383 lines
26 KiB
HTML
383 lines
26 KiB
HTML
<!DOCTYPE HTML PUBLIC "-//W3C//DTD HTML 3.2//EN">
|
||
<HTML>
|
||
<!-- #BeginTemplate "/Templates/Reissner.dwt" -->
|
||
<HEAD>
|
||
<!-- #BeginEditable "doctitle" -->
|
||
<TITLE>Larissa Reissner - Ullstein</TITLE>
|
||
<META NAME="BOOKTITLE" CONTENT ="Vorwärts und nicht vergessen, S.186 ff">
|
||
<META NAME="Herausgeber" CONTENT ="Heiner Boehncke">
|
||
<META NAME="Originalausgabe" CONTENT ="Eine Reise durch die deutsche Republik, Neuer Deutscher Verlag, Berlin 1926">
|
||
<META NAME="TYPE" CONTENT ="BOOK">
|
||
<META NAME="YEAR" CONTENT ="1973">
|
||
<META NAME="ISBN" CONTENT ="3-499-16805-7">
|
||
<META NAME="PUBLISHER" CONTENT ="Rowohlt Taschenbuch Verlag">
|
||
<!-- #EndEditable -->
|
||
<META HTTP-EQUIV="Content-Type" CONTENT="text/html; charset=ISO-8859-1">
|
||
<link rel=stylesheet type="text/css" href="http://www.mlwerke.de/css/format.css">
|
||
</HEAD>
|
||
<BODY link="#6000FF" vlink="#8080C0" alink="#FF0000" bgcolor="#FFFFCC">
|
||
|
||
<TABLE width="100%" border="0" align="center" cellspacing=0 cellpadding=0>
|
||
<TR>
|
||
<TD ALIGN="center" width="49%" height=20 valign=middle><A HREF="../index.htm"><SMALL>MLWerke</SMALL></A></TD>
|
||
<TD ALIGN="center">|</TD>
|
||
<TD ALIGN="center" width="49%" height=20 valign=middle><A HREF="default.htm"><SMALL>Larissa
|
||
Reissner</SMALL></A></TD>
|
||
</TR>
|
||
</TABLE>
|
||
<HR size="1">
|
||
<H2> Larissa Reissner</H2>
|
||
<H1> <!-- #BeginEditable "Titel" -->Ullstein<!-- #EndEditable --></H1>
|
||
<P><SMALL><!-- #BeginEditable "Quelle" -->(Quelle: Eine Reise durch
|
||
die deutsche Republik, Neuer Deutscher Verlag, Berlin 1926)<!-- #EndEditable -->
|
||
</SMALL></P>
|
||
<HR size="1">
|
||
<P>
|
||
<!-- #BeginEditable "Text" -->
|
||
<P> Niemand holt sie vom Telegraphenamt: die Nachrichten kommen von selbst. Gleich
|
||
wilden Schwalben schießen sie in den Raum des Redakteurs und fallen fix
|
||
und fertig, schon in die menschliche Sprache übersetzt, auf schmalen Papierstreifen
|
||
auf den Tisch. Zehn Apparate empfangen sie ununterbrochen. Ein dunkles Kloster
|
||
mit hundert Zellen. Hundert Telephonzellen. In jeder Zelle sitzt ein Einsiedler,
|
||
der den Gott der Sensationen mit wilder Stimme um Gaben anruft. <P>
|
||
«Hier Berlin, "B. Z.". Hier Ullstein. Hallo! Bitte lauter!» <P>
|
||
Wie Arbeitslose auf der Bank einer Anlage, schlummern die Kuriere. Wie Passagiere
|
||
in Erwartung eines Zuges, der stets kommt, immer abgeht und niemals steht. Der
|
||
Zug von Neuigkeiten, den Erdball umkreisend. Viele warten schon seit gestern.
|
||
Die Kabeltelegramme aus Amerika sind schon da, voller kapriziöser Börsenzahlen
|
||
dieser liebenswürdigen Abenteuerinnen, die so geschickt über die Grenze
|
||
huschen - nur mit dem leichten Gepäck jener gefälschten Neuigkeiten
|
||
beladen, die dem Herzen eines Zeitungsmannes so teuer sind. <P>
|
||
O, das Ullstein-Haus ist groß genug, um alle diese fremden Gäste unterzubringen.
|
||
4500 Zimmer, sechs Etagen, endlose Treppen, dutzende eigener Druckereien - es
|
||
sind gewiß Deutschlands beste Mühlen, die die täglichen Lügen-
|
||
und Wahrheitsernten ausgezeichnet vermahlen: sechs Tageszeitungen backen das tägliche
|
||
Brot für die millionenköpfige Bevölkerung von Berlin, für
|
||
alle seine Bevölkerungsschichten, für alle Geschlechter und Alter, für
|
||
ganz Deutschland und für jede seiner Städte im besonderen. Köln
|
||
hat einen anderen Geschmack als Berlin; das Leibgericht von Dresden wird in Frankfurt
|
||
keine Abnehmer finden. Hamburg braucht Knackwürste mit Porter, Dresden —
|
||
Eisbein mit Kohl, der Südländer — etwas Nahrhaftes und Umfangreiches.
|
||
<P>
|
||
Im Hause Ullstein pflegt niemand zu Fuß zu gehen. Nur Nichtstuer benutzen
|
||
die Treppen. Der Lift ist das einzige Beförderungsmittel. Durch alle Stockwerke
|
||
fliegen seine offenen Käfige. Die Lifttür ist abgeschafft, gehört
|
||
ins Museum. Die Menschen stürzen hinein und hinaus. Korrekturen, Manuskripte,
|
||
Telegramme haben das Turnen lernen müssen. Schwerfällige asthmatische
|
||
Leitartikel fliegen mit der Behendigkeit von Zirkusakrobaten an den Drahtseilen
|
||
entlang. Seit der alte Ullstein seine erste Bude in der Kochstraße - eine
|
||
kleine Druckerei -eingerichtet hat, wächst sein Unternehmen ununterbrochen
|
||
an. Nachdem es eine gewisse Vollkommenheitsstufe erreicht hatte, blieb es stehen
|
||
und begann seinen alten Leib aufzufressen. Wenn die Produktion eines Tages nicht
|
||
den Mut hat, ihre alten Organisationsformen zu zertrümmern und in ihrem eigenen
|
||
Magen zu verdauen, verfällt sie einem elastischeren und stärkeren Konkurrenten,
|
||
und wird von diesem zum Frühstück verspeist. <P>
|
||
<P>
|
||
<I> «Berliner Morgenpost». </I><P><I>
|
||
</I> Diese alte Berliner Kleinbürgerzeitung ist auch auf einem Friedhof gewachsen,
|
||
aber es waren nicht die Gräber ihrer eigenen überalterten Formen, sondern
|
||
der ganzen von Bismarck vernichteten sozialdemokratischen Presse. Ullstein hatte
|
||
es damals verstanden, auf den öden Zeitungsmarkt mit der vom Sozialistengesetz
|
||
geschlagenen Bresche Hunderttausende von Exemplaren seines gemäßigten
|
||
Blättchens zu werfen. Es war eine Zeitung, die auf die breitesten Massen
|
||
der Klein-Bourgeoisie zugeschnitten war. <P>
|
||
Wie oft haben seit jener Zeit die Arbeitsmethoden gewechselt! Vom Handsatz zum
|
||
Maschinensatz, von der Handzeichnung zur Photographie, von der blutlosen verschwommenen
|
||
Photographie zur künstlerischen Illustration. Jeder technischen Revolution
|
||
folgte eine kurze Krankheit des ganzen Unternehmens, wie nach einer Impfung. Dann
|
||
— ein wilder Sprung vorwärts, phänomenaler Profit: hunderttausende
|
||
neuer Abonnenten, neue Bauten, Werkstätten, Angestellten, Lastwagen, Telephons.
|
||
In den letzten Nachkriegsjahren hat sich schon wieder eine neue Appendizitis gebildet:
|
||
die alten Maschinen für den Guß von Matrizen, englische Maschinen,
|
||
die mit Gas arbeiten und die stets voller flüssigem Blei gehalten werden
|
||
müssen. Statt ihrer sind jetzt deutsche eingeführt: sie fressen einfach
|
||
Kohle und können zu jeder Zeit aufgefüllt werden. <P>
|
||
Ein Betrieb kennt keine Dankbarkeit, er vergißt die früheren Verdienste
|
||
sofort. Die alte Maschinenabteilung hat ihr Leben ausgehaucht. Sie ist leer und
|
||
kalt, und in ihren blinden Scheiben spiegeln sich die Flammen der Feuerungen der
|
||
Rivalin. Das muntere Klirren der Matrizen und Feilen klingt in die verlassenen
|
||
Räume. <P>
|
||
Einstmals brachte man nur eine <I> Morgenzeitung </I> heraus und fürchtete,
|
||
sie mit einer Abendausgabe zu ergänzen, weil man glaubte, dadurch die Auflage
|
||
zu verringern. Heute schickt Ullstein eine Menge Zeitungen auf die Straße,
|
||
die alle verschieden gekleidet sind, verschiedene Mundarten sprechen, stets zu
|
||
anderer Zeit herauskommen und einander nicht stören. <P>
|
||
Des morgens - die «Vossische», sie ist für Börsen und Banken
|
||
berechnet. Die Leute kauen ihre Butterbrote, trinken Bier, - die «Vossische»
|
||
spricht auf sie ein. Sie steigt mit ihnen ins Auto, saust zwischen Restaurant
|
||
und Börse, Büro und Bank, und wickelt flugs ihre Geschäfte ab.
|
||
Es ist eine kluge, vorsichtige, ausgezeichnet unterrichtete Zeitung. Jeder Spekulant
|
||
erkauft sich mit 15 Pfennigen die Hoffnung, von dieser alten Dame einen guten
|
||
Tip zu bekommen. <P>
|
||
<P>
|
||
<I> «Die Praktische Berlinerin». </I><P><I>
|
||
</I> Während die Männer in der Stadt sind, klopft Ullsteins «Praktische
|
||
Berlinerin» an die Wohnungstüren der Frauen; auch «Die Dame»
|
||
oder Ullsteins «Blatt der Hausfrau» wissen sich Eingang zu verschaffen.
|
||
Das ist eine mustergültige Technik. Damit diese Hausiererinnen von Haus zu
|
||
Haus laufen, Appetite reizen, der Hausfrau die allerbilligste Kaffeekanne, ein
|
||
Morgenkleid zu 3 Mark 70, ein «herrschaftliches» Schlafzimmer oder ein
|
||
Mittel gegen Schwangerschaft empfehlen können, - mußte die Druckereitechnik
|
||
ein wahres Wunder vollbringen, dazu mußte sich das menschliche Genie auf
|
||
ein neues höheres Niveau aufschwingen. Die Maschine druckt nicht nur alle
|
||
96 Seiten des Textes und den Umschlag, sondern sie wirft die vollständig
|
||
fertige Nummer auf den Tisch. Im Laufe einer Stunde verfertigt sie 3500 Exemplare.
|
||
Was kann man noch über die Ullstein-Schnittmuster, die «Modewelt»
|
||
usw. usw. sagen? Ehe noch das Gehirn der Frau erkannt hat, was sie eigentlich
|
||
wünscht, haben Ullsteins Zuschneider ihre Träume schon längst erraten
|
||
und in praktischen Schnittmustern ihr ins Haus geschickt. Die Geister der künftigen
|
||
Mantos, Blusen und Dessous haben die ersehnte, ideale, wenn einstweilen auch nur
|
||
papierne Gestalt angenommen. <P>
|
||
Es gibt Pferde, die rechnen können, Hunde, die sich in Geographie auskennen.
|
||
Aber daß die Maschine diese erstaunliche Intelligenz erlangen kann, hätte
|
||
niemand gedacht. Die mechanische Olympia Hoffmanns verstand Romanzen zu singen
|
||
und zu knixen - eine Bagatelle! Bei Ullstein sitzt ein Arbeiter vor seiner Setzmaschine,
|
||
drückt auf eine Taste, die zweite, die dritte, und in wenigen Sekunden springt
|
||
eine fertige Zeile aus Blei auf den Tisch. Und wenn die Buchstaben ihren Zweck
|
||
erfüllt haben, werden sie demobilisiert - sie kehren in das Nichts zurück,
|
||
aus dem sie hervorgegangen sind. Die Maschine besorgt das selbst. <P>
|
||
<P>
|
||
<P>
|
||
<I> «B. Z. am Mittag». </I><P><I>
|
||
</I> Mittags begibt sich die jüngste Tochter des alten Ullstein auf die Straße.
|
||
Diese Zeitung ist eine Eidechse, eine Fliege, ein aufdringliches, flinkes und
|
||
jedermann zugängliches Geschöpf. Man kann sie fast umsonst haben. Sie
|
||
besitzt keine eigenen Meinungen, überhaupt kein individuelles Gesicht. Es
|
||
ist eine kleine Pfütze, in der sich die ganze Welt spiegelt. Ihre Sprache
|
||
ist sehr verständlich, kurz und primitiv, - in zwei Minuten kann man alles
|
||
erfahren, was die große Presse heute denkt und sagt. <I> Man </I> braucht
|
||
diese Nachrichten überhaupt nicht zu kauen: sie sind schon durchgekaut, mit
|
||
der erforderlichen Portion Speichel versehen - restlos verdaulich. Man braucht
|
||
nur zu schlucken, und man ist informiert. Der Mensch, der zum Denken keine Zeit
|
||
hat und sich die Nachrichten nicht selbst zusammensuchen will, kann diesen minderwertigen
|
||
Vermittler, dieses Echo der Großstädte, dieses <I> Straßengrammophon
|
||
</I> nicht mehr vermissen. <P>
|
||
Die Geburtsstätte der «B. Z.» ist das Abflußrohr aller Zeitungen,
|
||
und sie lebt nur eine halbe Stunde. Man erwartet ihr Erscheinen mit nervöser
|
||
Gier. Millionen Menschen sehen auf die Uhr und warten auf das Rendezvous mit der
|
||
«B. Z.». Aber keine Zeitung wird so schnell vergessen, so verächtlich
|
||
fortgeworfen, in Autobussen und Cafés liegen gelassen. Und jeden Tag ersteht
|
||
die Straßenaphrodite von neuem -aus dem Abschaum der Meinungen, um sich
|
||
Millionen in die Arme zu werfen. <P>
|
||
12 Uhr 10. Die Börse notiert die ersten Kurse. <P>
|
||
12 Uhr 12. Das letzte Telegramm in die Setzerei geschickt. <P>
|
||
12 Uhr 15. Die Redaktion nimmt kein Material mehr an. <P>
|
||
12 Uhr 16. Die Rotationsmaschine legt ihren funkelnden Matrizenpanzer an. <P>
|
||
12 Uhr 17. Der diensttuende Mechaniker schaltet den Strom ein. <P>
|
||
Die größten Rotationsmaschinen des Kontinents beginnen ihre Arbeit.
|
||
<P>
|
||
Eine Flut von Seiten und Spalten. In diesem Strom ist das Wort nur ein Bazillus.
|
||
Die ersten gefallenen Nummern kommen zum Vorschein. Schon laufen sie in die Welt,
|
||
- jedes Blatt findet irgendeinen Leser, jede Ladung ist für irgend jemanden
|
||
bestimmt. Die Attacke ist in vollem Gange, ungeheure Bündel von Papier, gigantische
|
||
Lügenkokons gebären Millionen Eintagsfliegen. <P>
|
||
Diese Pressefabrik ist wie eine Festung. Ihre tiefen Höfe gleichen Gefängnishöfen.
|
||
Granitberge isolieren sie von der Stadt. Eine Festung muß für den Fall
|
||
einer Belagerung mit Wasser und Brot versorgt sein. Ullstein besitzt eine von
|
||
der Stadt unabhängige Kraftquelle, die groß genug ist, seine belagerten
|
||
Maschinen acht Tage lang mit Elektrizität zu versorgen. Man kann nie wissen:
|
||
Streik oder Aufstand. Die gepanzerten Türen werden fest verriegelt, und drei
|
||
Minuten nach dem Alarmsignal schickt das Kraftwerk tausende Streikbrecher-Pferdekräfte
|
||
zu den Maschinen. <P>
|
||
Kein einziger Angestellter kann unbemerkt heraus oder herein. Die Portiers sind
|
||
auf Menschen und Sachen dressiert. Aber 12 Uhr 18 Minuten, also acht Minuten nach
|
||
der Annahme der letzten dringenden Depesche, öffnen sich alle Türen
|
||
und Tore. Die Zeitungsfabrik schickt ihre Produktion auf die Straße. Breite
|
||
Rohre spucken Zeitungsbündel direkt auf die Lastwagen. Motorräder zittern
|
||
ungeduldig, Radfahrer halten ihre offenen Säcke hin, Boten, die die Zeitungsladungen
|
||
nach dem Bahnhof und in die Provinz begleiten, brechen .ihr Frühstück
|
||
ab. Des Sonnabends werden 4000 Zentner verladen - zwanzig Postzüge allein
|
||
für die Mittagszeitung. Rechnet man alle Verlagswerke zusammen, so macht
|
||
das 75 Postwaggons. Und die ganze Menge muß in 45 Minuten verladen sein.
|
||
<P>
|
||
Die Zeitung überholt die Zeit. Die Zeitung überholt den Uhrzeiger. Der
|
||
Mensch schläft die Hälfte seines Lebens. Er stiehlt sich selbst die
|
||
Nachtstunden. Die Zeitung hat den Höchstrekord geschlagen und stößt
|
||
nun auf ein unüberwindliches Hindernis: es sind Barrikaden aus schlafenden
|
||
Menschen. Aber in den Großstädten, auf dem blanken Asphalt ist alles
|
||
relativ. Mag die Morgenröte ihre Beine in einen Pyjama stekken - die Umhüllung
|
||
von kräuselnden Morgenwolken ist unmodern. Europa ist wie Grönland,
|
||
wie das Polarmeer. Der elektrische Tag dauert 24 Stunden. <P>
|
||
Halb sechs Uhr morgens eilen die Zeitungsverkäufer davon und «machen»
|
||
den Morgen. Die Provinzausgabe der «Vossischen Zeitung» ohne die letzten
|
||
Telegramme wird nachts gedruckt und versandt; in Berlin wird sie schon abends
|
||
8 Uhr 40 Min. verkauft: ein Stück Morgen, ein Stück von der Zukunft
|
||
mit den Ergebnissen der letzten Fußballkämpfe, mit den Familiennamen
|
||
der Verunglückten und unter das Auto Geratenen, mit den englischen Parlamentsdebatten
|
||
- alles das für 15 Pfennige! <P>
|
||
Ullstein ist eine jener Großmächte, die jede in das menschliche Bewußtsein
|
||
importierte Banalität mit Zöllen belegt. Das Ullstein-Haus ist ein Hafenplatz,
|
||
ein Grenzpunkt, an dem Riesenladungen von Phrasen ausgeladen werden, von Redensarten,
|
||
die wie Gummisohlen am Bewußtsem kleben, von Witzen, die flach wie ein Plattfuß
|
||
sind, von stinkenden Anekdoten und neu frisierten politischen Parolen. <P>
|
||
<P>
|
||
<I> Die «Illustrierte». </I><P><I>
|
||
</I> Ein Meisterwerk dieser Art ist zweifellos die unvergleichliche <I> «Berliner
|
||
Illustrierte Zeitung» - </I> das verbreitetste Journal des modernen Deutschland.
|
||
Die Auflage? 1600000 Exemplare. Die Nachfrage wird immer größer. In
|
||
einem halben Jahre werden die zwei Millionen vermutlich erreicht sein. Das Fundament
|
||
des Ullstein-Hauses ist die Propaganda der Banalität. Im Grunde genommen,
|
||
ist es eine Null, ein Überhaupt-Nichts, ein Minus, 32 Seiten geistiges Abführmittel.
|
||
Ein Loch im Boudoir eines berühmten Filmstars, ein Spalt, durch den jeder
|
||
sehen kann, wie schöne Frauen von Spitzbergen bis zum Kap der guten Hoffnung
|
||
baden. Ein Romanfragment von einer Primitivität und Geschwindigkeit, daß
|
||
man ihn in der Toilette lesen kann. Natürlich - Reklame. Prinzenhochzeit.
|
||
Dann wieder Reklame. Zehn Seiten Reklame. <P>
|
||
Die «Illustrierte» war <I> niemals </I> ein Feind Sowjetrußlands.
|
||
Vielleicht war sie es, die die deutschen Arbeiter besser über die Sowjet-Union
|
||
unterrichtete, als alle anderen Presse-Organe. Sie bringt alles, was neu, interessant,
|
||
unerwartet ist. Rußland eine Sensation. Die «Illustrierte» bringt
|
||
Rußland. Seine Straßen, Demonstrationen, Führer, Menschenmengen,
|
||
Kinderhäuser, Armee. <P>
|
||
Der praktische, nüchterne Händler ist eher geneigt, an die Dauerhaftigkeit
|
||
einer solchen Regierung zu glauben, die schon besteht, als eine solche, die einstweilen
|
||
nur in den Köpfen der Bewohner des Kurfürstendamms und der Tauentzienstraße
|
||
herumspukt. Wenn die Bolschewisten sich noch fünf Jahre halten, dann wird
|
||
Ullstein die weißen Emigranten ebenso behandeln, wie die ehemalige deutsche
|
||
Regierung die russischen Studenten nach 1905 behandelt hat: jeder, der die gesetzliche
|
||
Regierung - auch wenn es eine Sowjet-Regierung ist - unterminiert, ist und bleibt
|
||
ein Revolutionär, ein Bombenanarchist und überhaupt ein Gauner. Aber
|
||
Ullstein erscheint es einstweilen geratener, sich nach allen Seiten hin zu sichern:
|
||
das im allgemeinen sowjetfreundliche Haus gewährte dem weißgardistischen
|
||
<I> «Rul» </I> in einem entlegenen Winkel ein bescheidenes Obdach. <P>
|
||
Aber auch die Freundschaft hat ihre Grenzen, wenn die ganze Presse ein einmütiges
|
||
Geschrei gegen die Bolschewisten erhebt. Dann kann auch Ullstein nicht schweigen.
|
||
Nachdem er ein ganzes Jahr lang eine kommunistenfreundliche Information gebracht
|
||
hat, fährt er plötzlich seine schwersten Geschütze auf, die sein
|
||
verdammendes Urteil l 600 000mal wiederholen, lauter verkünden, als es Moses
|
||
von dem alten jüdischen Berge fertiggebracht hat. <P>
|
||
<P>
|
||
<I> «Das neue Verbrechen der bolschewistischen Justiz!» </I> «Drei
|
||
deutsche Studenten zum Tode verurteilt!» Und es sind nicht «drei Studenten»,
|
||
sondern 3 mal 1 600 000 Studenten und 3 mal <I> l 600 000 </I> «bolschewistische
|
||
Mörder». Das ist gewiß kein Minus mehr, sondern ein sozialer Hebel
|
||
von einer Kraft und Leistungsfähigkeit, wie es in Europa nur wenige gibt.
|
||
<P>
|
||
Die «Illustrierte» bringt ihre kurzen, ätzenden, klebrigen, politischen
|
||
Formeln nicht in Form von Leitartikeln oder Kurven, - sie tätowiert sie auf
|
||
die seidenweiche Haut einer Variete-Sängerin, stickt sie auf die Wäsche
|
||
der berühmten Tänzerin, druckt sie auf die Etikette von Parfüms,
|
||
die als Mittel gegen üblen Achselgeruch empfohlen werden. So wird die Parole
|
||
eingeätzt, gestickt, gedruckt: «Krieg dem Bolschewismus». «Gegen
|
||
die Weltrevolution!» «Krieg den Mördern des unschuldigen blonden,
|
||
kurzsichtigen Kindermann mit seiner Reiseapotheke!» <P>
|
||
Wie die Ullstein-Parole auch sein mag - für oder gegen USSR., für oder
|
||
gegen die chinesische Revolution, für oder gegen den Pakt - die Geschosse
|
||
dieser Parolen erreichen ihren Zweck. <P>
|
||
<P>
|
||
<I> «Sport». </I><P><I>
|
||
</I> Die Motor- und Segelboote der «B. Z.» durchfurchen Seen und Meere,
|
||
die Rennpferde der «B. Z.» nehmen alle Hindernisse, der Favorit der
|
||
«B. Z.» schlägt dem berühmten amerikanischen Boxer die Nase
|
||
ein, das Motorrad der «B. Z.» stellt einen neuen Schnelligkeitsrekord
|
||
auf. Hunde-Ausstellung, Tennis, Wettschwimmen, prämierte Zugtiere. Mit allergrößter
|
||
Aufmerksamkeit verfolgt Europa alle diese Dinge. Jede Zeitung, die etwas auf sich
|
||
hält, bringt täglich eine Seite Sport. Die Champions kennt man weit
|
||
besser, als die bedeutendsten Politiker. Ullstein war vielleicht der erste, der
|
||
diese Goldgrube entdeckt hat, der Sportfachleute heranzog zu einer Zeit, als die
|
||
anderen Zeitungen ihre Rennberichte von «Brandschaden-Reportern» schreiben
|
||
ließen. Nach allen Rennställen, nach allen Totalisatoren Europas schickte
|
||
er seine Spezialkorrespondenten. <P>
|
||
<P>
|
||
<I> «Der Querschnitt». </I><P><I>
|
||
</I> Von Kunst versteht Ullstein nichts. Für diese Finessen, für die
|
||
Redaktion des «Querschnitt», der für ein paar hundert ästhetische
|
||
Abonnenten bestimmt ist, engagiert er sich einen kunstsinnigen Mann, der sich
|
||
in allen Porzellanarten der Welt und sämtlichen Schnupftabakdosen des 18.
|
||
Jahrhunderts ganz genau auskennt. Diese Zeitschrift ist gewissermaßen eine
|
||
Lilie, der man den Duft jener Mistgrube nicht anmerkt, auf der die «B. Z.»
|
||
oder die «Illustrierte» gedeihen. Diese Ästhetenzeitschrift treibt
|
||
wie eine Lotosblume auf dem Meer der Ullstein-Millionen herum, - sie schwärmt
|
||
für Negerplastik und amerikanische Kultur. Auch sehr nackte, sehr künstlerische,
|
||
für den Kenner berechnete Gestalten finden sich da. Der alte Ullstein schimpft,
|
||
wenn er alle diese Finessen sieht. Aber allen anderen übrigen Redakteuren,
|
||
den Verfertigern der üblen Massenware, ist es aufs strengste untersagt, sich
|
||
in die Angelegenheiten der Ästheten einzumischen. Mit denen ist zwar kein
|
||
Geschäft zu machen, aber dafür locken sie Leute mit Geschmack und guter
|
||
Position, es macht sich gut, wenn man im Vorzimmer eine klassische Venus stehen
|
||
hat. <P>
|
||
<P>
|
||
<I> «Der heitere Fridolin». </I><P><I>
|
||
</I> Bei der Herstellung von Waren wie «Der heitere Fridolin» dagegen
|
||
braucht der alte Ullstein keine Helfershelfer. Auf diesem Gebiet ist er selbst
|
||
Meister und Fachmann. Keiner weiß so gut wie er, wieviel Backpulver, Margarine
|
||
und Sirup in diese kleinen Groschenheftchen mit dem radfahrenden Hunde auf dem
|
||
Titelblatt hineingehört, um die kindliche Phantasie in der gewünschten
|
||
Weise zu banalisieren. Diese Heftchen finden einen reißenden Absatz: 350
|
||
000 Exemplare, d. h. 700 000 Exemplare im Monat. Es ist ein Gemisch von Sherlock
|
||
Holmes, Zirkus, Chronik der Verbrechen und Sentimentalität. Die Helden: ein
|
||
Polizeihund mit der Seele eines Lesers von Sonntagsbeilagen der «Vossischen
|
||
Zeitung». <P>
|
||
<P>
|
||
<I> Ullstein-Romane. </I><P><I>
|
||
</I> Vor dem Kriege kostete ein Bändchen von 250 Seiten mit einer Hochzeit
|
||
vor dem Altar oder edlem Selbstmord am Schluß 1Mark. Heute -2 Mark. Niemals
|
||
wird ein «Unsterblicher» so gelesen werden, wie diese anonymen Autoren.
|
||
Tolstoj, Goethe? Sie können sich mit einem Herrn Weber nicht messen, der
|
||
«Ja, ja die Liebe» geschrieben hat. Der alte gute Ullstein macht es
|
||
mit der Literatur wie das Kamel mit der Dattel. Nachdem sie einmal heruntergeschluckt
|
||
ist, zwingt er seinen Leser so oft wie möglich wiederzukäuen. Alle Ullstein-Romane
|
||
werden sofort nach Erscheinen von den größten Kino-Fabriken in Deutschland
|
||
verfilmt. Der Ladenverkäuferin, der Lehrerin, einem Postbeamten muß
|
||
der Glaube an das Glück erhalten werden. Der Kleinbürger muß davon
|
||
überzeugt sein, daß jeder ehrliche Mensch ohne Blutvergießen,
|
||
ohne Gewaltakte alles erreichen kann — eine Villa, ein Auto, einen eigenen
|
||
Laden. Lesen genügt nicht. Man muß, es mit eigenen Augen gesehen haben.
|
||
Und Ullstein zeigt es. Jeder kann hingehen und sich davon überzeugen, wie
|
||
die ehrliche Alice sich mit Ordnungsliebe, einiger Kenntnis in der Buchhaltung
|
||
und ihrem netten Frätzchen den Weg durch die Finanzwelt bahnen kann. Sie
|
||
wird nämlich von Stinnes geheiratet. Aber dieser Stinnes ist jung und fast
|
||
ebenso süß, wie der Verkäufer in der Konfektionsabteilung von
|
||
Wertheim. Andre Leute arbeiten hundert Jahre und sterben als Milliardäre.
|
||
Seht, wie sie beerdigt worden sind! Es lohnt sich, ein ganzes Leben lang gewissenhaft
|
||
seine Pflicht zu erfüllen, um mit einem so glänzenden Pomp begraben
|
||
zu werden. Ganz zu schweigen von Arbeitern und kleinen Angestellten, die immer
|
||
das große Los ziehen und die Töchter ihrer Brotherren heiraten. Wozu
|
||
Revolution? Wozu Politik? Millionen von europäischen Arbeitern leben in der
|
||
Hoffnung auf Rußland. Millionen der SPD-Arbeiter klammern sich insgeheim
|
||
an diesen Traum: irgendwann, zu einer bestimmten, vom Schicksal vorgezeichneten
|
||
Stunde wird der russische Rotarmist die Grenze überschreiten und das tun,
|
||
was der deutsche Proletarier zu tun sich nicht getraut. Die Arbeiter schicken
|
||
ihre Delegierten nach Rußland. Der Kleinbourgeois, der Ullstein-Leser läuft
|
||
ins Kino und sieht sich dort das gelobte Land an. <P>
|
||
Gewiß, Ullstein steht nicht allein da. Mit ihm konkurrieren und ihn übertrumpfen
|
||
vielleicht solche Zeitungsfabrikanten wie der <I> Scherl-Verlag, </I> der in Deutschland
|
||
seiner Zeit den Typus der «parteilosen» Zeitungen geschaffen hat und
|
||
der jetzt in den Händen Hugenbergs liegt, eines ehemaligen Direktors der
|
||
Firma Krupp. Nachdem Hugenberg alles an sich gerissen, was dem Zeitungskönig
|
||
gehörte, verwandelte er diese alten «parteilosen» Zeitungen, die
|
||
das Leib- und Magenblatt eines jeden deutschen Durchschnitts-Bürgers waren,
|
||
zum Sprachrohr der aktivsten und wütendsten Gegenrevolution. Ihnen folgen
|
||
Mosse und viele andere Monopolisten des Zeitungs- und Buchmarktes. Es gibt viele
|
||
Ullsteine . . . <P>
|
||
Die Dienste, die diese Fabriken der bürgerlichen Ideologie zur Zeit des Krieges
|
||
der Regierung erwiesen haben, sind nicht hoch genug zu veranschlagen. In alle
|
||
Poren des sozialen Organismus, in alle Zellen seines Gehirns wußten sie
|
||
einzudringen und ein besonderes Gift jeder dieser Zellen einzuimpfen. Viele Nägel
|
||
haben Ullstein, Mosse und Hugenberg in den großen hölzernen Hindenburg
|
||
eingeschlagen. Legionen von Menschen haben sich unter der Einwirkung dieser literarischen
|
||
Narkotika niedermetzeln lassen. Und niemals wäre es der Regierung ohne die
|
||
Zeitungstrusts gelungen, die Massen der Kleinbourgeoisie um jene Millionen zu
|
||
schröpfen, die für die Kriegsanleihe drauf gegangen sind. <P>
|
||
|
||
<!-- <IMG SRC="ullstein.jpg" ALIGN=MIDDLE border=2 ALT="Polizei vor dem Verlagshaus der 'Roten Fahne'"> nicht auffindbar -->
|
||
|
||
<!-- #EndEditable --> <P></P>
|
||
<HR width="200" align="left" size="1">
|
||
<P><SMALL>Pfad: »../lr«<BR>
|
||
Verknüpfte Dateien: <!-- #BeginEditable "Verk%FCpfungen" -->»<A href="http://www.mlwerke.de/css/format.css">../css/format.css</A>«,
|
||
<!-- <20><A href="ullstein.jpg">ullstein.jpg</A><3E> nicht auffindbar -->
|
||
<!-- #EndEditable -->
|
||
</SMALL>
|
||
<HR size="1">
|
||
<TABLE width="100%" border="0" align="center" cellspacing=0 cellpadding=0>
|
||
<TR>
|
||
<TD ALIGN="center" width="49%" height=20 valign=middle><A HREF="../index.htm"><SMALL>MLWerke</SMALL></A></TD>
|
||
<TD ALIGN="center">|</TD>
|
||
<TD ALIGN="center" width="49%" height=20 valign=middle><A HREF="default.htm"><SMALL>Larissa
|
||
Reissner</SMALL></A></TD>
|
||
</TR>
|
||
</TABLE>
|
||
</BODY>
|
||
<!-- #EndTemplate -->
|
||
</HTML>
|