen die "Latter-Day Pamphlets" einen
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merkwürdigen Rückschritt.</p>
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<p>Übrigens ist es bezeichnend, daß aus der ganzen deutschen Literatur derjenige Kopf,
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der am meisten Einfluß auf Carlyle geübt hat, nicht Hegel war, sondern der
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literarische Apotheker Jean Paul.</p>
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<p>Dem Kultus des Genius, den Carlyle mit Strauß teilt, ist in den vorliegenden
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Broschüren der Genius abhanden gekommen. Der Kultus ist geblieben.</p>
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<p>"The Present Time" beginnt mit der Erklärung, daß die Gegenwart die Tochter der
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Vergangenheit und die Mutter der Zukunft, jedenfalls aber eine <i>neue Ära</i> ist.</p>
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<p>Die erste Erscheinung dieser neuen Ära ist ein <i>reformierender</i> Papst. Das
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Evangelium in der Hand, wollte Pius IX. vorn Vatikan herab der Christenheit <i>"das Gesetz der
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Wahrheit"</i> verkünden.</p>
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<p><font size="2">"Vor mehr als dreihundert Jahren erhielt der Thron Sankt Peters peremptorische
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gerichtliche Aufkündung, authentische Ordre, registriert in der Kanzlei des Himmels, und
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seitdem lesbar in den Herzen aller wackern Männer, sich auf und davon zu machen, zu
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verschwinden und uns nichts mehr zu tun zu machen mit ihm und seinen Täuschungen und
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gottlosen Delirien; - und seitdem blieb er stehn auf seine eigne Gefahr und wird exakten
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Schadenersatz zu leisten haben für jeden Tag, den er so gestanden hat. Gesetz der Wahrheit?
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Was dieses Papsttum dem Gesetz der Wahrheit gemäß zu tun hatte, das war, aufzugeben
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sein faules galvanisiertes Leben, diese Schmach vor Gott und dem Menschen, ehrbar zu sterben und
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sich begraben zu lassen. Fern hiervon war, was der arme Papst unternahm; und doch war es im
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ganzen wesentlich nur das ... Ein reformierender Papst? Turgot und Necker waren nichts dagegen.
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Gott ist groß, und wenn ein Ärgernis enden soll, beruft er dazu einen gläubigen
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Mann, der Hand ans Werk legt in Hoffnung, nicht in Verzweiflung." p. 3.</font></p>
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<p><b><a name="S257" id="S257"><257></a></b> Mit seinen Reformmanifesten hatte der Papst
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Fragen auferweckt,</p>
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<p><font size="2">"Mütter von Wirbelwinden, Weltbränden, Erdbeben ... Fragen, welche
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alle offiziellen Männer wünschten und meist auch hofften aufzuschieben bis zum
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jüngsten Tag. Der jüngste Tag selbst war gekommen, das war die schreckliche Wahrheit."
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p. 4.</font></p>
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<p>Das Gesetz der Wahrheit war proklamiert. Die Sizilianer</p>
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<p><font size="2">"waren das erste Volk, das sich daran gab, diese neue, vom heiligen Vater
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sanktionierte Regel anzuwenden: Wir gehören nicht durch das Gesetz der Wahrheit Neapel an
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und diesen neapolitanischen Beamten. Wir wollen, mit der Gunst des Himmels und des Papstes, uns
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von diesen befreien."</font></p>
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<p>Daher die sizilische Revolution.</p>
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<p>Das französische Volk, das sich selbst als eine "Art von Messiasvolk" betrachtet, als der
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"auserwählte Soldat der Freiheit", fürchtete, daß die armen verachteten
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Sizilianer ihm diesen Industriezweig (trade) aus der Hand nehmen möchten -
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Februarrevolution.</p>
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<p><font size="2">"Wie durch sympathetische unterirdische Elektrizitäten explodierte ganz
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Europa, schrankenlos, unkontrollierbar; und wir hatten das Jahr 1848, eins der seltsamsten,
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unheilvollsten, erstaunlichsten und im ganzen demütigendsten Jahres welche die
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europäische Welt jemals sah... Die Könige überall und die regierenden Personen
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stierten in plötzlichem Schrecken, als die Stimme der ganzen Welt in ihre Ohren bellte: Hebt
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euch von dannen, ihr Schwachköpfe, Heuchler, Histrionen, nicht Heroen! Weg mit euch, weg!
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Und was eigentümlich war, und in diesem Jahr zuerst erhört: die Könige alle
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beschleunigten sich zu gehn, als wenn sie ausriefen: Wir <i>sind</i> arme Histrionen; das sind
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wir - braucht ihr Heroen? Bringt uns nicht um, was können wir dafür! - Nicht einer von
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ihnen wandte sich rückwärts und stand fest auf seinem Königtum als auf einem
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Recht, wofür er sterben oder seine Haut riskieren könnte. Das, wiederhole ich, ist die
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beängstigende Besonderheit der Gegenwart. Die Demokratie, bei dieser neuen Gelegenheit,
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findet alle Könige <i>bewußt</i>, daß sie nichts andres sind als
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Komödianten. Sie flohen jählings, einige von ihnen mit sozusagen ausgesuchter Schmach -
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in Angst vor dem Zuchthaus oder Schlimmerem. Und das Volk, oder der Pöbel, übertrug
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allerorten seine eigne Regierung sich selbst, und offne Königslosigkeit (kinglessness), was
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wir <i>Anarchie</i> nennen - glücklich, wenn Anarchie plus einem Straßenkonstabler -,
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ist überall an der Tagesordnung. Solches war die Geschichte vom Baltischen bis zum
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Mittelmeer, in Italien, Frankreich, Preußen, Östreich, von einem Ende Europas bis zum
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andern in jenen Märztagen von 1848. Und so blieb kein König in Europa, kein König,
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außer dem öffentlichen 'haranguer' <'Redner', Schwätzer>, harangierend auf
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dem Bierfaß, im Leitartikel oder sich mit seinesgleichen versammelnd im Nationalparlament.
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Und für ungefähr vier Monate war ganz Frankreich und in einem hohen Grade ganz Europa,
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abgehetzt durch jede Art von Delirium, ein auf und nieder wogender Pöbel, präsidiert
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von Herrn von Lamartine auf <a name="S258" id="S258"><b><258></b></a></font> dem
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Hôtel de Ville. Ein sorgenschwangeres Schauspiel für denkende Männer, solange er
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währte, dieser arme Herr von Lamartine, mit nichts in ihm, außer melodischem Wind und
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weichlichem Speichelfluß. Traurig genug: Die beredteste, letzte Verkörperung des
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rehabilitierten 'Chaos', fähig für sich selbst zu sprechen und mit glatten Worten
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einzureden, es sei 'Kosmos'! Aber ihr braucht nur kurze Zeit zu harren in solchen Fällen;
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alle Luftballone müssen ihr Gas von sich geben unter dem Druck der Dinge und fallen
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widerlich schlaff zusammen bevor lange." p. 6-8.</p>
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<p>Wer war es, der diese allgemeine Revolution schürte, zu der der Stoff allerdings
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vorhanden war?</p>
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<p><font size="2">"Studenten, junge Literaten, Advokaten, Zeitungsschreiber,
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heißblütige unerfahrene Enthusiasten und wilde, mit Recht bankrotte Desperados. Nimmer
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bis jetzt haben junge Leute und beinahe Kinder solch ein Kommando geführt in den
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menschlichen Dingen. Veränderte Zeit, seit das Wort senior, seigneur oder Aldermann zuerst
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erdacht wurde, um Herr oder Vorgesetzter zu bedeuten, wie wir es in den Sprachen aller Menschen
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finden! ... Wenn ihr genauer zuseht, werdet ihr finden, daß der Alte aufgehört hat,
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ehrwürdig und daß er begonnen hat, verächtlich zu sein, ein törichter Knabe
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noch, aber ein Knabe ohne die Anmut, den Großsinn und die üppige Kraft der jungen
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Knaben. - Dieser wahnsinnige Stand der Dinge wird natürlich binnen kurzem sich selbst
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Erleichterung verschaffen, wie er das überall schon zu tun begonnen hat; die
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gewöhnlichen Notwendigkeiten des täglichen Lebens können nicht mit ihm bestehn,
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und diese, was sonst auch beiseite geworfen werden mag, gehn ihren Weg fort. Eine beliebige
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Reparatur der alten Maschine unter neuen Farben und veränderten Formen wird wahrscheinlich
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bald in den meisten Ländern erfolgen; die alten Theaterkönige werden wieder zugelassen
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werden unter Bedingungen, unter Konstitutionen mit nationalen Parlamenten oder dgl. fashionablem
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Zubehör, und allerorten wird das alte tägliche Leben versuchen, von Anfang wieder
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anzufangen. Aber dermalen ist keine Hoffnung, daß solche Ausgleichungen Dauer haben
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könnten. - In solchen fluchbringenden Schwingungen, treibend wie unter abgrundlos tobenden
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Strudeln und sich bekriegenden Seeströmungen, nicht stehend auf festgegründeten
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Fundamenten, muß die europäische Gesellschaft fortfahren zu taumeln - bald heillos
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stolpernd, dann wieder mühselig sich aufraffend in immer kürzeren Intervallen, bis
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endlich einmal die neue <i>Felsenbasis</i> ans Tageslicht kommt und die auf und nieder wogenden
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Sündfluten der Meuterei und der Notwendigkeit der Meuterei sich wieder verlaufen." p.
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8-10.</font></p>
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<p>Soweit die Geschichte, die auch in dieser Form wenig tröstlich ist für die alte
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Welt. Jetzt kommt die Moral:</p>
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<p><font size="2">"Die <i>allgemeine Demokratie</i>, was man auch von ihr denken möge, ist
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das unvermeidliche Faktum der Tage, worin wir leben." p. 10.</font></p>
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<p>Was ist die Demokratie? Eine Bedeutung muß sie haben, oder sie wäre nicht da. Es
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kommt also alles darauf an, die wahre Bedeutung der Demokratie <a name="S259" id=
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"S259"><b><259></b></a> zu finden. Gelingt uns dies, so können wir mit ihr fertig
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werden; wo nicht, sind wir verloren. Die Februarrevolution war "ein allgemeiner Bankerutt des
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Betrugs; das ist ihre kurze Erklärung". p. 14. Der <i>Schein</i> und Scheingestalten,
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"shams", "delusions", "phantasms" <"Täuschungen", "Illusionen", "Trugbilder">,
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bedeutungslos gewordne Namen anstatt der wirklichen Verhältnisse und Dinge, mit einem Wort
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der Lug anstatt der Wahrheit hat in der modernen Zeit geherrscht. Die individuelle und soziale
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Ehescheidung von diesen Scheingestalten und Gespenstern, das ist die Aufgabe der Reform, und die
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Notwendigkeit, daß aller sham, aller Betrug aufhöre, ist unleugbar.</p>
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<p><font size="2">"Allerdings mag dies manchem befremdlich erscheinen; und manch einem soliden
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Engländer, der mit gesundem Behagen seinen Pudding verdaut, unter den sogenannten gebildeten
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Klassen, scheint es über die Maßen befremdlich, eine verrückte unwissende
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Vorstellung, durchaus heterodox und schwanger nur mit Ruin. Ihm sind angewöhnt worden Formen
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des Anstands, denen seit langer Zeit ihre Bedeutung abhanden gekommen ist, plausible
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Verhaltungsweisen, rein zeremoniell gewordne Feierlichkeiten - was ihr in eurem
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bilderstürmenden Humor shams nennt - sein ganzes Leben durch; nimmer hörte er,
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daß irgendein Harm in ihnen wäre, daß irgendein Vorankommen wäre ohne sie.
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Spann nicht die Baumwolle sich selbst, mästete sich nicht das Vieh, und Kolonialwaren und
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Spezereien, kamen sie nicht von Osten und Westen herein durchaus komfortabel an der Seite der
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shams?" p. 15.</font></p>
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<p>Wird nun die Demokratie diese notwendige Reform, die Befreiung von den shams, vollbringen?</p>
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<p><font size="2">"Die Demokratie, wenn sie organisiert ist vermittelst des allgemeinen
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Stimmrechts, wird sie diesen heilenden allgemeinen Übergang von der Illusion zum Wirklichen,
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vom Falschen zum Wahren durchführen und nach und nach eine gesegnete Welt schaffen?" p.
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17.</font></p>
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<p>Carlyle leugnet dies. Er sieht überhaupt in der Demokratie und in dem allgemeinen
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Stimmrecht nur eine Ansteckung aller Völker durch den englischen Aberglauben an die
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Unfehlbarkeit der parlamentarischen Regierung. Die Bemannung jenes Schiffs, das den Weg um Kap
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Horn verloren hatte und statt nach Wind und Wetter auszuschauen und den Sextanten zu gebrauchen
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über den einzuschlagenden Weg abstimmte und die Entscheidung der Majorität für
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unfehlbar erklärte - das ist das allgemeine Stimmrecht, das den Staat lenken will. Wie
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für jeden einzelnen, so für die Gesellschaft kommt es nur darauf an, die wahren
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Regulationen des Universums, die ewig währenden Gesetze der Natur mit Bezug auf die jedesmal
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vorliegende Aufgabe zu entdecken <a name="S260" id="S260"><b><260></b></a> und darnach zu
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handeln. Wer uns diese ewigen Gesetze enthüllt, dem folgen wir, "sei es der Zar von
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Rußland oder das chartistische Parlament, der Erzbischof von Canterbury oder der
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Dalai-Laina". Wie aber entdecken wir diese ewigen Vorschriften Gottes? Jedenfalls ist das
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allgemeine Stimmrecht, das jedem einen Stimmzettel gibt und die Köpfe zählt, der
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schlechteste Weg dazu. Das Universum ist sehr exklusiver Natur und hat von jeher seine
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Geheimnisse nur wenigen Auserwählten, nur einer kleinen Minorität von Edlen und Weisen
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mitgeteilt. Es hat daher auch nie eine Nation auf der Grundlage der Demokratie existieren
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können. Griechen und Römer? Jeder weiß heutzutage, daß sie keine
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Demokratien bildeten, daß die Sklaverei die Grundlage ihrer Staaten war. Von den
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verschiedenen französischen Republiken ist es ganz überflüssig zu sprechen. Und
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die nordamerikanische Musterrepublik? Von den Amerikanern kann bis jetzt nicht einmal gesagt
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werden, daß sie eine Nation, einen Staat bilden. Die amerikanische Bevölkerung lebt
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ohne Regierung; was hier konstituiert, ist die Anarchie plus einem Straßenkonstabler. Was
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diesen Zustand möglich macht, sind die enormen Strecken noch unbebauten Landes und der aus
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England herübergebrachte Respekt vor dem Konstablerstock. Mit dem Wachsen der
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Bevölkerung hat auch das ein Ende.</p>
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<p><font size="2">"Welche große menschliche Seele, welchen großen Gedenken, welche
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große edle Sache, die man anbeten oder der man loyale Bewunderung zollen könnte, hat
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Amerika noch erzeugt?" p. 25. -</font></p>
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<p>Es hat seine Bevölkerung alle zwanzig Jahre verdoppelt - voilà tout <das ist
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allles>.</p>
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<p>Also diesseits und jenseits des Atlantischen Ozeans ist die Demokratie für immer
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unmöglich. Das Universum selbst ist eine Monarchie und eine Hierarchie. Keine Nation, worin
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die göttliche immerwährende Pflicht der Leitung und Kontrollierung der Unwissenden
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nicht dem <i>edelsten</i> mit seiner auserwählten Reihe von <i>Edleren</i> anvertraut ist,
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hat das Reich Gottes, entspricht den ewigen Naturgesetzen.</p>
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<p>Jetzt erfahren wir auch das Geheimnis, den Ursprung und die Notwendigkeit der modernen
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Demokratie. Es besteht einfach darin, daß der falsche Edle (sham-noble) erhöht und
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durch Tradition oder neu erfundene Täuschungen konsekriert worden ist.</p>
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<p>Und wer soll den wahren Edelstein entdecken mit seiner ganzen Einfassung von kleineren
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Menschenjuwelen und Perlen? Sicher nicht das allgemeine Stimmrecht, denn nur der Edle kann den
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Edlen ausfinden. Und so erklärt Carlyle daß England noch eine Menge solcher Edlen und
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|
"Könige" besitze, und fordert diese p. 38 auf, sich bei ihm zu melden.</p>
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<p><b><a name="S261" id="S261"><261></a></b> Man sieht, wie der "Edle" Carlyle von einer
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durchaus pantheistischen Anschauungsweise ausgeht. Der ganze geschichtliche Prozeß wird
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bedingt nicht durch die Entwicklung der lebendigen Massen selbst, die natürlich von
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bestimmten, aber selbst wieder historisch erzeugten wechselnden Voraussetzungen abhängig
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ist, er wird bedingt durch ein ewiges, für alle Zeiten unveränderliches Naturgesetz,
|
|
von dem er sich heute entfernt und dem er sich morgen wieder nähert und auf dessen richtige
|
|
Erkenntnis alles ankommt. Diese richtige Erkenntnis des ewigen Naturgesetzes ist die ewige
|
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Wahrheit, alles andre ist falsch. Mit dieser Anschauungsweise lösen sich die wirklichen
|
|
Klassengegensätze, so verschieden sie in verschiednen Epochen sind, sämtlich auf in den
|
|
einen großen und ewigen Gegensatz derer, die das ewige Naturgesetz ergründet haben und
|
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darnach handeln, der Weisen und Edlen, und derer, die es falsch verstehn, es verdrehn und ihm
|
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entgegen wirken, der Toren und Schurken. Der historisch erzeugte Klassenunterschied wird so zu
|
|
einem natürlichen Unterschied, den man selbst als einen Teil des ewigen Naturgesetzes
|
|
anerkennen und verehren muß, indem man sich vor den Edlen und Weisen der Natur beugt:
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Kultus des Genius. Die ganze Anschauung des historischen Entwicklungsprozesses verflacht sich zur
|
|
platten Trivialität der Illuminaten und Freimaurerweisheit des vorigen Jahrhunderts, zur
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|
einfachen Moral aus der "Zauberflöte" und zu einem unendlich verkommenen und banalisierten
|
|
Saint-Simonismus. Damit kommt natürlich die alte Frage, wer denn eigentlich herrschen soll,
|
|
die mit hochwichtiger Seichtigkeit des breitesten diskutiert und endlich dahin beantwortet wird,
|
|
daß die Edlen, Weisen und Wissenden herrschen sollen, woran sich dann ganz ungezwungen die
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|
Folgerung anschließt, daß viel, sehr viel regiert werden müsse, daß nie
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|
zuviel regiert werden könne, da ja das Regieren die stete Enthüllung und Geltendmachung
|
|
des Naturgesetzes gegenüber der Masse ist. Wie aber sollen die Edlen und Weisen entdeckt
|
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werden? Kein überirdisches Wunder enthüllt sie; man muß sie suchen. Und hier
|
|
kommen die zu rein natürlichen Unterschieden gemachten historischen Klassenunterschiede
|
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wieder zum Vorschein. Der Edle ist edel, weil er Weiser, Wissender ist. Er wird also zu suchen
|
|
sein unter den Klassen, die das Monopol der Bildung haben - unter den privilegierten Klassen, und
|
|
dieselben Klassen werden es sein, die ihn in ihrer Mitte auszufinden, die über seine
|
|
Ansprüche auf den Rang eines Edlen und Weisen zu entscheiden haben. Damit werden die
|
|
privilegierten Klassen sofort, wenn nicht geradezu zur edlen und weisen, doch zur "artikulierten"
|
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Klasse; die unterdrückten Klassen sind natürlich die "stummen unartikulierten", und so
|
|
ist die Klassenherrschaft neu sanktioniert. Die ganze hochentrüstete Polterei verwandelt
|
|
sich in eine etwas versteckte Anerkennung der bestehenden Klassen- <a name="S262" id=
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|
"S262"><b><262></b></a> herrschaft, die bloß darüber grämelt und murrt,
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|
daß die Bourgeois ihren verkannten Genies keine Stelle an der Spitze der Gesellschaft
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anweisen und aus sehr praktischen Rücksichten nicht auf die schwärmerischen Faseleien
|
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dieser Herren eingehn. Wie übrigens auch hier die hochtrabende Salbaderei in ihr Gegenteil
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umschlägt, wie der Edle, Wissende und Weise in der Praxis sich in den Gemeinen, Unwissenden
|
|
und Narren verwandelt, davon liefert uns Carlyle schlagende Exempel.</p>
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|
<p>Er wendet sich, da bei ihm auf die starke Regierung alles ankommt, mit höchster
|
|
Entrüstung gegen das Geschrei nach Befreiung und Emanzipation;</p>
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<p><font size="2">"Laßt uns alle frei sein; der eine von dem andern. Frei ohne Band oder
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Verschlingung, ausgenommen der der baren Zahlung; ehrlicher Tageslohn für ehrliches
|
|
Tageswerk, festgesetzt durch freiwilligen Vertrag und durch das Gesetz der Nachfrage und Zufuhr;
|
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dies bildet man sich ein, sei die wahre Lösung aller Schwierigkeiten und Ungerechtigkeiten,
|
|
die zwischen Mensch und Mensch vorgefallen sind. Um das Verhältnis, das zwischen zwei
|
|
Menschen existiert, zu berichtigen, gibt es keine andere Methode, als es ganz und gar zu
|
|
beseitigen?" p. 29.</font></p>
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<p>Diese vollständige Auflösung aller Bande, aller Verhältnisse zwischen den
|
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Menschen erreicht natürlich ihre Spitze in der <i>Anarchie</i>, dem Gesetz der
|
|
Gesetzlosigkeit, dem Zustand, in dem das Band der Bänder, die Regierung, vollständig
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zerschnitten ist. Und dahin strebt man in England wie auf dem Kontinent, ja sogar in dem "soliden
|
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Germanien".</p>
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<p>So poltert Carlyle mehrere Seiten hindurch fort, indem er auf eine höchst befremdliche
|
|
Weise rote Republik, fraternité <Brüderlichkeit>, Louis Blanc usw. mit dem free
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|
trade, der Abschaffung der Kornzölle etc. zusammenwirft. Vgl. p. 29-42. Die Vernichtung der
|
|
traditionell noch forterhaltenen Reste des Feudalismus, die Reduktion des Staats auf das
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|
unumgänglich nötige und allerwohlfeilste, die vollständige Durchführung der
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freien Konkurrenz durch die Bourgeois vermischt und identifiziert Carlyle also mit der Aufhebung
|
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eben dieser Bourgeoisverhältnisse, mit der Abschaffung des Gegensatzes von Kapital und
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Lohnarbeit, mit dem Sturz der Bourgeoisie durch das Proletariat. Glänzende Rückkehr zu
|
|
der "Nacht des Absoluten", in der alle Kühe grau sind! Tiefe Wissenschaft des "Wissenden",
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der nicht das erste Wort von dem weiß, was um ihn vorgeht! Seltsamer Scharfsinn, der mit
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der Abschaffung des Feudalismus oder der freien Konkurrenz alle Beziehungen zwischen den Menschen
|
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abgeschafft glaubt! Gründliche Ergründung des "ewigen Naturgesetzes", die in allem
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Ernst glaubt, daß keine Kinder mehr zur Welt <a name="S263" id=
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"S263"><b><263></b></a> kommen, sobald die Eltern nicht vorher auf die Mairie gehn, um sich
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ehelich zu "verbinden"!</p>
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<p>Nach diesem erbaulichen Beispiel von der Weisheit, die auf die pure Unwissenheit
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hinausläuft, gibt uns Carlyle auch noch den Beweis, wie der hochbeteuernde Edelmut sofort in
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die unverhüllte Niedertracht umschlägt, sobald er aus seinem Phrasen- und
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Sentenzenhimmel in die Welt der wirklichen Verhältnisse hinabsteigt.</p>
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<p><font size="2">"In allen europäischen Ländern, speziell in England, hat eine Klasse
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von Hauptleuten und Kommandeuren von Menschen, erkennbar als der Beginn einer neuen, realen und
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nicht imaginären Aristokratie, sich bereits einigermaßen entwickelt: die Hauptleute
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der Industrie, glücklicherweise die Klasse, welche vor allen andern in diesen Zeiten nottut.
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Und sicher, von der andern Seite ist kein Mangel an Menschen, die nötig haben kommandiert zu
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werden: Diese traurige Klasse von Brudermenschen, die wir beschrieben haben als Hodges
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emanzipierte Pferde, reduziert zu vagabondierender Hungerleiderei, diese Klasse ebenfalls hat
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sich in allen Ländern entwickelt und entwickelt sich immer mehr in unheilschwangrer
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geometrischer Progression mit beängstigender Geschwindigkeit. Auf diesen Grund hin kann es
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mit Wahrheit gesagt werden, daß die Organisation der Arbeit die allgemeine Lebensaufgabe
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der Welt ist." p. 42, 43.</font></p>
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<p>Nachdem Carlyle auf den ersten vierzig Seiten seinen ganzen tugendhaften Grimm gegen den
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Egoismus, die freie Konkurrenz, Abschaffung der feudalen Bande zwischen Mensch und Mensch,
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Nachfrage und Zufuhr, laissez faire, Baumwollspinnen, bare Zahlung etc. etc. aber und abermals
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ausgepoltert hat, finden wir jetzt auf einmal, daß die Hauptvertreter aller dieser shams,
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die industriellen Bourgeois, nicht nur zu den gefeierten Heroen und Genien gehören, sondern
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sogar den zunächst notwendigen Teil dieser Heroen ausmachen, daß der Trumpf aller
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seiner Angriffe gegen die Bourgeoisverhältnisse und Ideen die Apotheose der
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Bourgeoispersonen ist. Sonderbarer erscheint es, daß Carlyle, nachdem er die
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Kommandierenden und die Kommandierten der Arbeit vorgefunden hat, also eine bestimmte
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Organisation der Arbeit, dennoch diese Organisation für ein noch zu lösendes
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großes Problem erklärt. Aber man täusche sich nicht. Es handelt sich nicht um die
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Organisation der einregimentierten, sondern um die der nicht einregimentierten, der
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führerlosen Arbeiter, und diese hat Carlyle sich selbst vorbehalten. Wir sehn ihn am
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Schluß seiner Broschüre plötzlich als britischen Premierminister in partibus
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auftreten, die drei Millionen irische und andre Bettler, arbeitsfähige Habenichtse,
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nomadisch oder stationär, und die allgemeine Nationalversammlung der britischen Paupers
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außer dem workhouse und im workhouse zusammenrufen und in einer Rede "harangieren", worin
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er den Habenichtsen <a name="S264" id="S264"><b><264></b></a> erstlich alles wiederholt,
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was er dem Leser schon früher anvertraut hat, und dann die auserlesene Gesellschaft anredet
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wie folgt:</p>
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<p><font size="2">"Vagabondierende Habe- und Taugenichtse, töricht manche von euch,
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Verbrecher viele von euch, Elende alle! Euer Anblick erfüllt mich mit Staunen und
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Verzweiflung. Hier sind an die drei Millionen von euch, manche von euch in den Abgrund des
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direkten Bettlertums gefallen, und schrecklich zu sagen, jeder, der fällt, beschwert mit
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seinem Gewicht um soviel mehr die Kette, die die andern herüberzieht. Am Rande dieses
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Abgrunds hangen ungezählte Millionen, die sich vermehren, wie man mir sagt, um
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zwölfhundert jeden Tag, fallend, fallend einer nach dem andern, und die Kette wird immer
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schwerer, und wer zuletzt wird noch stehn können? - Was nun mit euch anfangen? ... Die
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andern, die noch stehn, ringen mit ihren eignen Nöten, das kann ich euch sagen; aber ihr,
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durch mangelhafte Energie und überflüssigen Appetit, durch zuwenig getane Arbeit und
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zuviel getrunkenes Bier, ihr habt bewiesen, daß ihr es nicht könnt. Wißt,
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daß wer auch immer die Söhne der Freiheit sein mögen, ihr für euren Teil
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seid es nicht und könnt es nicht sein; ihr seid handgreiflich Gefangene, nicht Freie ... Ihr
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habt die Natur von Sklaven, oder wenn ihr lieber wollt, von nomadisch vagabundierenden Knechten,
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die keinen Herrn zu finden wissen ... Nicht als glorreich unglückliche Söhne der
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Freiheit, sondern als notorische Gefangene, als unglückliche gefallne Brüder, die
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verlangen, daß ich sie kommandieren und wenn nötig, sie kontrollieren und unterjochen
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soll, könnt ihr von nun an mit mir in Verbindung treten ... Vor dem Himmel und der Erde und
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Gott, dem Schöpfer unser aller, erkläre ich es ein Ärgernis, <i>solch</i> ein
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Leben in euch erhalten zu sehn, durch den Schweiß und das Herzblut eurer Brüder, und
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daß, wenn wir es nicht bessern können, der Tod vorzuziehen wäre ... Schreibt euch
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ein in meine irischen, meine schottischen, meine englischen Regimenter der <i>neuen</i> Ära,
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ihr armen wandernden Banditen, gehorcht, arbeitet, duldet, fastet, wie alle von uns tun
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mußten ... Industrielle Obersten, Werkmeister, Aufseher, Herren über Leben und Tod,
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billig wie Rhadamanth und unbeugsam wie er, die tun euch not, und sie werden für euch
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findbar sein, sobald ihr einmal unter den Kriegsartikeln steht ... Zu jedem von euch werde ich
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dann sagen: Hier ist Werk für euch; macht euch tapfer dran, mit männlichem,
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soldatischem Gehorsam und gutem Mut, und fügt euch gemäß den Methoden, die ich
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hier diktiere, - Lohn folgt für euch ohne Schwierigkeit ... Weigert euch, hebt vor saurer
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Arbeit zurück, gehorcht nicht den Vorschriften, und ich werde euch ermahnen und anzustacheln
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suchen; wenn vergeblich, werde ich euch peitschen; wenn immer noch vergeblich, werde ich euch
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endlich niederschießen." p. 46-55.</font></p>
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<p>Die neue <i>Ära</i>, worin der Genius herrscht, unterscheidet sich von der alten Ära
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also hauptsächlich dadurch, daß die Peitsche sich einbildet, genial zu sein. Der
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Genius Carlyle unterscheidet sich vorn ersten besten Gefängniszerberus oder Armenvogt durch
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die tugendhafte Entrüstung und das moralische Bewußtsein, daß er die Paupers nur
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schindet, um sie zu <i>seiner</i> Höhe zu erheben. Wir sehen hier den hochbeteuernden Genius
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in seinem welterlösenden Zorn die Infamien des Bourgeois phantastisch rechtfertigen und
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über- <a name="S265" id="S265"><b><265></b></a> treiben. Hatte die englische
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Bourgeoisie die Paupers den Verbrechern assimiliert, um vom Pauperismus abzuschrecken, hatte sie
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das Armengesetz von 1834 geschaffen, so klagt Carlyle die Paupers des <i>Hochverrats</i> an, weil
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der Pauperismus den Pauperismus erzeugt. Wie vorhin die historisch entstandene herrschende
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Klasse, die industrielle Bourgeoisie, schon weil sie herrschte, des Genius teilhaftig war, so ist
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jetzt jede unterdrückte Klasse, je tiefer sie unterdrückt ist, desto mehr vom Genius
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ausgeschlossen, desto mehr der tobenden Wut unsres verkannten Reformators ausgesetzt. So hier die
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Paupers. Aber sein sittlich-edler Grimm erreicht die höchste Spitze gegenüber den
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absolut Niederträchtigen und Ignobeln, den "Schurken", d.h. den <i>Verbrechern</i>. Von
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diesen handelt er in der Broschüre über die Mustergefängnisse.</p>
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<p>Diese Broschüre unterscheidet sich von der ersten nur durch eine noch viel
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größere Wut, um so wohlfeiler, als sie sich gegen die von der bestehenden Gesellschaft
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offiziell Ausgestoßenen, gegen Leute unter Schloß und Riegel richtet; eine Wut, die
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selbst das wenige von Scham abstreift, was die gewöhnlichen Bourgeois anstandshalber noch
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zur Schau tragen. Wie Carlyle im ersten Pamphlet eine vollständige Hierarchie der Edeln
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aufstellt und dem Edelsten der Edeln nachspürt, so arrangiert er hier eine ebenso komplette
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Hierarchie der Schurken und Niederträchtigen und trachtet danach, den <i>Schlechtesten der
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Schlechten</i>, den <i>größten Schurken</i> in England zu erjagen, um die Wollust zu
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haben, ihn zu hängen. Gesetzt, er finge ihn und hing ihn auf; so ist uns ein andrer der
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Schlechteste und muß wieder gehangen werden und dann wieder ein anderer, bis die Reihe
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endlich an die Edlen, und dann an die Edleren kömmt und zuletzt niemand übrigblieb als
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Carlyle, der Edelste, der als Verfolger der Schurken zugleich Mörder der Edlen ist und auch
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in den Schurken das Edle gemordet hat, der Edelste der Edeln, der sich plötzlich in den
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Niederträchtigsten der Schurken verwandelt und als solcher <i>sich selbst</i> zu hängen
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hat. Damit wären dann alle Fragen über die Regierung, den Staat, die Organisation der
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Arbeit, die Hierarchie des Edlen gelöst, und das ewige Naturgesetz endlich verwirklicht.</p>
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<p align="center">II</p>
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<p align="center"><i>"Les Conspirateurs"</i>, par <i>A. Chenu,</i> ex-capitaine des gardes du
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citoyen Caussidière - Les sociétés secrètes; La préfecture de
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police sous Caussidière; Les corps-francs -, Paris 1850</p>
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<p align="center"><i>"La naissance de la République</i> en Févier 1848", par
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<i>Lucien de la Hodde,</i> Paris 1850</p>
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<p align="center"><<i>"Die Verschwörer"</i>, von <i>A. Chenu,</i> Ex-Hauptmann der Garden
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des Bürgers Caussidière - Die geheimen Gesellschaften; Die Polizeipräfektur
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unter Caussidière; Die Freikorps -<br>
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<i>"Die Geburt der Republik</i> im Februar 1848", von <i>Lucien de la Hodde</i>></p>
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<p><b><a name="S266" id="S266"><266></a></b> Nichts ist wünschenswerter, als daß
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die Leute, die an der Spitze der Bewegungspartei standen, sei es vor der Revolution in den
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geheimen Gesellschaften oder in der Presse, sei es später in offiziellen Stellungen, endlich
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einmal mit derben rembrandtschen Farben geschildert werden, in ihrer ganzen Lebendigkeit. Die
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bisherigen Darstellungen malen uns diese Persönlichkeiten nie in ihrer wirklichen, nur in
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ihrer offiziellen Gestalt, mit dem Kothurn am Fuß und der Aureole um den Kopf. In diesen
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verhimmelten raffaelschen Bildern geht alle Wahrheit der Darstellung verloren.</p>
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<p>Die beiden vorliegenden Schriften entfernen zwar den Kothurn und die Aureole, mit denen die
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"großen Männer" der Februarrevolution bisher zu erscheinen pflegten. Sie dringen in
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das Privatleben dieser Personen ein, sie zeigen sie uns im Negligé, mit ihrer ganzen
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Umgebung von subalternen Subjekten sehr verschiedener Art. Aber darum sind sie nicht weniger weit
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entfernt von einer wirklichen, treuen Darstellung der Personen und Ereignisse. Von ihren
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Verfassern ist der eine ein eingestandner langjähriger Mouchard <Polizeispion>
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Louis-Philippes, der andre ein alter Verschwörer von Profession, dessen Beziehungen zur
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Polizei ebenfalls sehr zweideutig sind und dessen Auffassungsfähigkeit schon dadurch
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charakterisiert wird, daß er zwischen Rheinfelden und Basel "jene prächtige
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Alpenkette, deren silberne Gipfel das Auge blenden", und zwischen Kehl und Karlsruhe "die
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rheinischen Alpen, deren ferne Gipfel sich im Horizont verloren", gesehn haben will. Von solchen
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Leuten, besonders wenn sie obendrein zu ihrer persönlichen Rechtfertigung schreiben, ist
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allerdings nur eine mehr oder minder chargierte chronique scandaleuse <Klatschgeschichte>
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der Februarrevolution zu erwarten.</p>
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<p>Herr de la Hodde sucht sich in seiner Broschüre als den Spion des Cooperschen Romans
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darzustellen. Er habe, behauptet er, sich um die Gesellschaft verdient gemacht, indem er die
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geheimen Gesellschaften während acht <a name="S267" id="S267"><b><267></b></a> Jahren
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paralysierte. Aber vom Cooperschen Spion bis zu Herrn de ja Hodde ist weit, sehr weit. Herr de la
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Hodde, Mitarbeiter am "Charivari", Mitglied des Zentralkomitees der <i>"société des
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nouvelles Saisons"</i> seit 1839, Mitredakteur der "Réforme" seit ihrer Gründung und
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gleichzeitig bezahlter Spion des Polizeipräfekten Delessert, ist durch niemanden mehr
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kompromittiert als durch Chenu. Seine Schrift ist direkt provoziert durch Chenus
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Enthüllungen, hütet sich aber sehr wohl, auch nur eine Silbe auf das zu erwidern, was
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Chenu über de la Hodde selbst sagt. Dieser Teil der Chenuschen Memoiren wenigstens ist also
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authentisch.</p>
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<p><font size="2">"In einer meiner nächtlichen Wanderungen", erzählt Chenu, "bemerkte
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ich de la Hodde, wie er den Quai Voltaire auf- und abwandelte. Der Regen floß stromweise,
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und dieser Umstand machte mich nachdenklich. Sollte zufällig dieser teure de la Hodde auch
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in der Kasse der geheimen Fonds schöpfen? Aber ich erinnerte mich seiner Gesänge,
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seiner herrlichen Strophen über Irland und Polen, und namentlich der heftigen Artikel, die
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er im Journal 'La Réforme_ schrieb" (während Herr de la Hodde sich als den
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Besänftiger der "Réforme hinzustellen sucht). "Guten Abend, de la Hodde, was Teufels
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treibst du hier zu dieser Stunde und in diesem schauderhaften Wetter? - Ich warte auf einen
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Schwerenöter, der mir Geld schuldig ist, und da er alle Abend zu dieser Stunde hier
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vorüberkommt, wird er mir zahlen, oder - und er schlug heftig mit seinem Stock auf die
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Brustwehr des Quais."</font></p>
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<p>De la Hodde sucht ihn loszuwerden und geht nach dem Pont du Carrousel zu. Chenu entfernt sich
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nach der entgegengesetzten Seite, aber nur, um sich unter den Arkaden des Instituts zu verbergen.
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De la Hodde kommt bald zurück, sieht sich sorgfältig nach allen Seiten um und spaziert
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von neuem auf und ab.</p>
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<p><font size="2">"Eine Viertelstunde nachher bemerkte ich den Wagen mit den zwei kleinen
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grünen Laternen, den mir mein Ex-Agent signalisiert hatte" (ein ehemaliger Spion, der Chenu
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im Gefängnis eine Menge Polizeigeheimnisse und Erkennungszeichen verraten hatte). "Er hielt
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an der Ecke der Rue des Vieux-Augustins. Ein Mann stieg aus; de la Hodde ging geradeswegs auf ihn
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zu; sie sprachen einen Augenblick zusammen, und ich sah de la Hodde die Bewegung eines Menschen
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machen, der Geld in seine Tasche steckt. - Nach diesem Vorfall wandte ich alles an, um de la
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Hodde aus unsern Zusammenkünften zu entfernen und vor allem Albert zu verhindern, in eine
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Schlinge zu fallen, denn er war der Eckstein unsres Gebäudes. Einige Tage nachher wies die
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'Réforme' einen Artikel des Herrn de la Hodde zurück. Seine literarische Eitelkeit
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wurde dadurch verletzt. Ich riet ihm, sich zu rächen durch Gründung eines andern
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Journals. Er folgte diesem Rat und publizierte mit Pilhes und Dupoty sogar den Prospektus eines
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Blattes 'Le Peuple', und während dieser Zeit waren wir ihn fast ganz los." - Chenu, p.
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46-48.</font></p>
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<p>Wir sehn: Der Coopersche Spion verwandelt sich in den politischen Prostituierten der
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gemeinsten Art, der auf der Straße im Regenwetter auf die <a name="S268" id=
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"S268"><b><268></b></a> Auszahlung seines cadeau <seiner Belohnung> durch den ersten
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besten officier de paix <Friedensrichter, hier: Polizeibeamten> lauert. Wir sehn ferner:
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Nicht de la Hodde, wie er glauben machen möchte, sondern Albert stand an der Spitze der
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geheimen Gesellschaften. Dies folgt überhaupt aus der ganzen Darstellung Chenus. Der
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Mouchard "im Interesse der Ordnung" verwandelt sich hier plötzlich in den beleidigten
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Schriftsteller, der sich ärgert, daß auf der "Réforme" die Artikel des
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Mitarbeiters am "Charivari" nicht ohne weiteres aufgenommen werden, und der deshalb bricht mit
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der "Réforme", einem wirklichen Parteiorgan, bei dem er der Polizei nützlich werden
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konnte, um ein neues Blatt zu gründen, wo er höchstens seine Literateneitelkeit
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befriedigen konnte. Wie die Prostituierten durch ein gewisses Sentiment, so suchte der Mouchard
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sich durch seine schriftstellerischen Ansprüche aus seiner schmutzigen Stellung zu retten.
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Der Haß gegen die "Réforme", der durch sein ganzes Pamphlet geht, löst sich auf
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in die trivialste Schriftstellerranküne. Endlich sehen wir, daß de la Hodde in der
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wichtigsten Zeit der geheimen Gesellschaften, kurz vor der Februarrevolution, mehr und mehr aus
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ihnen verdrängt wurde; und hieraus erklärt sich, warum sie, ganz im Gegensatz zu Chenu,
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in dieser Zeit nach seiner Darstellung mehr und mehr verfallen.</p>
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<p>Wir kommen jetzt zu der Szene, in der Chenu die Enthüllung der Verrätereien de la
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Hoddes nach der Februarrevolution schildert. Die Partei der "Réforme" war bei Albert im
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Luxembourg auf Caussidières Einladung versammelt. Monnier, Sobrier, Grandmenil, de la
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Hodde, Chenu etc. waren erschienen. Caussidière eröffnete die Versammlung und sagte
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dann:</p>
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<p><font size="2">"Es befindet sich ein Verräter unter uns. Wir werden uns als geheimes
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Tribunal konstituieren, um ihn zu richten. - Grandmenil als der älteste Anwesende wurde zum
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Präsidenten und Tiphaine zum Sekretär ernannt. Bürger, fuhr Caussidière als
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öffentlicher Ankläger fort, lange haben wir brave Patrioten angeklagt. Wir waren weit
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entfernt zu ahnen, welche Schlange sich unter uns geschlichen hatte. Heute habe ich den
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wirklichen Verräter entdeckt: es ist Lucien de la Hodde! - Dieser, der bisher ganz ruhig
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gesessen hatte, sprang auf bei dieser direkten Anklage. Er machte eine Bewegung gegen die
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Tür. Caussidière schloß sie rasch, zog eine Pistole und rief: Wenn du dich
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rührst, zerschmettre ich dir den Schädel! - De la Hodde beteuerte feurig seine
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Unschuld. Gut, sagte Caussidière. Hier ist ein Aktenstoß, der achtzehnhundert
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Berichte an den Polizeipräfekten enthält - und er gab jedem unter uns die ihn speziell
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betreffenden Berichte. De la Hodde leugnete hartnäckig, daß diese Berichte,
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unterzeichnet Pierre, von ihm herrührten, bis Caussidière den in seinen Memoiren
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veröffentlichten Brief vorlas, einen Brief, worin de la Hodde seine Dienste dem
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Polizeipräfekten anbot und den er mit seinem wahren Namen unterzeichnet hatte. Von diesem
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Augenblick leugnete der <a name="S269" id="S269"><b><269></b></a></font> Unglückliche
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nicht mehr, er suchte sich zu entschuldigen durch das Elend, das ihm den fatalen Gedanken
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eingegeben, sich in die Arme der Polizei zu werfen. Caussidière reichte ihm die Pistole
|
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dar, letztes Rettungsmittel, das ihm bleibe. De la Hodde flehte darauf zu seinen Richtern, er
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wimmerte um ihre Milde, aber sie blieben unbeugsam. Bocquet, einer der Anwesenden, dem die Geduld
|
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ausging, ergriff die Pistole und reichte sie ihm dreimal dar mit den Worten: Allons <Los>,
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|
zerschmettre dir den Schädel, Feigling, Feigling, oder ich selbst töte dich! - Albert
|
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riß sie ihm aus der Hand: Aber bedenke, ein Pistolenschuß, hier im Luxembourg,
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alarmiert alle Welt! - Richtig, rief Bocquet, wir müssen Gift haben. - Gift? sagte
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|
Caussidière, ich habe Gift mitgebracht, und zwar von allen Sorten. Er nahm ein Glas,
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füllte es mit Wasser, das er zuckerte, schüttete dann ein weißes Pulver hinein,
|
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bot es dem de la Hodde dar, der zurückschauderte: Ihr wollt mich also meucheln? - Jawohl,
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|
sagte Bocquet, trink. - De la Hodde war schrecklich anzuschauen. Seine Züge wurden fahl,
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|
seine sehr krausen und wohl frisierten Haare bäumten sich auf seinem Haupt. Der
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Schweiß überschwemmte sein Gesicht. Er flehte, er weinte: Ich will nicht sterben! Aber
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Bocquet, unbeugsam, hielt ihm immer noch das Glas dar. Allons, trink doch, sagte
|
|
Caussidière, du wirst zum Teufel sein, ehe du dich versiehst. - Nein, nein, ich werde
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nicht trinken! Und in seiner Geisteszerrüttung fügte er mit einer schrecklichen
|
|
Gebärde hinzu: O, ich werde mich rächen für alle diese Martern!</p>
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<p>Als man sah, daß aller Appell ans point d'honneur <Ehrgefühl> nichts
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fruchtete, wurde de la Hodde auf Alberts Fürsprache endlich begnadigt und ins Gefängnis
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der Conciergerie gebracht." Chenu. p. 134-136.</p>
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<p>Der angeblich Coopersche Spion wird immer erbärmlicher. Wir sehn ihn hier in seiner
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ganzen Verächtlichkeit, wie er seinen Gegnern bloß durch seine Feigheit Widerstand zu
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leisten weiß. Wir werfen ihm vor, nicht daß er nicht sich selbst, sondern daß
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er nicht den ersten besten seiner Gegner niederschoß. Er sucht sich nachträglich durch
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eine Schrift zu retten, worin er die ganze Revolution als eine bloße escroquerie
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<Gaunerei> darzustellen sucht. Der richtige Titel dieser Schrift ist: <i>"Der
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enttäuschte Polizist."</i> Sie weist nach, daß eine wirkliche Revolution das gerade
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Gegenteil ist von den Vorstellungen des Mourchards, der mit den "Männern der Tat"
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übereinstimmend in jeder Revolution das Werk einer kleinen Koterie sieht. Während alle
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von Koterien mehr oder weniger willkürlich provozierten Bewegungen bloße Emeuten
|
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blieben, geht aus de la Hoddes Darstellung selbst hervor, einerseits, daß die
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<i>offiziellen Republikaner</i> im Anfang der Februartage noch an der Eroberung der Republik
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verzweifelten, andrerseits, daß die <i>Bourgeoisie</i> die Republik erobern helfen
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mußte, ohne sie zu wollen, daß also die Februarrepublik notwendig durch die
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Umstände herbeigeführt wurde, die die Massen des außer allen Koterien <a name=
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"S270" id="S270"><b><270></b></a> stehenden Proletariats in die Straßen trieb und die
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Majorität der Bourgeoisie zu Hause hielt oder zu gemeinsamer Aktion mit ihm zwang. - Was de
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la Hodde im übrigen mitteilt, ist äußerst dürftig und reduziert sich auf die
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banalsten Klatschereien. Nur eine Szene ist interessant: die Zusammenkunft der offiziellen
|
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Demokraten im Lokal der "Réforme" am 21. Februar abends, in der die Chefs sich entschieden
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gegen einen gewaltsamen Angriff aussprachen. Der Inhalt ihrer Reden zeugt im ganzen, für
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diesen Tag, noch von einer richtigen Auffassung der Verhältnisse. Lächerlich ist nur
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die hochtrabende Form und die spätere Prätension derselben Leute, die Revolution von
|
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Anfang an mit Bewußtsein und Absicht herbeigeführt zu haben. Das Schlimmste, was de la
|
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Hodde ihnen übrigens nachsagen kann, ist, daß sie ihn so lange unter sich
|
|
duldeten.</p>
|
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<p>Kommen wir zu Chenu. Wer ist Herr Chenu? Er ist ein alter Konspirateur, seit 1832 in allen
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|
Emeuten beteiligt und der Polizei wohlbekannt. Zur Konskription herangezogen, desertiert er bald
|
|
und bleibt unentdeckt in Paris, trotz seiner abermaligen Beteiligung an Verschwörungen und
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|
an der Emeute von 1839. 1844 stellt er sich bei seinem Regiment, und sonderbarerweise wird ihm,
|
|
trotz seiner wohlbekannten Antezedentien, das Kriegsgericht vom Divisionsgeneral erlassen. Noch
|
|
mehr: er dient seine Zeit beim Regiment nicht ab, sondern kann nach Paris zurückkehren. 1847
|
|
ist er in die Brandbombenverschwörung verwickelt; er entkommt bei einem Verhaftungsversuch,
|
|
bleibt aber nichtsdestoweniger in Paris, obwohl er in contumaciam <in Abwesenheit> zu vier
|
|
Jahren verurteilt wird. Erst von seinen Mitverschwörern angeklagt, mit der Polizei in
|
|
Verbindung zu stehn, geht er nach Holland, von wo er am 21. Februar 1848 zurückkommt. Nach
|
|
der Februarrevolution wird er Hauptmann in Caussidières Garden. Caussidière hat ihn
|
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bald im Verdacht (ein Verdacht der viel Wahrscheinlichkeit besitzt), mit Marrasts Spezialpolizei
|
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in Verbindung zu stehn, und entfernt ihn ohne viel Widerstand nach Belgien und später nach
|
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Deutschland. Herr Chenu läßt sich ziemlich gutwillig nacheinander in die belgischen,
|
|
deutschen und polnischen Freikorps einrangieren. Und alles dies zu einer Zeit, wo
|
|
Caussidières Macht schon zu wanken begann, und obwohl Chenu ihn vollständig
|
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beherrscht haben will; so behauptet er, ihn durch einen Drohbrief, als er einmal verhaftet war,
|
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zu seiner sofortigen Freilassung gezwungen zu haben. Soviel über den Charakter und die
|
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Glaubwürdigkeit unsres Autors.</p>
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<p>Die Massen von Schminke und Patschuli, worunter die Prostituierten die weniger anziehenden
|
|
Seiten ihrer physischen Existenz zu ersticken suchen, <a name="S271" id=
|
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"S271"><b><271></b></a> finden sich literarisch reproduziert in dem bel-esprit
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<Schöngeistigen>, womit de la Hodde sein Pamphlet parfümiert. Der literarische
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Charakter des Chenuschen Buchs dagegen erinnert in der Naivetät und Lebendigkeit der
|
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Darstellung häufig an Gil Blas. Wie Gil Blas in den verschiedensten Abenteuern stets
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Bedienter bleibt und alles nach dem Maßstab des Bedienten beurteilt, so bleibt Chenu von
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der Emeute von 1832 bis zu seiner Entfernung aus der Präfektur immer derselbe subalterne
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Konspirateur, dessen spezielle Borniertheit sich übrigens sehr genau unterscheiden
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läßt von den platten Reflexionen des ihm vom Elysee zugewiesenen literarischen
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"Faiseurs". Es ist klar, daß auch bei Chenu von einem Verständnis der
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revolutionären Bewegung nicht die Rede sein kann. Interessant bleiben in seiner Schrift
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daher nur die Kapitel, wo er mehr oder weniger unbefangen aus eigner Anschauung schildert: <i>die
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Konspirateurs</i> und <i>Held Caussidière</i>.</p>
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<p>Man kennt die Neigung der romanischen Völker zu Verschwörungen und die Rolle, die
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die Verschwörungen in der modernen spanischen, italienischen und französischen
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Geschichte gespielt haben. Nach den Niederlagen der spanischen und italienischen Verschwörer
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im Anfang der zwanziger Jahre wurden Lyon und namentlich Paris die Zentren der
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revolutionären Verbindungen. Es ist bekannt, wie bis 1830 die liberalen Bourgeois an der
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Spitze der Verschwörungen gegen die Restauration standen. Nach der Julirevolution trat die
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republikanische Bourgeoisie an ihre Stelle; das Proletariat, schon unter der Restauration zum
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Konspirieren erzogen, trat in dem Maße in den Vordergrund, worin die republikanischen
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Bourgeois durch die vergeblichen Straßenkämpfe von den Konspirationen
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zurückgeschreckt wurden. Die société des saisons, mit der Barbès und
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Blanqui die Ermeute von 1839 machten, war schon ausschließlich proletarisch, und ebenso
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waren es die nach der Niederlage gebildeten nouvelles saisons, an deren Spitze Albert trat, und
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woran Chenu, de la Hodde, Caussidière etc. sich beteiligten. Die Verschwörung stand
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durch ihre Chefs fortwährend in Verbindung mit den in der "Réforme"
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repräsentierten kleinbürgerlichen Elementen, hielt sich jedoch immer sehr
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unabhängig. Diese Konspirationen umfaßten natürlich nie die große Masse des
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Pariser Proletariats. Sie beschränkten sich auf eine verhältnismäßig kleine,
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stets schwankende Zahl von Mitgliedern, die teils aus alten, stationären, von jeder geheimen
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Gesellschaft ihrer Nachfolgerin regelmäßig überlieferten Verschwörern, teils
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aus neu angeworbenen Arbeitern bestand.</p>
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<p>Unter diesen alten Verschwörern schildert Chenu fast ausschließlich nur die Klasse,
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zu der er selbst gehört: die <i>Konspirateurs von Profession</i>. Mit der <a name="S272" id=
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"S272"><b><272></b></a> Ausbildung der proletarischen Konspirationen trat das
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Bedürfnis der Teilung der Arbeit ein; die Mitglieder teilten sich in
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Gelegenheitsverschwörer, conspirateurs d'occasion, d.h. Arbeiter, die die Verschwörung
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nur neben ihrer sonstigen Beschäftigung betrieben, nur die Zusammenkünfte besuchten und
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sich bereithielten, auf den Befehl der Chefs am Sammelplatz zu erscheinen, und in Konspirateure
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von Profession, die ihre ganze Tätigkeit der Verschwörung widmeten und von ihr lebten.
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Sie bildeten die Mittelschicht zwischen den Arbeitern und den Chefs und schmuggelten sich
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häufig sogar unter diese.</p>
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<p>Die Lebensstellung dieser Klasse bedingt schon von vornherein ihren ganzen Charakter. Die
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proletarische Konspiration bietet ihnen natürlich nur sehr beschränkte und unsichre
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Existenzmittel. Sie sind daher fortwährend gezwungen, die Kassen der Verschwörung
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anzugreifen. Manche von ihnen kommen auch direkt in Kollisionen mit der bürgerlichen
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Gesellschaft überhaupt und figurieren mit mehr oder weniger Anstand vor den
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Zuchtpolizeigerichten. Ihre schwankende, im einzelnen mehr vom Zufall als von ihrer
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Tätigkeit abhängige Existenz, ihr regelloses Leben, dessen einzig fixe Stationen die
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Kneipen der marchands de vin <Schankwirte> sind - die Rendezvoushäuser der
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Verschwornen -, ihre unvermeidlichen Bekanntschaften mit allerlei zweideutigen Leuten rangieren
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sie in jenen Lebenskreis, den man in Paris la bohême nennt. Diese demokratischen Bohemiens
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proletarischen Ursprungs - es gibt auch eine demokratische Boheme bürgerlichen Ursprungs,
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die demokratischen Bummler und piliers d'estaminet <Kneipenstammgäste> - sind also
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entweder Arbeiter, die ihre Arbeit aufgegeben haben und dadurch dissolut geworden sind, oder
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Subjekte, die aus dem Lumpenproletariat hervorgehn und alle dissoluten Gewohnheiten dieser Klasse
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in ihre neue Existenz übertragen. Man begreift, wie unter diesen Umständen fast in
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jeden Konspirationsprozeß ein paar repris de justice <Vorbestrafte> sich verwickelt
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finden.</p>
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<p>Das ganze Leben dieser Verschwörer von Profession trägt den ausgeprägtesten
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Charakter der Boheme. Werbunteroffiziere der Verschwörung, ziehen sie von marchand de vin zu
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marchand de vin, fühlen den Arbeitern den Puls, suchen ihre Leute heraus, kajolieren sie in
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die Verschwörung hinein und lassen entweder die Gesellschaftskasse oder den neuen Freund die
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Kosten der dabei unvermeidlichen Konsumtion von Litres tragen. Der marchand de vin ist
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überhaupt ihr eigentlicher Herbergsvater. Bei ihm hält der Verschwörer sich
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meistens auf; hier hat er seine Rendezvous mit seinen Kollegen, mit den Leuten seiner Sektion,
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mit den Anzuwerbenden; hier endlich finden die ge- <a name="S273" id=
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"S273"><b><273></b></a> heimen Zusammenkünfte der Sektionen und Sektionschefs
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(Gruppen) statt. Der Konspirateur, ohnehin wie alle Pariser Proletarier sehr heitrer Natur,
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entwickelt sich in dieser ununterbrochenen Kneipenatmosphäre bald zum vollständigsten
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Bambocheur <Zechbruder>. Der finstre Verschwörer, der in den geheimen Sitzungen eine
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spartanische Tugendstrenge an den Tag legt, taut plötzlich auf und verwandelt sich in einen
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überall bekannten Stammgast, der den Wein und das weibliche Geschlecht sehr wohl zu
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schätzen versteht. Dieser Kneipenhumor wird noch erhöht durch die fortwährenden
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Gefahren, denen der Konspirateur ausgesetzt ist; jeden Augenblick kann er auf die Barrikade
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gerufen werden und dort fallen, auf jedem Schritt und Tritt legt ihm die Polizei Schlingen, die
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ihn ins Gefängnis oder gar auf die Galeeren bringen können. Solche Gefahren machen eben
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den Reiz des Handwerks aus; je größer die Unsicherheit, desto mehr beeilt sich der
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Verschwörer, den Genuß des Moments festzuhalten. Zugleich macht ihn die Gewohnheit der
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Gefahr im höchsten Grade gleichgültig gegen Leben und Freiheit. Im Gefängnis ist
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er zu Hause wie beim marchand de vin. Jeden Tag erwartet er den Befehl zum Losbruch. Die
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verzweifelte Tollkühnheit, die in jeder Pariser Insurrektion hervortritt, wird gerade durch
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diese alten Verschwörer von Profession, die hommes de coups de main <Männer des
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Handstreichs>, hereingebracht. Sie sind es, die die ersten Barrikaden aufwerfen und
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kommandieren, die den Widerstand organisieren, die Plünderung der Waffenläden, die
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Wegnahme der Waffen und Munition aus den Häusern leiten und mitten im Aufstand jene
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verwegnen Handstreiche ausführen, die die Regierungspartei so oft in Verwirrung bringen. Mit
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einem Wort, sie sind die Offiziere der Insurrektion.</p>
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<p>Es versteht sich, daß diese Konspirateurs sich nicht darauf beschränken, das
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revolutionäre Proletariat überhaupt zu organisieren. Ihr Geschäft besteht gerade
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darin, dem revolutionären Entwicklungsprozeß vorzugreifen, ihn künstlich zur
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Krise zu treiben, eine Revolution aus dem Stegreif, ohne die Bedingungen einer Revolution zu
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machen. Die einzige Bedingung der Revolution ist für sie die hinreichende Organisation ihrer
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Verschwörung. Sie sind die Alchimisten der Revolution und teilen ganz die
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Ideenzerrüttung und die Borniertheit in fixen Vorstellungen der früheren Alchimisten.
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Sie werfen sich auf Erfindungen, die revolutionäre Wunder verrichten sollen: Brandbomben,
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Zerstörungsmaschinen von magischer Wirkung, Emeuten, die um so wundertätiger und
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überraschender wirken sollen, je weniger sie einen rationellen Grund haben. Mit. solcher
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Projektenmacherei beschäftigt, haben sie keinen andern Zweck als den nächsten des
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Umsturzes der bestehenden <a name="S274" id="S274"><b><274></b></a> Regierung und verachten
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aufs tiefste die mehr theoretische Aufklärung der Arbeiter über ihre Klasseninteressen.
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Daher ihr nicht proletarischer, sondern plebejischer Ärger über die habits noirs
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<Befrackten>, die mehr oder minder gebildeten Leute, die diese Seite der Bewegung
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vertreten, von denen sie aber, als von den offiziellen Repräsentanten der Partei, sich nie
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ganz unabhängig machen können. Die habits noirs müssen ihnen von Zeit zu Zeit auch
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als Geldquelle dienen. Es versteht sich übrigens, daß die Konspirateurs der
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Entwicklung der revolutionären Partei mit oder wider Willen folgen müssen.</p>
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<p>Der Hauptcharakterzug im Leben der Konspirateurs ist. ihr Kampf mit der Polizei, zu der sie
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grade dasselbe Verhältnis haben wie die Diebe und die Prostituierten. Die Polizei toleriert
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die Verschwörungen, und zwar nicht bloß als ein notwendiges Übel: Sie toleriert
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sie als leicht zu überwachende Zentren, in denen sich die gewaltsamsten revolutionären
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Elemente der Gesellschaft zusammenfinden, als Werkstätten der Emeute, die in Frankreich ein
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ebenso notwendiges Regierungsmittel geworden ist wie die Polizei selbst, und endlich als
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Rekrutierungsplatz für ihre eignen politischen Mouchards. Grade wie die brauchbarsten
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Spitzbubenfänger, die Vidocq und Konsorten, aus der Klasse der höheren und niederen
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Gauner, der Diebe, escrocs <Betrüger> und falschen Bankeruttiers genommen werden und
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oft wieder in ihr altes Handwerk zurückfallen, geradeso rekrutiert sich die niedere
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politische Polizei aus den Konspirateurs von Profession. Die Verschwörer behalten
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unaufhörlich Fühlung mit der Polizei, sie kommen jeden Augenblick in Kollision mit ihr;
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sie jagen auf die Mouchards, wie die Mouchards auf sie jagen. Die Spionage ist eine ihrer
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Hauptbeschäftigungen. Kein Wunder daher, daß der kleine Sprung vom
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handwerksmäßigen Verschwörer zum bezahlten Polizeispion, erleichtert durch das
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Elend und das Gefängnis, durch Drohungen und Versprechungen, sich so häufig macht.
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Daher das grenzenlose Verdachtsystem in den Verschwörungen, das die Mitglieder
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vollständig blind macht und sie in ihren besten Leuten Mouchards und in den wirklichen
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Mouchards ihre zuverlässigsten Leute erkennen läßt. Daß diese aus den
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Verschwörern angeworbenen Spione sich mit der Polizei meist in dem guten Glauben einlassen,
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sie düpieren zu können, daß es ihnen eine Zeitlang gelingt, eine doppelte Rolle
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zu spielen, bis sie den Konsequenzen ihres ersten Schritts mehr und mehr verfallen, und daß
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die Polizei wirklich oft von ihnen düpiert wird, ist einleuchtend. Ob übrigens ein
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solcher Konspirateur den Schlingen der Polizei verfällt, hängt von rein zufälligen
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Umständen ab und von einem mehr quantitativen als qualitativen Unterschied der
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Charakterfestigkeit.</p>
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<p><b><a name="S275" id="S275"><275></a></b> Das sind die Konspirateure, die uns Chenu oft
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sehr lebendig vorführt und deren Charakter er bald mit, bald wider Willen schildert. Er
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selbst übrigens ist, bis in seine nicht ganz klaren Verbindungen mit der Delessertschen und
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Marrastschen Polizei hinein, das schlagendste Bild eines Konspirateurs von Handwerk.</p>
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<p>In demselben Maß, wie das Pariser Proletariat selbst als Partei in den Vordergrund trat,
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verloren diese Konspirateurs an leitendem Einfluß, wurden sie zersprengt, fanden sie eine
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gefährliche Konkurrenz in proletarischen geheimen Gesellschaften, die nicht die unmittelbare
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Insurrektion, sondern die Organisation und Entwicklung des Proletariats zum Zweck hatten. Schon
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die Insurrektion von 1839 hatte einen entschieden proletarischen und kommunistischen Charakter.
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Nach ihr aber traten die Spaltungen ein, über die die alten Konspirateure so viel klagen;
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Spaltungen, die aus dem Bedürfnis der Arbeiter hervorgingen, sich über ihre
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Klasseninteressen zu verständigen, und die sich teils in den alten Verschwörungen
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selbst, teils in neuen propagandistischen Verbindungen äußerten. Die kommunistische
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Agitation, die Cabet bald nach 1839 mit Macht begann, die Streitfragen, die sich innerhalb der
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kommunistischen Partei erhoben, wuchsen den Konspirateuren bald über den Kopf. Chenu wie de
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la Hodde geben zu, daß die Kommunisten zur Zeit der Februarrevolution bei weitem die
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stärkste Fraktion des revolutionären Proletariats gewesen seien. Die Konspirateure, um
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ihren Einfluß auf die Arbeiter und damit ihr Gegengewicht gegen die habits noirs nicht zu
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verlieren, mußten dieser Bewegung folgen und sozialistische oder kommunistische Ideen
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adoptieren. So entstand schon vor der Februarrevolution der Gegensatz der
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Arbeiterverschwörungen, die durch Albert repräsentiert wurden, gegen die Leute von der
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"Réforme", derselbe Gegensatz, der sich bald nachher in der provisorischen Regierung
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reproduzierte. Es fällt uns übrigens nicht ein, Albert mit diesen Konspirateurs zu
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verwechseln. Aus beiden Schriften geht hervor, daß Albert sich eine persönliche
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unabhängige Stellung über diesen seinen Werkzeugen zu behaupten wußte und
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keineswegs in die Klasse von Leuten gehört, die das Konspirieren als Nahrungszweig
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betrieben.</p>
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<p>Die Bombengeschichte von 1847, eine Angelegenheit, in der die Polizei mehr als in allen
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früheren direkt einwirkte, sprengte endlich die hartnäckigsten und widersinnigsten
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alten Konspirateurs und warf ihre bisherigen Sektionen in die direkte proletarische Bewegung
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hinein.</p>
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<p>Diese Konspirateurs von Profession, die heftigsten Leute ihrer Sektionen und die
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détenus politiques <politischen Gefangenen> proletarischen Ursprungs, meist selbst
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alte Kon- <a name="S276" id="S276"><b>< 276></b></a> spirateurs, finden wir nach der
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Februarrevolution als Montagnards in der Polizeipräfektur wieder. Die Konspirateurs bilden
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aber den Kern der ganzen Gesellschaft. Man begreift, daß diese Leute, hier auf einmal
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bewaffnet zusammengedrängt, mit ihren Präfekten und ihren Offizieren meist ganz
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vertraut, ein ziemlich turbulentes Korps bilden mußten. Wie die Montagne der
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Nationalversammlung die Parodie der alten Montagne war und durch ihre Impotenz aufs schlagendste
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bewies, daß die alten revolutionären Traditionen von 1793 heute nicht mehr ausreichen,
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so bewiesen die Montagnards der Polizeipräfektur, die Reproduktion der alten Sansculotten,
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daß in der modernen Revolution auch dieser Teil des Proletariats nicht mehr hinreicht und
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daß allein das gesamte Proletariat sie durchführen kann.</p>
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<p>Chenu schildert den sansculottischen Lebenswandel dieser ehrenwerten Gesellschaft in der
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Präfektur höchst lebendig. Diese humoristischen Szenen, wobei Herr Chenu offenbar
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selbsttätig mitgewirkt hat, sind zuweilen etwas toll, aber bei dem Charakter der alten
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konspirierenden Bambocheurs höchst erklärlich und bilden ein notwendiges und selbst
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gesundes Gegenstück gegen die Orgien der Bourgeoisie in den letzten Jahren
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Louis-Philippes.</p>
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<p>Wir zitieren bloß ein Beispiel aus der Erzählung ihrer Installation in der
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Präfektur.</p>
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<p><font size="2">"Als der Tag anbrach, sah ich nach und nach die Gruppenchefs mit ihren
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Mannschaften ankommen, aber meist unbewaffnet. Ich machte Caussidière hierauf aufmerksam.
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Ich werde ihnen Waffen besorgen, sagte er. Suche einen passenden Ort aus, um sie in der
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Präfektur zu kasernieren. Ich führte sofort diesen Auftrag aus und schickte sie, den
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Posten der alten Stadtsergeanten zu besetzen, wo ich einst so unwürdig behandelt worden war.
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Einen Augenblick nachher sah ich sie im Lauf zurückkommen. Wohin geht ihr? frug ich sie, -
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Der Posten ist besetzt durch einen Schwarm von Stadtsergeanten, antwortete mir Devaisse; sie
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schlafen ruhig, und wir suchen Instrumente, um sie zu wecken und herauszuwerfen. - Sie
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bewaffneten sich nun mit allem, was ihnen in die Hand fiel, Ladstöcken, Säbelscheiden,
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Riemen, die sie doppelt legten, und Besenstielen. Dann fielen meine Jungen, die sich alle mehr
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oder minder zu beklagen gehabt hatten über die Insolenz und Brutalität der
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Schläfer, mit gehobenem Arm über sie her und brachten ihnen während mehr als einer
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halben Stunde eine so rauhe Lektion bei, daß einige davon längere Zeit krank waren.
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Auf ihren Angstschrei stürzte ich hinzu, und es gelang mir nur mit Mühe, die Türe
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zu öffnen, die die Montagnards wohlweislich von innen verschlossen hielten. Es war der
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Mühe wert, jetzt die Stadtsergeanten halbnackt in den Hof stürzen zu sehen; sie
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sprangen mit einem Satz die Treppe hinunter, und wohl bekam es ihnen, alle Schliche der
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Präfektur zu kennen, um aus den Augen ihrer sie hetzenden Feinde zu verschwinden. Einmal
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Meister des Platzes, dessen Garnison sie mit soviel Höflichkeit abgelöst hatten,
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schmückten sich unsre Montagnards siegesstolz mit der Hinterlassenschaft der Besiegten, und
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während langer Zeit sah man sie auf und <a name="S277" id=
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"S277"><b><277></b></a></font> ab wandeln im Hof der Präfektur, den Degen an der
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Seite, den Mantel um die Schulter und ihr Haupt geziert mit dem dreieckigen Hut, einst so
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gefürchtet von der Mehrzahl unter ihnen." p 83-85.</p>
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<p>Wir haben die Montagnards kennengelernt, wir kommen zu ihrem Chef, dem Helden der Epopöe
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Chenu, zu <i>Caussidière</i>. Chenu führt ihn uns um so häufiger vor, als er es
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ist, gegen den das ganze Buch sich eigentlich richtet.</p>
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<p>Die Hauptvorwürfe, die Caussidière gemacht wurden, beziehen sich auf seinen
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moralischen Lebenswandel, Wechselreitereien und sonstige kleine Versuche, Geld aufzutreiben, wie
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sie jedem verschuldeten und lebenslustigen commis voyageur <Handlungsreisender> in Paris
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vorkommen können und vorkommen. Es hängt überhaupt nur von der Größe
|
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des Kapitals ab, ob die Prellereien, Profitmachereien, Schwindeleien und Börsenspiele, auf
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denen der ganze Handel beruht, mehr oder weniger an den Code pénal <an das
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Strafgesetzbuch> streifen. Über die Börsencoups und den chinesischen Betrug, die
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speziell den französischen Handel charakterisieren, vergleiche man z.B. Fouriers pikante
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Schilderungen in den "Quatre mouvements", der "Fausse Industrie", dem "Traité de
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l'unité universelle" und seinem Nachlaß. Herr Chenu versucht nicht einmal zu
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beweisen, daß Caussidière seine Stellung als Polizeipräfekt zu seinen
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Privatzwecken exploitiert habe. Überhaupt kann eine Partei sich Glück wünschen,
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wenn ihre siegreichen Gegner auf die Enthüllung solcher handelsmoralischen
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Erbärmlichkeiten sich beschränken müssen. Die kleinen Experimente des commis
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voyageur Caussidière und die großartigen Skandale der Bourgeoisie von 1847, welcher
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Kontrast! Der ganze Angriff hat nur einen Sinn, insofern Caussidière der Partei der
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"Réforme" angehörte, die ihren Mangel an revolutionärer Energie und Verstand
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durch republikanische Tugendbeteuerungen und einen finstern Ernst der Gesinnung zu verdecken
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suchte.</p>
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<p>Caussidière ist unter den Chefs der Februarrevolution die einzige erheiternde Figur. In
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seiner Eigenschaft als loustic <Spaßmacher> der Revolution war er der ganz passende
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Chef der alten Konspirateurs von Handwerk. Sinnlich und humoristisch, alter Stammgast in
|
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Cafés und Kneipen der verschiedensten Art, der selbst lebte und leben ließ, dabei
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militärisch mutig, unter einer breitschultrigen Bonhomie und Ungeniertheit eine große
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Geriebenheit, schlaue Reflexion und feine Beobachtung verbergend, besaß er einen gewissen
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revolutionären Takt und revolutionäre Energie. Caussidière war damals ein echter
|
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Plebejer, der die Bourgeoisie instinktmäßig haßte und alle plebejischen
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|
Leidenschaften im höchsten Grade teilte. Kaum auf der Präfektur installiert,
|
|
konspiriert er schon gegen den "National", ohne darüber die Küche und den <a name=
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"S278" id="S278"><b><278></b></a> Keller seines Vorgängers zu vernachlässigen. Er
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organisiert sich sofort eine militärische Macht, sichert sich ein Journal, lanciert Klubs,
|
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verteilt die Rollen und agiert überhaupt im ersten Moment mit großer Sicherheit. In
|
|
vierundzwanzig Stunden ist die Präfektur in eine Festung verwandelt, in der er seinen
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Feinden trotzen kann. Aber alle seine Pläne bleiben entweder bloße Projekte oder
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laufen in der Praxis auf pure plebejische Späße ohne Resultat hinaus. Als die
|
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Gegensätze sich schroffer gestalten, teilt er das Los seiner Partei, die zwischen den Leuten
|
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vom "National" und den proletarischen Revolutionären wie Blanqui unentschieden in der Mitte
|
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stehnbleibt. Seine Montagnards spalten sich; die alten Bambocheurs wachsen ihm über den Kopf
|
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und sind nicht mehr zu zügeln, während der revolutionäre Teil zu Blanqui
|
|
übergeht. Caussidière selbst verbürgert in seiner offiziellen Stellung als
|
|
Präfekt und Repräsentant immer mehr; am 15. Mai hält er sich vorsichtig
|
|
zurück und rechtfertigt sich in der Kammer auf eine unverantwortliche Weise; am 23. Juni
|
|
läßt er die Insurrektion direkt im Stich. Zum Lohn wird er natürlich von der
|
|
Präfektur entfernt und bald darauf ins Exil geschickt.</p>
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<p>Wir lassen einige der bezeichnendaten Stellen aus Chenu und de la Hodde über
|
|
Caussidière folgen.</p>
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<p>Kaum ist de la Hodde am Abend des 24. Februar als Generalsekretär der Präfektur von
|
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Caussidière installiert, so sagt ihm dieser:</p>
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<p><font size="2">"'Ich brauche hier solide Leute. Die administrative Boutique wird immer so
|
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ziemlich ihren Gang gehn; ich habe provisorisch die alten Beamten beibehalten; sobald sie die
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|
Patrioten gebildet haben, werden wir sie <i>balancieren</i>. Das ist Nebensache. Es handelt sich
|
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darum, aus der Präfektur die Zitadelle der Revolution zu machen; instruiert unsre Leute
|
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danach; sie sollen alle herkommen. Haben wir erst eintausend Stück handfester Kameraden
|
|
hier, so halten wir die Katze am Schwanz. Ledru-Rollin, Flocon, Albert und ich verstehn uns, und
|
|
ich hoffe, daß die Sache sich machen wird. Der 'National' muß purzeln. Das geschehn,
|
|
werden wir das Land schon republikanisieren, es mag wollen oder nicht.'</font></p>
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<p><font size="2">Gleich darauf kam Garnier-Pagès, Maire von Paris, unter dessen Befehl
|
|
der "National" die Polizei gestellt hatte, einen Besuch abstatten und schlug Caussidière
|
|
vor, anstatt des unangenehmen Postens auf der Präfektur lieber die Kommandantur des
|
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Schlosses von Compiègne anzunehmen. Caussidière antwortete ihm mit der kleinen
|
|
Flötenstimme, die ihm zu Gebot stand und die so merkwürdig mit seinen breiten Schultern
|
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kontrastierte: 'Ich nach Compiègne? Unmöglich. Es ist notwendig, daß ich hier
|
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bleibe. Ich habe da unten mehrere Hundert gemütliche Jungen, die wacker arbeiten; ich
|
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erwarte ihrer noch zweimal soviel. Wenn der gute Wille oder der Mut euch auf dem Hôtel de
|
|
Ville fehlt, so werde ich euch helfen können. Ha, ha, la révolution fera son petit
|
|
bonhomme de chemin, il le faudra bien! < die Revolution wird ihr Stückchen Weg schon
|
|
schaffen, sie muß es einfach!>' - 'Die Revolution? aber sie ist fer- <a name="S279" id=
|
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"S279"><b><279></b></a></font> tig!' - 'Bah, sie hat noch gar nicht angefangen!' - Der arme
|
|
Maire stand da wie ein Tölpel." De la Hodde, p. 72.</p>
|
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<p>Zu den heitersten Szenen, die Chenu schildert, gehört der Empfang der
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Polizeikommissäre und ofiiciers de paix durch den neuen Präfekten, der bei ihrer
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Anmeldung gerade bei Tische war.</p>
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<p><font size="2">"Sie sollen warten, sagte Caussidière, der Präfekt <i>arbeitet</i>.
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Er arbeitete noch eine gute halbe Stunde und arrangierte dann die Szenerie für den Empfang
|
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der Herrn Kommissäre, die unterdessen die große Treppe entlang standen.
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|
Caussidière setzte sich majestätisch nieder in seinen Sessel, seinen großen
|
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Säbel an der Seite. Zwei wüste Montagnards mit kannibalischer Miene bewachten die
|
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Tür, die Muskete beim Fuß, die Pfeife im Mund. Zwei Hauptleute mit gezogenem
|
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Säbel standen an jeder Seite seines Pults. Außerdem waren in dem Salon gruppiert alle
|
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Sektionschefs und die Republikaner, die seinen Generalstab bildeten; alles bewaffnet mit
|
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großen Säbeln und Kavalleriepistolen, mit Büchsen und Jagdflinten. Alle Welt
|
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rauchte, und die Rauchwolke, die den Salon erfüllte, verfinsterte noch die Gesichter und gab
|
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dieser Szene eine wirklich erschreckende Physiognomie. In der Mitte war ein Platz für die
|
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Kommissäre freigeblieben. Jeder bedeckte sich, und Caussidière gab Befehl, sie
|
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einzuführen. Diese armen Kommissäre verlangten nichts sehnlicher, denn sie waren den
|
|
Grobheiten und Drohungen der Montagnards ausgesetzt, die sie in allen möglichen Saucen
|
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frikassieren wollten. Schurkenbande, brüllten sie, jetzt halten wir euch auch einmal! Ihr
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kommt nicht mehr fort, ihr müßt eure Haut hier lassen! - Bei ihrem Eintritt in das
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Kabinett des Präfekten glaubten sie, von der Scylla in die Charybdis zu geraten. Der erste,
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der seinen Fuß auf die Schwelle setzte, schien einen Augenblick zu schwanken. Er
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wußte nicht recht, sollte er vorwärtsgehn oder zurück, so finster richteten sich
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alle Blicke auf ihn. Endlich wagte er sich, tat einen Schritt vor und grüßte, noch
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einen Schritt und grüßte tiefer, einen andern Schritt und grüßte noch
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tiefer. Jeder machte sein Entree mit tiefen Verbeugungen gegen den schrecklichen Präfekten,
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der alle diese Huldigungen kalt und schweigend empfing, die Hand gestützt auf den Griff
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seines Säbels. Die Kommissäre betrachteten diese sonderbare Schaustellung mit glotzigen
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Augen. Einige, welche der Schrecken verwirrte und welche uns zweifelsohne den Hof machen wollten,
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fanden das Tableau imposant, majestätisch. - Stille! gebot ein Montagnard mit Grabesstimme.
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- Als sie alle eingetreten waren, brach Caussidière, der bis dahin stumm und unbeweglich
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geblieben war, das Schweigen und sagte mit seiner furchtbarsten Stimme:</font></p>
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<p><font size="2">'Vor acht Tagen habt ihr nichts weniger erwartet, als mich hier an diesem Platz
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zu finden, umgeben von treuen Freunden. Sie sind also heute eure Gebieter, diese
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Pappendeckelrepublikaner, wie ihr sie einst nanntet. Ihr zittert vor denen, die ihr mit der
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unedelsten Behandlung überhäuft habt. Sie, Vassal, waren der niederträchtigste
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seïde <Fanatiker> der gestürzten Regierung, der heftigste Verfolger der
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Republikaner, und jetzt sind Sie gefallen in die Hände Ihrer unerbittlichsten Feinde, denn
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keiner ist hier gegenwärtig, der Ihren Verfolgungen entgangen wäre. Wenn ich auf die
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gerechten Reklamationen <a name="S280" id="S280"><b><280></b></a></font> hören wollte,
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die man an mich richtet, würde ich Repressalien gebrauchen; ich ziehe es vor zu vergessen.
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Kehrt alle zu euren Funktionen zurück; aber wenn ich jemals erfahre, daß ihr die Hand
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bietet zu irgendeiner reaktionären Mogelei, werde ich euch wie Ungeziefer zertreten.
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Geht!'</p>
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<p>Die Kommissäre hatten die ganze Stufenleiter des Schreckens durchlaufen, und zufrieden,
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mit einer Strafpredigt des Präfekten davonzukommen, schoben sie ganz fidel ab. Die
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Montagnards, die sie unten an der Treppe erwarteten, geleiteten sie mit einem lärmenden
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Charivari bis an das Ende der Rue de Jerusalem. Kaum war der letzte verschwunden, als wir eine
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ungeheure Lache aufschlugen. Caussidière strahlte und lachte mehr als alle andern
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über den herrlichen Streich, den er seinen Kommissären gespielt hatte." Chenu, p.
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87-90.</p>
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<p>Nach dem 17. März, an dem Caussidière vielen Anteil hatte, sagte er zu Chenu:</p>
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<p><font size="2">"Ich kann nach meinem Belieben die Massen erheben und sie auf die Bourgeoisie
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stürzen." Chenu, p. 140.</font></p>
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<p>Caussidière brachte es überhaupt nie weiter mit seinen Gegnern, als Bangemachen
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mit ihnen zu spielen.</p>
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<p>Endlich über das Verhältnis Caussidières zu den Montagnards sagt Chenu:</p>
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<p><font size="2">"Wenn ich zu Caussidière von den Exzessen sprach, denen sich seine Leute
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überließen, seufzte er, aber die Hände waren ihm gebunden. Die größte
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Zahl hatte sein Leben mitgelebt, er hatte ihr Elend geteilt und ihre Freuden, mehrere hatten ihm
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Dienste erwiesen. Wenn er sie nicht niederhalten konnte, war dies die Folge seiner eignen
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Vergangenheit." p. 97.</font></p>
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<p>Wir erinnern unsre Leser, daß diese beiden Bücher geschrieben wurden zur Zeit der
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Agitation für die Wahlen vom 10. März. Was ihre Wirkung war, geht hervor aus dem
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Wahlresultat - dem glänzenden Sieg der Roten.</p>
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<p align="center">III</p>
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<p align="center"><i>"Le socialisme</i> et <i>l'impôt", par Émile de Girardin,</i>
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Paris 1850<br>
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<<i>"Der Sozialismus und die Steuer", Von Émile de Girardin</i> ></p>
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<p>Es gibt zweierlei Arten von Sozialismus, den "guten" Sozialismus und den "schlechten"
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Sozialismus.</p>
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<p>Der <i>schlechte</i> Sozialismus, das ist <i>"der Krieg der Arbeit gegen das Kapital"</i>. Auf
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seine Rechnung fallen alle die Schreckensbilder: gleiche Verteilung der Ländereien,
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Aufhebung der Familienbande, organisierte Plünderung usw.</p>
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<p><b><a name="S281" id="S281"><281></a></b> Der <i>gute</i> Sozialismus, das ist <i>"die
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Eintracht</i> von <i>Arbeit und Kapital"</i>. In seinem Gefolge befinden sich die Abschaffung der
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Unwissenheit, die Entfernung der Ursachen des Pauperismus, die Konstitution des Kredits, die
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Vervielfältigung des Eigentums, die Reform der Steuer, mit einem Wort, "das Regime, das sich
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am meisten der Vorstellung nähert, die sich der Mensch vom Reich Gottes auf Erden
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macht".</p>
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<p>Man muß sich des guten Sozialismus bedienen, um den schlechten zu ersticken.</p>
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<p><font size="2">"Der Sozialismus hat einen Hebel; dieser Hebel war das <i>Budget</i>. Aber es
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fehlte ihm ein Stützpunkt, um die Welt aus den Angeln zu heben. Dieser Stützpunkt, die
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Revolution vom 24. Februar hat ihn gegeben: <i>das allgemeine Stimmrecht</i>."</font></p>
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<p>Die Quelle des Budgets ist die <i>Steuer</i>. Die Wirkung des allgemeinen Stimmrechts auf das
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Budget soll also seine Wirkung auf die Steuer sein. Und durch diese Wirkung auf die Steuer
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realisiert sich der "gute" Sozialismus.</p>
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<p><font size="2">"Frankreich kann nicht über 1.200 Millionen Franken jährlicher Steuer
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zahlen. Wie wollt ihr es anfangen, um die Ausgaben auf diese Summe zu reduzieren?"</font></p>
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<p><font size="2">"Seit fünfunddreißig Jahren habt ihr dreimal in zwei Charten und
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eine Konstitution geschrieben, daß alle Franzosen im Verhältnis ihres Vermögens
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zu den Staatslasten beitragen sollen. Seit fünfunddreißig Jahren ist diese Gleichheit
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der Steuer eine Lüge ... Betrachten wir uns das französische Steuersystem."</font></p>
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<p><i>I. Grundsteuer</i>. Die Grundsteuer trifft die Grundeigentümer <i>nicht
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gleichmäßig</i>:</p>
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<p><font size="2">"Wenn zwei benachbarte Grundstücke dieselbe Katasterschätzung
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erhalten haben, so zahlen die zwei Grundeigentümer dieselbe Steuer, ohne Unterschied
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zwischen dem scheinbaren und dem reellen Eigentümer",</font></p>
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<p>d h. dem hypothekenbeladenen und dem hypothekenfreien Eigentümer.</p>
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<p>Ferner: Die Grundsteuer steht <i>nicht im Verhältnis</i> zu den Steuern, die auf die
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übrigen Arten des Eigentums fallen. Als die Nationalversammlung 1790 sie einführte,
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stand sie unter dem Einfluß der physiokratischen Schule, welche die Erde als die einzige
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Quelle des Nettoeinkommens betrachtete und daher alle Steuerlast auf die Grundeigentümer
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wälzte. Die Grundsteuer beruht also auf einem ökonomischen Irrtum. Bei einer gleichen
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Verteilung der Steuern würden auf den Grundbesitzer 20% seines Einkommens fallen,
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während er jetzt 53% zahlt.</p>
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<p>Endlich sollte die Grundsteuer, ihrer ursprünglichen Bestimmung nach, nur den
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Eigentümer, nie den Pächter oder den Mieter treffen. Statt dessen trifft sie nach Herrn
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Girardin stets den Pächter und Mieter.</p>
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<p>Hier begeht Herr Girardin einen ökonomischen Irrtum. Entweder ist der Pächter
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wirklicher Pächter, und dann trifft die Grundsteuer den Eigentümer <a name="S282" id=
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"S282"><b><282></b></a> oder den Konsumenten, aber nie ihn; oder er ist unter dem Schein
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des Pachtverhältnisses im Grunde nur der Arbeiter des Eigentümers, wie in Irland und
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häufig in Frankreich, und dann werden die auf den Eigentümer gelegten Steuern immer ihn
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treffen, sie mögen heißen wie sie wollen.</p>
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<p><i>II. Personal- und Mobiliarsteuer</i>. Der Zweck dieser Steuer, die auch 1790 von der
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Nationalversammlung dekretiert wurde, war, das mobile Kapital direkt zu treffen. Als
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Maßstab für die Höhe des Kapitals nahm man die Wohnungsmiete. Die Steuer trifft
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in Wirklichkeit den Grundeigentümer, den Bauern und den Industriellen, während sie den
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Rentier nur unbedeutend oder gar nicht beschwert, Sie ist also die völlige Verkehrung der
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Absichten ihrer Urheber. Ein Millionär kann außerdem in einem Dachkämmerchen mit
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zwei gebrechlichen Stühlen wohnen - unbillig etc.</p>
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<p><i>III. Tür- und Fenstersteuer</i>. Attentat auf die Gesundheit des Volks.
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Fiskalmaßregel gegen die Reinheit der Luft und das Tageslicht.</p>
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<p><font size="2">"Beinahe die Hälfte der Wohnungen in Frankreich hat entweder nur eine
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Tür und kein Fenster oder höchstens eine Tür und ein Fenster."</font></p>
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<p>Diese Steuer wurde den 24. Vendémiaire des Jahres VII (14. Oktober 1799) angenommen aus
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dringendem Geldbedürfnis, als nur vorübergehende, außerordentliche
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Maßregel, im Prinzip aber verworfen.</p>
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<p><i>IV. Patentsteuer</i> (Gewerbsteuer). Steuer nicht auf den Gewinn, sondern auf die
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Ausübung der Industrie. Strafe für die Arbeit. Wo sie den Industriellen treffen soll,
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trifft sie größtenteils den Konsumenten. Überhaupt handelte es sich bei Auflegung
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dieser Steuer im Jahr 1791 auch nur um die Befriedigung eines augenblicklichen
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Geldbedürfnisses.</p>
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<p>V. <i>Enregistrement und Stempel</i>. Das droit d'enregistrement stammt von Franz I. her und
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hatte zunächst keinen fiskalischen Zweck (?). 1790 wurde der Einschreibungszwang für
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Kontrakte, die das Eigentum betrafen, ausgedehnt und die Gebühr erhöht. Die Steuer ist
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so eingerichtet, daß Kauf und Verkauf mehr zahlen als Schenkungen und Erbschaften. Der
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Stempel ist eine rein fiskalische Erfindung, welche gleichmäßig ungleiche Profite
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trifft.</p>
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<p><i>VI. Getränkesteuer</i>. Inbegriff aller Unbilligkeit, Hemmung der Produktion
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vexatorisch, die teuerste in der Eintreibung. (Siehe übrigens <a href="me07_064.htm">Heft
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III: 1848 bis 1849, Folgen des 13. Juni.</a>)</p>
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<p><i>VII. Zölle</i>. Planloser, traditionell akkumulierter Wust von einander
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widersprechenden, zwecklosen, der Industrie schädlichen Zollsätzen. Z.B. die rohe
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Baumwolle zahlt in Frankreich per 100 Kilogr. eine Steuer von 22 frs. 50 cts. Passons outre.
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<Gehen wir weiter></p>
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<p><b><a name="S283" id="S283"><283></a></b> <i>VIII. Oktroi</i>. Hat nicht einmal den
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Vorwand, einen nationalen Industriezweig zu schützen. Douane im Innern des Landes.
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Ursprünglich lokale Armensteuer, jetzt hauptsächlich auf die ärmeren Klassen
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drückend und ihre Lebensmittel verfälschend. Setzt der nationalen Industrie ebensoviel
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Barrieren entgegen als es Städte gibt.</p>
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<p>Soweit Girardin über die einzelnen Steuern. Der Leser wird bemerkt haben, daß seine
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Kritik ebenso flach als richtig ist. Sie reduziert sich auf drei Argumente:</p>
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<p>1. daß jede Steuer nie die Klasse trifft, die sie in der Absicht der Steueraufleger
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treffen soll, sondern einer andern Klasse aufgewälzt wird;</p>
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<p>2. daß jede temporäre Steuer sich festsetzt und verewigt;</p>
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<p>3. daß keine Steuer dem Vermögen proportionell, gerecht, gleichmäßig,
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billig ist.</p>
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<p>Diese allgemein-ökonomischen Einwürfe gegen die bestehenden Steuern wiederholen sich
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in allen Ländern. Das französische Steuersystem hat aber eine charakteristische
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Eigentümlichkeit. Wie die Engländer für das öffentliche und Privatrecht, so
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sind die Franzosen, die sonst überall von allgemeinen Gesichtspunkten aus kodifiziert,
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vereinfacht und mit der Tradition gebrochen haben, für das Steuersystem das eigentlich
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historische Volk. Girardin sagt über diesen Punkt:</p>
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<p><font size="2">"In Frankreich leben wir unter der Herrschaft fast aller fiskalischen
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Prozeduren des alten Regimes. Taille, Kopfsteuer, Aide, Douanen, Salzsteuer, Steuer auf die
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Kontrolle, Insinuationen, Greffe, Tabaksmonopol, übertriebne Profite auf den Postdienst und
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Pulververkauf, Lotterie, Gemeinde- oder Staatsfronden, Einquartierung, Oktrois, Fluß- und
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|
Straßenzölle, außerordentliche Auflagen - alles das hat seinen Namen
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verändern können, aber alles das besteht der Sache nach fort und ist weder minder
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drückend für das Volk noch mehr produktiv für den Staatsschatz geworden. Unser
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Finanzsystem beruht auf durchaus keiner wissenschaftlichen Basis. Es reflektiert einzig und
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allein die Überlieferungen des Mittelalters, welche selbst wieder die Hinterlassenschaft der
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unwissenden und raubgierigen römischen Fiskalität sind."</font></p>
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<p>Dennoch haben unsre Väter schon in der Nationalversammlung der ersten Revolution
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gerufen:</p>
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<p><font size="2">"Wir haben die Revolution nur gemacht, um die Steuer in unsre Hand zu
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bekommen."</font></p>
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<p>Aber wenn dieser Zustand fortdauern konnte unter dem Kaiserreich, unter der Restauration,
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unter der Julimonarchie, jetzt hat seine Stunde geschlagen:</p>
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<p><font size="2">"Die Abschaffung des Wahlprivilegiums zieht notwendig nach sich die Abschaffung
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jeder fiskalischen Ungleichheit. Es ist also durchaus keine Zeit zu verlieren, um die <a name=
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"S284" id="S284"><b><284></b></a></font> Finanzreform in Angriff zu nehmen, wenn nicht die
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Gewalt an die Stelle der Wissenschaft treten soll ... Die <i>Steuer</i> ist beinahe die
|
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<i>einzige Grundlage, auf der unsre Gesellschaft beruht</i> ... Man sucht sehr in der Ferne und
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sehr in der Höhe die sozialen und politischen Reformen; die wichtigsten sind enthalten in
|
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der Steuer. Suchet hier, so werdet ihr finden."</p>
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<p>Was finden wir nun?</p>
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<p><font size="2">"Wie <i>wir</i> die Steuer begreifen, soll die Steuer eine
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<i>Assekuranzprämie</i> sein, bezahlt durch die, welche besitzen, um sich <i>zu versichern
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gegen alle Risikos, welche sie in ihren Besitz und ihrem Genuß stören könnten</i>
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... Diese Prämie muß proportionell sein und von einer strengen Genauigkeit. Jede
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Steuer, welche nicht die Garantie für ein Risiko ist, der Preis für eine Ware oder das
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Äquivalent für eine Dienstleistung, muß aufgegeben werden - wir lassen nur zwei
|
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Ausnahmen zu: Steuer auf das Ausland (Douane) und Steuer auf den Tod (Enregistrement) ... So
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tritt an die Stelle des Steuerpflichtigen der Assekurierte ... Jeder, der ein Interesse hat zu
|
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zahlen, zahlt und zahlt nur nach dem Maß seines Interesses ... Wir gehn noch weiter und
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sagen: Jede Steuer verdammt sich schon dadurch, daß sie den Namen Steuer, Auflage
|
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trägt. <i>Jede Steuer muß abgeschafft werden</i>, denn das Eigentümliche der
|
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Steuer ist, gezwungen zu sein, der Charakter der Assekuranz ist, freiwillig zu sein."</font></p>
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<p>Man muß diese Assekuranzprämie nicht mit einer Steuer auf das Einkommen
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verwechseln; sie ist vielmehr eine Steuer auf das Kapital, wie denn die Assekuranzprämie
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nicht das Einkommen garantiert, sondern den ganzen Stock des Vermögens. Der Staat macht es
|
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gerade wie die Assekuranzkompanien, die von der versicherten Sache wissen wollen, nicht was sie
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einbringt, sondern was sie wert ist.</p>
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<p><font size="2">"Das französische Nationalvermögen wird auf ein Aktivum von 134
|
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Milliarden geschätzt, wovon ein Passivum von 28 Milliarden abzuziehen ist. Wenn das
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Ausgabebudget auf 1.200 Millionen reduziert wird, wäre also bloß 1% vom Kapital zu
|
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erheben, um den Staat auf die Höhe einer kolossalen wechselseitigen Assekuranzkompanie zu
|
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bringen."</font></p>
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<p>Von diesem Moment an - <i>"keine Revolution mehr"!</i></p>
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<p><font size="2">"An die Stelle des Worts <i>Autorität</i> tritt das Wort
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<i>Solidarität</i>; das <i>gemeinschaftliche Interesse</i> wird zum Band der
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Gesellschaftsmitglieder."</font></p>
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<p>Herr Girardin begnügt sich nicht mit diesem allgemeinen Vorschlag, sondern gibt uns
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zugleich das Schema einer Assekuranzpolice oder Inskription, wie sie jeder Bürger vom Staat
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ausgestellt erhalten soll.</p>
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<p>Jedes Jahr gibt der frühere Steuereinnehmer dem Versicherten eine Police, die "aus vier
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Seiten von der Größe eines Passes" besteht. Auf der ersten Seite befindet sich der
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Name des Versicherten mit seiner Immatrikulations- <a name="S285" id=
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"S285"><b><285></b></a> nummer, nebst dem Schema für die Quittungen der
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Prämienraten. Auf der zweiten Seite befindet sich die genaue Personalbeschreibung des
|
|
Versicherten und seiner Familie, nebst der richtig zertifizierten detaillierten
|
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Selbsteinschätzung seines Gesamtvermögens; auf der dritten Seite das Staatsbudget nebst
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einer Generalbilanz von Frankreich und auf der vierten allerlei mehr oder weniger nützliche
|
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statistische Nachrichten. Diese Police dient als Paß, als Wahlkarte, als Wanderbuch
|
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für Arbeiter usw. Die Register über diese Policen dienen dem Staat wieder zur
|
|
Anfertigung der vier großen Bücher, des großen Buchs der Bevölkerung, des
|
|
großen Buchs des Eigentums, des großen Buchs der öffentlichen Schuld und des
|
|
großen Buchs der Hypothekarschuld, welche zusammen eine vollständige Statistik
|
|
über alle Ressourcen Frankreichs enthalten.</p>
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<p>Die Steuer ist also nur mehr die Prämie, welche der Versicherte zahlt, um zur Teilnahme
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|
an folgenden Vorteilen zugelassen zu werden: 1. Recht auf öffentlichen Schutz, auf
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unentgeltliche Rechtspflege, unentgeltliche Religionsübung, unentgeltlichen Unterricht,
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Kredit auf Unterpfand, Sparkassenpension; 2. Entbindung von der Militärpflicht in
|
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Friedenszeit; 3. Bewahrung vor dem Elend; 4. Entschädigung bei Verlusten durch Feuersbrunst,
|
|
Überschwemmungen, Hagelschlag, Viehseuchen, Schiffbruch.</p>
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<p>Wir bemerken noch, daß Herr Girardin die Entschädigungsgelder, die der Staat bei
|
|
Verlusten der Versicherten zu zahlen hat, durch verschiedne Geldstrafen etc., durch den Ertrag
|
|
der Nationaldomänen und der beibehaltenen Enregistrements- und Douanengebühren sowie
|
|
der Staatsmonopole decken will.</p>
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<p>Die Steuerreform ist das Steckenpferd aller radikalen Bourgeois, das spezifische Element aller
|
|
bürgerlich-ökonomischen Reformen. Von den ältesten mittelalterlichen
|
|
Spießbürgern bis zu den modernen englischen Freetradern dreht sich der Hauptkampf um
|
|
die Steuern.</p>
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<p>Die Steuerreform bezweckt entweder Abschaffung traditionell überkommener Steuern, die der
|
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Entwickelung der Industrie im Wege stehn, wohlfeileren Staatshaushalt oder
|
|
gleichmäßigere Verteilung. Der Bourgeois jagt dem chimärischen Ideal der gleichen
|
|
Steuerverteilung um so eifriger nach, je mehr es in der Praxis seinen Händen
|
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entschwindet.</p>
|
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<p>Die Distributionsverhältnisse; die unmittelbar auf der bürgerlichen Produktion
|
|
beruhen, die Verhältnisse zwischen Arbeitslohn und Profit, Profit und Zins, Grundrente und
|
|
Profit, können durch die Steuer höchstens in Nebenpunkten modifiziert, nie aber in
|
|
ihrer Grundlage bedroht werden. Alle Untersuchungen und Debatten über die Steuer setzen den
|
|
ewigen Bestand dieser bürgerlichen Verhältnisse voraus. Selbst die Aufhebung der
|
|
Steuern <a name="S286" id="S286"></a><b><<font face="Symbol">286></font></b> könnte
|
|
die Entwicklung des bürgerlichen Eigentums und seiner Widersprüche nur
|
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beschleunigen.</p>
|
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<p>Die Steuer kann einzelne Klassen bevorzugen und andre besonders drücken, wie wir dies
|
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z.B. unter der Herrschaft der Finanzaristokratie sehn. Sie ruiniert nur die Mittelschichten der
|
|
Gesellschaft zwischen Bourgeoisie und Proletariat, deren Stellung nicht erlaubt, die Last der
|
|
Steuer einer andern Klasse zuzuwälzen.</p>
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<p>Das Proletariat wird durch jede neue Steuer eine Stufe tiefer herabgedrückt; die
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Abschaffung einer alten Steuer erhöht nicht den Arbeitslohn, sondern den Profit. In der
|
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Revolution kann die zu kolossalen Proportionen geschwellte Steuer als eine Form des Angriffs
|
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gegen das Privateigentum dienen; aber selbst dann muß sie zu neuen, revolutionären
|
|
Maßregeln weitertreiben oder schließlich auf die alten bürgerlichen
|
|
Verhältnisse zurückführen.</p>
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<p>Die Verminderung, die billigere Verteilung etc. etc. der Steuer, das ist die banale
|
|
<i>bürgerliche Reform</i>. Die <i>Abschaffung</i> der Steuer, das ist der
|
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<i>bürgerliche Sozialismus</i>. Dieser bürgerliche Sozialismus wendet sich namentlich
|
|
an die industriellen und kommerziellen Mittelstände und an die Bauern. Die große
|
|
Bourgeoisie, die schon jetzt in ihrer besten Welt lebt, verschmäht natürlich die Utopie
|
|
einer besten Welt.</p>
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<p>Herr Girardin schafft die Steuer ab, indem er sie in eine Assekuranzprämie verwandelt.
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Die Mitglieder der Gesellschaft versichern sich wechselseitig, gegen Zahlung gewisser Prozente,
|
|
ihr Vermögen gegen Feuerschaden und Wassernot, gegen Hagelschlag und Bankerutt, gegen alle
|
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nur möglichen Risikos, die heutzutage die Ruhe des bürgerlichen Genießens
|
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stören. Der jährliche Beitrag wird nicht nur durch sämtliche Versicherte
|
|
festgesetzt, er wird von jedem einzelnen selbst bestimmt. Er selbst schätzt sein
|
|
Vermögen. Die Handels- und Ackerbaukrisen, die massenhaften Verluste und Falliten, die
|
|
sämtlichen Schwankungen und Wechselfälle der bürgerlichen Existenz, epidemisch
|
|
seit der Einführung der modernen Industrie, die ganze poetische Seite der bürgerlichen
|
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Gesellschaft verschwindet. Die allgemeine Sicherheit und Versicherung realisiert sich. Der
|
|
Bürger hat es schriftlich vom Staat, daß er unter keinen Umständen ruiniert
|
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werden kann. Alle Schattenseiten der bestehenden Welt sind entfernt, alle ihre Lichtseiten
|
|
bestehn in höherem Glanze fort, kurz, das Regime ist realisiert, "das sich am meisten der
|
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Vorstellung nähert, die sich der Bürger vom Reich Gottes auf Erden macht". Statt der
|
|
Autorität, die Solidarität; statt des Zwangs, die Freiheit; statt des Staats, ein
|
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Verwaltungsausschuß - und das Ei des Kolumbus ist gefunden, der mathematisch genaue Beitrag
|
|
jedes "Versicherten" nach seinem Vermögen. Jeder "Versicherte" trägt einen
|
|
vollständigen konstitutionellen Staat, ein ausgebil- <a name="S287" id=
|
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"S287"><b><287></b></a> detes Zweikammersystem in seiner Brust. Die Besorgnis, dem Staat
|
|
zuviel zu zahlen, die bürgerliche Opposition der Deputiertenkammer, treibt ihn, sein
|
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Vermögen zu niedrig anzugeben. Das Interesse an der Erhaltung seines Besitzes, das
|
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konservative Element der Pairskammer, macht ihn geneigt, es zu überschätzen. Aus dem
|
|
konstitutionellen Spiel dieser entgegengesetzten Richtungen geht notwendig das wahre
|
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Gleichgewicht der Gewalten hervor, die genau-richtige Angabe des Vermögens, die exakte
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|
Verhältnismäßigkeit des Beitrags.</p>
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<p>Jener Römer wünschte, sein Haus möchte von Glas sein, damit jede seiner
|
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Handlungen vor aller Augen offen daliege. Der Bürger wünscht nicht, daß sein
|
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Haus, sondern das seines Nachbarn von Glas sei. Auch dieser Wunsch wird erfüllt. Zum
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Beispiel: Ein Bürger will Vorschüsse von mir haben oder sich mit mir assoziieren. Ich
|
|
fordere seine Police, und in ihr habe ich seine vollständige detaillierte Beichte über
|
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alle seine bürgerlichen Verhältnisse, garantiert durch sein wohlverstandnes Interesse
|
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und kontrasigniert vom Verwaltungsrat der Assekuranz. Ein Bettler klopft an meine Tür und
|
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verlangt ein Almosen. Heraus mit der Police. Der Bürger muß wissen, daß er sein
|
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Almosen an den rechten Mann bringt. Man nimmt einen Domestiken, man führt ihn bei sich ein,
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man überliefert sich ihm auf den Zufall hin: Heraus mit der Police!</p>
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<p><font size="2">"Wieviel Ehen werden geschlossen, ohne daß man von der einen und der
|
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andern Seite genau weiß, woran sich halten über die Realität des Zugebrachten
|
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oder die wechselseitig übertriebnen Erwartungen":</font></p>
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<p>Heraus mit der Police!</p>
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<p>Der Austausch der schönen Seelen wird sich in Zukunft beschränken auf den Austausch
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der beiderseitigen Policen. So verschwindet die Prellerei, die heutzutage den Genuß und die
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Pein des Lebens bildet, und das Reich der Wahrheit im eigentlichen Sinne des Worts verwirklicht
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sich. Noch mehr:</p>
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<p><font size="2">"In dem gegenwärtigen System kosten die Gerichte dem Staat an 7 1/2
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Millionen, in unserm System bringen die Vergehen ihm ein, statt ihm zu kosten, denn sie
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verwandeln sich alle in Geldbußen und in Schadenersatz - welche Idee!"</font></p>
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<p>In dieser besten Welt ist alles profitlich: Die Verbrechen vergehen, und die Vergehen bringen
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Geld ein. Endlich, da in diesem System das Eigentum gegen alle Risikos geschützt und der
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Staat nur noch eine allgemeine Assekuranz aller Interessen ist, so sind die Arbeiter stets
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beschäftigt: "Keine Revolutionen mehr!"</p>
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<p><b><a name="S288" id="S288"><288></a></b></p>
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<div style="margin-left: 8em">
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<p><font size="2">Wenn das nicht gut für den Bürger ist,<br>
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Dann weiß ich nicht, was besser ist!</font></p>
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</div>
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<p>Der bürgerliche Staat ist weiter nichts als eine wechselseitige Assekuranz der
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Bourgeoisklasse gegen ihre einzelnen Mitglieder wie gegen die exploitierte Klasse, eine
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Assekuranz, die immer kostspieliger und scheinbar immer selbständiger gegenüber der
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bürgerlichen Gesellschaft werden muß, weil die Niederhaltung der exploitierten Klasse
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immer schwieriger wird. Die Veränderung des Namens ändert nicht das mindeste an den
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Bedingungen dieser Assekuranz. Die scheinbare Selbständigkeit, die Herr Girardin den
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einzelnen gegenüber der Assekuranz einen Augenblick zuschreibt, muß er selbst sogleich
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wieder aufgeben. Wer sein Vermögen zu niedrig taxiert, verfällt in Strafe: Die
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Assekuranzkasse kauft ihm sein Eigentum zum angegebenen Wert ab und provoziert sogar durch
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Belohnungen die Denunziation. Noch mehr:</p>
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<p>Wer sein Vermögen lieber gar nicht versichert, wird außerhalb der Gesellschaft
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stehend, wird direkt vogelfrei erklärt. Die Gesellschaft kann natürlich nicht dulden,
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daß sich in ihr eine Klasse bildet, die sich gegen ihre Existenzbedingungen auflehnt. Der
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Zwang, die Autorität, die bürokratische Einmischung, die Girardin gerade entfernen
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will, kehren wieder in die Gesellschaft ein. Wenn er einen Augenblick von den Bedingungen der
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bürgerlichen Gesellschaft abstrahiert hat, so geschah es nur, um auf einem Umweg zu ihnen
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zurückzukommen.</p>
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<p>Hinter der Abschaffung der Steuer verbirgt sich die Abschaffung des Staats. Die Abschaffung
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des Staats hat nur einen Sinn bei den Kommunisten als notwendiges Resultat der Abschaffung der
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Klassen, mit denen von selbst das Bedürfnis der organisierten Macht einer Klasse zur
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Niederhaltung der andern wegfällt. In bürgerlichen Ländern bedeutet die
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Abschaffung des Staats die Zurückführung der Staatsgewalt auf den Maßstab von
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Nordamerika. Hier sind die Klassengegensätze nur unvollständig entwickelt; die
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Klassenkollisionen werden jedesmal vertuscht durch den Abzug der proletarischen
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Überbevölkerung nach dem Westen; das Einschreiten der Staatsmacht, im Osten auf ein
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Minimum reduziert, existiert im Westen gar nicht. In feudalen Ländern bedeutet die
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Abschaffung des Staats die Abschaffung des Feudalismus und die Herstellung des gewöhnlichen
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bürgerlichen Staats. In Deutschland verbirgt sich hinter ihr entweder die feige Flucht aus
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den unmittelbar vorlegenden Kämpfen, die überschwengliche Verschwindelung der
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<i>bürgerlichen</i> Freiheit zur absoluten Unabhängigkeit und Selbständigkeit des
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<i>einzelnen</i> oder endlich die Gleichgültigkeit des Bürgers gegen jede Staatsform,
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vorausgesetzt, daß die bürgerlichen Interessen in ihrer Entwicklung nicht gehemmt
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werden. Daß diese Abschaffung des Staats "im höheren Sinn" in so <a name="S289" id=
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"S289"><b><289></b></a> alberner Weise gepredigt wird, dafür können
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natürlich die Berliner Stirner und Faucher nicht. La plus belle fille de la France ne peut
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donner que ce qu'elle a. <Das schönste Mädchen Frankreichs kann nur das geben, was
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es hat.></p>
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<p>Was von der Assekuranzkompanie des Herrn Girardin übrigbleibt, ist die <i>Steuer auf das
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Kapital</i> im Unterschied von der Steuer auf das Einkommen und an der Stelle aller übrigen
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Steuern. Das Kapital des Herrn Girardin beschränkt sich nicht auf das in der Produktion
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beschäftigte Kapital, es umfaßt alles bewegliche und unbewegliche Hab und Gut. Von
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dieser Steuer auf das Kapital rühmt er:</p>
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<p><font size="2">"Sie ist das Ei des Kolumbus, sie ist die Pyramide, die auf der Basis steht und
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nicht auf der Spitze, der Strom, der sein eignes Bett gräbt, die Revolution ohne die
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Revolutionäre, der Fortschritt ohne den Rückschritt, die Bewegung ohne Stoß, sie
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ist endlich die einfache Idee und das wahre Gesetz".</font></p>
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<p>Von allen marktschreierischen Reklamen, die Herr Girardin je gemacht hat - und ihre Zahl ist
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bekanntlich Legion -, ist dieser Prospektus der Kapital-Steuer jedenfalls das
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Meisterstück.</p>
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<p>Übrigens hat die Steuer auf das Kapital als einzige Steuer ihre Vorzüge. Alle
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Ökonomen, namentlich Ricardo, haben die Vorteile einer einzigen Steuer nachgewiesen. Die
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Kapitalsteuer als einzige Steuer beseitigt mit einem Schlage das zahlreiche und kostspielige
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Personal der bisherigen Steuerverwaltung, greift am wenigsten ein in den regelmäßigen
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Gang der Produktion, Zirkulation und Konsumtion und trifft allein von allen Steuern das
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Luxuskapital.</p>
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<p>Aber darauf beschränkt sich bei Herrn Girardin die Kapitalsteuer nicht. Sie hat noch ganz
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besondre Gnadenwirkungen.</p>
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<p>Kapitalien von gleicher Größe werden gleiche Steuerprozente an den Staat zahlen
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müssen, gleichviel ob sie 6%, 3% oder gar kein Einkommen tragen, Die Folge davon ist,
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daß die untätigen Kapitalien in Tätigkeit gesetzt werden, also die Masse der
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produktiven Kapitalien vermehren und daß die schon tätigen sich noch mehr anstrengen,
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d.h. in weniger Zeit mehr produzieren. Das Resultat von beidem ist der Fall des Profits und des
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Zinsfußes. Herr Girardin dagegen behauptet, daß dann Profit und Zins steigen werden -
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ein wahres ökonomisches Wunder. Die Verwandlung unproduktiver Kapitalien in produktive und
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die wachsende Produktivität der Kapitalien überhaupt hat den Lauf der industriellen
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Entwicklung der Krisen vermehrt und gesteigert und den Profit und Zinsfuß
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herabgedrückt. Die Kapitalsteuer kann <a name="S290" id="S290"><b><290></b></a> nur
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diesen Prozeß beschleunigen, die Krisen verschärfen und damit die Anhäufung
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revolutionärer Elemente vermehren. - "Keine Revolutionen mehr!"</p>
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<p>Eine zweite wundertätige Wirkung der Kapitalsteuer ist nach Herrn Girardin, daß sie
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die Kapitalien von wenig einträglichem Grund und Boden zur einträglicheren Industrie
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hinüberziehn, die Bodenpreise zum Fallen bringen, die Konzentrierung des Grundbesitzes, die
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große englische Kultur und damit die ganze entwickelte englische Industrie nach Frankreich
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verpflanzen würde. Abgesehn davon, daß dazu die übrigen Bedingungen der
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englischen Industrie ebenfalls nach Frankreich einwandern müßten, begeht Herr Girardin
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hier ganz eigentümliche Irrtümer. In Frankreich leidet der Ackerbau nicht am
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Überfluß, sondern am Mangel an Kapital. Nicht durch Wegziehn des Kapitals vom
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Ackerbau, sondern im Gegenteil durch Hinüberwerfen des industriellen Kapitals auf den Grund
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und Boden ist die englische Konzentration und der englische Ackerbau zustande gekommen. Der
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Bodenpreis in England ist bei weitem höher als in Frankreich; der Gesamtwert des englischen
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Grundes und Bodens ist fast so hoch wie der ganze französische Nationalreichtum nach
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Girardins Schätzung. Der Bodenpreis in Frankreich müßte mit der Konzentrierung
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also nicht nur nicht fallen, er müßte im Gegenteil steigen. Die Konzentration des
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Grundeigentums in England hat ferner ganze Generationen der Bevölkerung vollständig
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weggeschwemmt. Dieselbe Konzentration, zu der die Kapitalsteuer durch schnelleren Ruin der Bauern
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allerdings beitragen muß, würde in Frankreich diese große Masse der Bauern in
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die Städte treiben und die Revolution nur um so unvermeidlicher machen. Und endlich, wenn in
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Frankreich die Umkehr aus der Parzellierung zur Konzentration schon angefangen hat, so geht in
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England das große Grundeigentum mit Riesenschritten seiner abermaligen Zerschlagung
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entgegen und beweist unwiderleglich, wie der Ackerbau sich fortwährend in diesem Kreislauf
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von Konzentrierung und Zersplitterung des Bodens bewegen muß, solange die bürgerlichen
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Verhältnisse überhaupt fortbestehn.</p>
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<p>Genug von diesen Wundern. Kommen wir zum Kredit auf Unterpfand. Der Kredit gegen Unterpfand
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wird zunächst nur dem Grundbesitz eröffnet. Der Staat gibt Hypothekarscheine aus, die
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ganz den Banknoten entsprechen, nur daß nicht bares Geld oder Barren, sondern der Grund und
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Boden die Garantie dafür bildet. Diese Hypothekenscheine werden den verschuldeten Bauern zu
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4% vom Staat vorgeschossen, um damit ihre Hypothekengläubiger zu befriedigen; statt des
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Privatgläubigers hat nun der Staat Hypothek auf das Grundstück und konsolidiert die
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Schuld, so daß er sie nie zurückfordern kann. Die gesamte Hypothekarschuld in
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Frankreich beläuft sich auf 14 Milliarden. Girardin rechnet zwar nur auf die Ausgabe von 5
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Mil- <a name="S291" id="S291"><b><291></b></a></p>
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<p>liarden Hypothekenscheine; aber die Vermehrung des Papiergelds um eine solche Summe würde
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hinreichen, nicht um das Kapital wohlfeiler zu machen, sondern um das Papiergeld vollständig
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zu entwerten. Dabei wagt Girardin nicht, diesem neuen Papier Zwangskurs zu geben. Um die
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Entwertung zu vermeiden, schlägt er den Inhabern dieser Scheine vor, sie gegen
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3%-Staatsschuldscheine al pari <zum Nennwert> umzutauschen. Das Ende von der Transaktion
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ist also dies: Der Bauer, der früher 5% Zinsen und 1% Umschreibe-, Erneuerungs- etc.
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Gebühr zahlte, zahlt nur noch 4%, gewinnt also 2%; der Staat leiht zu 3% an und leiht zu 4%
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aus, gewinnt also 1%; der Exhypothekargläubiger, der früher 5% erhielt, wird durch die
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drohende Entwertung der Hypothekenscheine gezwungen, die ihm vom Staat gebotenen 3% dankbar</p>
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<p>anzunehmen; er verliert also 2%. Außerdem braucht der Bauer seine Schuld nicht zu zahlen
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und kann der Gläubiger seine Forderung an den Staat nie eintreiben. Das Geschäft
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läuft also hinaus auf eine direkte, durch die Hypothekenscheine schlecht verhüllte
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Beraubung der Hypothekargläubiger um 2% aus 5. Das einzige Mal also, wo Herr Girardin,
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außer der Steuer, die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst verändern will, ist
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er zu einem direkten Angriff auf das Privateigentum gezwungen, muß er revolutionär
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werden und seine ganze Utopie aufgeben. Und dieser Angriff rührt nicht einmal von ihm her.
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Er hat ihn von den deutschen Kommunisten entlehnt, die nach der Februarrevolution zuerst die
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Verwandlung der Hypothekarschuld in eine Schuld an den Staat forderten, freilich in ganz andrer
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Weise wie Herr Girardin, der sogar dagegen auftrat. Es ist bezeichnend, daß das einzige
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Mal, wo Herr Girardin eine einigermaßen revolutionäre Maßregel vorschlägt,
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er nicht den Mut hat, etwas andres als ein Palliativ aufzustellen, das die Entwicklung der
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Parzellierung in Frankreich nur chronischer machen, um nur einige Dezennien zurückschrauben
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kann, um schließlich wieder den heutigen Stand herbeizuführen.</p>
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<p>Das einzige, was der Leser in der ganzen Darstellung Girardins vermißt haben wird, sind
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die <i>Arbeiter</i>. Aber der bürgerliche Sozialismus unterstellt ja überall,
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<i>daß die Gesellschaft aus lauter Kapitalisten besteht</i>, um nachher, von diesem
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Standpunkt aus, die Frage zwischen Kapital und Lohnarbeit lösen zu können.</p>
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</body>
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</html>
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