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2022-08-25 20:29:11 +02:00

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<TITLE>Karl Marx/Friedrich Engels - Die grossen Maenner des Exils</TITLE>
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<P><SMALL>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 8, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1960, Berlin/DDR. S. 235-253</SMALL>
<P ALIGN="CENTER"><A HREF="me08_233.htm"><FONT SIZE=2>Inhalt</FONT></A><FONT SIZE=2> | </FONT><A HREF="me08_254.htm"><FONT SIZE=2>II.</FONT></A></P>
<P ALIGN="CENTER">I</P>
<FONT SIZE=2><P ALIGN="RIGHT">"Singe, unsterbliche Seele,<BR>
der s&uuml;ndigen Menschen Erl&ouml;sung" - <BR>
&lt;Klopstock "Der Messias"&gt;<BR>
durch Gottfried Kinkel</P>
</FONT><B><P><A NAME="S235">&lt;235&gt;</A></B> Gottfried Kinkel wurde vor ungef&auml;hr 40 Jahren geboren. Sein Leben liegt uns in einer Selbstbiographie vor: "Gottfried Kinkel. Wahrheit ohne Dichtung. Biographisches Skizzenbuch." Herausgegeben von Adolph Strodtmann. (Hamburg, Hoffmann &amp; Campe, 1850. In Oktav.)</P>
<P>Gottfried ist der Held der demokratischen Siegwart-Periode, die in Deutschland so endlose patriotische Wehmut und tr&auml;nenreichen Jammer hervorgebracht hat. Sein Deb&uuml;t geschah als ordin&auml;rer lyrischer Siegwart.</P>
<P>Die tagebuchm&auml;&szlig;ige Abgerissenheit, in der sein Erdenwallen dem Leser vorgef&uuml;hrt wird, k&ouml;mmt ebenso wie die zudringliche Indiskretion dieser Enth&uuml;llungen auf Rechnung des Apostels Strodtmann, dessen "kompilatorischer Darstellung" wir folgen.</P>
<P ALIGN="CENTER">"<I>Bonn</I>. Febr.-Sept. 1834"</P>
<FONT SIZE=2><P>"Der junge Gottfried studierte wie sein Freund Paul Zeller evangelische Theologie und hatte sich durch Flei&szlig; und Fr&ouml;mmigkeit die Achtung seiner ber&uuml;hmten Lehrer" (Sack, Nitzsch und Bleek) "erworben" (pag. 5).</P>
</FONT><P>Er erscheint gleich anfangs "offenbar in ernstere Betrachtungen vertieft" (pag. 4), "verstimmt und d&uuml;ster" (pag. 5), ganz wie es einem grand homme en herbe &lt;werdenden gro&szlig;en Mann&gt; ziemt. "Gottfrieds braunes, d&uuml;sterflammendes Auge" "schweifte" einigen Burschen "in braunem Frack und lichtblauen &Uuml;berr&ouml;cken nach"; Gottfried f&uuml;hlt sofort heraus, da&szlig; diese Burschen "durch &auml;u&szlig;eren Glanz die innere Leere ersetzen wollten" (pag. 6). Seine moralische Entr&uuml;stung wird <A NAME="S236"><B>&lt;236&gt;</A></B> dadurch erl&auml;utert, da&szlig; Gottfried "Hegel und Marheineke verteidigt hatte", als diese Burschen Marheineke einen "Flachkopf" nannten; sp&auml;ter, als der Kandidat studierenshalber nach Berlin k&ouml;mmt und selbst bei Marheineke etwas lernen soll, schreibt er &uuml;ber denselben das belletristische Spr&uuml;chlein in sein Tagebuch (pag. 61):</P><DIR>
<DIR>
<DIR>
<DIR>
<FONT SIZE=2><P>"Ein Kerl, der spekuliert,<BR>
ist wie ein Tier auf &ouml;der Heide<BR>
von einem b&ouml;sen Geist im Kreis herumgef&uuml;hrt,<BR>
und ringsumher ist sch&ouml;ne gr&uuml;ne Weide."<BR>
&lt;Goethe, "Faust", Erster Teil, "Studierzimmer&gt;</P></DIR>
</DIR>
</DIR>
</DIR>
</FONT><P>Gottfried vergi&szlig;t hier den anderen Spruch, mit dem sich Mephistopheles &uuml;ber den wi&szlig;begierigen Sch&uuml;ler lustig macht:</P><DIR>
<DIR>
<DIR>
<DIR>
<FONT SIZE=2><P>"Verachte nur Verstand und Wissenschaft!"</P></DIR>
</DIR>
</DIR>
</DIR>
</FONT><P>Die ganze moralisierende Studentenszene dient indes nur als Introduktion, um dem k&uuml;nftigen Weltbefreier Gelegenheit zu folgender Offenbarung zu geben (pag. 6).</P>
<P>Gottfried spricht:</P>
<FONT SIZE=2><P>"Dies Geschlecht vergeht doch nicht, es m&uuml;&szlig;te denn ein Krieg kommen ... Nur kr&auml;ftige Mittel k&ouml;nnen unserem verschlammten Zeitalter wieder aufhelfen!"</P>
<P>"Eine neue S&uuml;ndflut, und du als Noah in zweiter verbesserter Auflage!" entgegnete sein Freund.</P>
</FONT><P>Die lichtbraunen &Uuml;berr&ouml;cke haben Gottfried soweit zu der Entwicklung verholfen, sich als "<I>Noah </I>in einer neuen S&uuml;ndflut" anzuk&uuml;ndigen. Sein Freund macht dazu folgende Bemerkung, welche der Biographie selbst als Motto h&auml;tte vorgesetzt werden k&ouml;nnen:</P>
<FONT SIZE=2><P>"Oft haben mein Vater und ich &uuml;ber deine <I>Begeisterung f&uuml;r unklare Begriffe </I>im stillen gel&auml;chelt!"</P>
</FONT><P>In diesen ganzen Bekenntnissen einer sch&ouml;nen Seele wiederholt sich nur der eine "klare Begriff", da&szlig; Kinkel vom Embryo an ein gro&szlig;er Mann war. Die trivialsten Dinge, wie sie allen trivialen Leuten vorkommen, werden zu vielbedeutenden Ereignissen; die kleinen Leiden und Freuden, welche jeder Kandidat der Theologie in einer interessanteren Form durchlebt, die Konflikte mit den b&uuml;rgerlichen Verh&auml;ltnissen, welche man in Deutschland zu Dutzenden in jedem Konvikt und in jedem Konsistorium findet, werden hier zu verh&auml;ngnisvollen Weltbegebenheiten, mit denen Gottfried in weltschmerzlichen Gef&uuml;hlen fortw&auml;hrend Kom&ouml;die spielt. {Wir finden daher in diesen Selbstbekenntnissen durchgehend einen doppelten Charakter - <I>die Kom&ouml;die</I>, die belustigende Weise, mit welcher sich Gottfried der geringsten <A NAME="S237"><B>&lt;237&gt;</A></B> Lappalien bem&auml;chtigt, um sein Vorgef&uuml;hl als k&uuml;nftige Gr&ouml;&szlig;e zu proklamieren und sich antizipierend in Relief zu setzen, und die <I>Renommisterei</I>, die erlogene Art, mit der er nachtr&auml;glich seine ganze vanit&eacute; &lt;Selbstgef&auml;lligkeit&gt; in jede kleinliche Begebenheit seiner lyrisch-theologischen Vergangenheit einlegt. Nach diesen beiden Grundz&uuml;gen werden wir nunmehr der weiteren Geschichte Gottfrieds folgen.} &lt;Texte in geschweiften Klammern im Manuskript gestrichen.&gt;</P>
<P>Die Familie {des "Freundes Paul" verl&auml;&szlig;t Bonn und} kehrt nach W&uuml;rttemberg zur&uuml;ck. Gottfried setzt dies Ereignis auf folgende Art in Szene.</P>
<P>Gottfried liebt die Schwester Pauls und erkl&auml;rt bei dieser Gelegenheit, da&szlig; er "schon zweimal geliebt"! Aber die jetzige Liebe ist keine ordin&auml;re Liebe, sondern "inbr&uuml;nstige und wahre Gottesverehrung" (pag. 13). Gottfried steigt mit dem Freund Paul auf den Drachenfels und bricht in dieser romantischen Staffelei in folgenden Dithyrambus aus:</P>
<FONT SIZE=2><P>"Scheide die Freundschaft! - Ich finde einen Bruder in dem Heilande; - scheide die Liebe - der Glaube sei meine Braut; - Scheide die Schwestertreue - ich bin kommen zu der Gemeine von viel tausend Gerechten! Hinaus denn, mein junges Herz; und lerne allein sein mit deinem Gotte, und ringe mit ihm, bis da&szlig; du ihn bezwingest und er dir einen neuen Namen gebe, den heiligen Israel, den niemand wei&szlig;, denn der ihn empf&auml;nget! - Sei mir gegr&uuml;&szlig;t, du herrliche Morgensonne, Bild meiner erwachenden Seele!" (pag. 17.)</P>
</FONT><P>Der Abschied des Freundes wird somit f&uuml;r Gottfried zur Veranlassung, einen verz&uuml;ckten Hymnus auf seine eigne Seele anzustimmen. Nicht genug damit, mu&szlig; jedoch auch noch der Freund einen Hymnus anstimmen. W&auml;hrend Gottfried sich in jener Verz&uuml;ckung ergie&szlig;t, spricht er n&auml;mlich "mit erhobener Stimme und gl&uuml;hendem Antlitz", "vergi&szlig;t die Gegenwart seines Freundes", "sein Auge ist verkl&auml;rt", "sein Ausrufen begeistert" etc. (pag. 17), - kurz, die ganze testamentarische Erscheinung des Propheten Elias.</P>
<FONT SIZE=2><P>"Wehm&uuml;tig l&auml;chelnd sah ihn Paul mit dem treuherzigen Auge an und sprach: 'Du hast doch ein st&auml;rkeres Herz in der Brust als ich und wirst <I>mich wohl &uuml;berfl&uuml;geln</I>, - aber la&szlig; mich dein Freund sein - auch in der Ferne.' Fr&ouml;hlich schlug Gottfried in die dargebotene Hand ein und erneuerte den alten Bund" (pag. 18).</P>
</FONT><P>Gottfried hat in dieser Bergverkl&auml;rungsszene erreicht, was er will. Freund Paul, der eben noch &uuml;ber die "Begeisterung Gottfrieds f&uuml;r unklare Begriffe" gelacht hat, dem&uuml;tigt sich vor dem Namen des "heiligen Israel" und erkennt Gottfrieds &Uuml;berlegenheit und k&uuml;nftige Gr&ouml;&szlig;e an. Gottfried wird kreuzfidel und erneuert mit freundlicher Herablassung den alten Bund.</P>
<P ALIGN="CENTER">*</P>
<B><P><A NAME="S238">&lt;238&gt;</A></B> Szenenwechsel. Geburtstag der Mutter Kinkels, der Frau des Pfarrers Kinkel von Oberkassel. Dies Familienfest wird benutzt, um anzuk&uuml;ndigen, da&szlig; "die Matrone gleich der Mutter des Heilands Maria hie&szlig;" (pag. 20), - sichere Andeutung, da&szlig; auch Gottfried zum Heiland und Welterl&ouml;ser berufen war. Der Studiosus der Theologie ist uns somit auf den ersten 20 Seiten durch die geringf&uuml;gigsten Ereignisse als <I>Noah</I>, als <I>heiliger Israel</I>, als <I>Elias </I>und schlie&szlig;lich als <I>Christus </I>vorgef&uuml;hrt.</P>
<P ALIGN="CENTER">*</P>
<P>Gottfried, der im ganzen gar nichts erlebt, k&ouml;mmt in seinen Erlebnissen nat&uuml;rlich stets wieder auf seine inneren Gef&uuml;hle zur&uuml;ck. Der Pietismus, der ihm als Predigersohn und angehender Gottesgelahrter anklebt, entspricht seiner angeborenen Gem&uuml;tsschw&auml;che sowie der koketten Selbstbesch&auml;ftigung mit seiner Person. Wir erfahren, da&szlig; Mutter und Schwester streng pietistisch waren und da&szlig; Gottfried ein starkes S&uuml;ndenbewu&szlig;tsein besa&szlig;; der Konflikt dieser frommen S&uuml;ndenanschauung mit dem "heiter-geselligen Lebensgenu&szlig;" der gew&ouml;hnlichen Studenten erscheint bei Gottfried, seinem welthistorischen Beruf gem&auml;&szlig;, als ein Kampf der Religion mit der Poesie, - der Schoppen Bier, welchen der Sohn des Pfarrers von Oberkassel mit andern Studenten trinkt, wird zu dem verh&auml;ngnisvollen Kelch, in welchem die beiden Geister Fausts ringen. In der Schilderung seines pietistischen Familienlebens sehen wir die "Mutter Maria" den "Hang Gottfrieds f&uuml;r das Theater" als s&uuml;ndhaft bek&auml;mpfen (pag. 28), bedeutungsvoller Zwiespalt, der wieder den k&uuml;nftigen Poeten andeuten soll, in der Tat aber nur Gottfrieds Vorliebe f&uuml;r das Kom&ouml;diantentum zur Schau bringt. Seiner Schwester Johanna wird als pietistisches Meg&auml;rentum nacherz&auml;hlt, da&szlig; sie ein f&uuml;nfj&auml;hriges M&auml;dchen wegen Unachtsamkeit in der Kirche gemaulschellt habe - schmutziger Familienklatsch, dessen Enth&uuml;llungen man nicht begreifen w&uuml;rde, wenn nicht am Schlu&szlig; des Buches diese Schwester Johanna am eifrigsten gegen die Ehe Gottfrieds mit Madame Mockel eingenommen erschiene.</P>
<P>Als Ereignis wird erw&auml;hnt, da&szlig; Gottfried in Seelscheid "eine herrliche Predigt &uuml;ber das ersterbende Weizenkorn" gehalten.</P>
<P ALIGN="CENTER">*</P>
<P>Die Familie Zeller und die "geliebte Elise" reisen endlich ab. Wir erfahren, da&szlig; Gottfried "hei&szlig; die Hand des M&auml;dchens gedr&uuml;ckt" und den Gru&szlig; fl&uuml;sterte: "Elise, leben Sie wohl! Ich darf nicht mehr sagen." Dieser interessanten Geschichte folgt der erste Siegwartjammer.</P>
<B><FONT SIZE=2><P><A NAME="S239">&lt;239&gt;</A></B> "Vernichtet!" "Lautlos." "Trostloseste Zerrissenheit! "Brennende Stirn." "Tiefste Seufzer." "Der wildeste Schmerz durchzuckte sein Hirn" etc. (pag. 37).</P>
</FONT><P>Die ganze Eliasszene wird dadurch zur reinen Kom&ouml;die, die er dem "Freund Paul" und sich selbst vorgespielt hat. Paul tritt auch wieder auf, um Siegwart, der einsam jammernd daselbst sitzt, ins Ohr zu fl&uuml;stern: "Diesen Ku&szlig; f&uuml;r meinen Gottfried" (pag. 38).</P>
<P>Gottfried wird wieder fidel.</P>
<FONT SIZE=2><P>"Fester als je steht mein Plan, w&uuml;rdig und nicht <I>ohne Namen </I>mein s&uuml;&szlig;es Lieb wiederzuschauen" (pag. 38).</P>
</FONT><P>Die Reflexion auf den zu erwartenden Namen, das Prunken mit den Vorschu&szlig;lorbeerkronen, fehlt auch in dem Liebesschmerz nicht. Gottfried benutzt das Intermezzo, um seine Liebe in &uuml;berschwenglicher Renommisterei zu Papier zu bringen, damit der Welt auch seine Tagebuchgef&uuml;hle nicht verlorengehen. Die Szene hat jedoch ihre Pointe noch nicht erreicht. Der getreue Paul mu&szlig; den weltst&uuml;rmenden Meister darauf aufmerksam machen, da&szlig; Elise vielleicht sp&auml;ter, wenn sie stehen bliebe, w&auml;hrend er sich fortentwickele, ihm nicht mehr gen&uuml;gen werde.</P>
<FONT SIZE=2><P>"O nein!" sprach Gottfried. "Diese Himmelsbl&uuml;te, die ja kaum ihre ersten Bl&auml;tter noch aufgetan, duftet schon so s&uuml;&szlig;. Wie wenn ... der gl&uuml;hende Sommer<I>strahl</I> m&auml;nnlicher <I>Kraft </I>ihre <I>inneren Kelchbl&auml;tter </I>entfaltet!" (pag.40.)</P>
</FONT><P>Paul sieht sich gen&ouml;tigt, auf das unsaubere Bild zu antworten, da&szlig; gegen einen Dichter Vernunftgr&uuml;nde nichts nutzen.</P>
<FONT SIZE=2><P>"Und all eure Weisheit sch&uuml;tzt euch doch ebensowenig gegen die Launen des Lebens als unsere <I>liebensw&uuml;rdige </I>Torheit", entgegnete Gottfried <I>l&auml;chelnd</I>" (pag. 40).</P>
</FONT><P>R&uuml;hrendes Bild, Narzissus sich selbst zul&auml;chelnd! Der unbeholfene Kandidat tritt pl&ouml;tzlich als liebensw&uuml;rdiger Tor auf, Paul wird zum Wagner, der den gro&szlig;en Mann bewundert, und der gro&szlig;e Mann "l&auml;chelt", "ja, er l&auml;chelt sanft und freundlich". Die Pointe ist gerettet.</P>
<P ALIGN="CENTER">*</P>
<P>Gottfried gelangt endlich dazu, Bonn zu verlassen. Die dort errungene H&ouml;he seiner wissenschaftlichen Bildung res&uuml;miert er selbst wie folgt:</P>
<FONT SIZE=2><P>"Von dem Hegeltum komme ich leider mehr und mehr ab; Rationalist zu sein, ist mein h&ouml;chster Wunsch, dabei bin ich jedoch zugleich Supranaturalist und Mystiker, <I>n&ouml;tgenfalls </I>sogar Pietist" (pag. 45).</P>
</FONT><P>Dieser Selbstschilderung ist nichts hinzuzuf&uuml;gen.</P>
<P ALIGN="CENTER">*</P>
<P ALIGN="CENTER">"<I>Berlin</I>. Okt. 1834-Aug. 1835"</P>
<B><P><A NAME="S240">&lt;240&gt;</A></B> Aus der kleinen Familien- und Studentenmisere k&ouml;mmt Gottfried nach Berlin. Von einem Einflu&szlig; der wenigstens in Vergleich zu Bonn gro&szlig;st&auml;dtischen Verh&auml;ltnisse, von einer Beteiligung an der damaligen wissenschaftlichen Bewegung finden wir keine Spur; Gottfrieds Tagebuch beschr&auml;nkt sich auf Gem&uuml;tsbewegungen, die er mit einem neuen compagnon d'aventure &lt;Gef&auml;hrten seiner Abenteuer&gt;, Hugo D&uuml;nweg aus Barmen, erlebt, und auf die kleinen Leiden des armen Theologen, Geldverlegenheiten, sch&auml;bige Fr&auml;cke, Anstellung als Rezensent usw. Sein Leben steht in keiner Beziehung zu dem &ouml;ffentlichen Leben der Stadt, sondern bezieht sich lediglich auf die Familie Schl&ouml;ssing, in welcher D&uuml;nweg als <I>Meister Wolfram </I>&lt;<I>Wolfram von Eschenbach</I>&gt; und Gottfried als Meister <I>Gottfried von Stra&szlig;burg </I>im stillen passieren (pag. 67). Elise schwindet mehr und mehr aus seinem Herzen, er empfindet ein neues Jucken f&uuml;r Fr&auml;ulein Maria Schl&ouml;ssing, erf&auml;hrt zum Ungl&uuml;ck noch die Verlobung Elisens mit einem andern und res&uuml;miert zuletzt seine Berliner Gef&uuml;hle und Strebungen in der "dunkeln Sehnsucht nach einem weiblichen Wesen, das er <I>ganz </I>sein [nennen] d&uuml;rfe".</P>
<P>Berlin darf indes nicht verlassen werden ohne die unvermeidliche Pointe:</P>
<FONT SIZE=2><P>"Bevor er Berlin verlie&szlig;, f&uuml;hrte ihn der alte" (Regisseur) "Wei&szlig; <I>noch einmal </I>in das Innere des Schauspielhauses. Ein seltsames Gef&uuml;hl durchstr&ouml;mte den J&uuml;ngling, als der freundliche Greis in dem gro&szlig;en Saale, wo die B&uuml;sten deutscher Dramatiker aufgestellt sind, auf einige leere Nischen hindeutend, mit beziehungsvollem Tone sprach:</P>
<I><P ALIGN="CENTER">'Es sind noch Pl&auml;tze frei'</I>"</P>
</FONT><P>Der Platz f&uuml;r den Plateniden Gottfried, der sich den Hochgenu&szlig; "k&uuml;nftiger Unsterblichkeit" so ernsthaft von einem alten Farceur &lt;Possenrei&szlig;er&gt; kredenzen l&auml;&szlig;t, dieser Platz ist in der Tat noch frei.</P>
<P ALIGN="CENTER">*</P>
<P ALIGN="CENTER">"<I>Bonn</I>. Herbst 1835-Herbst 1837"</P>
<FONT SIZE=2><P>"In stetem Schwanken zwischen Kunst, Leben und Wissenschaft unentschieden begriffen, in allen dreien ohne feste Bestimmung t&auml;tig, gedachte er aus allen soviel zu lernen, zu gewinnen, selbst zu schaffen, als es seine Unentschiedenheit zulie&szlig;e" (pag. 89).</P>
</FONT><P>Mit dieser Erkenntnis des unentschiedenen Dilettanten kehrt Gottfried nach Bonn zur&uuml;ck. Das Gef&uuml;hl des Dilettantismus verhindert ihn nat&uuml;rlich nicht, sein Lizentiatenexamen zu machen und Privatdozent an der Universit&auml;t Bonn zu werden.</P>
<B><FONT SIZE=2><P><A NAME="S241">&lt;241&gt;</A></B> "Weder Chamisso noch Knapp hatten die ihnen zugesandten Gedichte in ihren Taschenb&uuml;chern aufgenommen, und das kr&auml;nkte ihn sehr" (pag. 99).</P>
</FONT><P>Das ist das Deb&uuml;t des gro&szlig;en Mannes, der in Privatkreisen immer auf geistigen Pump von seiner k&uuml;nftigen Bedeutung lebt, in seinen ersten &ouml;ffentlichen Versuchen. Von diesem Augenblick wird er definitiv zur zweifelhaften Lokalgr&ouml;&szlig;e f&uuml;r belletristische Studentenzirkel, bis ihn ein Streifschu&szlig; in Baden pl&ouml;tzlich zum Helden des deutschen Philistertums macht.</P>
<FONT SIZE=2><P>"Mehr und mehr erwachte dagegen in Kinkels Brust die Sehnsucht nach einer festen und treuen Liebe, die sich durch keine Arbeiten wollte verdr&auml;ngen lassen" (pag. 103).</P>
</FONT><P>Das erste Opfer dieser Sehnsucht ist eine gewisse Minna. Gottfried t&auml;ndelt mit Minna und tritt zur Abwechslung als mitleidiger Mahad&ouml; &lt;Shiva&gt; auf, der sich von der Jungfrau anbeten l&auml;&szlig;t und dabei Reflexionen &uuml;ber ihren Gesundheitszustand macht.</P>
<FONT SIZE=2><P>"Kinkel h&auml;tte sie lieben k&ouml;nnen, wenn es ihm m&ouml;glich gewesen w&auml;re, sich &uuml;ber ihren Zustand zu t&auml;uschen; doch seine Liebe h&auml;tte ja die welkende Rose noch rascher <I>get&ouml;tet</I>. Minna war das erste M&auml;dchen, das ihn verstehen konnte; aber sie h&auml;tte ihm, eine zweite Hekuba, nicht Kinder sondern Fackeln geboren, und der Eltern Glut h&auml;tte durch sie, wie Priamus' Troja, das eigne Haus verbrannt. Dennoch konnte er nicht von ihr lassen, um sie blutete sein Herz, <I>er war elend nicht aus Liebe, sondern aus Mitleid</I>". </P>
</FONT><P>Der g&ouml;ttliche Held, dessen Liebe wie der Anblick Jupiters t&ouml;ten soll, ist nichts als der ordin&auml;re, stets &uuml;ber sich selbst reflektierende Geck, der sich bei seinen Heiratsstudien zum erstenmal in der Rolle des Herzbrechers versucht. Die widerliche Betrachtung &uuml;ber den Krankheitszustand und dessen Folgen bei m&ouml;glicherweise zu erzielenden Kindern wird &uuml;berdies durch den Umstand zur gemeinen Spekulation, da&szlig; er das Verh&auml;ltnis zu seiner inneren Selbstbefriedigung fortsetzt und nicht eher abbricht, als bis es ihm Gelegenheit zu einer neuen melodramatischen Szene verschafft.</P>
<P>Gottfried reist zu einem Onkel, dessen Sohn eben gestorben ist; bei der ausgestellten Leiche, in schauerlicher Mitternachtsstunde, bereitet er eine Bellinische Opernszene mit seiner Kusine, Mademoiselle Elise II, verlobt sich mit derselben "angesichts des Toten" und wird auch am folgenden Morgen von dem Onkel gl&uuml;cklich als k&uuml;nftiger Eidam akzeptiert.</P>
<FONT SIZE=2><P>"Oft auch dachte er an Minna und den Augenblick, wo er sie wiedersehen mu&szlig;te, da er nun doch ewig f&uuml;r sie verloren war; allein er f&uuml;rchtete sich nicht vor diesem Moment, weil sie ja keine Anspr&uuml;che auf ein Herz erheben konnte, das bereits gebunden war" (pag. 117).</P>
</FONT><B><P><A NAME="S242">&lt;242&gt;</A></B> Die neue Verlobung hat keine andere Bedeutung, als das Verh&auml;ltnis mit Minna zu einer dramatischen Kollision zu bringen, in welcher sich "Pflicht und Leidenschaft" gegen&uuml;berstehen. Diese Kollision selbst wird in der philisterhaftesten Schuftigkeit herbeigef&uuml;hrt, indem der Biedermann bei sich selbst die Rechtsanspr&uuml;che Minnas auf sein Herz leugnet, welches bereits gebunden sei; dem tugendhaften Mann verschl&auml;gt es nat&uuml;rlich nichts, da&szlig; er sogar diese feige Selbstl&uuml;ge noch durch nachtr&auml;gliche Umkehrung der Zeitfolge in dem "gebundenen Herzen" rettet.</P>
<P>Gottfried hat sich in die interessante Notwendigkeit gest&uuml;rzt, ein "armes gro&szlig;es Herz" brechen zu m&uuml;ssen:</P>
<FONT SIZE=2><P>"Nach einer Pause fuhr Gottfried fort: 'Zugleich glaube ich, Ihnen, liebe Minna, ein Vergehen abbitten zu m&uuml;ssen - ich habe vielleicht an Ihnen ges&uuml;ndigt - Minna, diese Hand, die ich Ihnen gestern so freundlich lie&szlig;, diese Hand ist nicht mehr frei - ich bin Verlobter!'" (pag. 123.)</P>
</FONT><P>Der melodramatische Kandidat h&uuml;tet sich wohl, ihr zu sagen, da&szlig; diese Verlobung ein paar Stunden sp&auml;ter stattgefunden hatte, nachdem er ihr "so freundlich" seine Hand gelassen.</P>
<FONT SIZE=2><P>"O Gott! - Minna - k&ouml;nnen Sie mir vergehen?" (loc. cit.)</P>
<P>"Ich bin Mann und mu&szlig; meiner <I>Pflicht </I>getreu sein - ich <I>darf </I>Sie nicht lieben! Aber get&auml;uscht habe ich Sie nicht" (pag. 124).</P>
</FONT><P>Nach dieser nachtr&auml;glich arrangierten Tugendpflicht fehlt nur noch eine Herbeif&uuml;hrung des Unglaublichen, eine effektvolle Umkehrung des ganzen Verh&auml;ltnisses, in welcher nicht Minna ihm, sondern der moralische Pfaffe der Betrogenen verzeiht. Zu diesem Zweck wird die M&ouml;glichkeit erdacht, da&szlig; Minna ihn "in der Ferne hassen k&ouml;nne", und an diese Supposition kn&uuml;pft sich die folgende Schlu&szlig;moral:</P>
<FONT SIZE=2><P>"'Das vergebe ich Ihnen gern, und Sie k&ouml;nnen, wenn dieser Fall eintritt, im voraus meiner Verzeihung gewi&szlig; sein. Und nun leben Sie wohl, meine Pflicht ruft mich, ich mu&szlig; Sie verlassen!' - Dann ging er mit langsamen Schritten aus der Laube ... Gottfried f&uuml;hlte sich von jener Stunde an ungl&uuml;cklich" (pag. 124).</P>
</FONT><P>Der Schauspieler und eingebildete Liebhaber verwandelt sich in den heuchlerischen Pfaffen, der sich mit einem salbungsvollen Segen aus der Aff&auml;re zieht; Siegwart ist durch die erlogenen Liebeskonflikte zu dem gl&uuml;cklichen Resultat gekommen, sich in der Einbildung f&uuml;r ungl&uuml;cklich halten zu k&ouml;nnen.</P>
<P>Zuletzt k&ouml;mmt an den Tag, da&szlig; alle diese arrangierten Liebesgeschichten nichts als eine kokette Liebelei Gottfrieds mit sich selbst waren. Die ganze <A NAME="S243"><B>&lt;243&gt;</A></B> Historie l&auml;uft darauf hinaus, da&szlig; der von seiner k&uuml;nftigen Unsterblichkeit tr&auml;umende Pfaffe alttestamentarische Geschichten und moderne Leihbibliothekphantasien &agrave; la Spie&szlig;, Clauren und Cramer auff&uuml;hrt und sich so in der Einbildung als romantischen Helden genie&szlig;t.</P>
<FONT SIZE=2><P>"Als er unter seinen B&uuml;chern umherkramte, fiel ihm der 'Ofterdingen' von Novalis in die Hand, der ihn noch vor einem Jahre so oft zur Poesie entflammt hatte. Schon als er das Gymnasium besuchte und mit einigen Freunden unter dem Namen 'Teutonia' eine Gesellschaft gestiftet, welche sich zum Zweck setzte, sich gegenseitig das Verst&auml;ndnis deutscher Geschichte und Literatur zu erschlie&szlig;en, hatte er sich den Namen <I>Heinrich von Ofterdingen </I>beigelegt ... Jetzt ward ihm die Bedeutung dieses Namens klar. Er <I>d&uuml;nkte sich selbst jener Heinrich </I>in dem lieblichen St&auml;dtchen am Fu&szlig;e der Wartburg, und die Sehnsucht nach der <I>'blauen Blume' </I>ergriff ihn mit unbezwinglicher Gewalt. Nicht Minna konnte die leuchtende M&auml;rchenbl&uuml;te sein, auch seine Braut nicht, so sehr er sein Herz befragte. Tr&auml;umend las er weiter und weiter, die tolle Zauberwelt umfing ihn, und endlich warf er sich weinend auf einen Sessel, der <I>'blauen Blume' </I>gedenkend."</P>
</FONT><P>Gottfried enth&uuml;llt hier die ganze romantische L&uuml;ge, in die er sich eingekleidet hat; der Karnevalberuf, sich in fremde Personen zu verkleiden, ist sein wahres "inneres Wesen". Wie er sich fr&uuml;her Gottfried von Stra&szlig;burg nannte, tritt er jetzt als <I>Heinrich von Ofterdingen</I> auf, und was er sucht, ist nicht die "blaue Blume", sondern ein Frauenzimmer, welches ihn als Heinrich von Ofterdingen anerkennt. Diese "blaue Blume", er fand sie auch schlie&szlig;lich in etwas vergilbter Form in einem Frauenzimmer, welches in seinem und ihrem Interesse die ersehnte Kom&ouml;die mit ihm spielte.</P>
<P>Die erlogene Romantik, die Travestie und Karikierung alter Historien und Abenteuer, welche Gottfried aus Mangel an eigenem Fonds anderen <I>nacherlebt</I>, dieser ganze Gef&uuml;hlsschwindel inhaltsloser Kollisionen mit Marien, Minnan, Elisen I und II haben ihn so weit gebracht, da&szlig; er sich auf der H&ouml;he Goethescher Erlebnisse angekommen glaubt. Wie Goethe nach seinen Liebesst&uuml;rmen pl&ouml;tzlich nach Italien aufbricht und hier seine "Elegien" schreibt, glaubt Gottfried nach seinen eingebildeten Liebesduseleien nunmehr auch das Recht zu einem R&ouml;merzug zu haben. Goethe hat Gottfried geahnt:</P><DIR>
<DIR>
<DIR>
<DIR>
<FONT SIZE=2><P>Hat doch der Walfisch seine Laus,<BR>
Kann ich auch meine haben.<BR>
&lt;Goethe, "Zahme Xenien"&gt;</P></DIR>
</DIR>
</DIR>
</DIR>
</FONT><P ALIGN="CENTER">*</P>
<P ALIGN="CENTER">"<I>Italien</I>. Okt. 1837-M&auml;rz 1838"</P>
<P>Der R&ouml;merzug wird in Gottfrieds Tageb&uuml;chern mit einer bogenlangen Beschreibung der Reise von Bonn nach Koblenz er&ouml;ffnet. Diese neue Epoche beginnt wiederum, wie die vorige geschlossen hat, mit der beziehungsreichen <A NAME="S244"><B>&lt;244&gt;</A></B> Anwendung fremder Erlebnisse. Gottfried erinnert sich auf dem Dampfschiff an den "vortrefflichen Zug Hoffmanns", welcher den "Meister Johannes Wacht grade nach dem gewaltigsten Schmerz ein sehr k&uuml;nstlerisches Werk schaffen l&auml;&szlig;t"; zur Bewahrheitung dieses "vortrefflichen Zuges" ger&auml;t Gottfried nach dem "gewaltigen Schmerz" &uuml;ber Minna in <I>"Nachdenken"</I> "&uuml;ber die l&auml;ngst <I>beabsichtigte Ausf&uuml;hrung </I>eines Trauerspiels" (pag. 140).</P>
<P>Auf Kinkels Reise von Koblenz nach Rom ereignet sich folgendes.</P>
<FONT SIZE=2><P>"Die freundlichen Briefe seiner Braut, welche er h&auml;ufig empfing und meist auf <I>die </I>Stelle beantwortete, verdr&auml;ngten die d&uuml;stern Gedanken" (pag. 144).</P>
<P>"Seine Liebe zu der sch&ouml;nen Elise II schlug tiefe Wurzeln in der sehnenden J&uuml;nglingsbrust" (pag. 146).</P>
</FONT><P>In Rom ereignet sich folgendes:</P>
<FONT SIZE=2><P>"Bei seiner Ankunft in Rom hatte Kinkel einen Brief von seiner Braut vorgefunden, der seine Liebe zu ihr noch steigerte und Minnas Bild mehr und mehr zur&uuml;cktreten lie&szlig;. Sein Herz sagte ihm, da&szlig; Elise ihn gl&uuml;cklich machen k&ouml;nne, und er gab sich mit der reinsten Glut diesem Gef&uuml;hle hin ... Er hatte jetzt erst lieben gelernt" (pag. 151).</P>
</FONT><P>Minna, welche er fr&uuml;her blo&szlig; aus Mitleid geliebt, ist also in der Gef&uuml;hlsszenerie wieder hervorgetreten. In dem Verh&auml;ltnis mit Elisen tr&auml;umt er, da&szlig; Elise ihn, nicht da&szlig; er sie gl&uuml;cklich machen k&ouml;nne. Und doch hat er in der Phantasie von der "blauen Blume" schon vorher ausgesprochen, da&szlig; die M&auml;rchenbl&uuml;te, nach welcher er so poetisches Jucken f&uuml;hlt, weder Elise noch Minna sein k&ouml;nnen. Die neu erwachten Gef&uuml;hle f&uuml;r diese beiden M&auml;dchen dienen indes zur Gruppierung, um einen abermaligen Konflikt zu arrangieren.</P>
<FONT SIZE=2><P>"Kinkels Poesie schlummerte scheinbar in Italien" (pag. 151).</P>
</FONT><P>Warum?</P>
<FONT SIZE=2><P>"Weil ihm noch die <I>Form </I>mangelte" (pag. 152).</P>
</FONT><P>Sp&auml;ter erfahren wir, da&szlig; er als Resultat eines sechsmonatlichen Aufenthalts in Italien, die <I>"Form" </I>wohlverpackt nach Deutschland mitbrachte. Da Goethe in Rom seine "Elegien" gedichtet hat, so ersinnt Gottfried ebenfalls eine Elegie "Romas Erwachen" (pag. 153).</P>
<P>Die Magd Kinkels reicht ihm in seiner Wohnung einen Brief von seiner Braut. Freudig erbricht er ihn - </P>
<FONT SIZE=2><P>"und sank mit einem Schrei auf sein Lager. Elise meldete ihm, ein wohlhabender Mann, ein Dr. D., der eine ausgebreitete Praxis und sogar ein Reitpferd bes&auml;&szlig;e, habe sich um sie beworben; da es nun noch lange Zeit w&auml;hren m&ouml;chte, bevor er, Kinkel, der arme Theolog, sich eine feste Stellung geschaffen, b&auml;te sie ihn, das Band, welches sie an ihn fessele, zu l&ouml;sen."</P>
</FONT><B><P><A NAME="S245">&lt;245&gt;</A></B> Vollst&auml;ndige Reminiszenz aus "Menschenha&szlig; und Reue".</P>
<P>Gottfried "vernichtet", "gr&auml;&szlig;liche Versteinerung", "trocknes Auge", "Gef&uuml;hl der Rache", "Dolch", "Brust des Nebenbuhlers", "Herzblut des Gegners", "Eisesk&auml;lte", "wahnsinniger Schmerz" usw. (pag. 156 und 157).</P>
<P>Was in diesen "Leiden und Freuden des armen Theologen" den ungl&uuml;cklichen Kandidaten haupts&auml;chlich kr&auml;nkt, ist der Gedanke, da&szlig; sie ihn um den "ungewissen Besitz irdischer G&uuml;ter verschm&auml;ht" (pag. 157). Nach den b&uuml;hnenm&auml;&szlig;ig vorgeschriebenen Gef&uuml;hlen, die ihn ergreifen, erhebt er sich endlich zu folgender Tr&ouml;stung:</P>
<FONT SIZE=2><P>"Sie war deiner nicht wert - und dir bleibt ja die Schwinge des Genius, die dich hoch emportragen wird &uuml;ber dies dunkle Weh! <I>Und wenn dereinst dein Ruhm &uuml;ber den Erdball fliegt</I>, dann mag die Falsche in der eignen Brust das Strafgericht erkennen! - Wer wei&szlig; auch, ob nicht <I>ihre Kinder </I>nach Jahren mich aufsuchen, um meine H&uuml;lfe zu erflehen, und dem <I>m&ouml;chte ich nicht vorschnell ausweichen</I>" (pag. 157).</P>
</FONT><P>Nach dem unvermeidlichen, antizipierten Hochgenu&szlig; des "k&uuml;nftigen Ruhms, der &uuml;ber den Erdball fliegt", k&ouml;mmt hier der gemeine pf&auml;ffische Philister zum Vorschein. Er spekuliert darauf, da&szlig; Elisens Kinder vielleicht sp&auml;ter im Elend des gro&szlig;en Poeten Almosen anflehen k&ouml;nnten - "dem m&ouml;chte er nicht vorschnell ausweichen". Und warum? Weil Elise dem "k&uuml;nftigen Ruhm", von dem Gottfried fortw&auml;hrend tr&auml;umt, ein "Reitpferd vorzieht", weil sie der Affenkom&ouml;die, welche er mit dem Namen Heinrichs von Ofterdingen aufzuf&uuml;hren gedenkt, "irdische G&uuml;ter" vorzieht. Schon der alte Hegel hat mit Recht bemerkt, da&szlig; das edelm&uuml;tige Bewu&szlig;tsein immer in das niedertr&auml;chtige umschl&auml;gt.</P>
<P ALIGN="CENTER">*</P>
<P ALIGN="CENTER">"<I>Bonn</I>. Sommer 1838-Sommer 1843"</P>
<I><P ALIGN="CENTER">(Kabale und Liebe)</P>
</I><P>Nachdem Gottfried in Italien Goethe karikiert hat, nimmt er sich bei seiner R&uuml;ckkehr vor, Schillers "Kabale und Liebe" aufzuf&uuml;hren.</P>
<P>Trotz der weltschmerzlichen zerrissenen Brust befindet sich Gottfried leiblich "wohler als je" (pag. 167). Er beabsichtigt, sich "einen literarischen Ruf durch Arbeiten zu begr&uuml;nden" (pag. 169), was ihn indes sp&auml;ter nicht verhindert, als die "Arbeiten" den literarischen Ruf nicht zu begr&uuml;nden verm&ouml;gen, sich einen wohlfeileren Ruf ohne Arbeiten zu verschaffen.</P>
<P>Die "dunkle Sehnsucht", mit welcher Gottfried immer einem "weiblichen Wesen" nachjagt, &auml;u&szlig;ert sich in einer merkw&uuml;rdig schnellen Folge von Heiratsversprechnissen und Verlobungen. Das Eheversprechen ist die klas- <A NAME="S246"><B>&lt;246&gt;</A></B> sische Form, mit welcher der starke Mann und &uuml;berlegene "k&uuml;nftige" Geist in der Wirklichkeit seine Geliebten zu erobern und an sich zu fesseln sucht. Sobald er ein blaues Bl&uuml;mchen zu sehen glaubt, welches ihm zu der Rolle Heinrichs von Ofterdingen verhelfen k&ouml;nnte, verdichtet sich die weiche nebelhafte Gef&uuml;hlsduselei des Poeten zu dem sehr deutlichen Traumbild des Kandidaten, die ideelle Wahlverwandtschaft durch ein Band der "Pflicht" zu erg&auml;nzen. Diese b&uuml;rgerliche Jagd, in welcher die Verlobungen &agrave; tort et &agrave; travers &lt;wild durcheinander&gt; nach den ersten Begr&uuml;&szlig;ungen an alle G&auml;nse- und Wasserbl&uuml;mchen fliegen, l&auml;&szlig;t die l&auml;mmerschw&auml;nzelnde schlappe Koketterie nur um so widerlicher erscheinen, mit der Gottfried fortw&auml;hrend seine Brust zur Konstatierung seines "gro&szlig;en Dichterschmerzes" &ouml;ffnet.</P>
<P>Gottfried mu&szlig; sich daher nach seiner R&uuml;ckkehr aus Italien auch nat&uuml;rlich wieder "versprechen"; das Objekt seiner Sehnsucht wird ihm diesmal direkt von seiner Schwester angewiesen, jener Dame Johanna, deren pietistischer Fanatismus schon fr&uuml;her von Gottfrieds Tagebuchexklamationen verewigt wurde.</P>
<FONT SIZE=2><P>"B&ouml;gehold hatte in diesen Tagen seine Verlobung mit Fr&auml;ulein Kinkel erkl&auml;rt, und Johanna, die sich jetzt noch zudringlicher als je in die Herzensangelegenheiten ihres Bruders einmischte, w&uuml;nschte aus mancherlei Gr&uuml;nden und Familienr&uuml;cksichten, die der Welt lieber verschwiegen bleiben, da&szlig; Gottfried nun <I>wechselweis </I>wieder die Schwester ihres Br&auml;utigams, Fr&auml;ulein Sophie B&ouml;gehold, heimfuhren m&ouml;ge" (pag. 172). "Kinkel" - es versteht sich dies von selbst - "mu&szlig;te sich <I>notwendig </I>zu einem sanften M&auml;dchen hingezogen f&uuml;hlen ... Letztere war ein liebes, schuldloses M&auml;dchen" (pag. 173). "Auf die zarteste Weise" - es versteht sich dies von selbst - "warb Kinkel um ihre Hand, die ihm freudig von den begl&uuml;ckten Eltern zugesagt war, sobald" - es versteht sich dies von selbst - "er sich erst eine sichere Stellung erworben h&auml;tte und seine Braut" - es versteht sich dies von selbst - "als Professor oder Besitzer einer stillen Pfarrerwohnung heimf&uuml;hren k&ouml;nnte."</P>
</FONT><P>Die Heiratstendenz, welche in allen Abenteuern des br&uuml;nstigen Kandidaten durchgeht, nahm er bei dieser Gelegenheit in folgenden zierlichen Verslein zu Papier:</P><DIR>
<DIR>
<DIR>
<DIR>
<FONT SIZE=2><P>Nach anders nichts trag' ich Verlangen<BR>
Als nur nach einer wei&szlig;en Hand!</P>
</FONT><P>Alles andere, Augen, Lippen, Locken, erkl&auml;rt er f&uuml;r "Tand".</P>
<FONT SIZE=2><P>Das alles reizt nicht sein Verlangen,<BR>
Allein die kleine wei&szlig;e Hand! (pag. 174.)</P></DIR>
</DIR>
</DIR>
</DIR>
</FONT><B><P><A NAME="S247">&lt;247&gt;</A></B> Die Liebelei, welche er auf Ordre der "mehr als je zudringlichen Schwester Johanna" und aus fort und fort prickelndem Verlangen nach einer "Hand" mit Fr&auml;ulein Sophie B&ouml;gehold anzettelt, nennt er zugleich "tief, fest und still" (pag. 175), und namentlich "spielte das <I>religi&ouml;se </I>Element eine gro&szlig;e Rolle in dieser neuen Liebe" (pag. 176).</P>
<P>Das religi&ouml;se Element ersetzt n&auml;mlich bei Gottfrieds Liebesgeschichten abwechselnd das Roman- und Schauspielelement. Wo er sich nicht durch Kom&ouml;dieneffekte in neue Siegwartsituationen l&uuml;gen kann, werden religi&ouml;se Gef&uuml;hle angewandt, um diesen ordin&auml;ren Geschichten zu einer h&ouml;heren Bedeutung zu verhelfen. Siegwart wird zum frommen Jung-Stilling, der gleichfalls von Gott so wunderbar gest&auml;rkt war, da&szlig; er drei Weiber unter seiner m&auml;nnlichen Brust erliegen sah und doch immer wieder eine neue Liebe "heimf&uuml;hren" konnte.</P>
<P ALIGN="CENTER">*</P>
<P>Wir kommen endlich zu der verh&auml;ngnisvollen Katastrophe in dieser tatenreichen Lebensgeschichte, zu der Bekanntschaft Stillings mit <I>Johanna Mockel, </I>geschiedene Mathieux. Hier fand Gottfried einen weiblichen Kinkel, sein romantisches alter ego &lt;anderes Ich&gt;, nur h&auml;rter, kl&uuml;ger, weniger verschwommen und durch gereiftes Alter &uuml;ber die ersten Illusionen hinaus.</P>
<P>Mockel hatte mit Kinkel das Verkanntsein von der Welt gemein. Sie war absto&szlig;end, eine vulg&auml;re Erscheinung; in ihrer ersten Ehe war sie ungl&uuml;cklich gewesen. Sie besa&szlig; musikalische Talente, jedoch nicht hinl&auml;nglich, um durch ihre Kompositionen oder technische Fertigkeit Epoche zu machen; in Berlin hatte sie in dem Versuch, die veralteten Kindereien Bettinens &lt;Bettina von Arnim&gt; zu kopieren, Fiasko gemacht. Ihr Charakter war durch die Erfahrungen verbittert. Wenn sie auch mit Kinkel die Zierbengelei gemein hatte, den gew&ouml;hnlichen Ereignissen ihres Lebens durch &uuml;berschwengliche Zutat eine "h&ouml;here Weihe" zu geben, so war bei ihr infolge des vorgeschrittenen Alters das <I>Bed&uuml;rfnis </I>(nach Strodtmann) der Liebe doch dringender als die poetischen Faseleien derselben. Was bei Kinkel in dieser Beziehung weibisch war, wurde bei Mockel m&auml;nnisch. Nichts nat&uuml;rlicher daher, als da&szlig; eine solche Erscheinung mit Freuden darauf einging, mit Kinkel die Kom&ouml;die der verkannten sch&ouml;nen Seelen zu einer wechselseitig befriedigenden L&ouml;sung zu spielen, Siegwart in seiner Rolle als Heinrich von Ofterdingen anzuerkennen und sich von ihm als "blaue Blume" finden zu lassen.</P>
<P>Nachdem Kinkel eben durch H&uuml;lfe seiner Schwester zu einer dritten oder <A NAME="S248"><B>&lt;248&gt;</A></B> vierten Verlobten gekommen ist, wird er jetzt durch Mockel in ein neues Liebeslabyrinth gef&uuml;hrt.</P>
<P>Gottfried befindet sich in der "Woge der Gesellschaft" (pag. 190), einer jener kleinen Professoren- oder "Honoratiorenzirkel" deutscher Universit&auml;tsst&auml;dtchen, welche nur in dem Leben christlich-germanischer Kandidaten Epoche machen k&ouml;nnen. Mockel singt und wird applaudiert. Bei Tisch ist es arrangiert, da&szlig; Gottfried neben sie zu sitzen k&ouml;mmt, und hier entwickelt sich folgende Szene:</P>
<FONT SIZE=2><P>"'Es m&uuml;sse sich ein herrliches Gef&uuml;hl sein', meinte Gottfried, 'so von allen bewundert auf der Schwinge des Genius durch die fr&ouml;hliche Welt zu schweben.' - 'Das <I>glauben </I>Sie', versetzte Mockel bewegt. 'Ich h&ouml;re, Sie haben ein sch&ouml;nes Talent zur Poesie. Vielleicht wird man Ihnen dann <I>auch </I>Weihrauch streuen ... und dann will ich Sie fragen, ob Sie gl&uuml;cklich sind, wenn Sie nicht...' - 'Wenn ich nicht?' fragte Gottfried die Stockende" (pag. 188).</P>
</FONT><P>Der K&ouml;der war f&uuml;r den unbeholfenen lyrischen Kandidaten geworfen.</P>
<P>Mockel teilt ihm darauf mit, da&szlig; sie ihn k&uuml;rzlich</P>
<FONT SIZE=2><P>"&uuml;ber das Heimweh der Christen predigen geh&ouml;rt und gedacht, wie sehr der sch&ouml;ne J&uuml;ngling der Welt m&uuml;sse entsagt haben, der auch in ihr eine leise Sehnsucht nach dem harmlosen Kindesschlummer erregt hatte, mit dem sie einst der verlorene Klang des Glaubens umfing" (pag. 189).</P>
</FONT><P>Gottfried war "bezaubert" (p. 189) von dieser H&ouml;flichkeit. Es war ihm ungeheuer angenehm zu finden, "da&szlig; Mockel nicht gl&uuml;cklich sei" (loc. cit.) Er beschlie&szlig;t sogleich, "mit seiner warmen Begeisterung f&uuml;r den Glauben der Erl&ouml;sung durch Jesum Christum" "<I>auch </I>diese trauernde Menschenseele ... wiederzugewinnen" (loc. cit.). Da Mockel katholisch ist, so wird das Verh&auml;ltnis un[ter] dem eingebildeten Motiv angekn&uuml;pft, im "Dienst des Allm&auml;chtigen" eine Seele zu gewinnen, eine Kom&ouml;die, auf w[elche] Mockel auch eingeht.</P>
<P ALIGN="CENTER">*</P>
<FONT SIZE=2><P>"Im Laufe des Jahres 1840 erhielt Kinkel ebenfalls die Anstellung als H&uuml;lfskandidat der evangelischen Gemeinde zu K&ouml;ln, wohin er jeden Sonntagmorgen hin&uuml;berfuhr, um zu predigen" (pag. 193).</P>
</FONT><P>Die Bemerkung des Biographen veranla&szlig;t uns, auf Kinkels Stellung als Theologe mit einigen Worten einzugehen. "Im Laufe des Jahres 1840" hatte die Kritik bereits in der schonungslosesten Form den Inhalt des Christentums zersetzt, die wissenschaftliche [...] &lt;Das fehlende Wort ist durch Streichung unlesbar&gt; war mit Bruno Bauer in offenen <A NAME="S249"><B>&lt;249&gt;</A></B> Konflikt mit dem Staat gekommen. Kinkel tritt in dieser Epoche als Prediger auf, aber einerseits ohne die Energie der Orthodoxie und anderseits ohne den Verstand, die Theologie objektiv zu erfassen, findet er sich in sentimentaler lyrisch-deklamatorischer Weise &agrave; la Krummacher mit dem Christentum ab, indem er Christus als "Freund und F&uuml;hrer" einf&uuml;hrt, das "Unsch&ouml;ne" in der Form des Christentums abzustreifen sucht und den Inhalt durch eine hohle Phraseologie ersetzt. Diese Manier, welche den Inhalt durch die Form, den Gedanken durch die Phrase ersetzen will, hat in Deutschland eine Reihe von deklamatorischen Pfaffen zutage gef&ouml;rdert, deren letzte Ausl&auml;ufe naturgem&auml;&szlig; in die <I>Demokratie </I>f&uuml;hren mu&szlig;ten. Wenn in der Theologie doch hier und da noch wenigstens ein oberfl&auml;chliches Wissen n&ouml;tig, so fand die leere Phraseologie dagegen ihre volle Anwendung in der Demokratie, wo die hohle, vollklingende Deklamation, die nullit&eacute; sonore &lt;t&ouml;nende Nichtigkeit&gt;, vollst&auml;ndig den Geist und die Einsicht der Verh&auml;ltnisse &uuml;berfl&uuml;ssig macht. Kinkel, dessen theologische Studien zu nichts als zu sentimentalen Extrakten des Christentums in Claurenscher Darstellung f&uuml;hren, war in Reden und Schriften der Ausdruck dieser kanzelberedsamen Schwindelei, welche man sonst auch als die "poetische Prosa" bezeichnete und die er jetzt komischerweise zum Vorwand seines "Dichterberufs" machte. Seine Dichterschaft beruht auch [nicht] in Anlegung wirklicher Lorbeeren, sondern in der Pflanzung von roten Judenkirschen, mit denen er die triviale Landstra&szlig;e versch&ouml;nert. Dieselbe Gem&uuml;tsschw&auml;che, die Kollisionen nicht dem Inhalt nach, sondern durch eine bequeme Form zu &uuml;berwinden, zeigt sich denn auch in der Dozentenstellung an der Universit&auml;t. Dem Kampf gegen den alten Fachpedantismus wird ausgewichen durch "burschikoses" Verh&auml;ltnis, welches den Dozenten zum Studenten macht und den Studenten zum Privatdozenten erhebt. Aus dieser Schule ist denn auch eine ganze Generation von Strodtmanns, Schurzen und &auml;hnlichen Subjekten hervorgegangen, die schlie&szlig;lich ihre Phraseologie, ihre Kenntnisse und ihren leichten "hohen Beruf" nur in der Demokratie anwenden konnten.</P>
<P ALIGN="CENTER">*</P>
<P>Das neue Liebesverh&auml;ltnis entwickelt sich jetzt zur Historie von "Gockel, Hinkel und Gackeleia".</P>
<P>Das Jahr 1840 bildete einen Wendepunkt in der deutschen Geschichte. Auf der einen Seite hatte die kritische Anwendung der Hegelschen Philosophie auf die Theologie und Politik die Wissenschaft revolutioniert, auf der <A NAME="S250"><B>&lt;250&gt;</A></B> anderen Seite begann seit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. die Bewegung des B&uuml;rgertums, deren konstitutionalistische Bestrebungen noch einen vollst&auml;ndig radikalen Schein hatten: von der im Vagen schwimmenden "politischen Poesie" der damaligen Zeit bis zu der neuen Erscheinung einer revolution&auml;ren Macht der Tagespresse.</P>
<P>Was tat Gottfried zu jener Zeit? Mockel stiftete mit ihm den "Maik&auml;fer, eine Zeitschrift f&uuml;r Nicht-Philister" (pag. 209) und den Maik&auml;ferverein. Dies Blatt hatte n&auml;mlich blo&szlig;</P>
<FONT SIZE=2><P>"den Zweck, einem engeren Freundeskreise w&ouml;chentlich einen heitern und genu&szlig;reichen Abend zu verschaffen und den Teilnehmern Gelegenheit zu gehen, ihre Produktionen der Kritik eines wohlwollenden kunstsinnigen Zirkels zu unterwerfen" (pag. 209-210).</P>
</FONT><P>Die eigentliche Tendenz des Maik&auml;fervereins war die Aufl&ouml;sung des blauen Blumenr&auml;tsels. Die Sitzungen fanden in Mockels Hause statt und hatten den Zweck, in einem Kreise unbedeutender belletristischer Studenten Mockel als "K&ouml;nigin" (pag. 210) und Kinkel als "Minister" (pag. 255) zu verherrlichen. Die beiden verkannten sch&ouml;nen Seelen fanden Gelegenheit, sich f&uuml;r das "Unrecht, das ihnen die arge Welt zuf&uuml;gte" (pag. 296) im Maik&auml;ferverein g&uuml;tlich zu tun; sie konnten sich gegenseitig in ihren Rollen als Heinrich von Ofterdingen und blaue Blume anerkennen; Gottfried, dem das Nachschauspielern fremder Rollen zur andern Natur geworden war, mu&szlig;te sich gl&uuml;cklich f&uuml;hlen, endlich es zu einem wirklichen <I>"Liebhabertheater" </I>(pag. 254) gebracht zu haben. Die Affenkom&ouml;die selbst diente zugleich als Vorspiel der praktischen Entwicklung:</P>
<FONT SIZE=2><P>"Diese Abende gaben ihm Veranlassung, Mockel auch au&szlig;erdem im Hause ihrer Eltern zu besuchen" (pag. 212).</P>
</FONT><P>Es kam hinzu, da&szlig; der Maik&auml;ferverein den G&ouml;ttinger Hainbund nach&auml;ffte, nur mit dem Unterschied, da&szlig; dieser eine Entwicklungsepoche in der deutschen Literatur bezeichnet, w&auml;hrend der Maik&auml;ferverein eine bedeutungslose Lokalkarikatur blieb. Die "fidelen Maik&auml;fer" (pag. 254), wie Sebastian Longard, Leo Hasse, C. A. Schl&ouml;nbach etc., waren nach dem Bekenntnis des apologetischen Biographen selbst fahle, fade, faule, unbedeutende Burschen (pag. 211 u. 298).</P>
<P ALIGN="CENTER">*</P>
<P>Gottfried stellte nat&uuml;rlich bald "vergleichende Betrachtungen" (pag. 221) zwischen Mockel und seiner Braut an, hatte aber "bisher noch keine Zeit zu" - der ihm sonst sehr gel&auml;ufigen - "allt&auml;glichen Betrachtung von Hoch- <A NAME="S251"><B>&lt;251&gt;</A></B> zeit und Ehestand" (pag. 219). Er stand, mit einem Wort, wie Buridans Esel unentschieden zwischen den beiden Heub&uuml;ndeln. Mockel jedoch mit gereifter Erfahrung und sehr praktischer Tendenz "durchschaute klar das unsichtbare Band" (pag. 225); sie beschlo&szlig;, dem "Zufall oder einer g&ouml;ttlichen F&uuml;gung" (pag. 229) unter die Arme zu greifen.</P>
<FONT SIZE=2><P>"Zu einer Tageszeit, die Gottfried sonst gew&ouml;hnlich mit wissenschaftlichen Lehrarbeiten von Mockel fernhielt, begab er sich einst zu ihr und h&ouml;rte, als er sich leise ihrem Zimmer n&auml;herte, einen klagenden Gesang an sein Ohr schallen. Lauschend vernahm er das Lied:</P><DIR>
<DIR>
<DIR>
<DIR>
<P>Du nahst! Und wie Morgenr&ouml;te<BR>
Bebt's &uuml;ber die Wangen mein usw. usw.<BR>
Viel namenlose Schmerzen:<BR>
Wehe Du f&uuml;hlst es nicht!</P></DIR>
</DIR>
</DIR>
</DIR>
<P>Ein langgetragener wehm&uuml;tiger Akkord beschlo&szlig; ihren Gesang und verhallte m&auml;hlich in den L&uuml;ften" (pag. 230 u. 231).</P>
</FONT><P>Gottfried glaubt unbemerkt zur&uuml;ckzuschleichen, findet zu Hause die Situation sehr interessant und schreibt verzweifelte Sonette, in denen er Mockel mit Lorelei vergleicht (pag. 233). Um der Lorelei zu entlaufen und Fr&auml;ulein Sophie B&ouml;gehold treu zu bleiben, sucht er eine Lehrerstelle in Wiesbaden zu erhalten, wird jedoch abgewiesen. Zu dem oben erw&auml;hnten Zufall kam noch eine andere F&uuml;gung, welche entscheidend war. Nicht nur "strebte die Sonne aus dem Zeichen der Jungfrau" (pag. 236), sondern Gottfried und Mockel machen auch eine Lustfahrt in einem Nachen auf dem Rhein; der Nachen wird von einem nahenden Dampfschiff umgeworfen und Gottfried tr&auml;gt Mockel schwimmend ans Land.</P>
<FONT SIZE=2><P>"Als er die Gerettete darauf Herz an Herzen schwimmend ans Land ruderte, durchst&uuml;rmte ihn zum erstenmal das Gef&uuml;hl, da&szlig; nur <I>dies </I>Weib ihn zu beseligen verm&ouml;chte" (pag. 238).</P>
</FONT><P>Gottfried hat diesmal endlich nicht eine eingebildete, sondern eine wirkliche Romanszene, aus den "Wahlverwandtschaften", erlebt. Damit ist die Sache entschieden; er trennt sich von Sophien B&ouml;gehold.</P>
<P ALIGN="CENTER">*</P>
<P>Nach der Liebe jetzt die Kabale. Pastor Engels stellt Gottfried namens des Presbyteriums vor, da&szlig; die Verbindung mit einer geschiedenen und katholischen Frau bei einem protestantischen Prediger wie Gottfried anst&ouml;&szlig;ig sei. Gottfried macht die ewigen Menschenrechte geltend, indem er folgende Punkte mit vieler Salbung nachweist:</P>
<B><FONT SIZE=2><P><A NAME="S252">&lt;252&gt;</A></B> 1. "Sei es kein Verbrechen, da&szlig; er im Hirzek&uuml;mpchen mit jener Dame Kaffee getrunken" (pag. 249).</P>
<P>2. "Sei die Sache in ambiguo &lt;ungewi&szlig;&gt;, da er bis jetzt &ouml;ffentlich weder erkl&auml;rt habe, die genannte Dame ehelichen zu wollen, noch das Gegenteil" (pag. 251).</P>
<P>3. "Was den Glauben angehe, k&ouml;nne man nicht wissen, was die Zukunft bringen werde" (pag. 250).</P>
<P>"Und nun bitte ich Sie, treten Sie bei mir ein, und nehmen Sie eine Tasse Kaffee" (pag. 251).</P>
</FONT><P>Mit diesem Schlagwort treten Gottfried und Pastor Engels, der der Einladung nicht widerstehen kann, von der Szene ab. So gewaltig und so mild wu&szlig;te Gottfried die Kollision mit den bestehenden Verh&auml;ltnissen aufzuheben.</P>
<P ALIGN="CENTER">*</P>
<P>Zur Charakteristik, wie der Maik&auml;ferverein auf Gottfried einwirken mu&szlig;te, dient folgendes:</P>
<FONT SIZE=2><P>"Es war der 29. Juni 1841. An diesem Tage sollte das erste gro&szlig;e Stiftungsfest des Maik&auml;fervereins gefeiert werden" (pag. 253). "Nur eine Stimme wurde laut, als &uuml;ber den Preis entschieden werden sollte. Bescheiden beugte Gottfried seine Knie vor der K&ouml;nigin, die ihm den unvermeidlichen Lorbeerkranz um die brennende Stirn legte, w&auml;hrend das Abendrot seine gl&uuml;hendsten Strahlen &uuml;ber das verkl&auml;rte Antlitz des Dichters warf." (pag. 285.)</P>
</FONT><P>An diese feierliche Weihe des eingebildeten Dichterruhmes von Heinrich von Ofterdingen reiht nun auch die blaue Blume ihre Gef&uuml;hle und W&uuml;nsche. Mockel trug an diesem Abend ein von ihr komponiertes Maik&auml;fer-Nationallied vor, das mit folgender die ganze Tendenz res&uuml;mierenden Strophe endet:</P><DIR>
<DIR>
<DIR>
<DIR>
<FONT SIZE=2><P>Und was man lernt aus der Geschicht'?<BR>
Maik&auml;fer, flieg!<BR>
Wer alt ist, kriegt kein Weiblein mehr,<BR>
Drum h&ouml;r', bedenk' dich nicht zu sehr!<BR>
Maik&auml;fer, flieg!</P></DIR>
</DIR>
</DIR>
</DIR>
</FONT><P>Der harmlose Biograph bemerkt, "die darin enthaltene Aufforderung zur Ehe war vollkommen tendenzlos" (pag. 255). Gottfried verstand die Tendenz, "mochte dem aber nicht vorschnell ausweichen", sich noch zwei Jahre lang vor dem Maik&auml;ferverein bekr&auml;nzen und als Gegenstand der Sehnsucht anliebeln zu lassen, und heiratete Mockel am 22. Mai 1843, nachdem sie trotz ihres Unglaubens zur protestantischen Kirche &uuml;bergetreten war, <A NAME="S253"><B>&lt;253&gt;</A></B> unter dem abgeschmackten Vorwande, "da&szlig; es in der protestantischen Kirche nicht so sehr auf bestimmte Glaubensformeln als auf den <I>ethischen </I>Begriff ankomme" (pag. 315).</P><DIR>
<DIR>
<DIR>
<DIR>
<FONT SIZE=2><P>Und das lernt man aus der Geschicht',<BR>
Traut keiner blauen Blume nicht!</P></DIR>
</DIR>
</DIR>
</DIR>
</FONT><P ALIGN="CENTER">*</P>
<P>Gottfried hat das Verh&auml;ltnis mit Mockel angekn&uuml;pft unter dem Vorwand, sie aus ihrem Unglauben zur protestantischen Kirche zu f&uuml;hren. Mockel verlangt jetzt das "Leben Jesu" von Strau&szlig;, f&auml;llt in ihren Unglauben zur&uuml;ck,</P>
<FONT SIZE=2><P>"und mit beklommenem Herzen folgte er ihr auf den Bahnen des Zweifels in die Abgr&uuml;nde der Negation. Er arbeitete sich mit ihr durch das verschlungene Labyrinth der neueren Philosophie" (pag. 308).</P>
</FONT><P>Nicht die Entwicklung der Philosophie, die damals schon auf die Masse wirkte, sondern das Dazwischenkommen eines zuf&auml;lligen Gem&uuml;tsverh&auml;ltnisses treibt ihn in die Negation.</P>
<P>Was er aus diesem Labyrinth der Philosophie herausgefunden, zeigen seine Tageb&uuml;cher selbst:</P>
<FONT SIZE=2><P>"Ich will doch sehen, ob die gewaltige Str&ouml;mung von Kant bis Feuerbach mich hinaustreibt in den - <I>Pantheismus!! </I>(pag. 308.)</P>
</FONT><P>Als ob diese Str&ouml;mung nicht grade &uuml;ber den Pantheismus hinaustreibe, und als ob Feuerbach das letzte Wort der deutschen Philosophie sei!</P>
<FONT SIZE=2><P>"Der Schlu&szlig;stein meines Lebens", f&auml;hrt das Tagebuch fort, "ist nicht historische Erkenntnis, sondern ein festes System, und der Kern der Theologie nicht Kirchengeschichte, sondern Dogmatik" (ebenda).</P>
</FONT><P>Als ob die deutsche Philosophie nicht gerade die festen Systeme in historische Erkenntnisse und die dogmatischen Kerne in Kirchengeschichte verfl&uuml;ssigte! - In diesen Bekenntnissen zeichnet sich der ganze kontrerevolution&auml;re Demokrat, f&uuml;r den die Bewegung selbst wieder nur ein Mittel ist, um bei einigen unumst&ouml;&szlig;lichen ewigen Wahrheiten als faulen Ruhepunkten anzukommen.</P>
<P>Der Leser aber mag aus dieser apologetischen Buchf&uuml;hrung Gottfrieds &uuml;ber seine ganze Entwicklung nun selbst urteilen, welch revolution&auml;res Element in diesem schauspielernden, melodramatischen Theologen verbergen lag. </P></BODY>
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